Wie alles begann …

Gleich nachdem sie davongefahren war, meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Aber ein Zurück gab es jetzt nicht mehr. Julia hatte das Auto mit dem Fahrrad gestreift und auf der ganzen Länge mit ihrem Pedal und ihrem Fahrradkorb tiefe Kratzer hinterlassen. Schließlich drehte sie nach einiger Zeit doch um und fuhr zurück an die Stelle, wo ihr das Malheur passiert war, aber es war kein Auto mehr am Wegrand geparkt.

Sie stand eine ganze Weile unschlüssig herum und fuhr dann schließlich den Rest ihres Weges nach Hause. Schon morgens in der Schule hatte sich heute angedeutet, dass dies kein besonders guter Tag für sie sein würde. Als sie die Hausaufgaben kopieren wollte, stellte sie fest, dass sie die falschen Aufgaben eingepackt hatte, und musste die Hausaufgaben ausfallen lassen. Das würde wieder Ärger mit dem Schulleiter geben, der Julia sowieso nicht mochte, seit er bei ihr abgeblitzt war. Sie durfte sich eigentlich zurzeit überhaupt nichts erlauben, da sie ja noch in der Probezeit war.

Da sie nachmittags noch einmal in die Schule musste, beeilte sie sich, nach Hause zu kommen, um noch zumindest eine Kleinigkeit in den Magen zu bekommen.

Bereits eine Stunde später war sie wieder auf dem Fahrrad unterwegs in die Schule. An der Stelle, wo sie mittags ihren Unfall gehabt hatte, war immer noch kein Auto zu sehen.

In der Schule angekommen beeilte sie sich, rasch ins Lehrerzimmer zu kommen. Ihr Schulleiter hasst nichts mehr als Unpünktlichkeit. Gerade noch rechtzeitig saß sie auf ihrem Platz – nur der Schulleiter fehlte noch. Als er endlich – mit bestimmt zehn Minuten Verspätung – kam, konnte ihn bestimmt niemand überhören. Mit lautem Knall schlug er die Tür zu und knallte seine Unterlagen auf den Tisch.

Er entschuldigte sich für sein Zuspätkommen und erzählte wutschnaubend, dass ihm jemand an seinem nagelneuen Audi A6 auf der ganzen Fahrzeuglänge Kratzer in den Lack gemacht hatte.

Julia wäre am liebsten im Erdboden verschwunden, als er erzählte, wo das passiert war. Sie war drauf und daran, ihm zu sagen, dass sie es gewesen war, als er in allen Nuancen zu schildern begann, was er mit so jemandem täte, wenn er ihn erwischen würde.

Julia blieb still. Eigentlich hatte er ja keine Chance herauszubekommen, dass sie die Kratzer verursacht hatte, und wenn sie es ihm sagte, würde er sicher verhindern, dass sie an dieser Schule Lehrerin blieb. So gute Beziehungen wie der hatte, könnte er es sowieso verhindern …

Das schlechte Gewissen plagte sie nach seiner Schimpfkanonade schon gar nicht mehr so schlimm. Es wich eher der Angst, ihren Traumberuf nicht mehr ausüben zu dürfen.

Nach Ende der Konferenz sah sie zu, dass sie die Schule verlassen konnte, und fuhr schnell nach Hause.

Dort angekommen holte sie noch schnell die Post aus dem Briefkasten und fuhr mit dem Aufzug nach oben in ihre Dachwohnung.

Auf das Sofa schmeißen und erst einmal aufatmen war alles, was sie momentan wollte. Nach einer Weile des Verschnaufens sah sie auf die Post, die sie achtlos auf den Tisch geworfen hatte. Ein braunes Kuvert ohne Adresse und ohne Absender erregte ihr Interesse.

Rasch riss sie es auf und ließ den Inhalt auf den Tisch rutschen. Als Julia sah, was es war, erstarrte sie. Auf dem Tisch lag ein Foto, das zeigte, wie sie an dem Auto ihres Chefs vorbeischrammte.

Dabei war auch ein Briefbogen. Darauf stand geschrieben:

„Na, Süße, da haben wir ja einen ganz schönen Schaden angerichtet. Gut, dass ich gerade meine Kamera dabei hatte. Was wird wohl Ihr Chef dazu sagen?“

Julia schluckte und las den Brief mit zittrigen Händen weiter: „Ich glaube, er muss es ja nicht erfahren. Wir werden uns da schon irgendwie einig werden, sodass Sie Ihren Job behalten können. Haben Sie keine Angst, ich will kein Geld!“

Julia war ein wenig erleichtert. Sie hatte schon geglaubt, da wollte jemand Geld von ihr erpressen. Aber als sie weiterlas, wusste sie nicht mehr so genau, ob ihr das nicht sogar lieber gewesen wäre.

Im letzten Abschnitt des Briefes stand nämlich: „Fürs Erste können Sie mir ja mal ein paar kleine Wünsche erfüllen. Der erste wäre, dass Sie heute Abend, wenn es dunkel ist, noch ein wenig Ihre übliche Runde spazieren gehen. Allerdings werden Sie außer Ihrem Mantel nichts anhaben. Und wenn Sie am alten Bahngelände vorbeigehen, werden Sie Ihren Mantel öffnen.

Ich glaube, dieser kleine Gefallen ist nichts gegen den Gefallen, den ich Ihnen tue, wenn ich das Foto für mich behalte. Also bis heute Abend um 22 Uhr!“

Sie ließ den Brief sinken und holte erst einmal tief Luft. Wer war das, der ihr den Brief geschrieben hatte? Er musste ihre Gewohnheiten kennen und er musste auch hier in der Gegend wohnen. Aber so lange sie auch darüber nachdachte, ihr fiel niemand ein, der so etwas mit ihr machen würde. Über ihre Grübelei wurde es Abend und plötzlich war es halb zehn. Sie nahm den Brief noch einmal in die Hand und las ihn. Ihr blieb nichts anderes übrig, als dem Fremden seinen Wunsch zu erfüllen, oder sie würde ihren Traum vom Lehrerberuf aufgeben müssen.

Also zog sie sich aus, nahm den Mantel, zog ihn über und verschloss ihn fest mit dem Gürtel. Es war gerade zehn Uhr, als sie die Wohnung verließ. Sie fuhr mit dem Aufzug nach unten und trat auf die Straße hinaus. Es war bereits stockdunkel – wie im April um diese Zeit immer –, aber einigermaßen warm. Sie machte sich auf den Weg, ihre übliche Abendrunde zu spazieren.

Nach etwa 20 Minuten kam sie am alten Bahngelände an. Sie ging diese Runde gerne, weil jeder Meter ihres Weges beleuchtet war und gerade am alten Bahngelände war es am hellsten. Heute wäre es ihr allerdings lieber gewesen, wenn die Lichter nicht gebrannt hätten. Nach ein paar Metern entlang des Zaunes öffnete sie den Gürtel ihres Mantels und steckte die Hände in die Manteltaschen. Wäre ihr jetzt jemand entgegengekommen, hätte er sie in ihrer ganzen nackten Pracht bewundern können. Aber es kam niemand. Nach etwa 500 Metern kam sie an einen Knick, folgte diesem und erreichte das Ende des Bahngeländes. Eigentlich war es ein unheimlich erregendes Gefühl, so herumzulaufen. Der Nachtwind strich über ihre nackte Haut und erregte sie zusätzlich zu dem Gefühl, entdeckt werden zu können.

Ja, es gefiel ihr fast, sich so halbnackt im Freien zu bewegen!

Plötzlich merkte sie, dass sie schon einige Meter vom Bahngelände weg war und beinahe wieder die Straße zurück zu ihrer Wohnung erreicht hatte. Rasch nahm sie die Hände aus den Manteltaschen und schlug mit den Händen den Mantel vor sich übereinander.

Der restliche Weg nach Hause war schnell geschafft und als sie in den Aufzug trat, ließ sie den Mantel los und drückte auf den Knopf der obersten Etage, wo sie wohnte. Erst als sie den Hausmeister sah, wie er sie anstarrte, wurde ihr bewusst, dass der Mantel wieder aufgegangen war. Gott sei Dank schlossen sich die Türen.

Oben angekommen ging Julia in ihre Wohnung, warf sich aufs Sofa und amüsierte sich erst einmal über den Hausmeister und sein dummes Gesicht.