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Griechische Einladung in die Ägäis

Reihe: Gastronomia

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Erste Auflage 2014
© Größenwahn Verlag Frankfurt am Main Sewastos Sampsounis, Frankfurt 2014
www.groessenwahn-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-942223-74-4
e-book ISBN: 978-3-942223-75-1

Andreas Deffner (Hrsg.)

Griechische Einladung
in die Ägäis

Erzählungen, Geheimnisse und Rezepte

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IMPRESSUM

Griechische Einladung in die Ägäis

Reihe: Gastronomia

Herausgeber

Andreas Deffner

Seitengestaltung

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

Schriften

Constantia und Lucida Calligraphy

Covergestaltung

Marti O’Sigma

Coverbild

Marti O’Sigma: ›Ägäis Impressionen‹

Lektorat

Brigitte Münch

Druck und Bindung

Print Group Sp. z. o. o. Szczecin (Stettin)

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

April 2014

ISBN: 978-3-942223-74-4

e-book ISBN: 978-3-942223-75-1

INHALT

VORWORT

· Andreas Deffner

PARADIES

· Michael Beer

NACH DEN GÖTTERN DER ÄGÄIS SUCHEN

· Eleni Torossi

URLAUB INS ICH

· David Kapetanidis

DIE SEE

· Andreas Karkavitsas

DER BESCHLAGNAHMTE POSEIDON

· Kostas Akrivos

PATMOS ZUR OSTERZEIT

· Wolfgang Wünsch

ERKLÄRE MIR LIEBE

· Wolfgang Schulze

HOCHZEITSODYSSEE

· Willi Schmidt-Wulff

SOMMERSAISON AUF PAROS

· Ellen Katja Jaeckel

HEIMKOMMEN

· Andrea Dimitriadis

IMMER GUT DURCHKAUEN

· Edit Engelmann

MAYBE GOD IS XL

· Kristina Edel

EIN DIENSTAG AUF ANAFI

· Karsta Lipp

HOCHZEIT IN DREI GÄNGEN

· Maria Galitsas

SONNENUNTERGANG AUF SANTORIN

· Karl Plepelits

DIE ALTE MÖWE STAVROS

· Andreas Deffner

MAROULAS GEHEIMNIS

· Peter Pachel

DER DUFT DES MEERES

· Brigitte Münch

DIE ERSTE ÄGÄISCHE MATRATZE

· Paul Efmorfidis

IF YOU GO TO CRETE (englisch)

· Irma de Groot

NACHWORT

· Edit Engelmann

REZEPTREGISTER

 

BIOGRAPHISCHES

 

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Für die Töchter und Söhne des Poseidon
und alle, die es gern wären
.

VORWORT

»Άνω κάτω το Αιγαίο, με φουρτούνα με γαλήνη,
μέρα νύχτα θα το λέω, πως την αγαπώ εκείνη.«

Durcheinander die Ägäis, ob bei Sturm oder Windstille
Tag und Nacht werde ich sagen, dass ich diejenige liebe
.

Refrain aus dem Lied »Ano kato to Egeo« von Nikos Chatzopoulos,

Herzlich willkommen in der Ägäis!
Καλώς ήλθατε στο Αιγαίο!

Wir freuen uns, dass Sie unserer Einladung zur zweiten Ausgabe der Griechischen Einladung gefolgt sind. Es erwartet Sie ein spannendes Panoptikum der Literatur, diesmal mit dem Fokus auf der Ägäis. Kurzgeschichten, Essays, Auszüge aus bislang unveröffentlichten Romanen, Reiseberichte, Glossen, Märchen – das Spektrum der Beiträge, die uns erreicht haben war gigantisch. So unterschiedlich wie Griechenland selbst. Die besten haben wir für Sie zusammengestellt.

Was wäre Griechenland ohne die Ägäis? Undenkbar. Das Herz des Mittelmeeres versorgt nicht nur die zahllosen Inseln der Kykladen, Sporaden oder der Dodekanes mit Leben und Leidenschaft, sondern weit darüber hinaus bis aufs Festland und von dort weiter nach Europa und in die Welt. Die Anthologie will Sie mitnehmen in die Herzkammer des ›Filótimo‹, in ein literarisches Schlaraffenland mit griechischer Seele. Kommen Sie also herein und verlieren Sie sich in diesem unserem Wolkenkuckucksheim!

Meine zweite Heimat ist das Fischerdorf Toló auf der Peloponnes. Gelegen am westlichen Ende der Ägäis. Seit über zwanzig Jahren verbringe ich unendlich gerne meine Freizeit dort. Wenn ich morgens aufwache und aus dem Fenster blicke, sehe ich auf die aufgehende Sonne, die feuerrot aus den Tiefen des ägäischen Meeres emporsteigt. Spiegelglatt das Meer, glasklar die Luft. Fischer, die über Nacht auf hoher See ihre Netze ausgeworfen haben, kehren in ihren Kaíkis heim, gefolgt von einem Schwarm Möwen, die satte Beute wittern. Jede von ihnen trägt ihre eigene kleine Geschichte.

Jeder einzelne Beitrag, der uns in den vergangenen Monaten erreicht hat, erinnerte mich an dieses Bild und an die Geschichte von der alten Möwe Stavros. Unveröffentlicht, dennoch tausendfach vorgetragen. Ich habe sie jahrelang meinen Kindern als Gute-Nacht-Geschichte erzählt. Sie soll mein Beitrag in diesem Buch sein. Eine Fabel für die Freundschaft.

Und jetzt nehmen Sie Platz, lassen Sie sich vom süßen Wein einschenken und genießen Sie die Mezedes – die kleinen Häppchen griechischer Gastfreundschaft.

Στην υγειά μας – Auf unser Wohl!

Herzlich willkommen zur

»Griechische Einladung in die Ägäis« 2014.

Andreas Deffner, Januar 2014

Michael Beer

PARADIES

Leise spielt der Wind mit den Wellen.

Die Palme vor mir verdeckt das blaue Meer.

Die Temperatur ist südlich, gerade richtig.

An der Taverne vorbei verläuft der Sand ins Meer.

Stolz zieht ein gefleckter Kater vorüber

und zärtlich besänftigt der Wein in meinem Glas

die letzte Unsicherheit.

Was kümmert mich ein Gestern oder Morgen –

wenn es ein Jetzt gibt – so unendlich groß und weit.

›Frappé‹

Φραπές

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Zutaten:

1 ½ TL Instantkaffee, ½ TL Zucker, Eiswürfel, kaltes Wasser, eventuell ein Schuss Milch (10-prozentige Kondensmilch), Strohhalm, ein hohes Glas (0,3 l), Schaum-Mixer.

Zubereitung:

Das Instantkaffeepulver mit dem Zucker und einem Fingerbreit Wasser in das Glas geben und mit Hilfe des Schaum-Mixers (z.B. ein kräftiger Milchaufschäumer) zu einem festen Schaum mixen. Mit Eiswürfeln, einem Schuss Milch und Wasser auffüllen, bis der Schaum über den Rand des Glases hochsteigt. Mit Strohhalm und einem separaten Glas kaltem Wasser servieren.

Eleni Torossi

NACH DEN GÖTTERN DER ÄGÄIS SUCHEN

»Soll ich Sie zu einer Kur anmelden«, fragt mich mein Arzt, als er mich an meinem Krankenbett besucht.

»Danke nein!«, sage ich ihm mit deutlicher Stimme, »ich fahre lieber ans Meer, um die kleinen Lichter zu sehen und die Götter zu befragen.«

Er schaut mich verwundert an. »Ans Meer …«, wiederholt er nachdenklich und will mich gleich aufklären, warum mir eine Kur gut tun würde. Dann hält er wieder inne, schaut mich noch einmal an und tut leicht gekränkt. »Wissen denn Ihre Götter mehr als Ihr Arzt?«

Seine Frage amüsiert mich. »Nein! Gewiss nicht! Aber wir Griechen befragen immer unsere Götter der Ägäis. Auch wenn sie im Grunde nichts Konkretes wissen, tun sie immer ihr Bestes für uns. Und es sind viele … diese Götter. Wenn sich der eine nicht um uns kümmern kann, dann tut es der andere. Außerdem sind da die kleinen Lichter!«

Mein Arzt schaut mich lächelnd, immer noch fragend an, sagt aber nichts. Er drückt nur meine Hand, »ich bereite dann Ihre Entlassungspapiere vor«, sagt er und geht in Richtung Tür. Dort dreht er sich noch einmal zu mir um: »Gute Reise!«, ruft er mir zu.

»Ich kann Ihnen gerne noch mehr über die Götter der Ägäis erzählen und auch über die kleinen Lichter, wenn Sie möchten!«, sage ich ihm beschwingt und wundere mich über mich selbst.

Sein Gesicht hellt sich auf: »Sehr gerne, wenn Sie Zeit haben«, flüstert er etwas verlegen.

Und dann frage ich ihn direkt und ohne zu zögern: »Gehen Sie mit mir in die Cafeteria?«

Zugegeben, mein Arzt gefällt mir. Er hat eine gewisse zärtliche Art, die einem das Gefühl vermittelt, dass man von ihm gemocht wird. Darüber hinaus setzt er immer ein großes Vertrauen in die eigene Genesungskraft, und diese Haltung macht seinen Patienten Mut. Nein, kein Esoteriker. Er ist ein bekannter Radiologe, ein Wissenschaftler durch und durch. Ich fürchte, dass ich ihn langweilen könnte.

Doch mein Cafeteria-Vorschlag überrascht ihn. Er steht ein paar Sekunden unentschlossen da, dann nickt er, »warum nicht?«, sagt er, »gehen wir gleich?«

Ich springe aus meinem Bett, ziehe schnell meinen Morgenmantel an, meine Schuhe, gehe auf ihn zu und lege sanft meine Hand auf seinen Arm.

»Schon in der Antike haben die Menschen ihre Götter der Ägäis befragt, haben Sie das nicht gewusst?«, beginne ich. »Aber bestimmt haben Sie von dem Reichtum dieses Meeres und seiner Heilkraft gehört, oder?«

»Doch, gewiss!«, sagt er zögernd und lächelt. In diesem ›doch, gewiss‹ schwingt ein leicht ironischer Unterton mit.

»Sie glauben mir vielleicht nicht, aber die Götter der Ägäis sind ständig in Bewegung. Zunächst einmal sind es die beiden Könige!«, sage ich ihm, als wir in der Cafeteria an unseren Tassen nippen. »Auf dem ägäischen Meeresgrund leben schon seit Jahrtausenden der König aller Meere, Poseidon und seine Frau Amphitrite. Mit seinem großen Dreizack in der rechten Hand beherrscht er die Meeresstürme.«

Mein Arzt nickt. »Natürlich kenne ich Poseidon!«, wirft er ein, um mir zu zeigen, dass er sich in der griechischen Mythologie auskennt.

Ich fahre unbeirrt fort: »Wissen Sie, als ich jeden Morgen in die Bestrahlungsröhre hineingeschoben wurde, habe ich von diesen Göttern geträumt, habe sie gebeten mir zu helfen. Und sie haben mich tatsächlich gerettet! Ich sah Poseidon und seinen Bruder Äolos, den König der Winde, auf einem Felsen über dem Meer zusammensitzen. Die zwei hören sich die Klagen und die Geschichten der Menschen an, die an die Küste kommen, um sich von ihren Toten zu verabschieden, aber auch um die beiden Götter nach ihrer Meinung zu fragen.

Ich lag also in der Röhre und versuchte mir die Strahlen des Gerätes vorzustellen und ihre Einwirkung auf meinen Körper. Woher wollen diese Strahlen so genau wissen, was die guten und was die bösen Teile in meinem Körper sind? Und auf einmal habe ich sie gesehen, sie waren alle da, sie standen an der Küste. Freunde und Familie waren gekommen! Und sie stellten gerade den beiden Göttern Fragen. Ob ich bald gesund werde, ob ich bald wieder nach Hause komme oder ob sie sich auf eine Beerdigung vorbereiten müssen!

Auf einmal wurde es mir eiskalt und ich hörte neben mir den Atem des kalten Windes. Ich kannte ihn aus meiner Kindheit an den Felsen des Meeres über Kymi, dem Heimatort meiner Großmutter. Boreas war gekommen, der Nordwind, einer von Äolos' acht Winden. Ich habe meine eigene Furcht gespürt, und in der dunklen Bestrahlungsröhre fühlte ich mich unendlich allein. Boreas trägt einen langen dicken Umhang und hält eine Muschel in seiner Hand, in die er hinein bläst. Es wird eisig kalt. Die Menschen fürchten sich vor ihm. Wenn ich eine warme Decke hätte! Niemand war da, um mich zuzudecken, und in dieser verdammten Metallröhre darf man sich nicht bewegen! Auf einmal war ich unruhig und ungeduldig. Ich wollte husten, aber ich durfte mich nicht bewegen! Ich wollte mich kratzen. Nichts! Mein Hals begann zu kribbeln, ich hechelte leise, ein Haar fiel auf meine Augen ›Bleiben Sie ruhig liegen!‹, hörte ich die strenge Stimme der Krankenschwester.

Ich nahm meine ganze Vorstellungskraft zusammen und versuchte mich auf meine Familie und meine Freunde zu konzentrieren, ihre Gedanken zu lesen, ob ich ihnen fehlen würde? Auf einmal sah ich, dass sie die Segel eines Bootes spannten und geschwind in meine Richtung fuhren. Boreas blies stark und half ihnen. Sie waren bald in meiner Nähe. Sie setzten sich rechts und links an meine Seite, streckten ihre Arme aus und bedeckten meinen Körper mit ihren Handflächen. Es wurde mir warm, und auf einmal war meine Angst verschwunden! Die Bestrahlungsröhre verwandelte sich in eine schöne Wiege, eine silberne Wiege, die sanft über die blaue Ägäis glitt. Sie sah genauso wie die kleine Wiege aus, die ich für meinen ersten Sohn auf dem Monastiraki-Flohmarkt in Athen gekauft hatte, eine silberne Wiege aus Kunstschmiede-Eisen mit schönen Jugendstilrosetten und Eisenschmuck. Jetzt wehte es lauwarm und der Wind streichelte meine Füße. Auf einmal nahm ich den Duft von Obst und Blumen wahr. Meine Leute neben mir lachten und waren fröhlich! Äolos, der gutmütige König der Winde, hatte Notos geholt, den Südwind. Er ist lustig, und er trägt ein Manteltuch, gefüllt mit Früchten und Getreide. Er ist sanft und anmutig und tröstet die Menschen mit seiner Wärme. Wenn er da ist, kommen auch die fünfzig schönen Töchter des Wasserkönigs Nireas, die Wassernixen.«

Mein Arzt schaut mich fragend an.

Ich lache. »Sie kennen doch nicht alle Götter der Ägäis!«, necke ich ihn. »Nireas ist der Schwiegervater von Poseidon. Der hatte fünfzig Töchter, die Wassernymphen. Tagsüber lagen sie immer an der Küste und spielten in der Sonne mit den Wellen. An einem solchen Tag sah Poseidon die Wassernymphe Amfitriti an der Küste der Insel Naxos, die dort gerade mit ihren Schwestern tanzte. Er verliebte sich in sie und nahm sie mit in seinen Palast. Als sie Hochzeit feierten, kamen ihre Schwestern und haben so verrückt getanzt, dass das Meer plötzlich voller Lichter war. An diesem Tag konnte man Himmel von Erde kaum unterscheiden, denn der Himmel war auch voller Lichter.«

»Und wer seitdem die Kraft und die Geduld hat, diese kleinen Lichter auf der Oberfläche der Meereswellen zu sehen, sich auf ihre Bewegung freuen kann und sich ihrem Rhythmus einlassen kann, der hat garantiert die Kraft, um gesund zu werden!«, sagt mein Arzt. »Das weiß ich. Und bei Ihnen bin ich mir sicher, obwohl ich weder Nireas noch Äolos oder Poseidon heiße«, fügt er hinzu und führt meine Hand, die er die ganze Zeit gehalten hat, an seine Lippen.

›Fischsuppe Avgolémono‹

Ψαρόσουπα αυγολέμονο

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Zutaten:

500 g in Stücke geschnittener gemischter Fisch (Kabeljau, Schellfisch, Seehecht), 2 Tassen kleingeschnittenes Wurzelgemüse (Karotten, Petersilienwurzel, Selleriewurzel, Selleriestange, Lauch, Fenchelknolle, Kartoffeln), 1 kleingeschnittene Zwiebel, 1 Tasse gehackte Kräuter (Petersilie, Koriander, Minze, Basilikum, Dill), ½ Tasse Olivenöl, ½ Tasse Weißwein, 3 Tassen Fischfond, 1 Lorbeerblatt, 5-6 Pfefferkörner, Salz, frisch gemahlener Pfeffer.

Für das Avgolemono: 3 Eier, Saft von 1 Zitrone.

Zubereitung:

In einem großen Topf das Olivenöl erhitzen, zuerst die Zwiebeln, nach einigen Minuten das Wurzelgemüse mit anbraten und mit dem Wein löschen. Lorbeerblatt, Pfefferkörner und Fischfond zugeben, mit Salz würzen und aufkochen, bis das Gemüse bissfest ist. Die Fischstücke vorsichtig in die Suppe geben, den Schaum mit dem Schaumlöffel abschöpfen und bei schwacher Hitze leicht köcheln lassen. Topf von der Kochstelle nehmen und warm halten.

Für das Avgolemono: In einer großen Schüssel zuerst die Eier schaumig schlagen, den Zitronensaft unterrühren und anschließend nach und nach eine Kelle der Fischsuppe (nur Flüssigkeit) in die Ei-Zitronen-Masse gießen. Die Suppe darf hierfür nicht zu heiß sein! Die so angerührte Ei-Zitronen-Brühe in die Fischsuppe zurückgeben und einrühren. Mit Salz und Pfeffer abschmecken und die Kräuter untermischen.

David Kapetanidis

URLAUB INS ICH

Es sollte wieder einmal einer dieser langweiligen Sommerurlaube werden, in denen wir uns wie jedes Jahr in einer der griechischen touristischen Hochburgen tummeln, um uns die Tage durchzuschlagen. Bilder, wie unsere Kinder früh morgens aus ihren Betten, gequält von der Hitze, zum Frühstücksbuffet in die Lobby laufen, um sich stumm etwas zum Frühstück holen zu dürfen, am Tisch gar nicht mehr reden und dabei nur das Tassenklirren der genervten Urlauber hören würden, gingen mir schon durch den Kopf. Darüber hinaus müsste ich die erdrückende Hitze aushalten und dabei versuchen, jeden Morgen als Erster den Pool oder den Strand zu erreichen, um die beste Sonnenliege einschließlich Badetuch zu ergattern. Dann vor dem Meer in der Sonne liegen, ab und zu zum Abkühlen ins Wasser springen, damit man die Hitze übersteht, und dann am Nachmittag die gleiche Prozedur, um am Abend durch die lebhaften, aber doch sehr trostlosen Gassen des Dorfes zu schlendern und darüber nachzudenken, wie schön es doch im Urlaub ist. Natürlich gehört zu so einem unromantischen Urlaub auch der alljährliche Routinekontakt zu den Einheimischen, die man in den Souvenirläden trifft und dabei das eine oder andere Souvenir ins Visier nimmt, um es eventuell aus dem schönen Urlaub den Freunden und Verwandten mitzubringen.

Das kann es doch nicht sein, dachte ich mir und bewegte mich Richtung Büroausgang. Ich wollte meinen Wagen vom Parkplatz holen, um noch kurz vor Ladenschluss im gewohnten Reisebüro am Rathausplatz die Flüge für unseren Griechenlandurlaub zu buchen. Griechenland musste es sein! Das war bei uns Tradition. Mein Vater war ein Griechenlandfreund, meine Mutter besuchte das Land seit ihrer Kindheit bis zu ihrem Tode. Warum sollte es nun anders sein? Griechenland kannte ich wie meine Westentasche. Ja, ich liebte dieses Land, aber irgendwie hatte ich den touristischen Einheitsbrei der letzten Jahre auch satt. Auf dem Weg zum Auto kamen mir Gedanken der Trostlosigkeit und der Langeweile und ich musste seufzen. Ich seufzte laut …

»Das kann es doch nicht sein«, sagte ich mir bei jedem Schritt, der mich dem Urlaub näher brachte. Meine Gedanken pendelten zwischen schwarz und weiß, zwischen gut und böse. Bilder in meinem Kopf von den Schönheiten des unendlich weiten Meeres mit seinen Kähnen und Fischerbooten darauf. Und dann solche von der flirrenden Hitze und von den nervtötend zirpenden Zikaden. Ich weigerte mich ins Auto zu steigen. »Nein, das kann es nicht sein!«

Zum Glück hatte ich noch etwas im Büro vergessen. Der Weg ins Reisebüro, in den Urlaub, war aufgeschoben. Zunächst. Ich kehrte gerade zurück ins ordentlich geheizte Firmengebäude, als ich im Eingangsbereich den Kollegen Steiner aus der Managementabteilung traf.

»Einen flotten Sommer, wünsche ich Ihnen, Herr Maler«, sagte er mit einem zufriedenen Lächeln und ich war erstaunt, woher dieser Mann seine ständig gute Laune nahm.

»Ebenso, Herr Steiner«, erwiderte ich und war sogleich fassungslos und auch ein wenig neidisch, dass ich mich von solchen Gefühlsduseleien beeinflussen ließ. Mein Blick wanderte auf ein Buch, das Herr Steiner unter seinem Arm trug. Die Bilder auf dem Deckblatt waren mir nicht unbekannt. Ich erblickte die Figuren zweier byzantinischer Ikonen, die ich schon sehr oft während meiner Griechenlandurlaube gesehen hatte. Ich hatte aber nie einen Gedanken daran verschwendet, mich genauer mit der Ikonenmalerei zu beschäftigen. Klar, als überzeugter Atheist. Ich zeigte eher ein leidenschaftsloses touristisches Interesse wie jeder Urlauber, wenn er zur Abwechslung vom Strand mal durch eine Kirche schlendert und dabei Aufmerksamkeit heuchelt und hier und da bemerkt: »aha …, schön …, sehr interessant …«.

»Fahren Sie auch nach Griechenland, Herr Steiner?«, kam es aus mir heraus, als ob es für mich wichtig wäre, als ob ich das Gefühl der Langeweile mit ihm teilen wollte, wenn es möglich wäre. Vielleicht aber tat ich es aus der Gewissheit heraus, dass ich ihn anrufen könnte, wenn mich diese schlimmen Gedanken erdrücken würden.

»Ja, Herr Maler, mein Bruder ist vor zehn Jahren nach Griechenland gezogen und hat sich auf dem Berg Athos in einer Einsiedelei niedergelassen. Ich besuche ihn jedes Jahr.«

Der Berg Athos, der zur dreifingrigen Chalkidiki-Halbinsel gehört, bildet zusammen mit den beiden anderen Fingern Kassandra und Sithonia drei schmale Landzungen ins Ägäische Meer. Der Athos ist die östlichste und gebirgigste von ihnen. Die Form der Chalkidiki kannte ich gut. Während meiner unzähligen Besuche in Griechenland hatte ich die drei Landzungen jedes Jahr vom Fenster des Fliegers aus gesehen, wenn der Himmel über Nordgriechenland wolkenfrei war. Ich war allerdings nie auf den Gedanken gekommen, dass auf dem Berg Athos Menschen leben, geschweige denn Eremiten oder Asketen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Menschen ihr Hab und Gut hinter sich lassen, um auf den vom Wasser umgebenen rauen Felswänden zu leben.

»Ich besuche ihn übernächste Woche und wollte gerade meinen Flug buchen. Hätten Sie nicht Lust, mich auf diese Reise zu begleiten? Soviel ich weiß, sind Sie doch auch Griechenlandfan? Und Ihr richtiger Sommerurlaub beginnt doch bestimmt erst später«, sagte er.

Ich wollte mich schon bedanken und mich verabschieden, doch der Gedanke an einen Urlaub ganz ohne Touristen war verlockend. Und da ich ja auch ins Reisebüro wollte … Die Flüge für den Familienurlaub würde ich erst für Mitte August buchen. Ich hatte also noch genug Zeit für einen kurzen Ausflug mit Herrn Steiner. Finanziell ging es uns immer ganz gut und in der Firma war gerade auch nicht viel zu tun. So fuhren wir also gemeinsam ins Reisebüro und buchten Flüge nach Thessaloniki.

Warum ich mitgefahren war, konnte ich mir eigentlich auch dann noch nicht erklären, als ich mit Herrn Steiner in der Maschine saß. Wahrscheinlich war es schlicht die Freude auf das Meer, auf die Düfte der Bäume und Sträucher und die Freude auf die trillernden Schwalben und Zikaden.

Da waren wir nun im Flieger Richtung Mittelmeer. In der Hoffnung etwas Neues zu erleben, saß ich da und war völlig begeistert, als das Flugzeug kurz vor der Landung in Thessaloniki eine Runde um die Bucht des Thermaischen Golfs drehte. Ich schaute aufs Meer und wollte wie ein kleines Kind danach greifen. An den Stränden tummelten sich die Menschen. Einige Fischer waren mit ihren kleinen Booten auf das türkisblaue Wasser hinausgefahren, um zu fischen. Kaum hatte ich diesen tollen Anblick auf mich wirken lassen, da landete die Maschine bereits auf dem Flughafen der zweitgrößten Stadt Griechenlands. Im Hintergrund erkannte ich den großen Vulk, den ich als Student einmal erklommen hatte.

Die Fluggäste standen auf und die Türen öffneten sich. Der warme Nachmittagswind und die Meeresbrise drangen wie ein herzlicher Willkommensgruß in die Maschine ein, noch ehe wir ausgestiegen waren. Wie ein kleines Kind freute ich mich jetzt, wieder in meiner zweiten Heimat zu sein. Griechenland war für mich eben doch wie ein Zuhause. Das Land, in das ich mich verliebt hatte und in dem ich die schönsten Momente meines Lebens erlebt hatte.

Nach ein paar Formalitäten an der Passkontrolle und einem kurzen Warten an der Gepäckausgabe stiegen wir in das Taxi und erreichten nach wenigen Fahrminuten unser Hotel, in dem wir an diesem Abend übernachten wollten. Von hier aus sollte es am frühen Morgen des nächsten Tages nach Ouranoupolis gehen, in die »Himmelsstadt« vor dem Heiligen Berg Athos. Am Abend bummelte ich durch Thessaloniki. Am Platz nahe dem Hafenbecken schlendern tagein, tagaus so viele Menschen, doch an diesem Tag fühlte ich eine andere Stimmung als sonst. Der Juli-Mond schimmerte auf dem Wasser und es überkam mich ein Gefühl von Vertrautheit, aber vor allem von Wärme und Freude. Das Meer, die Ägäis, auch wenn man ihr hier einen anderen Namen gibt, der Thermaikos, glitzerte erhellt vom Licht des Mondes. Von Herrn Steiner erfuhr ich, dass es in Griechenland für das Meer gleich fünf Bezeichnungen gibt. Pelagos, Thalassa, Als, Pontos und Okeanos. In mir bekam das Meer eine vielseitige Gestalt.

Wir schliefen gut in dieser Nacht und traten noch vor Sonnenaufgang den Weg nach Ouranoupolis an, von wo aus wir auf das tägliche Boot in Richtung der Mönchsrepublik stiegen. Neben mir saß ein Mönch, der sein Haupt gesenkt hatte und demutsvoll das Meer betrachtete. In seiner Hand hielt er eine schwarze Gebetsschnur aus Baumwolle und sprach ein Gebet, das ich unmöglich verstehen konnte, und trotzdem erschien es mir sehr nahe. Den Mönch begleiteten zwei Möwen. Sie krächzten nicht wie ihre Artgenossen auf dem Oberdeck, sondern flogen neben ihm her, als würden sie ihn bei seinen Gebeten begleiten. Ab und zu legten sie eine Pause ein und tauchten ins Wasser. Sie kamen immer wieder mit einem Fisch im Schnabel heraus und sahen sehr dankbar aus. Auf dem Oberdeck wurde es sehr ruhig. Es war ein durch und durch stiller Moment, nicht wie man ihn aus den turbulenten Touristenorten kennt. Irgendetwas war geschehen, wir durchstreiften die Gewässer des »Heiligen Berges« und ich fühlte eine Art Demut und Ehrfurcht vor dem, was mich erwartete.

Nach kurzer Zeit jedoch wurde ich aus dieser fast sakralen Atmosphäre gerissen, als plötzlich einer der Pilger rief: »Brüder …, seht, Delfine!« Plötzlich wurde mir klar, dass ich in einer anderen Dimension war. In meinen 25 Urlaubsjahren in Griechenland hatte ich noch nie Delfine zu Gesicht bekommen, jetzt näherten sie sich unserem Schiff. Ich hoffte endlich meinen ersten Delfin in der Ägäis zu sichten, hielt mich an der Reling fest und lief schnell nach vorne, um einen besseren Ausblick zu haben. Zeitgleich griff ich in meinen Rucksack, um den Fotoapparat hervor zu holen, denn in Gedanken war ich bei meinem Sohn Ben, der Delfine liebt. Für ihn wollte ich dieses Ereignis festhalten. Am Bug des Schiffes hatten sich bereits die Männer versammelt und staunten mit offenen Mündern. Welche Harmonie das Meer in sich barg. Es war auch so schon beeindruckend. Als jedoch die Delfine auftauchten, ließ ich abrupt den Fotoapparat fallen. Er baumelte an der kleinen Trageschlaufe um mein Handgelenk. In einer perfekten Choreographie kamen uns 50 oder 60 Delfine in Paaren entgegen, in einer imposanten Auf- und Abwärtsbewegung. Sie wollten offensichtlich das Meer um den Heiligen Berg besuchen. Jetzt war mir klar: Wenn Mensch und Tier sich in dieser Form vereinen, auf einmal ganz ruhig werden, dann muss da am Ende des Berges, wo sich die Ägäis und der Athos treffen, etwas Einmaliges passieren. Dieser Gedanke wühlte mich auf, und trotzdem fühlte ich eine gewisse Ruhe in mir.

Als wir nach ungefähr zwei Stunden an dem kleinen Zielhafen Agia Anna anlegten, empfing