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Inhaltsverzeichnis

Über den Autor
Widmung
PROLOG - Eine etwas gezwungene Konversation
ERSTES BUCH - DIE KARTEN IN DER HAND
Kapitel Eins - Kleine Spielchen
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Rückblick - Der Capa von Vel Virazzo
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Kapitel Zwei - Requin
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Rückblick - Pläne
Kapitel Drei - Ein warmer Empfang
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Rückblick - Die Herrin des Glaspylons
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Kapitel Vier - Blinde Allianzen
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Rückblick - Der Vergnügungskrieg
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Kapitel Fünf - Auf einem Mechanischen Fluss
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Letzter Rückblick - Am eigenen Strick
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Kapitel Sechs - Schuldausgleich
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Kapitel Sieben - Leinen los
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ZWEITES BUCH - TRÜMPFE IM ÄRMEL
Kapitel Acht - Das Ende des Sommers
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Kapitel Neun - Die Giftorchidee
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Kapitel Zehn - Alle Seelen in Gefahr
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Kapitel Elf - Wahrheiten und mehr
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Kapitel Zwölf - Port Prodigal
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Kapitel Dreizehn - Scheidewege
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DRITTES BUCH - DIE KARTEN AUF DEN TISCH
Kapitel Vierzehn - Die Geißel des Messing-Meers
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Kapitel Fünfzehn - Unter Brüdern
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Kapitel Sechzehn - Vergeltung
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EPILOG - Sturm über Roten Wassern
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NACHWORT
DANKSAGUNG
Copyright

DANKSAGUNG

Wieder einmal bedanke ich mich zuerst bei der wunderbaren Jenny, die mir im Lauf der Jahre so vieles gewesen ist – Freundin, Vertraute, Erstleserin, konstruktive Kritikerin und nun, endlich, meine Ehefrau.

Ich danke auch Anne Groell, Gillian Redfearn und Simon Spanton, nicht nur, weil sie einfach genial sind, sondern weil sie mich nicht umgebracht haben.

Dank schulde ich Jo Fletcher, weil auch sie mich am Leben ließ. Hurra!

Ich bedanke mich bei allen Mitarbeitern von Orion Books, die meine erste Reise nach England (hoffen darf man ja immer) zu einem Erfolg gemacht und mich trotz meines angeschlagenen Gesundheitszustands toleriert haben; mein besonderer Dank gilt Jon Weir, die treu die Peitsche geschwungen hat und mir ein guter Lotse war.

Ich danke allen Buchhändlern Großbritanniens, die sich unglaubliche Mühe gegeben haben, um für meinen Roman Die Lügen des Locke Lamora zu werben und ihn hochzuloben, als er noch ein Säugling war und nicht auf eigenen Füßen stehen konnte.

Ich danke Desiree, Jeff und Cleo.

Desgleichen Deanna Hoak, Lisa Rogers, Josh Pasternak, John Joseph Adams, Elizabeth Bear, Sarah Monette, Jason McCray, Joe Abercrombie, Tom Lloyd, Jay Lake, GRRM und vielen anderen. Und natürlich danke ich Rose, die zwar ziemlich klein, aber trotzdem eine angenehme Gesellschaft ist.

Und ich danke Loki, Valkyrie, Peepit, Artemis und Thor, der besten Ansammlung von kleinen Haustieren, die es je gegeben hat.

Der Autor

Scott Lynch wurde 1978 in St. Paul, Minnesota, geboren. Er übte sämtliche Tätigkeiten aus, die Schriftsteller im Allgemeinen in ihrem Lebenslauf angeben: Tellerwäscher, Kellner, Web-Designer, Werbetexter, Büromanager und Aushilfskoch. Zurzeit lebt er in New Richmond, Wisconsin. »Die Lügen des Locke Lamora«, sein erster Roman, wurde auf Anhieb ein riesiger Erfolg.

EPILOG

Sturm über Roten Wassern

1

»Was zur Hölle soll das heißen, ›Reproduktionen‹?«

Locke saß auf einem bequemen, hochlehnigen Stuhl im Büro von Acastus Krell, Kunsthändler in Vel Virazzo. Er legte seine zitternden Hände um das schmale Glas mit lauwarmem Tee, um nichts zu verschütten.

»Diesen Ausdruck müssen Sie doch kennen, Meister Fehrwight«, erwiderte Krell. Der alte Mann hätte einem Stock geglichen, wenn er sich nicht so anmutig bewegt hätte; wie ein Tänzer glitt er durch den Raum und handhabte seine Vergrößerungsgläser wie ein Duellant, der eine Kampfpose einnimmt. Er trug ein weites Gewand aus blaugrauer Seide mit Brokatmuster, und als er nun den Kopf hob, unterstrich der haarlose, glänzende Schädel seinen geradezu unheimlich anmutenden, starren Blick. Dieses Büro war Krells Refugium, der Mittelpunkt seiner Existenz. Es verlieh ihm eine Aura von Gelassenheit und Autorität.

»Allerdings«, räumte Locke ein. »Im Zusammenhang mit Möbelstücken habe ich davon gehört, aber in Bezug auf Gemälde …«

»Von Gemälden werden weniger Kopien hergestellt als von Möbeln, das ist richtig, aber ich hege nicht den geringsten Zweifel. Ich habe die Originale dieser zehn Bilder zwar nie gesehen, meine Herren, aber es gibt gravierende Unstimmigkeiten bei den Pigmenten, der Pinselführung und der generellen Alterung der Oberfläche. Diese Bilder stammen keinesfalls aus der Epoche des Talathri-Barock.«

Jean nahm die Eröffnung mit düsterer Miene auf, schweigend, die Hände vor sich gefaltet. Er hatte seinen Tee nicht angerührt. Locke spürte, wie ihm der bittere Geschmack von Galle in die Kehle stieg.

»Könnten Sie uns das bitte näher erklären?«, fragte er und rang um Fassung.

Krell seufzte, wobei sein Mitgefühl seine eigene Verärgerung dämpfte. »Sehen Sie«, begann er, wobei er vorsichtig eines der Gemälde hochhielt, die sie gestohlen hatten. Das Bild zeigte Adlige aus der Ära des Theriner Throns als Zuschauer bei Gladiatorenspielen, und ein tödlich verwundeter Kämpfer zollte ihnen gerade seinen Respekt. »Diese Bilder hat ein großer Künstler gemalt, ein wahrer Meister mit unglaublich viel Geduld und Talent. Es muss hunderte von Stunden gedauert haben, die Kopien herzustellen, und als Vorlage dienten ihm eindeutig die Originale. Offensichtlich wollte der … werte Herr, von dem Sie diese Objekte erstanden, die Originale keinerlei Risiko aussetzen. Ich würde mein Haus mitsamt den Gärten darauf verwetten, dass sie sich in seinem Tresor befinden.«

»Aber diese … Unstimmigkeiten. Was macht Sie so sicher, dass es welche sind?«

»Die alten Meister, die vom letzten Herrscherhaus des Theriner Throns protegiert wurden, bedienten sich einer List, um ihre Werke von den Arbeiten der Maler zu unterscheiden, die geringere Mäzene hatten. Dieses Geheimnis wurde erst viele Jahre nach dem Untergang des Kaiserreiches gelüftet. Talathris auserwählte Meister und ihre Gehilfen fügten in ihre Gemälde absichtlich in irgendeine Ecke einen winzigen Fehler ein, indem sie Pinselstriche einarbeiteten, deren Breite und Richtung nicht mit denen ihrer unmittelbaren Umgebung übereinstimmten. Dieser Makel betonte quasi ihre Perfektion. Es ist vergleichbar mit der Vorliebe mancher Vadraner Frauen für Schönheitsflecke.«

»Und das können Sie auf den ersten Blick erkennen?«

»Ich weiß, woran ich bin, wenn ich auf keinem dieser zehn Bilder eine Spur dieses typischen Merkmals finde.«

»Verdammt!«, fluchte Locke.

»Mir scheint«, meinte Krell, »dass der Künstler, der diese Bilder schuf – oder sein Auftraggeber – die Originalwerke so sehr schätzte, dass er sich weigerte, die versteckten Unterscheidungsmerkmale zu kopieren.«

»Nun, das ist ja herzerwärmend.«

»Ich sehe schon, dass Sie weitere Beweise verlangen, Meister Fehrwight, und zum Glück sind die anderen sogar noch deutlicher. Der erste Hinweis ist die Leuchtkraft der Pigmente. Vor vierhundert Jahren war die Alchemie noch nicht weit genug fortgeschritten, um diese brillanten Farben zu erzeugen. Sie müssen erst kürzlich hergestellt worden sein. Der abschließende und eindeutigste Beweis ist das Fehlen von Altersspuren. Keine feinen Risse in der Farbe, keine Verfärbungen durch Schimmel oder Sonnenlicht, keine Einschlüsse von Rauch in der obersten Schicht aus Lackfirnis. Diese Bilder unterscheiden sich von den Originalgemälden wie, sagen wir, mein Gesicht vom Antlitz eines zehn Jahre alten Knaben.« Krell lächelte traurig. »Ich habe einen Zustand der Reife erlangt. Diese Bilder nicht.«

»Und wie wirkt sich das auf unsere Vereinbarung aus?«

»Ich bin mir sehr wohl bewusst«, begann Krell, während er das Bild wieder an seinen Platz stellte und sich auf einen Stuhl hinter seinem Schreibtisch setzte, »dass Sie ungeheure Anstrengungen unternommen haben müssen, um selbst diese Kopien von dem … Herrn in Tal Verrar zu bekommen. Ihnen gehört mein Dank und meine Bewunderung.«

Jean stieß ein Schnauben aus und starrte auf die Wand.

»Ihr Dank und Ihre Bewunderung mögen ja gut gemeint sein …«, erwiderte Locke.

»Aber sie sind kein legales Zahlungsmittel«, ergänzte Krell. »Ich bin nicht einfältig, Meister Fehrwight. Für diese zehn Bilder kann ich Ihnen immer noch zweitausend Solari anbieten.«

»Zwei?« Locke umklammerte die Armstützen seines Stuhls und beugte sich vor. »Die Summe, auf die wir uns ursprünglich geeinigt hatten, betrug fünfzigtausend Solari, Meister Krell!«

»Und für die Originale«, betonte Krell, »hätte ich gerne diesen Betrag bezahlt; für echte Kunstwerke aus der Epoche der Letzten Blüte hätte ich in entfernten Gegenden Käufer gefunden, die sich keinen Deut darum geschert hätten, wie … verschnupft dieser Herr in Tal Verrar sein mag.«

»Zwei«, murrte Locke. »Götter, wir haben mehr Geld auf unserem Konto im Sündenturm zurückgelassen. Sie bieten uns zweitausend Solari für zwei Jahre harter Arbeit.«

»Nein.« Krell legte seine dürren Finger aneinander. »Zweitausend Solari für zehn Bilder. So sehr ich es auch bedaure, dass der Erwerb dieser Objekte für Sie mit Strapazen verbunden war, unsere Vereinbarung enthielt keine Härteklausel. Ich bezahle für die Ware, nicht für die Art und Weise, wie sie in Ihren Besitz gelangte.«

»Dreitausend«, sagte Locke.

»Zweitausendfünfhundert, und keinen Centira mehr. Für diese Bilder kann ich Käufer auftreiben; jedes einzelne ist immer noch ein eindrucksvolles Objekt und mehrere hundert Solari wert, und es lohnt sich, es zu besitzen oder auszustellen. Notfalls, nachdem eine gewisse Zeit verstrichen ist, könnte ich sogar versuchen, sie dem Herrn in Tal Verrar zurückzuverkaufen und behaupten, ich hätte sie in irgendeiner weit entfernten Stadt entdeckt. Ich zweifle nicht daran, dass er sich großzügig zeigen wird. Aber wenn Sie meinen Preis nicht akzeptieren wollen … dann nehmen Sie sie doch wieder mit und bieten sie vielleicht auf einem Marktplatz oder in einer Taverne an.«

»Zweitausendfünfhundert«, knurrte Locke. »Zur Hölle damit!«

»Ich denke, dort landen wir alle einmal, Meister Fehrwight. Aber jetzt hätte ich gern gewusst, wie Sie sich entscheiden. Nehmen Sie mein Angebot an?«

2

»Zweitausendfünfhundert!«, wiederholte Locke zum fünfzehnten Mal, während ihre Kutsche in Richtung des Yachthafens von Vel Virazzo ratterte. »Ich kann es nicht fassen, verdammt noch mal!«

»Es ist mehr, als viele Menschen haben«, murmelte Jean.

»Aber es ist nicht das, was ich versprochen habe«, fauchte Locke. »Es tut mir leid, Jean. Ich habe wieder mal Mist gebaut. Zehntausende, sagte ich. Ein richtig großer Batzen. Damit wären wir wieder ganz oben gewesen. Adlige aus Lashain. Grundgütige Götter!« Er legte den Kopf in die Hände. »Korrupter Wärter, warum hörst du mir überhaupt noch zu?«

»Es war nicht deine Schuld«, tröstete Jean. »Wir haben das Ding gedreht. Mit allem, was wir geplant haben, sind wir durchgekommen. Bis auf … bis auf die Tatsache, dass dann doch alles anders kam. Aber woher hätten wir das wissen sollen?«

»Scheiße!«, schrie Locke.

Ihre Kutsche verlangsamte sich und kam knarrend zum Stehen. Klappernde und scharrende Geräusche wurden laut, als ihr Lakai einen hölzernen Fußtritt bereitstellte und die Tür öffnete. Draußen schien die Sonne; der Geruch des Meeres strömte in die Kabine, zusammen mit dem Kreischen der Möwen.

»Willst du … es immer noch tun?« Locke biss sich auf die Lippe, als Jean nicht reagierte. »Ich weiß, dass sie mit uns kommen sollte. Wir können das Ganze einfach abblasen, Kutschen mieten …«

»Es ist in Ordnung so«, sagte Jean. Er zeigte auf den Leinensack, der neben Locke auf der Sitzbank lag. Der Sack bewegte sich, als sei er lebendig. »Außerdem haben wir dieses Mal nicht vergessen, eine Katze mitzubringen.«

»Den Göttern sei Dank.« Locke stubste den Sack leicht an und lächelte dünn, als sein Finger attackiert wurde. »Trotzdem, wenn du …«

Aber Jean stand bereits auf, um die Kutsche zu verlassen.

3

»Meister Fehrwight! Ich freue mich ja so, Sie endlich kennenzulernen. Und Sie auch, Meister …«

»Callas«, sprang Locke ein. »Tavrin Callas. Verzeihen Sie meinem Freund, aber er hatte einen anstrengenden Tag. Das Geschäftliche übernehme ich.«

»Selbstverständlich«, erwiderte der Meister von Vel Virazzos privatem Yachthafen. Hier wurden die Vergnügungsboote und Tagessegler der illustren einheimischen Familien – die man an zwei Händen abzählen konnte, ohne alle Finger zu Hilfe zu nehmen – bewacht.

Der Hafenmeister führte sie ans Ende eines Piers, wo ein schlankes, einmastiges Segelboot in der sanften Dünung schaukelte. Es war vierzig Fuß lang, die Planken bestanden aus lackiertem Teak und Hexenholz mit Ornamenten aus Messing und Silber. Die Takelage war aus feinster neuer Halbseide, und die aufgegeiten Segel glänzten so weiß wie ein sauberer Sandstrand.

»Alles ist genauso vorbereitet, wie Sie es in Ihren Briefen verlangt haben, Meister Fehrwight«, erklärte der Hafenmeister eifrig. »Ich entschuldige mich dafür, dass es vier Tage gedauert hat anstatt drei …«

»Das spielt keine Rolle«, unterbrach Locke ihn. Er reichte dem Mann einen Lederbeutel voller Solari, die er in der Kutsche abgezählt hatte. »Die komplette Restsumme und der versprochene Drei-Tage-Bonus für Ihre Arbeiter. Ich habe keinen Grund, knauserig zu sein.«

»Sie sind wirklich sehr freundlich«, erwiderte der Hafenmeister und nahm mit einer Verbeugung den schweren Beutel entgegen. Fast achthundert Solari waren damit bereits weg.

»Und der Proviant?«, fragte Locke.

»Alles komplett nach Ihren Wünschen. Rationen und Trinkwasser für eine Woche. Wein, Ölzeug und eine Notausrüstung  – alles vorhanden und von mir persönlich überprüft.«

»Unser Abendessen?«

»Wird geliefert«, versicherte der Hafenmeister, »wird gleich geliefert. Ein Kurier hätte schon vor ein paar Minuten eintreffen müssen. Warten Sie – da ist der Junge ja.«

Locke warf einen Blick in Richtung ihrer Kutsche. Dahinter war soeben ein kleiner Junge aufgetaucht, der im Laufschritt einen zugedeckten Korb in den Armen hielt, der breiter war als seine Brust. Locke lächelte.

»Mit dem Abendessen wäre unser Geschäft dann abgeschlossen«, verkündete er, als der Junge zu ihnen kam und den Korb zu Jean hochreichte.

»Sehr gut, Meister Fehrwight. Sagen Sie, werden Sie sofort ablegen?«

»Wir stechen unverzüglich in See. Wir müssen eine ganze Menge … hinter uns lassen.«

»Benötigen Sie Hilfe?«

»Ursprünglich wären wir zu dritt gewesen«, entgegnete Locke leise. »Aber wir beide kommen schon klar.« Er betrachtete ihr neues Boot und die ihm früher so fremd erscheinende Anordnung von Segeln, Takelage, Mast und Pinne. »Wir beide kommen immer zurecht.«

Es dauerte keine fünf Minuten, um das Boot mit ihrem Gepäck aus der Kutsche zu beladen; sie hatten kaum etwas mitgebracht. Ein paar Anziehsachen zum Wechseln, Arbeitskleidung, Waffen und ihr Einbrecherwerkzeug.

Die Sonne wanderte bereits nach Westen, als Jean anfing, die Leinen loszumachen. Locke hüpfte hinunter auf das Achterdeck, ein zimmergroßer Raum, umgeben von erhöhten Schandecks. Als letzte Handlung, bevor sie lossegelten, öffnete er den Leinensack und ließ seinen Inhalt frei.

Das schwarze Kätzchen blickte zu ihm hoch, streckte sich und fing an, sich laut schnurrend an Lockes rechtem Stiefel zu reiben.

»Willkommen in deinem neuen Heim, Kätzchen. Alles, was du hier siehst, gehört dir«, sagte Locke. »Aber das heißt natürlich nicht, dass ich dich lieb gewinnen werde.«

4

Sie ankerten hundert Yards hinter dem letzten von Vel Virazzos Leuchttürmen, und im Schein seines rubinroten Lichts verspeisten sie das Abendessen, das Locke versprochen hatte.

Im Schneidersitz hockten sie auf dem Achterdeck, zwischen sich ein kleines Tischchen. Jeder tat so, als konzentriere er sich voll und ganz auf das Brot und das Hühnchen, die Haifischflossen und den Essig, die Weintrauben und schwarzen Oliven. Prächtig führte mehrere Angriffe gegen ihre Mahlzeit und war erst bereit, Frieden zu schließen, nachdem Locke ihn mit einem Hühnchenflügel bestochen hatte, der fast so groß war wie sein schwarzer, pelziger Körper.

Sie tranken eine Flasche Wein, einen mittelmäßigen weißen Camorri von der Sorte, die eine Mahlzeit bereichert, ohne gleich das Glanzlicht zu werden. Locke warf die leere Flasche ins Wasser, und sie öffneten sofort die nächste, die sie jedoch langsamer genossen.

»Es wird Zeit«, meinte Jean schließlich, als die Sonne so tief im Westen stand, dass es aussah, als versinke sie im Schandeck an der Steuerbordseite. Es war ein roter Moment, die ganze Welt vom Wasser bis zum Himmel hatte die Farbe eines sich verdunkelnden Rosenblattes angenommen, oder die eines Blutstropfens, der noch nicht trocken ist. Das Meer war ruhig, kein Lufthauch regte sich; sie waren völlig frei – keine Störungen, keine Pflichten, keine Pläne und keine Abmachungen. In diesem Augenblick waren sie wie losgelöst vom Rest der Welt.

Locke seufzte, holte eine Glasphiole mit einer durchsichtigen Flüssigkeit aus der Innentasche seines Rocks und stellte sie auf den Tisch.

»Wir hatten überlegt, ob wir uns die Dosis teilen sollen«, sagte er.

»Richtig«, erwiderte Jean. »Aber wir werden es nicht tun.«

»Ach ja?«

»Du wirst das Zeug trinken.« Jean legte beide Hände flach auf den Tisch. »Alles.«

»Nein«, widersprach Locke.

»Du hast gar keine Wahl.«

»Zur Hölle, wofür hältst du dich eigentlich?«

»Wir können nicht das Risiko eingehen, die Ration zu teilen«, legte Jean in einem sachlichen, ruhigen Tonfall dar, der Locke verriet, dass er bereit war, jeden Moment aufzuspringen und zu kämpfen. »Es ist besser, wenn einer von uns für immer geheilt wird, als dass wir beide uns noch eine Weile weiterquälen und dann doch sterben.«

»Ich quäle mich gern weiter, wenn es nicht anders geht«, widersprach Locke.

»Ich aber nicht«, beharrte Jean. »Trink es aus, Locke. Bitte.«

»Und was passiert, wenn ich mich weigere?«

»Du weißt genau, was dann passiert. Du kannst mich nicht überwältigen. Ich dich sehr wohl.«

»Du würdest also …«

»Egal, ob du wach oder bewusstlos bist«, stellte Jean fest, »das Mittel gehört dir. Ich lege keinen Wert darauf. Und jetzt trink endlich das verdammte Gegengift, um des Korrupten Wärters willen!«

»Ich kann nicht.«

»Dann zwingst du mich …«

»Du hast mich nicht richtig verstanden«, unterbrach Locke ihn. »Ich sagte nicht ›ich will nicht‹. Ich sagte ›ich kann nicht!‹«

»Was …«

»In diesem Fläschchen, das ich mir in der Stadt besorgt habe, ist nur Wasser.« Wieder griff Locke in seine Tasche, holte eine leere Glasphiole heraus und stellte sie langsam neben die andere. »Ich muss schon sagen, so gut wie du mich kennst, bin ich doch sehr überrascht, dass du mir erlaubt hast, dir deinen Wein einzuschenken.«

5

»Du Ganove!«, brüllte Jean und sprang auf die Füße.

»Gentleman-Ganove.«

»Du miserabler, beschissener Hurensohn!« Jean bewegte sich schnell wie der Blitz, und Locke fuhr erschrocken zurück. Jean packte den Tisch und schleuderte ihn ins Wasser, sodass sich die Reste ihres Abendessens über das Deck verteilten. »Wie konntest du? Wie konntest du mir das antun?«

»Ich kann nicht zusehen, wie du stirbst«, sagte Locke leise. »Ich kann es einfach nicht. Und du hast nicht das Recht, von mir zu verlangen …«

»Du hast mir ja nicht mal die Wahl gelassen!«

»Du hättest es mir unter Zwang eingeflößt!« Locke stand auf und klopfte sich Brotkrümel und Hühnerknochensplitter von seiner Tunika. »Ich wusste, dass du es versuchen würdest. Machst du mir jetzt Vorwürfe, weil ich dir zuvorgekommen bin?«

»Und jetzt soll ich zusehen, wie du stirbst, oder was? Zuerst stand ich daneben, als sie elend krepiert ist, und jetzt mache ich dasselbe noch mal bei dir mit. Glaubst du, damit tust du mir einen Gefallen?«

Jean brach auf dem Deck zusammen, barg sein Gesicht in den Händen und fing an zu schluchzen. Locke kniete sich neben ihn und schlang die Arme um seine Schultern.

»Ja, es ist ein Gefallen«, sagte Locke. »Aber den Gefallen erweise ich mir, und nicht dir. Dauernd rettest du mir das Leben, weil du ein Idiot bist und es nicht besser weißt. Lass mich … lass mich wenigstens einmal dein Leben retten. Nur ein einziges Mal. Denn du hast es wirklich verdient.«

»Ich verstehe überhaupt nichts mehr«, flüsterte Jean. »Du verdammter Hurensohn, wie konntest du so was tun? Ich möchte dich umarmen. Und ich möchte dir deinen dämlichen Kopf abreißen. Beides zugleich.«

»Ah«, entfuhr es Locke. »Soweit ich weiß, ist das die Definition für ›Familie‹.«

»Aber du wirst sterben«, wisperte Jean.

»Einmal musste es dazu kommen«, erwiderte Locke. »Der Tod war mir immer dicht auf den Fersen, und der einzige Grund, warum ich nicht schon früher dran glauben musste … bist du!«

»Ich fühle mich schrecklich«, gestand Jean.

»Ich mich auch. Aber jetzt ist es passiert. Und ich bereue nicht, dass ich es getan habe.«

Ich bin ganz ruhig, dachte er. Ich glaube, ich kann sagen, dass ich ganz ruhig bin.

»Und was machen wir jetzt?«

»Genau das, was wir geplant hatten«, entgegnete Locke. »Wir segeln los, einfach ins Blaue hinein, so langsam wie möglich. Die Küste hoch, wir lassen uns treiben. Keiner ist hinter uns her. Keiner steht uns im Weg, keiner ist da, den wir ausrauben können. So was haben wir noch nie erlebt.« Locke grinste. »Zur Hölle, ich frage mich allen Ernstes, ob wir das überhaupt können – faulenzen

»Und was, wenn du …«

»Wenn es so weit ist, dann ist es eben so weit«, sagte Locke ruhig. »Vergib mir.«

»Ja. Nein. Niemals!«

»Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Steh auf und hilf mir beim Ankerlichten.«

»Was hast du vor?«, fragte Jean.

»Diese Küste ist so verdammt öde, hier ist nichts los. Was gibt es in dieser Gegend noch Besonderes zu sehen? Lass uns versuchen, mit diesem Ding irgendwo anders hinzukommen.«

Er stand auf und legte Jean eine Hand auf die Schulter.

»Irgendwohin, wo wir was Neues sehen.«

NACHWORT

Begeisterte Segler, sowohl die, die den Sport nur von ihrem gemütlichen Sessel aus kennen, als auch die aus echtem Schrot und Korn mit praktischer Erfahrung, müssen gemerkt haben, dass die nautischen Begriffe in dem Roman Sturm über Roten Wassern recht eigenwillig – um nicht zu sagen falsch – verwendet wurden.

In manchen Fällen kann ich mich auf die ehrenhafte Ausrede berufen, dass ich einige Details zum besseren Verständnis der Lektüre weggelassen oder den kulturellen und technischen Eigenheiten von Lockes Welt angepasst habe. Andere Fehler sind schlichtweg dadurch entstanden, dass es mir so ging wie vielen anderen Autoren auch – ich bin völlig unbeleckt von Fachwissen und habe irgendwelchen Blödsinn geschrieben. Für beide Seiten wäre es also das Beste, liebe Leser, wenn Sie keine Ahnung von der Seefahrt haben. Ich drücke die Daumen, dass dem so ist.

Damit endet also der zweite Band über den Gentleman-Ganoven.