Cover

Sandra Melli

Die Seelendiebin

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Sandra Melli

Hinter dem Pseudonym Sandra Melli verbirgt sich ein bekanntes Autorenehepaar, das seit etlichen Jahren sehr erfolgreich historische Romane veröffentlicht. Ihre ersten Erfolge errangen sie jedoch mit Kurzgeschichten und Novellen in Fantasy-Anthologien verschiedener großer Verlage. Darüber hinaus entwickelten sie im Lauf der Zeit mit der Welt der magischen Farben ihr ganz eigenes Fantasy-Universum. Das Paar lebt in einer aufstrebenden Gemeinde bei München.

Impressum

Copyright © 2014 der eBook Ausgabe by Knaur eBook.

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-426-42278-6

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1. Die Geisterbraut sehnt sich nach dem Eisernen Tiger

Die Leute in diesen Ländern glauben allen Ernstes, die Erde sei ein Viereck und der Himmel darüber eine runde Kuppel, in der ganz oben ihr höchster Gott wohnt …«

Nü Ying seufzte kopfschüttelnd und wusch ihren Pinsel aus. Dabei überlegte sie, ob es nicht ungehörig war, einfach »die Leute« zu schreiben. Immerhin sprach der Berichterstatter in seinem Text von den Bewohnern der zivilisierten Welt.

Fu Rong, die Vorsteherin der großen Bibliothek, hatte von ihr verlangt, dieses barbarische Geschreibsel möglichst wortwörtlich zu übersetzen. Das tat sie, so gut sie es vermochte, auch wenn sich sogar ihr Pinsel gegen die holprigen Texte zu sträuben schien. Dennoch hielt Nü Ying sich an Fu Rongs Anweisungen. Sie gehorchte der weisen Fee gerne, schließlich hatte die alte Dame ihrem Leben einen Sinn gegeben und ihr das Warten leicht gemacht.

Obwohl sie froh war, eine Aufgabe zu haben, fiel es ihr schwer, ein Leben in Stille und Abgeschlossenheit zu führen. Die philosophischen Abhandlungen, die sie von vergilbten Seidenbahnen in Schönschrift auf frische Schreibseide übertragen musste, langweilten sie, und die barbarischen Texte reizten sie immer wieder zum Lachen. Aber die Arbeit und das Studium lenkten sie von trüben Gedanken ab, und die hohen Mauern des »Hauses des umfassenden Wissens« beschützten sie vor vielerlei Ärger und Gefahr.

Eigentlich sollte sie stolz auf diese Berufung sein, denn Fu Rong nahm nur die Begabtesten unter den jüngeren Unsterblichen in ihre heiligen Hallen auf. Ihre Kandidaten waren zumeist Seelen, die als Menschen nach vielen Leben zur Vollendung gefunden und die sich schon in der Welt des roten Staubes der Literatur, der Philosophie und der Kunst der Schönschrift gewidmet hatten. Normalerweise handelte es sich bei ihnen um Männer, denn die engstirnigen Regeln der Menschen erlaubten nicht, dass Frauen diese Künste zu ihrem Lebensinhalt machten. Sie, Nü Ying, war das erste weibliche Wesen seit vielen Jahrhunderten, das auserwählt worden war, und genau wie Fu Rong war sie keine Menschenseele, sondern hier auf dem Kunlun-Berg geboren worden.

Als man ihre Aufnahme in die Bibliothek bekanntgegeben hatte, war ein Aufschrei durch die Reihen der männlichen Unsterblichen gegangen. Viele von ihnen hatten sie umschwärmt, und sie war sogar von jenen bedrängt worden, die durch eine Heirat mit ihr in der Hierarchie der Götter und Unsterblichen aufsteigen wollten. Es gab immer noch einige, die sich Hoffnung auf ihr Jawort machten, aber sie war nicht frei, sondern schon seit ihrer Kindheit einem Mann versprochen. Von diesem Ehegelübde würde sie sich auf keinen Fall entbinden lassen, und wenn sie bis zum Ende aller Zeiten zwischen Schriftrolle und Tusche leben musste.

Nü Ying spürte, dass ihre Gedanken zu ihren privaten Problemen abgeschweift waren, und versuchte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Draußen herrschte herrliches Sommerwetter, und still im Halbdunkel zu sitzen fiel ihr noch schwerer als sonst. Zu dieser Stunde konnte man vom Kunlun-Berg aus über die halbe Welt schauen, und sie wäre gern zu einem der Aussichtstürme gelaufen, um den Anblick zu genießen. Aber sie hatte sich vorgenommen, bis zum Sonnenuntergang noch zwei weitere Seiten dieses sonderbaren Reiseberichts zu übersetzen. Daher fuhr ihr Pinsel lautlos und ein wenig flüchtig über das Stück vergilbter, schon mehrmals ausgewaschener Schreibseide, das für einen ersten Entwurf noch gut genug war.

»Sie glauben daran, dass besonders hohe Götterberge die Ecken der Welt begrenzen, und nennen diese ›Weltenberge‹. Diese sollen prächtige Paradiese voller Wunder tragen und von Göttern und unsterblich gewordenen Menschen bewohnt werden. Der Berühmteste dieser Berge ist der westliche Weltenberg, der auch Kunlun-Berg genannt wird. Er soll hoch über die Wolken hinausragen und ganz oben neun Terrassen tragen, auf denen eine Stadt inmitten üppiger Gärten liegt. Die Häuser dort bestehen aus Gold und Edelsteinen, und ganz in der Mitte entspringen die Wasser der Unsterblichkeit. Alles, was um diese Quelle wächst, verleiht demjenigen, der davon isst, eine zauberische Kraft.

Dieser sagenhafte Berggipfel wird von einer wilden, hässlichen Göttin namens Xiwangmu beherrscht, einer bösen Zauberin und Menschenfresserin mit wirren, schmutzigen Haaren, dem Maul eines Tigers und dem Schwanz eines Leoparden. Diese Dämonin schickt den Menschen die Pest und andere schreckliche Seuchen. Von ihr kann man aber auch das Kraut des langen Lebens oder die Frucht der Unsterblichkeit erlangen. Zuweilen gibt sie ein Festessen in dem sogenannten Jadeturm, der in einem Jadeteich liegen und von einem Wald aus Pfirsichbäumen umgeben sein soll.

Die Früchte dieses Waldes machen Menschen zu Göttern, heißt es. Überhaupt sind alle Götter in diesen Ländern bis auf ein paar Ausnahmen, wie der Oberste Himmelsgott und die Leoparden-Tiger-Göttin, früher einmal Menschen gewesen. Vor ihrem Aufstieg sind diese durch eine Hölle hindurchgegangen, die die ›Gelben Quellen‹ genannt wird und aus stinkenden Sumpfwäldern besteht, wo scheußliche, Seelen fressende Dämonen hausen …«

An dieser Stelle tauchte Nü Ying ihren Pinsel wieder ins Wasser und legte ihn vorsichtig in seine Halterung. Dann deckte sie die angerührte Tusche ab, damit sie nicht austrocknete. Als sie damit fertig war, hatte sie sich weit genug beruhigt, so dass sie die Hallen des stillen Studiums nicht mit lautem Gelächter entweihte. Eine derart skurrile Beschreibung ihrer Heimat und ihrer königlichen Herrin Xiwangmu hatte sie noch nie gelesen.

Der Schreiber dieser Zeilen konnte wirklich nur ein Barbar gewesen sein. Kein halbwegs gebildeter Mensch unter dem ewigen Himmel würde den Kunlun-Berg und seine oberste Göttin auf diese beleidigende Art und Weise beschreiben. Natürlich ging Xiwangmu, die Königin der Feen und des westlichen Weltenberges, in ihrem ureigensten Reich nicht in der Gestalt der Todesgöttin umher. Das tat sie nur, wenn sie die Gelben Quellen besuchte, die tief im Bauch der Erde entsprangen.

Dort unten, noch unterhalb der achtzehn Ebenen der Hölle, erstreckte sich tatsächlich eine unheimliche Wildnis, die ebenso weit von der Welt des roten Staubes entfernt war wie der Palast des Göttlichen Jadekaisers, der im Zenit der Himmelsschale hoch über allen anderen Weltenebenen schwebte. Die Menschen meinten allerdings nicht den tiefsten Punkt der Unterwelt, wenn sie von den Gelben Quellen sprachen, sondern die achtzehn Ebenen der Hölle im Allgemeinen.

Ganz unten in jenen Sumpfwäldern hatten die Seelen der Toten nichts zu suchen. Dort lebten mächtige Tigergeister und andere halbgöttliche Wesen, die in Xiwangmu ihre oberste Herrin sahen. Wenn die Göttin dort in der Gestalt der Pesthexe und Seuchenbringerin umherwanderte, konnte es vorkommen, dass sie im Auftrag des Himmelsherrn Krankheit und Tod über jene Länder schickte, die die Sitten und Gesetze missachteten oder ihren vom Himmel eingesetzten Herrschern nicht mehr gehorchten. Hier oben auf den neun Jadeterrassen des westlichen Weltenberges erschien Xiwangmu jedoch nur als gütige, sanfte und vornehme Dame.

Auch gab es auf den neun Jadeterrassen keine Stadt aus Gold, sondern eine Parklandschaft, in der weitläufige, einstöckige Häuser und kleinere Pavillons wie Perlen eingebettet lagen. Die Gebäude bestanden aus luftigen Hallen und Zimmern, die sich um Innenhöfe mit zauberhaften Gärten und kleinen Teichen gruppierten. Daneben gab es auch ein paar hübsche Wohntürme, an deren geschwungenen Dächern kleine Glocken aus Silber oder klarem Kristall hingen. Doch keines der Gebäude bestand aus kaltem Metall, denn das würde die Harmonie mit der Natur stören.

Die Quellen der Unsterblichkeit gab es natürlich ebenso wie den Jadeturm, den Palast der göttlichen Königin des Westens, wie Xiwangmu auch genannt wurde. Er stand auf der obersten Terrasse inmitten des Jadeteiches, der aus jenen Quellen gespeist wurde. Dort wuchsen auch die Pfirsiche der Unsterblichkeit, die nur jene Auserwählten kosten durften, die von der Herrin Xiwangmu und dem Göttlichen Jadekaiser, dem Obersten Himmelsherrn, zu dem großen Fest im heiligen Pfirsichhain eingeladen wurden.

Bei dem Gedanken an das höchste aller Feste schossen Nü Ying Tränen in die Augen. Sie stand von ihrem Stuhl auf, trat zu dem winzigen Fenster und starrte gedankenverloren in die Ferne. Das Fest der Unsterblichkeit fand nur alle tausend Jahre statt, wenn die kostbaren Früchte wieder herangereift waren, und das nächste würde es in vier Jahren geben. Aber trotz ihres hohen Ranges würde sie als verlobtes Mädchen ohne ihren Bräutigam nicht dazu eingeladen werden.

Nü Ying legte ihre Stirn an die kühle Mauer und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie benötigte keine Frucht der Unsterblichkeit, denn sie war als Kind einer Göttin und eines göttlichen Beamten selbst eine Fee. Wie ihre Mutter gehörte sie zum Hofstaat der Herrin Xiwangmu und durfte den Gürtel mit den Tigerstreifen tragen, das Zeichen der hochrangigsten Hofdamen der Göttin.

Ein Bissen von einem der heiligen Pfirsiche würde jedoch ihre magischen Kräfte stärken und sie reifer und weiser machen. Das wäre sie gerne, aber es machte ihr nichts aus, noch tausend Jahre darauf zu warten. Schließlich war sie erst neunzehn Menschenjahre alt und damit in den Augen vieler Unsterblicher noch so etwas wie ein Kind im Wickelkissen.

Ihre Eltern aber hatten sie schon früh wie eine Erwachsene behandelt und sie im Alter von sechs Jahren mit dem gleichaltrigen Sohn einer Freundin der Familie verlobt, wie es bei den Menschen Sitte war. Das war der Wunsch ihrer Mutter gewesen, und ihr Vater hatte nur höflich dazu genickt. Er machte seiner Frau auch jetzt keinen einzigen Vorwurf wegen dieses voreiligen Schrittes, obwohl die Verbindung unter einem schlechten Stern stand und es wohl niemals zu einer Gemeinschaft zwischen ihr und ihrem Bräutigam kommen würde.

Nü Yings Gedanken glitten zu jenen Tagen zurück, an denen ihre Verlobung im kleinen Kreis gefeiert worden war. Bei dem Vater ihres Bräutigams hatte es sich um einen Sterblichen gehandelt, auch wenn dieser sich göttlicher Abkunft rühmen konnte, seine Mutter Shi Shing aber war die Tochter der Herrin Xiwangmu und eines Tigergeistes von den Gelben Quellen gewesen, die einen sterblichen Körper angenommen hatte. Die Königin des Westens hatte ihre Tochter wegen dieser unpassenden Heirat verstoßen, und daher musste das Paar wie gewöhnliche Menschen unten in der Welt des roten Staubes leben.

Nur einmal waren Shi Shing und ihr Gemahl heimlich auf den Kunlun-Berg gestiegen, um ihren Sohn der Freundin vorzustellen und die Verbindung zwischen ihren Kindern zu besiegeln. Sie selbst war von der Idee der Verlobung mit dem Sohn der Feendame Shi Shing hellauf begeistert gewesen, auch wenn sie die Bedeutung dieses Schrittes nicht wirklich begriffen hatte. Bei der Geburt ihres Verlobten waren seltsame Vorzeichen aufgetaucht, und mehrere Orakel hatten vorausgesagt, ihr zukünftiger Gemahl würde der große Feldherr Eisentiger werden, ein strahlender, berühmter Held. Da in den Geschichten, die ihr ihre Kinderfrau erzählt hatte, nur solche Männer kleine Feenmädchen glücklich machen konnten, war sie selig gewesen.

Zwar wusste sie nun, dass die Dienerin ihr Ammenmärchen erzählt hatte, aber sie hatte nie bereut, dem Plan ihrer Mutter zugestimmt zu haben. Seltsamerweise musste sie in den letzten Wochen öfter an die schlimmen Vorahnungen denken, die sie kurz vor jener Feier überfallen hatten und die zum Teil schon eingetroffen waren. Feen und andere hohe Unsterbliche konnten eigentlich nur schöne Träume bekommen, da Albtraumgeister ihnen nichts anhaben konnten. In der Nacht vor ihrer Verlobung aber war sie von grausamen Traumgesichtern überfallen worden.

Zum Glück hatte sie sich schon am nächsten Tag nicht mehr an alles erinnern können, aber das, was sie noch wusste, war beängstigend genug. Ihr künftiger Held würde sie unten in der Welt der Menschen vergessen, um ein anderes Mädchen werben und deswegen in schreckliche Gefahr geraten, die ihn sein Leben und seine unsterbliche Seele kosten sollten.

Damals hatte sie auf Abhilfe gesonnen und heimlich einen Granatapfel von einem zauberischen Baum im Garten ihrer Mutter gepflückt. Nach der offiziellen Verlobungsfeier hatte sie die Frucht mit ihrem kindlichen Bräutigam geteilt, so dass von dieser Stunde an ihre Seelen untrennbar miteinander verbunden waren.

Die magische Frucht bewirkte auch, dass sie jederzeit in den Träumen ihres Bräutigams auftauchen und ihm auf diese Weise nahe sein konnte. Zu ihrem Leidwesen aber war es ihr bisher nicht gelungen, sich ihm mitzuteilen. Auch konnte sie nur selten verstehen, was er dachte. Aber sie konnte seine Träume miterleben, und sie vermochte seine Erinnerung an sie beständig wachzuhalten.

Die magische Verbindung mit ihrem Bräutigam hatte ihr in der kurzen Zeit mehr Kummer gebracht, als ein Unsterblicher sonst in Jahrzehntausenden erfuhr, denn das Schicksal meinte es wirklich nicht gut mit ihrem Helden. Kurz nach ihrer Rückkehr in die Welt des roten Staubes waren seine Eltern von einem rachsüchtigen Tiergeist ermordet worden, und das Ungeheuer hatte nicht nur die Körper des Paares zerstört, sondern auch ihre unsterblichen Seelen. Nun irrten die beiden edlen Wesen als kraftlose Gespenster umher, und ihnen war der Weg in die Welt der Unsterblichen für immer versperrt. Sie konnten nicht einmal wie gewöhnliche Menschen den Weg in die Unterwelt finden, um in den Kreis der Wiedergeburten einzutreten. Damit waren die Eltern ihres Bräutigams so tot wie eine zertretene Schnecke.

Das Schicksal des jungen Eisentigers gestaltete sich kaum besser, denn er hatte durch einen Fluch des Tierdämons sein Gedächtnis verloren und hielt sich für einen ganz gewöhnlichen Menschen. Auch wusste er nichts mehr von seiner Verlobung, nannte aber ihr Bild in seinen Träumen seine »Geisterbraut«, weil sie ihm Nacht für Nacht erschien. Wenn man es genau nahm, war sie nur ein Geist für ihn, eine Shen-Frau, wie die Menschen die ihnen gutgesinnten Unsterblichen und Feen im Gegensatz zu den bösartigen Gui-Gespenstern nannten.

Als guter Geist begleitete sie den jungen Eisentiger durch sein Leben, immer in der Hoffnung, er würde doch noch den Weg zu ihr finden. Ganz so unerfüllbar schien ihr Wunsch nicht zu sein, denn als ihr Bräutigam das Alter erreicht hatte, in dem junge Männer sich für Frauen zu interessieren begannen, hatte er sich geschworen, das Mädchen aus seinen Träumen zu suchen und zu seiner Frau zu machen. Nun betete sie zum Göttlichen Jadekaiser, dass ihr Held auch als erwachsener Mann zu dem Schwur seiner Jugendtage stehen würde.

2. Die Schwarze Füchsin sucht eine starke Seele

Die Sterne des Großen Scheffels standen noch klar am Himmel, ohne dass ein Hauch von Morgendämmerung ihren Glanz trübte. Über den See strich ein kalter Wind und trieb schwarze Wellen vor sich her, deren Schaumkronen im Mondlicht schimmerten. Am Ufer tanzten die Zweige der Weiden über dem Wasser, und im Park flüsterten die Päoniensträucher dem schwankenden Bambus kleine Geheimnisse zu.

In den Häusern war das letzte Licht erloschen, und sogar die halbwilden Hunde hatten sich verkrochen. Kein Mensch mit gesunden Sinnen und einem reinen Gewissen würde sich nun freiwillig den Gefahren der Nacht aussetzen, denn die Stunden vor dem Erwachen des Morgens gehörten Geistern, Gespenstern und Dämonen.

Der weitläufige Park um den Königspalast wirkte ebenfalls wie ausgestorben. Die Pavillons, die Wohntürme und die Paläste der hohen Würdenträger existierten nur noch als Schattenrisse, und die hell gekiesten Wege glichen einem silbrigen Spinnennetz, das auf den Tau des Morgens wartete.

Bei einem der einstöckigen Pavillons im westlichen Teil des Parks flackerte mit einem Mal ein Licht auf, dessen schwacher Schein kaum mit dem der Sterne konkurrieren konnte. Es handelte sich um eine Laterne aus roter Seide, die nur eine dünne Kerze enthielt und von einer älteren Frau gehalten wurde. Diese war der Frisur nach Witwe und trug den dunklen Rock einer höheren Bediensteten unter einem wattierten Überwurf. Nun leuchtete sie einer jungen, elegant frisierten Hofdame den Weg aus.

Diese hatte sich mit üppigen Pelzen gegen die Nachtkälte geschützt, wirkte aber auch darin zart und ätherisch schön. Doch als der Schein des fast vollen Mondes auf ihr vorher so liebliches Gesicht fiel, erschien es hart und spitz, und ihr Lächeln verwandelte sich in das Zähnefletschen eines wilden Tieres. Die junge Dame schien sich dieses Umstands bewusst zu sein, dennoch ließ sie das Mondlicht eine Weile auf sich wirken. Dann nickte sie selbstzufrieden und drehte sich zu der Älteren um.

»Nein, Tantchen! Ich werde es mir nicht anders überlegen. Es gibt keine schlechte Tageszeit – es gibt nur lächerliche Einbildungen! Jammere nicht, sondern mach dem faulen Zofenpack da drinnen Beine. Ich habe nicht vor, hier Wurzeln zu schlagen.«

Sie nahm der Älteren die Laterne ab und ging mit tänzelnden Schritten den Weg hinab, der zu einem der großen Aussichtstürme in der Nähe der westlichen Palastmauer führte. Die ältere Frau zuckte unwillig mit den Schultern und trat in den Pavillon zurück. Mit gedämpften, aber harschen Worten scheuchte sie eine Schar schluchzender Dienerinnen ins Freie, die zwei Truhen und einige große Stoffbündel schleppten.

Die Zofen sahen sich verängstigt um und folgten der Hofdame trotz ihrer schweren Last so flink, als säßen ihnen übelwollende Totengeister im Nacken. Darüber schien sich die hochrangige Bedienstete, die sich fester in ihren wattierten Mantel wickelte, zu amüsieren.

Sie schätzte die schwatzhaften, faulen und immer neugierigen Zofen nicht sonderlich. Kaum war der letzte Schein der Dämmerung erloschen, glaubten die dummen Dinger, in den Zweigen der Bäume und den dunklen Winkeln des Parks Gespenster zu sehen, und sie jammerten jedes Mal, wenn sie nach Anbruch der Dunkelheit das Haus für eine Besorgung verlassen mussten.

»Dummes Menschenpack!«, schimpfte die Alte leise vor sich hin. »Geister und Gespenster haben Besseres zu tun, als in dunklen Ecken zu hocken und auf solch hirnlose Geschöpfe wie euch zu warten.«

Manchmal zwickte es sie, diesen ständig lamentierenden Geschöpfen tief in die Augen zu sehen und ihnen ihr wahres Gesicht zu zeigen. Der Schrecken wäre sicher heilsam und würde all den Klagen wegen der nächtlichen Lebensweise ihrer Herrin ein Ende bereiten. Vielleicht würde das Gesinde dann auch sie, Frau Mochin Shao, ihres Zeichens Pflegemutter und Haushofmeisterin der adeligen Dame Haokan Hei, endlich mit dem Respekt behandeln, der ihr zustand.

Unter den Verhältnissen hier im Palast wäre die Enthüllung ihrer wahren Natur jedoch ein Todesurteil gewesen, denn nicht nur die Dienerschaft fürchtete sich vor Gespenstern. Seit vielen Jahren ging das Gerücht um, der Feldherr des Feindes im Osten, der mörderische General Rattenkopf, sei ein zauberkräftiger Tiergeist. Seitdem wimmelte es am Hof des Königs von Wey von Magiern, Astrologen, Geisteraustreibern, Orakelpriestern und in Hexenkünsten bewanderten Frauen. Einer dieser gelehrten Herren war der Wahrsager dritten Grades, Cong Ming, ihr Bruder und der Pflegevater der Dame Haokan Hei. So wie sie beide war er ein alter, mächtiger Geisterfuchs, und das hatte keiner von diesen angeblich allwissenden Zauberern bislang bemerkt.

Das Leben hier im Palast des Königs von Wey war aufregend und prickelnd und ließ das Blut machtvoll in den Adern pulsieren. Aber gleichzeitig war es ein Balanceakt auf einer scharf geschliffenen Schwertklinge. Entdeckte jemand ihre füchsische Natur, brächte man sie nach den grausamen Regeln zu Tode, die der Aberglaube den Menschen diktierte, und ihre Existenz würde für immer vernichtet sein. Wie andere Tiere hatten auch Geisterfüchse keine Seelen in der Art der Menschen und wurden daher auch nicht wiedergeboren. Dafür konnten sie die geheimen Künste des langen Lebens erlernen und viele hundert oder tausend Jahre alt werden. Selten starben sie auf natürliche Weise, aber wenn sie umkamen, blieb von ihnen kaum ein Funke übrig.

Das war eine große Ungerechtigkeit der Götter gegenüber so edlen und klugen Geschöpfen wie den Füchsen. Genauso ungerecht war der Hass und der Abscheu, mit dem die Menschen die Geistertiere als amoralisch und unnatürlich verfolgten und danach trachteten, sie zu vernichten. Aus diesem Grund war sie, Mochin Shao, eine mehr als tausend Jahre alte Geisterfüchsin und zauberkundige Hexe, gezwungen, sich mit einem gebrechlichen, ständig frierenden Menschenkörper herumzuquälen, dem der Aufstieg auf der steilen Treppe den Atem raubte. Überdies musste sie sich auch noch von den Zofen verspotten lassen, die mit ihren schweren Lasten den Turm hinaufeilten, als trügen sie nur ein paar Federbetten.

Eine schmale Hand legte sich auf Mochin Shaos Schulter und schob sie vorwärts. »He, Tantchen, träum nicht! Schau lieber, was die Zofen da oben treiben. Sie sollen es mir warm und gemütlich einrichten. Sag ihnen, sie sollen zwei Kohlenpfannen zwischen die Decken stecken. Ich erstarre hier schon zu einem Eiszapfen.«

Die alte Frau drehte sich schnaufend um und sah Haokan Hei besorgt an. Nein, wie ein Eiszapfen sah sie nicht aus. Ganz im Gegenteil – ein Feuer schien in ihr zu brennen, eine verzehrende Flamme, die ihr schon seit Wochen den Schlaf raubte und ihr Gesicht immer spitzer werden ließ.

Mochin Shao hatte in der letzten Zeit ebenfalls nur wenig Schlaf finden können. Tagsüber versah Haokan Hei den Dienst einer Hofdame dritten Ranges, nachts aber hielt sie sie und die Zofen Stunden um Stunden auf Trab. Immer wieder ließ sie sich starken Tee kochen und wühlte in den Zauberbüchern und ausgebleichten Schriftrollen, die sie auf dem Berg der sanften Stille erworben hatte.

Auch jetzt hatte sie eine Ledertruhe voller Bücher mitnehmen lassen, obwohl es viel zu dunkel war, um die kunstvollen Kalligraphien lesen zu können, die das geheime Wissen der Geisterfüchse in einer den Menschen unbekannten Sprache enthielten. Es war nach Mochin Shaos Meinung viel zu gefährlich, in dem von menschlichen Zauberern wimmelnden Palastbereich solche Bücher zu besitzen, sie aber herumzuschleppen erschien ihr als der Gipfel des Leichtsinns. Sie zitterte bei dem Gedanken, einer der Magier könnte plötzlich auftauchen, um zu schauen, was sie hier nächtens trieben, und dabei die Schriften entdecken.

Oben auf dem Turm angekommen, hetzte Haokan Hei ihre Pflegemutter und die Zofen so lange hin und her, bis diese ihr am günstigsten Aussichtspunkt ein erhöhtes Lager aus Kissen, Pelzen und Decken bereitet hatten. Als Tee und Reiswein auf den Kohlebecken standen und sich Schüsseln mit Gebäck und Süßigkeiten in Reichweite befanden, befahl Haokan Hei den Zofen herrisch, schlafen zu gehen und erst wiederzukommen, wenn die Stunde des Drachen schon halb vorüber wäre.

Mochin Shao hätte gerne gewusst, warum ihre Pflegetochter bis in den späten Vormittag auf diesem kahlen Turm verweilen wollte, aber sie fragte lieber nicht, sondern schloss sich den Zofen an in der Hoffnung, sich unauffällig auf ihr beheizbares Alkovenbett zurückziehen zu können.

Haokan Heis spöttisches Lachen nagelte sie auf der oberen Stufe fest. »Nein, meine Liebe! Du bleibst hier! Setz dich neben mich und deck dich gut zu. Dann kannst du mir eine Schale Reiswein reichen. Die Herbstkälte kriecht selbst durch die Pelze, und ich muss mich aufwärmen.«

Sie nahm den Wein entgegen, wartete, bis Mochin Shao sich ebenfalls eine Schale gefüllt hatte, und trank ihr zu. »Möge dieser Tag mich meinem Ziel einen großen Schritt näher bringen!«

»Ich wünsche es dir von Herzen, liebe Hei-Hei! Aber ich wüsste für mein Leben gerne, was dich so stark beschäftigt.«

Haokan Hei begann unvermittelt zu kichern. »Ach, Tantchen, wie hast du die letzten Wochen nur überstanden? Du bist vor Neugierde beinahe gestorben, weil ich dich nicht ins Vertrauen gezogen habe. Aber ich musste meiner Sache erst sicher sein. Nun brauche ich deine Hilfe.«

»Du denkst nur dann an mich, wenn du meine Hilfe benötigst«, antwortete das Tantchen spitz. »Meinen Rat aber verschmähst du. Was warst du für ein liebes Geschöpf, ehe du zum Berg der sanften Stille gegangen bist.«

Haokan Hei drohte Mochin Shao mit dem Zeigefinger. »Möchtest du hören, was ich herausgefunden habe, oder willst du mir einen Vortrag über mangelnden Respekt halten? Ich weiß, was du aufgegeben hast, um mir die Mutter zu ersetzen. Aber ich bin kein kleines Mädchen mehr, das gerade seine ersten Schriftzeichen erlernt, sondern habe all das Wissen und die Weisheit erlangt, die mir die erhabenen Geister und die unsterblichen Weisen auf dem Berg der sanften Stille vermitteln konnten. Jetzt muss ich meinen eigenen Weg gehen.«

Mochin Shao wollte auffahren, doch Haokan legte besänftigend die Hand auf ihren Arm. »Schon gut, Tantchen! Ich weiß, ich war immer sehr egoistisch, und ich habe deine Gegenwart und deine Fürsorge so selbstverständlich hingenommen wie den Wechsel von Tag und Nacht. Oft hast du mir geholfen, wenn ich nicht weiterwusste, und ich habe es dir selten gedankt. Jetzt bitte ich dich um eines: Hilf mir noch ein letztes Mal. Danach solltest du zum Berg der sanften Stille gehen und dich deiner eigenen Vervollkommnung widmen. Ich werde dich begleiten und dich den Drachen und Dämonen, den Geisteräbten und den versteinerten Philosophen empfehlen, die dich durch das Wissen aller drei Weltenebenen führen werden.«

Mochin Shao wehrte ab. »Was redest du da, Hei-Hei? Ich werde dich nicht eher verlassen, als bis ich dich gut verheiratet weiß. Das habe ich deinen Eltern versprochen.«

»Willst du mich deswegen an Onkel Cong Ming verkuppeln? Da hast du kein Glück, Tantchen. Du weißt, es gehört sich nicht, dass so enge Verwandte heiraten. Das ist gegen die fünf menschlichen Grundbeziehungen und gegen alle Sittengesetze. Wir sind doch keine Tiere!«

»Wir sind auch keine Menschen und stehen über ihren kleinlichen Gesetzen.«

»Das ist nur zum Teil richtig. Wer Vollkommenheit anstrebt, muss die Gesetze einhalten, nach denen sich die Menschen und die himmlischen Untertanen des Jadekaisers richten. Sogar die dienstbaren Kreaturen der Hölle achten sie.«

»Dazu gehört aber auch die Heirat! Wie willst du einen Mann von unserer Art finden? Es gibt nicht mehr viele. Onkel Cong Ming ist der einzige männliche Geisterfuchs im weiten Umkreis. Außerdem ist er nach unseren Regeln nur sehr weitläufig mit dir verwandt.«

Haokan Hei biss sich auf die Lippen. »Du hast ja recht, Tantchen. Abgesehen von den uralten Ahnen auf dem Berg der sanften Stille gibt es im Umkreis von fünfhundert Meilen nur noch dich, mich und Onkel Cong Ming.

Wir sind von Generation zu Generation weniger geworden, und wenn es so weitergeht, wird es in diesem Land bald keine Geisterfüchse mehr geben. Aber eine unbedachte Heirat wird dem Verderben Tür und Tor öffnen, wenn nicht ein paar neue Tatsachen geschaffen werden. Ich weiß jetzt endlich, was zu tun ist, um den Fortbestand unserer Art zu sichern. Dabei bin ich auf deine Hilfe angewiesen. Aber eine Bedingung muss ich stellen: Sprich mit niemandem über das, was ich dir heute mitteile, besonders nicht mit Onkel Cong Ming!«

»Was denkst du dir, Hei-Hei? Ich bin doch keine Schwätzerin, dass ich deine Geheimnisse an einen Mann weitertrage!«

»Das weiß ich! Aber es ist eine Angelegenheit, die ihn ebenso betrifft wie mich und natürlich auch dich. Ich habe das Problem erkannt und weiß, dass nur ich es lösen kann. Versprichst du mir zu schweigen, jetzt und bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Gefahr beseitigt ist?«

»Wenn es Cong Ming direkt angeht, müsste ich eigentlich …«, begann Mochin Shao, wurde aber barsch unterbrochen.

»Es geht ihn nicht direkt an! Jedenfalls noch nicht. Tantchen, bitte! Ich brauche dein Versprechen, sonst muss ich alleine handeln und mich vielleicht gekaufter Vermittler bedienen. Willst du das?«

»Ach, Hei-Hei, seit du zurückgekommen bist, hast du so einen harten, ganz eigenen Kopf. Ich kenne dich gar nicht mehr wieder!«, jammerte Mochin Shao, beobachtete ihre Pflegetochter jedoch scharf.

»Tantchen, du stirbst doch vor Neugier und würdest mir keine Ruhe lassen, bis ich dich eingeweiht habe. Also, was ist? Schweigst du?«

»Wie könnte ich dir einen Wunsch abschlagen! Natürlich werde ich nicht ohne deine Erlaubnis mit meinem Bruder reden.«

Haokan Hei lehnte sich zufrieden zurück und reichte Mochin Shao die leere Reisweinschale, duldete es aber, dass ihr die Ältere statt des Weins Tee einschenkte. Mochin Shao hatte offensichtlich verstanden, dass es galt, einen klaren Kopf zu bewahren. Die Schwarze Füchsin trank und genoss dabei die Wärme, die sich in ihr ausbreitete.

»Tantchen, du warst doch die Erste, die mir von dem Orakel der blauen Schildkröte berichtet hat, das seinen Schatten über unsere Sippe wirft.«

Mochin Shao zuckte zusammen und schüttete Tee in ihren Schoß. »Um des ewigen Himmels willen, Kind, schweige davon! Du kannst diese Dinge doch nicht hier unter freiem Himmel und außerhalb der Abwehrzauber des Palastes aussprechen! Wer weiß, welche neidischen Gui-Gespenster zufällig am Turm vorbeischweben. Sie könnten dich hören und dafür sorgen, dass die böse Prophezeiung in Erfüllung geht.«

»Du vergisst, dass wir die bösen Geister sind, zumindest in den Augen der Menschen! Aber sorge dich nicht. Ich habe alle Vorkehrungen getroffen, damit uns niemand belauschen kann, sei er Mensch, Gott oder Geist. Das Ritual des Kreises der undurchdringlichen Stille gehört zu den ersten Lektionen, die man beherrschen muss, wenn man ein richtiger Magier werden will. Ich muss jetzt und hier mit dir reden, denn ich glaube, das Orakel beginnt, in Erfüllung zu gehen.«

»Hei-Hei, du hast in tausend Jahren viel gelernt, und deine neun Schwänze zeigen, dass du eine vollendete Geisterfüchsin geworden bist. Dennoch musst du dich irren! Cong Ming hat nach dem Tode unseres Sippenältesten alle Weisen, alle Drachenfürsten und alle Wasser- und Erdgötter gefragt, denen er je begegnet ist. Keiner vermochte ihm die Worte des blauen Schildkröterichs richtig zu deuten. Vielleicht hat die rachsüchtige Kreatur damals nur sinnlose Worte gesagt, um Schatten auf das Glück unserer Sippe zu werfen.«

»Nein, der Schildkröterich hat die Wahrheit gesagt. Ich glaube, er meinte es auf seine verdrehte Art sogar gut mit unserem Ahnen, trotz des großen Streits zwischen ihnen. Er vermochte aber sein Wissen nur in Rätselbildern weiterzugeben. Ich bitte dich, Tantchen, wiederhole seinen Spruch noch einmal. Dann werde ich ihn dir deuten.«

Mochin Shao wickelte sich fester in ihre wattierte Jacke und zog die Pelzdecke fast bis zum Kinn. Dann sah sie sich nach allen Richtungen um. Der Himmel färbte sich im Osten bereits rot, und es versprach ein schöner Tag zu werden, wie geschaffen für das herbstliche Seefest, das an diesem Tag vor den Toren der Stadt Wey Cheng seinen Ausgang nehmen würde. Dann aber sah sie vor ihrem inneren Auge jenseits des ersten Morgenrots dunkle Wolken aufziehen, die ihr und Haokan Heis künftiges Geschick überschatten mussten.

»Mögen die Folgen auf dein Haupt kommen, Hei-Hei! Der Schildkröterich sagte zu unserem Ahnen:

»Wenn Berg und Erde sich verbinden

und Geist und Fleisch zusammenfinden,

wenn an den Gelben Quellen für Weiße Tiger

rote Kerzen brennen,

wenn aus dem Westen ein Stern zur Erde steigt

und zum wilden Panther sich gesellt,

wenn der kleine Tiger die Geisterbraut vergisst,

dann wird in deinem Haus die letzte Ahnentafel aufgestellt.«

Mochin Shao verstummte schwer atmend, so als hätte sie sich die Worte aus der Brust pressen müssen. Haokan Hei aber lächelte, und dieses Lächeln war scharf wie eine frisch geschliffene Klinge. »Ich danke dir, Tantchen, und will dich auch nicht lange raten lassen. Hast du schon einmal vom Panther vom Glockenberg gehört?«

»Wer hätte das nicht? Zhong Bao Hong, der Rote Panther, war ein großer Mann mit ungewöhnlichen Kräften, aber roh und ungebildet. Seine Mutter soll eine Sklavin aus Zhou gewesen sein und er nur wildes Blut, wie die Menschen zu sagen pflegen, denn niemand kennt seinen Vater. Es heißt, Zhong Bao Hong habe sich alleine durch ein feindliches Heer gekämpft und sich dabei in einen riesigen Geisterpanther mit blutrotem Fell verwandelt, dessen Brüllen alle Kriegstrompeten übertönte.«

»So war es tatsächlich! Dieser Mann wird im ersten Teil des Orakels beschrieben. Erde – das bedeutet seine Mutter. Sie war ein ungebildetes, plumpes Bauernmädchen, muss aber ihre Reize gehabt haben, denn sie hat einen Berggeist verführt. Der Berg – das Wort beschreibt den Vater des Roten Panthers. Er ist der unsterbliche Hüter des Glockenberges in der östlichen Provinz von Wey. Geist und Fleisch sind nur noch ein weiterer Hinweis auf die Herkunft des Zhong Bao Hong.

Es gibt viele Erzählungen über den Roten Panther als Kriegsheld und General des früheren Königs von Wey. Er besaß große Ländereien am Fuß des Glockenberges, und dorthin brachte er seine erste und einzige Gemahlin. Da er nur zur Hälfte der Welt des roten Staubes angehörte und zur anderen Hälfte der Welt der Geister und Götter, konnte er eine ganz besondere Frau für sich gewinnen, nämlich Shi Shing, die vom Kunlun-Berg stammte und dort Weißer Tigerstern genannt wurde. Sie war ein ungebärdiges Weib, dem die Unsterblichkeit schon in die Wiege gelegt worden war. Ihr Vater soll ein Tigergeist aus den tiefsten Tiefen der Unterwelt, dem Reich der Gelben Quellen, gewesen sein und ihre Mutter niemand anders als Xiwangmu höchstselbst, die göttliche Königin des Kunlun-Berges.

Als die Tochter von Himmel und Hölle einen sterblichen Körper annahm und ohne die Erlaubnis ihrer Eltern einen Sterblichen heiratete, einen ungebildeten Raufbold zweifelhafter Herkunft, erschütterte der Skandal die neun Jadeterrassen. Xiwangmu war außer sich vor Zorn und hat ihre Tochter verflucht und verstoßen.«

Mochin Shao hob die Hand, um Zweifel anzumelden, Haokan Hei aber winkte ab. »Es hört sich unglaublich an, denn kein Sterblicher und nur wenige Feen und Geister wissen von Xiwangmus Tochter. Das liegt an dem Befehl, den die Herrin des Westens allen Unsterblichen erteilt hat. Shi Shing sei vergessen, und ihren Namen sollte niemand mehr aussprechen. Aber daran haben sich nicht alle gehalten.

Doch zurück zum Panther vom Glockenberg. Er brachte es fertig, die Heere von Zhou trotz ihres hervorragenden Anführers zu schlagen, obwohl dieser als besonders klug und listig, aber auch als grausam galt. Der Feldherr von Zhou hat viele Jahre lang Angst und Schrecken in Wey verbreitet, und ich kann die Einschätzung seines Charakters nur bestätigen.«

»Du kennst den früheren General von Zhou, der von der Hand des Panthers fiel?«, fragte Mochin Shao ungläubig.

»Ich meine General Rattenkopf. Nun, tot ist er nicht. Er hat sich nur ein paar Jahre zurückziehen müssen und ist jetzt wieder am Hof von Zhou. Natürlich nennt er sich anders und gibt vor, sein eigener Sohn zu sein. In Wahrheit handelt es sich um Lao Shu, den Rattengeist, der aus den Gefilden des Kunlun-Berges vertrieben worden ist.

Er galt als streitsüchtig, aufrührerisch und respektlos, und er ist einer kriegerischen Fee des Kunlun-Berges zu nahe getreten. Als diese sich gegen seine Zudringlichkeiten gewehrt hat, versuchte er, ihren Ruf zu beschmutzen, und als ihm das nicht gelang, wollte er sie vernichten. Da ist sie vor seinen Nachstellungen in die Welt des roten Staubes geflohen. Er aber wurde wegen seiner Verbrechen auf Xiwangmus Befehl gebrandmarkt und vom westlichen Weltenberg verbannt.

Die Fee war niemand anders als Shi Shing, die vor dem Rattengeist direkt in die Arme eines anderen Tiermenschen geflohen ist. Das erklärt auch, warum der Feldherr des Königs von Zhou mitten im beschworenen Frieden mit einer als Maultierhändler verkleideten Söldnertruppe durch Wey gereist ist, um das Landgut des Roten Panthers zu überfallen. Er hatte öffentlich geschworen, Shi Shing, ihren Mann, ihren Sohn und ihr gesamtes Gefolge bis zum letzten Küchenmädchen zu den Gelben Quellen zu schicken.

Tatsächlich hat er Zhong Bao Hong vernichtet und Shi Shings menschliche Hülle zerstört. Überdies hat er ihre Feenkraft mit seiner Hexenkunst so weit geschwächt, dass sie zu einem machtlosen Gui-Gespenst wurde. Sein Ziel hat er bisher jedoch nicht vollständig erreicht, denn Shi Shings Sohn war nicht unter den Toten. Zudem ist Lao Shu im Zweikampf mit dem Panther so stark verletzt worden, dass auch er seine sterbliche Hülle aufgeben und sich eine Weile auf den Berg der sanften Stille zurückziehen musste.

Wäre Shi Shing nicht so dumm gewesen, hätte auch sie sich retten können. Wahrscheinlich hat sie ein paar schlechte Orakel zu Rate gezogen, denn sie hat ihren Sohn Zhong Tie Hu – den kleinen Tiger – noch vor dem Überfall hierher an den Königshof von Wey gebracht, ist aber selbst zu ihrem Mann zurückgekehrt, um mit ihm zugrunde zu gehen.

Nach der Zerstörung ihres menschlichen Körpers ist sie trotz des Urteilsspruchs ihrer Mutter zum Kunlun-Berg gegangen, war aber nicht mehr fähig, ihren Sohn mitzunehmen. Die Tatsache, dass ihr Enkel nun unter Menschen vegetieren muss, hat Xiwangmu ihrer Tochter so übelgenommen, dass sie sie in jene graue Zwischenwelt verbannt hat, in der die Seelen der von ihren Angehörigen vergessenen Menschen und die der Ermordeten als Hungergeister und Gui-Gespenster umherwandern.«

»Das ist der Ort, an den auch wir gehen müssen, wenn wir getötet werden«, sagte Mochin Shao bitter, »um langsam zu vergehen und zu verwehen …«

»Ja, aber nur dann, wenn wir uns keine unsterbliche Seele beschaffen können«, erinnerte Haokan Hei sie. »Aber lass mich weiter berichten. Es ist der Sohn der Shi Shing, der kleine Tiger, durch den unsere Sippe untergehen soll. König Lu Niao hat Zhong Tie Hu schon als Knaben zum Fürsten ernannt und in vielem bevorzugt. Wir haben den kleinen Tiger noch nicht zu Gesicht bekommen, denn er ist vor unserem Einzug in den Palast abgereist und hat seine Güter besucht. Gestern soll er zurückgekommen sein. Unter den Hofdamen wird schon gemunkelt, Lu Niao würde ihn demnächst verheiraten und als Statthalter in den östlichen Provinzen einsetzen.

Er soll mehr Gelehrter als Krieger sein, aber auch ein Meister im Kampfsport, und er hat die Militärwissenschaft so gründlich studiert, als wolle er sich auf die Nachfolge seines Vaters vorbereiten. An diesem Hof aber braucht man keine Militärs, sondern Speichellecker! Die anderen Edlen nehmen den jungen Mann nicht sonderlich ernst, und daher unterschätzen sie ihn. Das tue ich nicht, und ich werde der Gefahr, die für uns von ihm ausgeht, zu begegnen wissen.«

»Du meinst, er wird Onkel Cong Ming töten?«, fragte Mochin Shao bestürzt. »Hast du das in deinen Schriftrollen gelesen?«

»Wie es geschehen soll, kann ich dir nicht sagen. Aber er wird unseren Untergang herbeiführen, obwohl er nur ein Sterblicher mit einer begrenzten Lebensspanne ist.«

»Bist du dir ganz sicher?«

»Ja, Tantchen, so sicher, wie es je eine Geisterfüchsin war. Schau dir das Orakel genau an! Mit dem kleinen Tiger, der seine Geisterbraut vergessen hat, ist Tie Hu gemeint. Ich habe erfahren, dass er im Alter von sechs oder sieben Jahren von seiner Mutter hinter dem Rücken der Göttin Xiwangmu mit der Tochter einer befreundeten Fee verlobt wurde, die zu ihr gehalten hatte. Das Mädchen ist am gleichen Tag geboren wie der kleine Tiger, doch als Tochter zweier Götter ist sie bereits unsterblich. Aus diesem Grund wollten die beiden Mütter dem jungen Zhong während des Festes der Unsterblichkeit heimlich eine Frucht von einem der heiligen Pfirsichbäume zu essen geben. Damit wäre er zu einem der ihren geworden und frei vom Kreis der Wiedergeburten.

Doch als Zhong Bao Hong ermordet wurde, sind diese Pläne wie Rauch verweht. Hätte Shi Shing in jenem Moment, in dem sie von der Gefahr erfuhr, ihren Mann verlassen und wäre mit ihrem Sohn zum Kunlun-Berg gegangen, hätte sie ihre Mutter um Verzeihung anflehen und ihr den Jungen in den Schoß legen können. Dann wäre sie wohl in Gnaden aufgenommen worden, und ihr Sohn hätte in allen Ehren zu einem göttlichen Beamten auf den Terrassen des westlichen Weltenberges aufsteigen können. Stattdessen aber muss sie nun als Schatten ruhelos zwischen Himmel, Erde und Hölle wandeln. Das gönne ich diesem hochmütigen Weib …«

Mochin Shao lachte auf. »Ein Schattenschicksal für eine kleine Göttin? Geschieht ihr ganz recht! Aber erkläre mir, warum dieser dumme Jüngling Cong Ming oder uns schaden sollte? Er und wir hatten doch nie miteinander zu tun. Bisher habe ich angenommen, es würde ein vergessener Feind aus alter Zeit auftauchen, um sich an unserer Sippe zu rächen.«

»Tantchen, ich habe alle Fakten dreimal geprüft, und die uralten Ahnen bestätigen mir, dass ich große Teile des Rätsels gelöst habe.«

Mochin Shao schüttete neuen Tee in die Schalen und wartete, bis Haokan Hei getrunken hatte. Dabei entging ihr der Schatten nicht, der über das Gesicht der schönen Füchsin zog. Irgendeine Sorge schien an ihr zu nagen. Sicher hatte es mit den uralten Ahnen zu tun, einigen männlichen Geisterfüchsen, die schon seit Ewigkeiten als Philosophen und Sterndeuter auf dem Berg der sanften Stille wohnten und ihre füchsische Herkunft längst vergessen hatten.

»Jedenfalls bestätigten die Ahnen mir«, fuhr Haokan mit nachdenklichem Blick fort, »dass der Fürst Zhong Tie Hu unseren Untergang herbeiführen wird, wenn ihm nicht bald ein Unglück zustößt. Gleichzeitig sprachen sie aber von einer letzten Zeile des Schildkröten-Orakels, die Rettung verheißen soll.

Ich kenne leider den genauen Wortlaut dieser Zeile nicht, denn Cong Mings Vater hat sie uns seltsamerweise verschwiegen, und die Uralten wollten sie mir nicht verraten. Wie sie angedeutet haben, ist darin die Rede von einer Frau mit pelzigem Gesicht, die die Sippe vor dem Untergang bewahren kann. Eine Frau mit pelzigem Gesicht aber kann nur ich sein. Oder kennst du eine andere Geisterfüchsin, die in Frage käme? Ich werde unsere Sippe retten und mir gleichzeitig die Unsterblichkeit sichern! Aus diesem Grund will ich mir Zhong Tie Hu näher ansehen.«

Mochin Shao wollte Haokan Hei nicht daran erinnern, dass sie ja auch eine Geisterfüchsin war, wenn auch keine so zauberkräftige wie ihre Pflegetochter. Daher fragte sie: »Hast du mit den Uralten über dein Vorhaben gesprochen?«

»Ja!«, sagte Haokan Hei und presste die Lippen aufeinander.

»Hei-Hei, du verschweigst mir etwas! Haben die Uralten dich vor einer Gefahr gewarnt? Ich muss alles wissen, um dir bei deiner Mission helfen zu können.«