Matthias Beck

Leben
~

Wie geht das?

Die Bedeutung der
spirituellen Dimension
an den Wendepunkten
des Lebens

Meinem Bruder Wolfgang gewidmet

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Präambel

Vorwort

TEIL A Die biographische Entwicklung des Menschen

1. Hinführung

2. Die Vieldimensionalität des Lebens und der Selbststand

3. Die Frage nach dem letzten Grund

4. Der Lebensbeginn

5. Geburt – Neugeborenes

6. Kindheit

7. Kindheit – Intuition und Fragen

8. Pubertät als Krise

TEIL B Grundreflexionen über die Welt, den Menschen und die Frage nach dem Absoluten

9. Die Brüchigkeit und Zerrissenheit der Welt

10. Der Mensch als Wesen des Geistes und der Transzendenz – Glauben und Wissen

11. Die Frage nach Gott

12. Das befreiende Handeln Gottes

13. Die Offenbarung Gottes im Neuen Testament und seine Wirkungsgeschichte

14. Neuzeit und verändertes Weltbild

15. Gegenwart und moderne Biologie

16. Leben als das Ganze – Die Komplementarität der Wissenschaften

TEIL C Die Berufung des Menschen

17. Pubertät als „Seinsüberstieg“

18. Die Zerrissenheit des Menschen

19. Überwindung der Zerrissenheit – „Stimmigkeit“

20. Gottes Wille – Erfahrbarkeit im Leib

21. Die allgemeine und besondere Berufung des Menschen

22. Die Ablehnung des Rufes

TEIL D Die Biographie der zweiten Lebenshälfte

23. Lebensmitte als existentielle Krise

24. Das Alter

25. Krankheit und Leid

26. Das Phänomen der Zeit

27. Angst, Sünde und Schuld

28. Die existentielle Bedeutung von Sakramenten und Dogmen

29. Zusammenfassung und Ausblick – Wie geht Leben und was ist Christentum?

Endnoten

Anhang

Endnoten: Anhang

Literaturverzeichnis

Impressum

Präambel

Das vorliegende Buch ist in Wien und damit im europäischen Kontext geschrieben. Es verwendet bestimmte Begriffe, die einer christlich geprägten Kultur entstammen. Es will aber den Versuch unternehmen, etwas Allgemeingültiges zu sagen, was alle Menschen betrifft. Vielleicht geht das gar nicht, weil eben doch jeder Mensch in seinem Innenleben, seinen Gefühlen, seinem Gewissen, seinen Denkstrukturen so unterschiedlich geprägt ist, dass allgemeine Aussagen über das Leben gar nicht möglich sind. Möglich sind Aussagen von der Gestalt, dass alle Menschen nach Glück suchen, dass sie leiden, dass sie sich freuen können und weinen, dass sie krank werden und sterben müssen. Dann aber gehen die Unterschiede schon los, wie der Mensch zu seinem Glück findet, wie sein Leben gelingt und was das Glück ist.

Trotz der Vorprägungen, die der Autor ebenso wie jeder andere Mensch mitbringt, bemüht sich das Buch, diesen Fragen näher zu kommen und Phänomene aufzuzeigen, die universal gültig sind und in jedem Menschen auftreten. Allein die Interpretation dieser Phänomene wird in anderen Denkhorizonten und Kulturen unterschiedlich sein. So möge der Leser der Sache gegenüber aufgeschlossen sein und nicht so sehr auf die Begriffe achten, sondern auf die Sache selbst, die sich hinter den Begriffen zeigt. Er kann manche Ausdrucksweise in seine eigene Sprache übersetzen und zuschauen, ob die beschriebenen Phänomene auch in seinem Erleben auffindbar sind. Dann wäre schon ein Stück Universalität gewonnen.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Text nur ein genus verwendet.

Vorwort

Das Buch ist entstanden aus Vorlesungen, Vorträgen und vielen Einzelgesprächen. Es ist kein wissenschaftliches Buch und nicht für Professoren geschrieben. Es soll jeden erreichen, der in Zeiten der Orientierungslosigkeit Fragen an das Leben stellt. In zahlreichen Gesprächen tauchte immer wieder die Frage auf, wie Leben eigentlich geht, wie es gelingt, wie es glückt und was man dafür tun kann. Außerdem stand häufig das Problem im Mittelpunkt, wie man dem Menschen von heute im naturwissenschaftlich geprägten Zeitalter noch religiöse Inhalte vermitteln kann. In diesen Fragen zeigte sich eine gewisse Furcht vor der Übermacht naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und medizinischer Machbarkeiten und zum anderen die Sorge, dass da für die Frage nach Gott kein Platz mehr sei. Bei dieser Gottesfrage kamen wiederum eigenartige Vorstellungen von Religion, Christentum und Spiritualität zum Vorschein. Oft stand die Frage im Zentrum, ob das Christentum für die Alltagsbewältigung überhaupt noch etwas beitragen kann.

Das Buch will die existentiellen Fragen des Lebens mit naturwissenschaftlichen und medizinischen Erkenntnissen zusammenbringen. Es will Hinweise geben, wie in Zeiten der Krise gehandelt werden kann; wie der Mensch sich selbst finden kann, ohne sich selbst je neu erfinden zu müssen; wie Umbruchsphasen durchgestanden werden können und wie Krankheiten womöglich mit religiösen und spirituellen Fragen zusammenhängen. Das Buch ist so aufgebaut, dass es sich an den verschiedenen Lebensphasen des Menschen orientiert und zwischendurch Grundsatzreflexionen über die existentiellen Fragen des Lebens anstellt. Dabei werden manchmal vorab Antworten gegeben, die erst später begründet werden.

Das Buch wendet sich im Teil A den Grundfragen des Lebens anhand der biographischen Entwicklung des Menschen bis zur Pubertät zu. Dann geht es im Teil B um einige Grundsatzreflexionen über die Struktur der Welt, den Menschen und die Existenz Gottes, um schließlich im Teil C wieder zum Menschen zurückzukehren, erneut bei der Pubertät anzusetzen und die zweite Lebenshälfte im Teil D mit einigen Detailfragen zu betrachten. Es wird über die Grundbestimmung des Menschen gesprochen, die darin besteht, dass jeder einzelne eine je einmalige Berufung hat.

Das Buch ist also mehrfach interdisziplinär angelegt. Bei diesem interdisziplinären Zugang müssen einerseits die wissenschaftlichen Zugänge zum Menschen klar voneinander getrennt werden, und andererseits muss der Mensch in seiner Leib-Seele-Einheit als ganzer in den Blick kommen. Die verschiedenen Ebenen im Menschen sind unvermischt und ungetrennt zu betrachten.

1. Hinführung

Wie geht Leben, woran soll der Mensch sich orientieren? Eine triviale Frage? Menschen aller Zeiten haben diese Frage gestellt. Wie geht das Leben, wie gelingt es, warum scheitert es? Geht das Leben überhaupt, geht es langsam oder schnell, geht es gerade oder schief, geht es an mir vorüber? Soll es „gut“ gehen? Kann es auch scheitern? Geht es nicht immer irgendwie? Soll man diese Fragen überhaupt stellen oder sie lieber verdrängen? Ist es nicht leichter, nicht hinzuschauen und nicht nachzufragen?

Warum geht Leben eigentlich und steht nicht still? Kann man es nicht anhalten? Läuft die Zeit? Geht sie immer weiter? Bis zum Tod? Ist dann Schluss? Soll es immer so weiter gehen, womöglich über den Tod hinaus? Ist das Leben ständig im Werden, ein ständiger Wandlungsprozess? Was ist dieses Werden, wohin geht es? Ist es ein Weniger-Werden, ein Mehr-Werden? Was ist der Ursprung des Lebens, und was ist sein Ziel? Fragen über Fragen. Sollte man nicht einfach in den Tag hinein leben, ohne zu fragen, oder drängen sich die Grundfragen des Lebens so auf, dass man ihnen irgendwann nicht mehr ausweichen kann?

Eine letzte Frage: Warum muss man eigentlich überhaupt leben, kann man nicht auch tot sein? Niemand hat je gefragt, ob wir leben wollen. Das Leben ist jedem zugemutet worden. Jeder einzelne ist in das Leben hineingeworfen worden, er ist der Geworfene (Heidegger). Über seine Existenz oder Nicht-Existenz wurde von anderen entschieden. Es kann die Liebe der Eltern gewesen sein, ein Zufall, ein „Unfall“, eine Herstellung im Reagenzglas, vielleicht sogar eine Herstellung, um später einem Geschwisterkind Knochenmark zu spenden. Vielleicht gehört es zum guten Ton, Kinder zu haben, womöglich Wunschkinder. Ohne Kinder könnte das Leben sinnlos sein. Eltern wollen sich in den Kindern fortzeugen, die Gene in die nächste Generation weitergeben. Die Sehnsucht nach Bleibendem ist groß. Das eigene Leben kann nicht alles gewesen sein, es muss doch weiter gehen. Hat das Leben einen Sinn und wenn ja, welchen? Kann man sich das Leben nehmen im doppelten Sinn? Kann man es an sich reißen, statt es sich schenken zu lassen, oder kann man sich das Leben nehmen, indem man es beendet? Wenn das Leben gelingt, kann der einzelne es als Geschenk erfahren, wenn es misslingt, erlebt er es womöglich als große „Last“.

Das vorliegende Buch ist ganz einfach und für den „normalen Menschen“ geschrieben. Es ist der Versuch, Antworten zu finden auf diese Fragen, die jeden beschäftigen. Ein solcher Versuch ist nicht neu, es gab schon viele zuvor. Das Buch will das Einfache und Selbst-verständliche ans Licht holen, über das Innerste des Menschen nachdenken, über seine Biographie und schließlich über die Verschränkung von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft.

Das Selbst-verständliche ist oft das Große, das niemand bemerkt und das sich aus sich selbst heraus versteht. Aber was versteht sich aus sich selbst heraus? Versteht sich nicht alles vom anderen her: von der Familie, vom Geschlecht, von der Nationalität, von der Bildung, von naturwissenschaftlichen Zusammenhängen her? Gibt es in all dem Verständnis vomanderen-her auch ein Verstehen aus-sich-selbst-heraus? Gibt es etwas ursprünglich Aufspringendes im Menschen, Originäres, Neues, Einmaliges, noch nie Dagewesenes, Absolutes, Selbst-verständliches? Verweist das Selbstverständliche und Ursprüngliche im Menschen auf einen letzten Ursprung? Ist das Ursprüngliche jenes eigenartige „Phänomen“, das man kaum bemerkt, weil es so still ist? Ist das Selbstverständliche in allem zu finden? Ist es versteckt, muss man es erst ent-decken? Das Buch versucht, dieses Selbstverständliche ans Licht zu heben und die Frage zu beantworten, wie der Mensch dazu hinfindet.

Eigenartig: Das Selbstverständliche soll ans Licht gehoben werden, als wäre es verborgen? Ist es verborgen und muss erst ent-borgen und entdeckt werden? Muss die Decke erst weggezogen werden? Das Wegziehen dieser Decke und der Prozess des Entdeckens ist ein Weg vom Verborgenen ins Entborgene und damit ein Weg zur Wahrheit. Der griechische Begriff für Wahrheit meint genau dies: A-letheia ist das Unverborgene. Die Wahrheit ist das Unverborgene. Die Wahrheit ist verborgen und muss ans Licht geholt werden, sie ist schon da und muss entdeckt werden.

Das Finden und Entbergen dieser Wahrheit ist ein lebenslanger Prozess. Es ist ein dialogischer Prozess nach außen zur Welt, nach innen zu sich selbst und letztlich zur Wahrheit hinter allem. Die Wahrheit selbst ist dialogisch, sie ist lebendig, sie bewegt sich, sie zeigt sich und entzieht sich, sie drängt ans Licht und verbirgt sich. Wenn man sich ihr öffnet, öffnet sie sich, wenn man sich ihr gegenüber verschließt, verschließt sie sich. Augustinus hat es so ausgedrückt: Die Wahrheit bricht sich Bahn. Dem, der sich ihr öffnet, eröffnet sie sich, dem der sich ihr verschließt, verschließt sie sich.

Wenn man die ans Licht drängende Wahrheit zurückhalten will, bricht sie sich auf anderen Wegen Bahn. Zurückhalten kann man sie auf Dauer nicht, dazu ist ihre Dynamik zu groß. Es liegt in ihrem „Wesen“, in die Unverborgenheit zu drängen. Sie ist der Horizont, an dem man sich orientiert bei allen Fragen, die da lauten: Wie ist das eigentlich, wie verhält es sich, wie sind diese und jene Zusammenhänge, aber auch bei der Frage: wer bin ich eigentlich und was soll das Ganze? Die Wahrheit ist Anzeige ihrer selbst und ihres Gegenteils, sie bringt auch die Unwahrheit ans Licht. Wenn man sich ihr nicht öffnet, verbirgt sie sich. Dann hört der Mensch zwar äußerlich, aber er hört nicht die tiefere Botschaft, er sieht die Phänomene und sieht doch nicht durch sie hindurch, es geht ihm letztlich kein Licht auf. Er hat die Wahl: er kann sich der Wahrheit öffnen oder sich ihr verschließen. Insofern ist er seines Glückes Schmied. Wer die Wahrheit erkennt und das Erkannte auch umsetzt, kommt zum Licht (Joh 3,21).

Die Wahrheit hat verschiedene Aspekte. Es kann die Wahrheit des eigenen Lebens sein, die Wahrheit im Gegensatz zur Unwahrheit, es kann die Wahrheit der Welt sein, die „Wahrheit“ der Mathematik oder die Wahrheit in allem, in jedem Moment oder die Wahrheit hinter allem. Selbst der Naturwissenschaftler sucht implizit nach dieser Wahrheit. Er will wissen, wie die Dinge sich verhalten, wie sie sind. Er will herausfinden, wie Natur, Pflanze, Tier und Mensch funktionieren. Zwar bringen Naturwissenschaften keine Wahrheit hervor, aber sie versuchen, dieser Wahrheit näher zu kommen: mit Modellen und Hypothesen, die sich bewahrheiten oder als falsch herausstellen, die sich verifizieren oder falsifizieren lassen. Naturwissenschaften suchen implizit nach dem Sein der Dinge, nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, aber sie können es nicht finden.

Denn ihre Methode ist nicht dazu geeignet, diese letzten Dinge zu erfassen, das bleibt der Philosophie und Theologie überlassen. Die moderne Naturwissenschaft stellt solche letzten Fragen auch nicht ausdrücklich. Die Philosophie eines Aristoteles hat es noch getan. Die Beschäftigung mit dem Lebendigen heißt bei ihm Physik (von physis die Natur) und die Wissenschaft, die sich mit den Grundfragen des Seins beschäftigt, Metaphysik. Diese versucht, wie es bei Aristoteles heißt, das Seiende als das Seiende zu erfassen, also nach dem Wesen der Dinge zu suchen, nach dem, was die Dinge an sich, in sich und aus sich heraus sind. Sie sucht nach den innersten Zusammenhängen, nach dem, was sich in allem und hinter allem zeigt.

Die Frage nach dem Wesen der Dinge ist heute weithin verloren gegangen, aber gerade eine moderne Wissenschaft braucht wieder beide Zugänge zur Interpretation der Welt: den naturwissenschaftlichen und den geisteswissenschaftlichen. Beide sind von ihrer Methode her klar zu unterscheiden, sie sollten sich aber komplementär ergänzen. Sonst ist die Struktur der Welt nicht mehr hinreichend zu erfassen und ethische Fragen sind nicht mehr adäquat zu beantworten. Die moderne Ethik im Kontext von Biologie und Medizin enthält schon dieses komplementäre Zueinander von Natur- und Geisteswissenschaften. Zur Beantwortung aktueller medizinethischer und bioethischer Fragen bedarf es des naturwissenschaftlichen Sachverstandes, der Einordnung in ein konkretes Menschenbild (Anthropologie) und der ethischen Urteilsbildung zum richtigen und guten Handeln. Auch die Forschung sollte von ihren Ansätzen her bereits interdisziplinär und komplementär arbeiten. Es gilt, eine transdisziplinäre Forschung zu entwickeln, die von vornherein die verschiedenen Wissenschaften in Forschungsprojekte einbindet.

Die moderne Naturwissenschaft sucht nach Einzelerkenntnissen und Lebensgesetzen, Philosophie und Theologie hingegen suchen nach dem Ganzen des Lebens und der Frage, warum es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts (Leibniz). Deswegen können sich Naturwissenschaft und Theologie auch nicht widersprechen, weil ihre Fragen und Methoden ganz unterschiedlich sind. Zum Beispiel kann man bei der Frage von Schöpfung oder Evolution sagen, dass Schöpfung sehr wohl evolutiv vonstatten gehen kann. Gott kann etwas ins Sein setzen, das sich dann von selbst weiter entwickelt.

Die Evolutionstheorie versucht, mit ihrer naturwissenschaftlichen Methode, den Werdeprozess der Welt zu erklären. Sie kann als Theorie verändert, ergänzt oder im Sinne eines Paradigmenwechsels ganz neu geschrieben werden. Sie wird bereits durch neuere Forschungen ergänzt. (Die neuere Forschungsrichtung „EvoDevo“, evolutionary development, versucht Erkenntnisse aus der Embryonalentwicklung auf jene der Evolutionstheorie zu übertragen.)1 Naturwissenschaften können nur Theorien und Hypothesen an die Welt herantragen und zusehen, ob die Phänomen sich mit diesen Theorien hinreichend plausibel erklären lassen. Solange die Sternenkonstellationen noch ausreichend mit der Annahme interpretiert werden konnten, dass die Erde im Mittelpunkt der Welt steht und die Sonne sich um sie herum dreht (daher bis heute die Rede von Sonnenaufgang), wurde nicht weiter darüber nachgedacht.

Als aber klar wurde, dass durch genauere Meßmethoden die Unerklärbarkeiten zunahmen, ging Kopernikus von einer neuen Annahme aus, dass die Sonne im Mittelpunkt unseres Sonnensystems steht und die Welt sich rotierend um die Sonne dreht. Und siehe da, bestimmte Phänomene und Konstellationen konnten jetzt besser erklärt werden. Das nennt man einen Paradigmenwechsel. Man stellt sich auf einen neuen Standpunkt und findet bessere Erklärungen für bestimmte Phänomene. Solche Paradigmenwechsel geschehen häufiger in naturwissenschaftlichen Theorien. Ein solcher geschah auch beim Übergang von der Newtonschen Mechanik zur Quantenphysik, und er geschieht heute in gewisser Weise im Kontext der Genetik. Diese dachte bis vor kurzer Zeit, dass die Informationen für den Organismus und für Krankheiten in den Genen alleine liegen. Inzwischen wird aber immer klarer, dass Gene aktiviert und inaktiviert werden müssen und dass dafür verschiedene Faktoren in der Umwelt, aber auch im Lebensstil des Menschen, seinem Denken und Fühlen sowie seinen zwischenmenschlichen Beziehungen liegen. Diese Faktoren nennt man epigenetische Faktoren.

Es zeigt sich also, dass naturwissenschaftliche Theorien sich ändern können, und dass Naturwissenschaften keine absoluten Wahrheiten hervorbringen. Naturwissenschaften stellen – wie erwähnt – Hypothesen auf und sehen zu, ob diese sich bewahrheiten (verifizieren) lassen oder sich als falsch herausstellen (falsifizierbar sind). Die Theologie stellt hingegen keine Theorien auf, ob es Gott gibt oder nicht und versucht dann, eine solche Theorie zu verifizieren oder falsifizieren (das geht gar nicht), sondern sie geht im Judentum und Christentum davon aus, dass Gott der Schöpfer der Welt ist und sich in dieser Welt gezeigt hat, und sie versucht unter anderem darüber nachzudenken, ob eine solche Vorstellung von Schöpfung und Offenbarung möglich ist und sinnvoll gedacht werden kann. Sie macht als Geisteswissenschaft auch keine Experimente, und die Bibel ist kein naturwissenschaftliches Buch.

So ist die Evolutionstheorie ein naturwissenschaftlicher Zugang zur Interpretation der Welt und die Theologie ein geisteswissenschaftlicher. Beide haben unterschiedliche Methoden und Problemstellungen. Die Evolutionstheorie fragt, wie die Welt sich womöglich entwickelt hat und die Theologie fragt, warum es sie überhaupt gibt. Beide können sich also gar nicht widersprechen, weil ihre Fragen ganz andere sind. Aus theologischer Sicht schmälert es nicht die Größe Gottes, wenn man davon ausgeht, dass er etwas ins Sein setzt, was sich dann selbst weiter entwickelt und transzendiert (Selbsttranszendenz), und was das heliozentrische Weltbild mit der Sonne im Mittelpunkt angeht, ist es sogar plausibler davon auszugehen, dass die Sonne als Licht der Welt im Zentrum steht und nicht die Erde. Naturwissenschaftliche Theorien können das theologische Denken befruchten, das Staunen vor der Größe Gottes befruchten und sogar neue Aspekte eines Gottesbildes aufzeigen.

Bei ihrer Suche nach der „Wahrheit“ entdeckt die Naturwissenschaft immer wieder Neues, aber die ganze „Wahrheit“ erkennt sie nie. Das Ganze entzieht sich ihrem Zugriff. Das Ganze ist nur vom Ganzen her zu erkennen und nicht aus der empirischen Forschung von den Einzelteilen her. In allen „Einzelerkenntnissen“ zeigt sich aber eine andere Art von Wahrheit, die eigens reflektiert werden kann: Die Naturwissenschaft und die Naturwissenschaftler gehen nämlich implizit davon aus, dass die Welt geordnet ist, sonst könnten sie gar keine Naturwissenschaft betreiben. Nur wegen dieser Ordnung ist es möglich, weltweit Forschungsergebnisse zu vergleichen: Zellen, Gewebe, Organe wachsen bei gleichen Bedingungen in Europa genauso wie in den USA und in China. Das ist ja der Siegeszug der modernen Naturwissenschaften. Sie funktionieren auf der ganzen Welt, unabhängig von kulturellen Kontexten.

Allerdings bedeutet diese Ordnung nicht, dass alle physiologischen Abläufe bereits genau festgelegt sind. Die Ordnung im Lebendigen ist keine festgelegte Starrheit, sondern höchste Form von Flexibilität, Komplexität, ständiger Wechselwirkung und Dialog. Gerade die Erkenntnisse der modernen Biologie bringen im Kontext der Genetik viel von diesem Wechselwirkungsgeschehen ans Licht. Denn die Gene enthalten nicht die ganze Information für den Organismus. Sie sind nur die Grundinformation und müssen ständig an- und abgeschaltet, aktiviert und inaktiviert werden. Nur in diesem ständigen Wechselwirkungsgeschehen entsteht Information für den Organismus (worauf später genauer eingegangen wird.) Diese Prozesse sind hochkomplex und laufen in jeder Sekunde im Organismus milliardenfach und unbemerkt ab. Sie geschehen „von selbst“, selbstverständlich und ohne Geräusch. Erst wenn die Prozesse entgleisen, nimmt man sie als Krankheit oder Schmerz wahr. Gesundheit merkt man nicht, Krankheit wird spürbar.

Ordnung und Spielraum, Ordnung und Zufall, Ordnung und Freiheit gehen Hand in Hand. Gerade dieses Zusammen von Ordnung und Spielraum, Ordnung und Zufall macht das Lebendige aus. Gäbe es die Ordnung nicht und herrschte nur der Zufall, gäbe es den Zufall nicht mehr. Denn gäbe es nur Zufall, wäre der Zufall aufgehoben. Zufall kann es nur im Kontext von Ordnung geben. Außerdem würde im Kontext des dauernden Zufalls kein Organismus mehr funktionieren. Das Herz muss immer schlagen und das Auge immer sehen. Es darf nicht plötzlich anfangen zu hören. Gäbe es andererseits innerhalb der Ordnung nicht den Spielraum, die Veränderbarkeit und die „Freiheit“, gäbe es keine Weiterentwicklung. Alles wäre starr festgelegt. Beides also ist notwendig: Ordnung und Freiraum. Noch einmal anders: Wäre alles zufällig und beliebig, käme die Ordnung durcheinander und der Mensch hätte nie entstehen können. Eine derartige Unordnung zeigt sich zum Beispiel bei Krebserkrankungen.2 Bei diesen Erkrankungen ist die Ordnung gestört und Zellen aus der Lunge tauchen plötzlich im Gehirn auf. Da gehören sie nicht hin. Diese Zellen nennt man Metastasen. Eine solche Unordnung ist mit dem Leben nicht vereinbar.

Auch im Kosmos herrscht diese Ordnung: die Sonne geht jeden Morgen im Osten auf und nicht mal im Süden, mal im Westen oder mal im Norden. (Wir wissen längst, dass die Sonne überhaupt nicht aufgeht, sondern dass die Erde sich dreht und es so aussieht, als ginge die Sonne auf.) Ginge sie morgen im Süden und übermorgen im Westen auf, hörte die Welt auf zu existieren. So gibt es eine Ordnung im Kosmos, in der Natur, im Organismus, im Inneren des Menschen, auch im menschlichen Geist. Dort ist es die Ordnung der Logik und des logischen Denkens, das sich nicht in Widersprüchen bewegen darf. So ist die Ordnung auf jeder Ebene eine andere und dennoch durchzieht sie das ganze Sein. Sie besteht im Kosmos in der Ordnung der Planeten und Sterne, im Lebendigen in einem ständigen Wechselwirkungsgeschehen zur Aufrechterhaltung eines dynamischen Gleichgewichtes im Organismus und im menschlichen Geist in der Logik des Denkens und der Ausrichtung auf den logos.

Die Ordnung ist im biologisch Lebendigen vorgegeben und muss gleichzeitig im Lebensvollzug immer wieder eingeholt werden. Das erfordert Aufwand und „Arbeit“. Das Tote neigt zur je größeren Unordnung, wie die Physik herausgearbeitet hat. Diese Tendenz zur Unordnung wird als Entropie bezeichnet. Im Lebendigen muss dieser Neigung zur Unordnung durch Energiezufuhr immer wieder entgegengewirkt werden. Daher spricht man auch von negativer Entropie im Lebendigen.3 Diese Ordnung und die Tendenz zur Unordnung gibt es in anderer Weise auch im Seelischen und im Geistigen. Auch dort neigt das „Tote“ im übertragenen Sinn zu Unordnung, Zerstreuung und Desintegration. Dieser Tendenz zur seelisch-geistigen Zerstreuung und Desintegration muss ebenfalls durch je neue Integrationsarbeit entgegengearbeitet werden.

Im Griechischen wird die Kraft zur Desintegration und Zerstreuung mit dem Begriff des Dia-bolos belegt (dia-bolos kommt von dia-ballein: zerstreuen, auseinanderreißen). Diesem Begriff steht jener des Sym-bols (von sym-ballein zusammenwerfen) gegenüber. Er weist auf die integrierenden Momente des Lebens hin. Es wird im Laufe des Buches zu zeigen sein, wie die desintegrierenden Kräfte im Menschen je neu zusammengehalten und integriert werden können und was diese Integrationsarbeit mit dem Begriff des Symbols zu tun hat.

2. Die Vieldimensionalität des Lebens und der Selbststand

Das menschliche Leben hat viele Dimensionen. Das ist eine triviale Aussage. Spannend aber wird die Frage, wie diese Dimensionen sich gegenseitig im Leben durchdringen. Wissenschaftstheoretisch müssen die verschiedenen Ebenen von Naturwissenschaft, Medizin, Psychologie, Soziologie, Philosophie und Theologie genau auseinandergehalten4 werden und greifen doch im konkreten Leben ineinander. Die Naturwissenschaften versuchen, die Welt und die Einzeldinge in ihrer Ausdehnung und Messbarkeit zu erfassen (res extensa bei René Descartes), die Geisteswissenschaften befassen sich mit dem Nicht-Ausgedehnten und Nicht-Messbaren des menschlichen Geistes (res cogitans). Diese Sichtweise des Descartes impliziert zwar einen Leib-Seele-Dualismus in der Unterscheidung von Geist und Materie, aber diese Unterscheidung ist zunächst geeignet, um die unterschiedlichen Perspektiven aufzuzeigen. Sie wachsen heute mehr und mehr zusammen.

Es gibt Phänomene im Leben, die sich der Messbarkeit und Wägbarkeit entziehen. Es wäre unsinnig, das Gewicht oder die Zentimeter von Gedanken oder von Liebe und Treue bestimmen zu wollen. Im menschlichen Lebensvollzug existiert beides zugleich: die messbaren physiologischen Veränderungen im Organismus (Zellveränderungen, Blutwerte, Hormone) und die nichtmessbaren Phänomene wie Liebe, Treue, Vertrauen, Wahrheit. Außerdem gibt es noch die emotionale Gefühlsebene, die von der Psychologie betrachtet wird. Alle Dimensionen sind im Menschen gleichzeitig „da“, sie dürfen wissenschaftlich gesehen nicht vermischt, im Lebensvollzug aber auch nicht von einander getrennt werden. Auch hier gilt: unvermischt und ungetrennt.

Eine naturwissenschaftlich geprägte Welt geht oft davon aus, dass nur das existent ist, was messbar ist und übersieht dabei, dass die größere Zahl von alltäglichen Vollzügen des menschlichen Miteinanders gerade nicht messbar ist. Es sind dies die geistigen Vollzüge und die täglichen personalen Begegnungen. Jeder Gedanke, jedes Versprechen, jede Liebe und Treue sind in dem Sinne zunächst nicht messbar. Zwar versucht die Hirnphysiologie immer wieder, auch den Vollzug des Denkens messbar zu machen und die hirnphysiologischen Veränderungen beim Denken und Fühlen darzustellen. Aber mit diesen Messungen erfasst man nur die „Außenseite“ eines Gedankens oder eines Gefühls, nicht aber den Gedanken, das Gefühl oder das Phänomen der Liebe selbst. Das Messbare ist die objektive Sicht auf ein Phänomen (auch als die „Dritte-Person-Perspektive“ bezeichnet), während das subjektive Erleben und der subjektive Vollzug („Erste-Person-Perspektive) kaum messbar ist.

So sehr es hilfreich ist, hirnphysiologische Veränderungen im Gehirn liebender Menschen, meditierender Mönche oder betender Menschen aufzuzeichnen, so wenig erfasst man doch die Liebe als Liebe oder das Gebet als Gebet. Man kann auch bestimmte Konfliktsituationen im Gehirn darstellen, aber damit ist der Konflikt noch nicht als Konflikt in seiner existentiellen Bedeutung für zwei Menschen begriffen. Man erfasst nur eine Korrelation zwischen Gedanken und hirnphysiologischen Veränderungen, nur die äußeren Wirkungen eines inneren Geschehens. Vor allem kann man nicht sagen – wie manche Hirnphysiologen es tun – dass die Veränderungen im Gehirn die Ursache für den Gedanken, der Konflikt, die Tat, der Liebe sind. Man kann nur von einer Korrelation zwischen Gedanken und Veränderungen im Gehirn sprechen.5

Will man bis hierher eine Zusammenschau der verschiedenen wissenschaftlichen Zugänge zum Menschen (Naturwissenschaften, Psychologie, Soziologie, Medizin, Philosophie, Theologie) im Blick auf den konkreten Lebensvollzug des Menschen wagen, kann man es so sehen: Der Mensch hat naturwissenschaftliche Grundlagen (z. B. Genetik, Epigenetik, Geschlecht), er hat psychische Prägungen durch Eltern und Vorfahren (Beziehung zu den Eltern, Ängste, Konflikte) und er hat einen menschlichen Geist (er ist ein Geistwesen), der sich philosophisch und theologisch mit Fragen nach dem Sinn des Lebens und den letzten Gründen des Seins auseinandersetzen kann. Die natürlichen Vorgaben sind dem Menschen mitgegeben, sein Leben ist ihm als Aufgabe aufgegeben. Im Leben gibt es – wissenschaftlich gesehen – die naturwissenschaftlich messbare und verallgemeinerbare Dimension im Menschen, die psychisch individuell geprägte, die mit anderen individuellen Prägungen verglichen werden kann und die geistige, die im Lebensvollzug etwas Einmaliges und Unvergleichbares enthält: Jeder Mensch hat seine eigenen Gedanken, seine individuelle Lebensführung, seinen eigenen Namen, seine Identität und Berufung, seine je individuelle Krankheit und letztlich stirbt er auch seinen eigenen Tod. Niemand kann ihn dabei vertreten.

Allerdings vermischen sich gerade heutzutage die Ebenen des Verallgemeinerbaren und des Individuellen immer mehr. Gerade die naturwissenschaftlichen Forschungen im Bereich der Medizin, die eigentlich alles zu verallgemeinern suchen, nehmen gegenwärtig immer mehr das Individuelle in den Blick. Sie erkennen, dass jeder Mensch ein ganz individuelles Genom hat und zum Beispiel Arzneimittel wegen dieser Unterschiedlichkeit in jedem Menschen anders wirken. Das Fachgebiet der Pharmacogenomics befasst sich mit diesem Einmaligen. Man spricht immer mehr von individualisierter Medizin, die sich mit dem Individuellen im Blick auf die genetische Ausstattung befasst. Philosophisch-theologisch umfassender muss man von einer personalisierten Medizin sprechen, die sich dem ganzen Menschen mit seiner Innenwelt, Umwelt und seiner seelisch-geistigen Verfasstheit zuwendet. So gibt es verallgemeinerbare Phänomene im Menschen, die wissenschaftlich gesehen vergleichbar sind, aber es ist doch immer der eine, individuelle und einzigartige Mensch, der krank ist, sich freut, denkt und fühlt.

Die Einzigartigkeit des Menschen hat auch mit seinem Geistsein und seiner Vernunftbegabung zu tun. Die geistige Verfasstheit setzt den Menschen instand, sich mit den verschiedenen Dimensionen seines Seins in seinem Lebensvollzug auseinandersetzen und sie zu einer Einheit zu integrieren. Er kann seine genetischen Veranlagungen nutzen, sich mit seinem Leben identifizieren oder es ablehnen, er kann ein gutes Selbstverhältnis aufbauen und seine elterlichen Prägungen in sein Leben integrieren oder sich dagegen wehren. Der Mensch kann auf Grund seiner Geistverfasstheit auch über sein ganzes Leben und den Tod nachdenken. Der Geist ragt von sich aus über den Tod hinaus und in den Bereich jenseits des Lebens hinein. Er übersteigt die Endlichkeit der Welt. Der Mensch, der seine Existenz und die Welt als endlich erkennt, ist mit seinem Geist schon darüber hinaus. Er ist schon im Raum des Absoluten, sonst könnte er die Grenze nicht als Grenze erkennen, so hat es Hegel formuliert.

Der Mensch kann nicht nur nach draußen über die Endlichkeit hinausschauen, sondern auch nach innen. Er kann in jeder Re-flexion (reflectere, sich zurückbeugen) und inneren Versammlung in einer schrittweisen Distanzierung von den Dingen langsam zu sich selbst zurückkehren und bei sich sein. Die Tradition nennt das die vollständige Rückkehr zu sich selbst. In dieser Rückkehr zu sich selbst überschreitet der Mensch sich ebenfalls auf einen letzten Grund hin und findet diesen letzten Grund in sich. In ihm findet er seinen inneren Halt und Selbststand und lernt von dort aus, es mit sich selbst auszuhalten. Das Selbststand-Finden und das Mit-sich-Aushalten hat Seneca etwas anders ausgedrückt: Es ist das Zeichen des geordneten Geistes, dass er es mit sich selbst aushält: „Für den ersten Beweis eines geordneten Geistes halte ich das Stehen-Bleiben-Können und Mit-Sich-Verweilen.“6

Dieses Mit-sich-selbst-Aushalten, Mit-sich-allein-sein-Können und seinen Selbststand in sich finden ist die Bedingung der Möglichkeit für gelingende Beziehungen. Nur wer es mit sich selbst aushält, wird es auf Dauer auch mit anderen aushalten. Ohne dass der Mensch seinen Selbststand erlangt – und diesen erreicht der Mensch nur, wenn er sich selbst überschreitet und im Absoluten seinen tragenden Grund und letzten Halt findet (s. u.) –, steht der Mensch immer in der Gefahr, andere oder anderes zu verabsolutieren oder als fremd abzulehnen. Wenn die innere Souveränität oder der Selbststand fehlen und das sichere In-sich-Stehen nicht entwickelt ist, wird das Fremde immer als etwas Bedrohliches erlebt und abgelehnt werden. Das In-sich-Halt-Finden ist deshalb so wichtig, da es dem Menschen Stand und „Sicherheit“ verleiht, es mit sich selbst auszuhalten, den anderen in seiner Andersartigkeit zu „ertragen“ und – bei Freundschaften und Beziehungen – den anderen nicht durch Verabsolutierung zu überfordern. Der mangelnde Selbststand, die mangelnde innere Sicherheit und die Verabsolutierung des anderen stört zwischenmenschliche Beziehungen und letztlich auch die Freiheit des Menschen. Denn diese bedeutet über die Handlungsfreiheit und Willensfreiheit hinaus auch die Freiheit von bestimmten Abhängigkeiten, die den Menschen hindern, sein inneres Wesen und seine Berufung leben zu können.7

3. Die Frage nach dem letzten Grund

Der Mensch kann in seinem tiefsten Inneren den letzten Grund finden, der ihm Halt gibt, der ihn trägt und frei werden lässt von anderen Abhängigkeiten. In seinem tiefsten Seelengrund trifft der Mensch auf das Absolute. Dieses Absolute und dieser letzte Grund ist aber auch der Horizont des gesamten Seins und aus jüdisch-christlicher Sicht ein personaler Grund. Er ist im Menschen „da“ und gleichzeitig als Grund der Welt gegenwärtig. Nach einem solchen Grund haben die Menschen Jahrtausende lang gesucht. Aber sie wussten nicht, ob es ihn gibt und wie er „aussieht“. (Der deutsche Begriff „Grund“ taucht zum ersten Mal in der mittelalterlichen Mystik als Seelengrund auf. Der Mensch, der nach Begründungen sucht und immer weiter sucht, kommt schließlich auf einen letzten Grund, und diesen nennen alle Gott, so formuliert es Thomas von Aquin. Diesen letzten Grund findet der Mensch als Grund der Welt und als Seelengrund in sich selbst.)

Dieser Grund beginnt sich nach der Auffassung des Judentums und Christentums im Laufe der Geschichte schrittweise zu zeigen und zu offenbaren. Der Gott Jahwe tritt aus seinem dunklen Seinsgrund und seinem „Versteck“ hervor und – so die Meinung des Judentums – beginnt zu sprechen. Dieses Sprechen ist nicht nur eine Mitteilung im Sinne der Weitergabe einer Information, sondern Gott fängt an, sich selbst mitzuteilen und sein Leben mit den Menschen zu teilen. Er sagt, wer er ist: „Ich bin der ich bin“, der „Ich-bin-Da“ (Ex 3,14). Das heißt, er ist das Da-sein, das Sein, er ist der, der er ist und auch das Für-den-anderen-da-Sein.

Dieses Sprechen Gottes, das Wort Gottes, das zunächst noch anfanghaft und distanziert ist (niemand hat Gott je gesehen) beginnt sich später - so die Auffassung des Christentums - dem Menschen genauer zu zeigen und zu offenbaren. Das Sprechen Gottes vermenschlicht sich, das Wort Gottes wird Mensch, kommt dem Menschen entgegen und macht ihm vor, wie Leben geht. „Ich bin das Leben“ (Joh 14,6). Dieses „Wort“ Gottes, das sich im irdischen Leben zeigt, heißt im Griechischen „logos“. Der logos zeigt sich in dieser Welt als Mensch, er zeigt sich in jedem Menschen und erweist sich als Grund der Welt. Daher heißt es im Johannesevangelium: Im Anfang war der logos, im Anfang war das Wort (Joh 1,1 - 2).

Bewusst heißt es:„Im Anfang“ war das Wort und nicht „Am Anfang“. Es geht nicht um den Anfang der Welt, den man eher mit dem Begriff des Beginns belegen müsste, sondern es geht um das je neu Anfanghafte und Ursprüngliche, in dem der absolute Grund „da“ ist und der in jedem Moment des Lebens aufspringt und etwas Neues ins Sein setzt, das noch nie da war. Es sagt etwas aus über den letzten Grund des Seins, den das Judentum den Schöpfer nennt: Alles wird täglich erneuert, das Leben lebt von dieser ständigen Erneuerung, die von selbst und ganz still vonstatten geht. Selbst Zellen im Organismus werden unmerklich in jeder Sekunde erneuert, abgebaut, umgebaut, neu gebaut.

Bei Hermann Hesse heißt es: Allem Anfang wohnt ein Zauber inne. Allem Anfang wohnt dieses Neue, Junge, Anfanghafte und Ursprüngliche inne. Jeder Moment des Lebens ist ein solcher Anfang im Kontinuum des schon Gewesenen, Vergangenen und Zukünftigen. Im Jetzt des Augenblicks fallen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen. Das je neu Anfanghafte und Aufspringende des Ursprünglichen ist das Jetzt der ständigen Gegenwart. Ständige Gegenwart ist Ewigkeit. So ist im Vorbeizug der Zeit das Ewige immer schon „da“ und in jedem neuen Moment des Lebens, der noch nie da war, das Bleibende präsent. Das Neue knüpft an schon Bekanntes an, sonst könnte der Mensch sich gar nicht zurecht finden. So ist es neu und doch nicht ganz unbekannt. Jedem Augen-Blick des Lebens wohnt das Anfanghafte es Ur-wortes inne. Man muss es nur entdecken, es ist ganz still.

Dieses Wort ist nach christlicher Auffassung in der Person Jesu Christi Mensch geworden und wohnt auch in jedem Menschen. Daher drückt Augustinus die Anwesenheit dieses Wortes im Seelengrund des Menschen personal so aus:„Du bist mir innerlicher als ich mir selbst bin“ und „unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir“.

Wenn dem so ist, dann ist der Mensch derjenige, der auf dieses Ur-Wort ant-worten (gegen-worten) muss. Darin besteht seine tiefste und letzte Ver-ant-wortung.

Nun kann der Begriff „logos“ nicht nur mit „Wort“, sondern auch mit Logik, Vernunft und Sinn übersetzt werden, und dann meint dies, dass die Welt von einer Art Ur-logik, Ur-vernunft und einem Ur-Sinn durchdrungen ist. Man findet diesen logos in der Ordnung des Kosmos, in der Ordnung und dem Spielraum der lebendigen Natur sowie in der Ordnung und Freiheit der Vernunftnatur des Menschen. Diese Ur-logik und das Ur-Wort durchdringen alles und zeigen sich in allem. Sie müssen nur ent-deckt werden.

Wenn diese Urlogik in allem ist und der Mensch auf den Logos, der sich in der Welt zeigt, antworten muss, dann meint das konkret, dass er in eine bereits vorfindliche Welt hineingeboren wird und daher „nur“ der „Gegen-Worter“ und nicht der „Worter“ ist. Er ist das zweite Glied in der Kette, er ist Geschöpf und nicht Schöpfer. Er muss sich auf die vorfindliche Welt einlassen, kann deren Gesetze erforschen und darüber nach-denken, was die Welt im Innersten zusammenhält. Vor-denken kann er die Welt nicht, sie ist schon „da“. Auch ein Vordenker ist in diesem Sinne ein Nachdenker.

Der Mensch muss im konkreten Alltag immer wieder neu auf die ihm begegnenden Ereignisse des Lebens reagieren und kann, wenn es gut geht, sein Leben ein Stück weit selbst mitgestalten. In ständigen Entscheidungen muss er auf das auf ihn Zukommende (Zu-kunft) antworten und kann doch selbst auch Anfänge setzen. Im tiefsten Sinne „machen“ kann er die Zukunft nicht. Es kann sein, dass es morgen keine Zukunft mehr gibt. Wenn es sie aber gibt und die Welt nicht untergeht, kann er im Rahmen seiner Vorgegebenheiten anfanghaft etwas Selbstursprüngliches setzen, er ist nicht nur Spielball fremder Mächte.8

4. Der Lebensbeginn

Das Leben beginnt ganz still und unscheinbar: ein menschlicher Same und eine Eizelle vereinigen sich zur Zygote, dann geht alles wie von selbst, zwei Zellen, vier, acht. Es ist ein neues Leben entstanden. Dieses neu entstandene Leben ist einmalig, vor ihm war noch nie eines so und nach ihm wird keines mehr so sein. Es ist es sogar in seiner genetischen Ausstattung, auch aufgrund der epigenetischen Faktoren. Daher unterscheiden sich auch eineiige Zwillinge. Dieses neue Leben hat ein Geschlecht, es ist lebendig, es ist ein Menschenleben und keine Sache. Es weiß nichts von seiner Existenz und wurde auch nicht gefragt, ob es leben will. Das Leben wird ihm zugemutet. Später muss sich der junge Mensch zu seinem Leben, zu sich selbst und zu seiner Umgebung irgendwie verhalten.

Das Spermium findet die Eizelle, indem es durch bestimmte Duftstoffe angelockt wird (Chemotaxis). Spermium und Eizelle wandern im Eileiter aufeinander zu. Es kann passieren, dass aufgrund eines genetischen Defekts ein Spermium die Eizelle nicht findet oder es zu schwach ist, in sie einzudringen. Dann findet keine Befruchtung statt. Nur ein Spermium von den vielen Millionen, die auf die Eizelle zuwandern, darf in die Eizelle eindringen. Nach dem Eindringen des einen Spermiums verschließt sich die Eizelle. Gelangt ein zweites Spermium hinein, ist dies mit dem Leben nicht vereinbar.

Die Eizelle hat eine sehr dicke Hülle, so dass nur gesunde Spermien eindringen können. Haben Spermien zum Beispiel einen genetischen Schaden und können die Eizellhülle nicht durchdringen, findet keine Befruchtung statt. Die Medizin kann hier zwar nachhelfen und mit Hilfe einer Spritze ein Spermium in die Eizelle einbringen (intracytoplasmatische Spermieninjektion, ICSI). Sie kann aber das eingebrachte Spermium vorher nicht genetisch untersuchen, da es bei der Untersuchung zerstört würde. So gelangt möglicherweise ein genetisch geschädigtes Spermium in die Eizelle, so dass bei den späteren Kindern Schäden entstehen können.9

Es beginnt ein stiller, geräuschloser, von selbst ablaufender, komplizierter physiologischer Prozess. Die erste Zelle teilt sich, es entstehen zwei Zellen, dann vier, dann acht. Es geschieht das, was Aristoteles „Selbstbewegung“ nennt. Der Begriff meint, dass sich das Leben jetzt von selbst weiter entwickelt und von innen her Gestalt wird. Die Zygote (erste Zelle) und der Embryo wachsen und die Zellen differenzieren sich in die etwa 220 verschiedenen Zelltypen, die ein erwachsener Mensch hat. Die Zygote hat bereits eine aktive Potentialität, das heißt, sie hat alles in sich, was sie zur Entwicklung hin zum Embryo und zur weiteren Entwicklung braucht. Von außen bedarf sie nur der Nahrung und der richtigen physiologischen Umgebung. Diese aktive Potentialität führt zu einem Lebens- und Entfaltungsprozess, der nicht zu stoppen ist. Um ihn zu stoppen, muss man den Embryo töten. Leben ist ständige Veränderung. Und Veränderung braucht zwei Prinzipien: ein sich änderndes und ein sich durchhaltendes. Das erste nannte Aristoteles „Materie“, und dasjenige Prinzip, das sich im Innersten des sich verändernden Lebendigen durchhält und die Identität des Seienden ausmacht, nannte er Seele.

Das sich entwickelnde Leben drängt nach vorne, nach Wachstum, Veränderung, Differenzierung und schließlich nach Geborenwerden. Es ist ein unumkehrbarer Prozess, eine Einbahnstraße. Es geht nur in eine Richtung nach vorne und nicht zurück, es drängt nach vorne und nach draußen. Der Embryo und der spätere Fetus (ab dem dritten Monat so genannt) entwickeln sich als Mensch und nicht erst zum Menschen. Der aktiven Potentialität der Zygote, des Embryos und des Fetus, die zur Selbstentfaltung führt, steht die passive Potentialität von Samen und Eizelle gegenüber. Diese besitzen jeweils nur den halben Chromosomensatz und bedürfen daher des jeweils anderen, um lebensfähig zu sein. Allein sind sie es auf Dauer nicht.

Der neu entstandene Embryo hat bereits anfanghaft etwas von einem „Selbst“10. Zwar beginnt die Umsetzung der eigenen genetischen Information in konkrete Eiweißstoffe (Genexpression) nach Meinung einiger Autoren erst zwischen dem Vier- und Achtzellstadium11. Aber die Selbststeuerung im Sinne eines eigenen Stoffwechsels des Embryos beginnt bereits früher:

„Die Selbststeuerung des Embryos beginnt nicht erst im Achtzellstadium, in welchem die Aktivierung der embryonalen DNA zur Transskription beobachtet wird; sie erfolgt wahrscheinlich schon im Pronukleusstadium, spätestens aber in der Zygote, die sich in einem durch die Zona pellucida begrenzten Reaktionsraum befindet und ihren eigenen Stoffwechsel hat. Als Folge dieses Stoffwechsels und der eigenen Proteinsynthese wird der Vorrat an mütterlicher mRNA allmählich verbraucht. Schließlich wird die Transskription der eigenen DNA angeschaltet. Die Selbstorganisation beginnt mit dem eigenen Stoffwechsel im Reaktionsraum der Zona pellucida.“12

Der Embryo ist auf diese Selbststeuerung und eine anfanghafte Eigenaktivität angewiesen. Denn er hat die Hälfte des genetischen Materials vom Vater und dieses müsste eigentlich vom Immunsystem der Mutter als fremd erkannt und der Embryo abgestoßen werden. Offensichtlich kann sich aber der Embryo durch seine Selbststeuerung und Eigenaktivität vor dieser Abwehr des mütterlichen Immunsystems schützen. Wie das funktioniert, ist noch nicht ganz geklärt.13 Aber es wurde zum Beispiel bei der „Maus schon wenige Stunden nach der Befruchtung ein immunsuppressiver Faktor (EPF: Early Pregnancy Factor) gefunden, der das Immunsystem der Mutter unterdrückt und eine Abstoßungsreaktionen verhindert“.14

Die Zygote und der spätere Embryo müssen also nach der Verschmelzung von Samen und Eizelle ihr eigenes Programm aktivieren und der Mutter signalisieren, dass sie ihn nicht abstoßen soll. Im Blick auf die Veränderungen bei der Mutter und die Individualität des Embryos formuliert Günter Rager:„Der Austausch der Signale führt unter anderem dazu, dass der mütterliche Organismus sich auf Schwangerschaft einstellt (humanes Choriongonadotropin, HCG) und verhindert, dass der Embryo bei der Einnistung in den Uterus als Fremdkörper angesehen und abgestoßen wird (early pregnancy factor, EPF).“15

Der neu entstandene Organismus agiert also von Beginn an als eine Einheit und „sendet an die Mutter Signale, die den embryo-maternalen Dialog einleiten und zur Steuerung (Synchronisation) und Feinabstimmung des embryonalen und mütterlichen Systems beitragen“.16 Hier findet auf einer ganz physiologischen Ebene ein erster „Dialog“ und eine erste „Kommunikation“ im Sinne einer Wechselwirkung zwischen Embryo und Mutter statt. Ohne eine solche Kommunikation wäre ein Überleben des Embryos nicht möglich.

Daher ist die Rede vom Lebensbeginn, der erst mit der Implantation in die Gebärmutter anzusetzen ist, biologisch nicht schlüssig, da der embryo-maternale „Dialog“ vor der Implantation als Bedingung der Möglichkeit für die Einnistung des Embryos beginnen muss. Der menschliche Embryo durchläuft dann eine typisch menschliche Entwicklung. Neben der Selbstbewegung und Gestaltwerdung des Embryos findet eine Ortsbewegung statt. Er wandert vom Eileiter zur Gebärmutter. Selbstbewegung im Sinne des inneren Wachstums und Ortsbewegung gehören zusammen. Die Zygote wächst heran und die Zellverbindungen verdichten sich. Der sich entwickelnde Embryo darf nach außen hin nicht an Größe zunehmen, sonst bleibt er bei der Wanderung zur Gebärmutter im Eileiter stecken. So gehören Wachstum, Verdichtung und Kompaktierung zusammen.

Nach der Entstehung der Zygote beginnt einige Stunden später die erste Zellteilung. Bald danach folgen die nächsten. Diese Zellteilungen gehen „von selbst“ und aus sich selbst heraus, nahezu selbstverständlich. Die Teilungen gehen immer weiter, nichts kann sie stoppen, nur der Tod. Mancher Biologe fragt sich, woher die Zellen „wissen“, dass sie sich teilen müssen und wie sie sich teilen müssen, damit Leber-, Gehirn- oder Muskelzellen entstehen. Mancher Biologe fragt sogar, wie eine Zelle „denkt“ und wie sie mit anderen Zellen kommuniziert. Denken und Kommunizieren sind eigentlich geisteswissenschaftliche Begriffe. Zellen denken nicht, aber sie kommunizieren miteinander und tauschen sich über Hormone, Zellmembranen und haptische Kontakte aus. „Solange diese vier Funktionen (Vermehrung, Stoffwechsel, Abgrenzung, Kommunikation) aufrecht sind, lebt die Zelle.“17 Aufgrund dieser Kommunikation ist die Frage nach dem Denken der Zellen nicht falsch gestellt, denn offensichtlich wohnt dem biologischen Leben, zumal dem menschlichen, ein gewisser „Geist“, ein logos, eine Urlogik und Urvernunft inne.