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Cornelia Topf

Einfach mal
die Klappe halten

Warum Schweigen besser ist als Reden

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Lektorat: Susanne von Ahn, Hasloh

©2014 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

ISBN Buchausgabe: 978-3-86936-113-0

www.gabal-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort von der Plappersucht

1 Die wundersame Welt der Stille

Schweigen tut gut

Warum nur wenige diese wunderbare Welt kennen

Warum Schweigen wirkt

Eine Gesellschaft, die den Respekt verloren hat

Kurz und knapp: Schweigen wirkt

2 Der Lohn des Schweigens

Wie wir uns um den verdienten Lohn bringen

Stille Wasser gründen tief

Wissen ist der Lohn des Schweigens

Wie man jemanden auf die Palme redet

Pacing – der Weg ins Schweigen

Wer schweigt, denkt besser

Schweigen macht dich stark!

Das Recht zu schweigen

Kurz und knapp: Nutze das Schweigen!

3 Warum wir nicht die Klappe halten können

Wer redet, hat scheinbar alles unter Kontrolle

Wie aufgezogen

Die Fehlattributions-Falle

Wir reden, um nicht hören zu müssen

Egoisten pochen auf ihren Status

Ich rede, also bin ich

Auf den roten Knopf gedrückt

Gedankenlos und wortreich

Kurz und knapp: Schweigen lernen

4 Auf der Flucht vor dem inneren Schweigen

Warum wir vor etwas flüchten, das wir suchen

Wo wir suchen sollten, wenn wir uns verloren haben

Lernen, mit sich selbst zu reden

Wie wir mit uns umgehen

Mit sich selbst im Einklang

Bewegung in der Stille

Kurz und knapp: Suche die Stille und finde dich selbst!

5 Die peinliche Stille

»Reden ist Silber, Schweigen ist Gold«

Entertainer schweigen nicht

Keine Angst vor Small Talk und Vortrag!

Auf intelligente Art das Schweigen brechen

Wirklich peinlich: Feiges Schweigen

Kurz und knapp: Nie wieder peinliche Stille!

6 Hier schweigen Sie besser

Der Fettnäpfchen-Reflex

Provozieren, suggerieren, manipulieren

Was tun bei Beleidigungen?

Statt verbaler Attacken konsequent schweigen

Schweigend verhandeln

Das beste Rezept bei Reklamationen

Bedarfsklärung: Was fehlt der Welt?

Schweigen als Instrument: Coaching

Reden und Schweigen nach dem Stop-and-go-Prinzip

Kurz und knapp: Klappe zu und durch!

7 Die Kunstpause

Mach mal Pause!

Pause machen – wann?

Mimik und Gestik in der Kunstpause

Ohne Worte sprechen

Der Starke schweigt

Schweigen für Fortgeschrittene

Kurz und knapp: Denkpause geben

8 Halt endlich die Klappe!

Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt

Lass dir nicht die Ruhe rauben!

Dem Affen Zucker geben

Metakommunikation: Die Rederei zum Thema machen

Brachial werden

Den Moderator spielen

Kurz und knapp: Andere zum Schweigen bringen

9 In der Stille liegt die Kraft

Gestresst und erschöpft

Das Kraftwerk Stille

Stille löst Probleme

Schweigen hilft zu Abstand und Intuition

Den Sinn des Lebens findest du nur in der Stille

Kurz und knapp: Kraft und Sinn tanken

Nachwort von der heilenden Kraft der Stille

Über die Autorin

Vorwort von der Plappersucht

»Man redet häufig nur, weil man
nicht zu schweigen vermag.«

AMBROSIUS VON MAILAND

Ich bitte Sie: Halten Sie doch mal die Klappe!

Viel reden, wenig sagen: die Volksseuche

Sie fühlen sich nicht angesprochen? Sie meinen, dass ich meinen Appell besser an unsere Politiker, Manager, Journalisten und Moderatoren, Ihren Chef, einige Kollegen, miefige Kunden, lärmende Kinder, nörgelige Verwandte und Nachbars Hund richten sollte? Dann sind wohl auch Sie der Meinung, dass um uns herum entschieden zu viel unnützes Zeug geplappert wird. Jede Stunde labern uns die Nachrichten voll, dauernd klingeln Telefon oder Handy, irgendwo läuft immer ein Radio, die lieben Kollegen, Mitarbeiter, Kunden, Kinder und Vorgesetzten texten uns pausenlos zu, Politiker, Manager und Journalisten produzieren eine Sprachlawine, unter der jeder vernünftige Gedanke längst verschütt gegangen ist. Wir leben in einer Sprechblasenzeit. Einer Zeit, in der pausenlos geredet und kaum etwas gesagt wird. Das nervt, das stresst, das zehrt an der Kraft. Was nicht einmal so schlimm wäre …

Viel schlimmer ist, dass die meisten von uns sich von der inhaltsfreien Plappersucht haben anstecken lassen und gleichzeitig nicht bemerken, was sie sich und ihrer Umwelt damit antun. Es vergeht kaum eine Woche, in der ich im Coaching oder im Seminar nicht einen Manager treffe, der sich beschwert: »Ich kann meinen Mitarbeitern sagen, was ich will – die spuren einfach nicht!« Mütter und Väter drücken es in ihrer Kommunikation mit dem Nachwuchs prägnanter aus: »Muss ich denn immer alles erst hundert Mal sagen?« Sie glauben, dass der Sohn faul vor dem Fernseher sitzt, obwohl sie ihn schon dutzendfach ermahnt haben, sein Zimmer aufzuräumen. Dabei ist es gerade umgekehrt: Er sitzt noch dort, weil sie ihn schon dutzendfach ermahnt haben. Der Knirps nimmt seine Erziehungsberechtigten nicht mehr ernst, weil er aus Erfahrung weiß, dass sie ohnehin alles erst hundertmal sagen werden, bevor er tätig werden muss. Er hat gelernt, dass seine Eltern wirkungslos kommunizieren. Sie plappern halt gerne. Der Filius ist ein schlaues Bürschchen. Viel schlauer als seine wortreichen Eltern, die ihren Erziehungsauftrag seltsamerweise mit Geschwätzigkeit verwechseln. Ihr Wort gilt nichts mehr. Nicht einmal bei einem Achtjährigen. Weil sie zu viele Worte produzieren. Weil sie nicht mehr schweigen können.

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Je mehr einer redet, desto weniger wirkt er. Quasselstrippen nimmt keiner ernst.

Warum nicht? Weil es jedem Zuhörer einer Plaudertasche sehr schnell peinlich klar wird, dass derjenige, der plappert, keine Ahnung von dem hat, was er verzapft. Je mehr einer redet, desto weniger scheint er sich in dem, wovon er redet, auszukennen. Oder um ein Diktum von Hans Carossa, dem deutschen Schriftsteller, abzuwandeln: »Wer etwas von der Sache versteht, sagt es in drei Sätzen. Wer keine Ahnung hat, braucht dreißig.« Nach diesem Maßstab gemessen scheinen unsere Politiker, Vorgesetzten, Vorstände, Moderatoren, Eltern, Lehrer, Ausbilder und Verwandten mehrheitlich über erschreckend wenig Fachkompetenz zu verfügen. Was Ihnen eigentlich egal sein könnte. Die Frage ist: Warum wollen Sie es ihnen gleichtun? Warum sollte sich ein Mensch selbst zur verbalen Wirkungslosigkeit verdammen wollen? Masochismus? Ignoranz?

Wie schon der Volksmund sagt: »Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.« Kraftvoll und vielsagend zu schweigen, ist in Zeiten der Wortinflation oft das beste Argument. Nicht immer, aber immer öfter. Ein Argument, das wir so selten benutzen, weil wir die hohe Kunst des Schweigens verlernt haben. Denken Sie an Menschen, die Sie als besonders überzeugend, durchsetzungsstark, authentisch, respektgebietend wahrnehmen. Seltsam, nicht? Das sind alles keine Quasselstrippen. Ihr Wort hat Gewicht, weil sie sparsam damit umgehen.

Schweigen ist das am stärksten unterschätzte sprachliche Wirkmittel

Wer schweigen kann, wer es wieder erlernt hat, erntet damit nicht nur den Respekt seiner Umwelt und eine nie gekannte Wirksamkeit. Er oder sie stößt mit seinem/ihrem Schweigen, in dem die Gedanken wachsen können, in Bereiche der persönlichen Entwicklung und der geistigen Erkenntnis vor, die ihm oder ihr bislang verschlossen waren wie ein fern gelegenes Land, das plötzlich nahe gerückt, erreichbar geworden ist. Nicht umsonst wird in allen Religionen der Welt die Schweigemeditation in der einen oder anderen Form praktiziert: Wer sich verbal der Welt entrückt, der kommt ihr paradoxerweise näher. Und sich. Und seinen Mitmenschen. Und ihrem Respekt. Packen wir die Koffer und machen wir uns auf die Reise in dieses verheißungsvolle Land.

1 Die wundersame Welt der Stille

»Freunde, die nicht nur miteinander reden,
sondern miteinander auch schweigen können,
sind ein Geschenk des Himmels.«

CHRISTA FRANZE, TÄNZERIN

Schweigen tut gut

Was würde Ihnen jetzt guttun? So richtig? Ihnen Kraft geben, Sie entspannen, auftanken? Es gibt etwas, das Menschen auf der ganzen Welt mit der Vorstellung von Erholung und Frieden verbinden: auf einem hohen Berggipfel oder einem menschenleeren Strand zu stehen und einfach nur die Stille zu genießen. Das finden seltsamerweise alle Menschen erholsam und entspannend (selbst Hektiker und Adrenalin-Junkies – für eine kurze Zeit). Der Eingeborene in Zentralafrika ebenso wie der Eingeborene in Londons Financial District. Und Sie? Wann haben Sie zuletzt die Stille eines einsamen Berggipfels oder eines nächtlichen Strandes genossen?

Hin und wieder Stille tut gut

Es ist paradox: Stille ist eigentlich »nichts« – und wirkt trotzdem so überraschend wohltuend. Wir sind gewohnt, dass es umgekehrt ist: Wer Kopfweh hat, greift zum Aspirin. Das Aspirin ist vorhanden und wirkt. Bei der Stille ist eigentlich nichts vorhanden – und wirkt. Diese paradoxe, aber mächtige Wirkung der Stille können wir auch in unserem Alltag entfalten, indem wir sie zum Beispiel in unsere Kommunikation hineintragen. Also schweigen Sie dann und wann einmal. Nein, nicht jetzt. Jetzt schweigen Sie ja schon automatisch. Wenn Sie das Buch zur Seite gelegt haben und wieder Kontakt mit anderen Zweibeinern bekommen – schweigen Sie. Sie runzeln die Stirn? Damit sind Sie nicht allein. Die Aufforderung, im Gespräch gelegentlich zu schweigen, schockiert sogar manche Akademiker so stark, dass sie mit größter Verwirrung reagieren. Ein Seminarteilnehmer, Bereichsleiter in einem Industrieunternehmen, erwiderte einst darauf: »Aber ich kann doch nicht schweigen, wenn der Chef etwas von mir will!« Hat das etwa jemand verlangt? Ist Schweigen wirklich so schwierig, dass ein Manager mit Hochschulabschluss tatsächlich glaubt, er müsse es zuerst und zunächst an seinem tobenden Chef ausprobieren?

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Wir wissen oft nicht mehr, wann Reden und wann Schweigen besser ist. Wir sollten es wieder erlernen.

Mütter sind manchmal sprachkompetenter als Führungskräfte. Gegenüber Kindern wirkt Schweigen zum Beispiel sehr gut. Eine Mutter berichtete mir: »Als meine Jüngste neulich wieder fernsah, anstatt ihre Hausaufgaben zu machen, schaute ich kurz in ihr Zimmer und verbiss mir meine übliche Ermahnung. Ich guckte nur missbilligend und ging wieder raus. Fünf Minuten später war der Kasten aus. Wenn ich mit ihr streite, sie immer wieder ermahne, dauert es mindestens eine halbe Stunde, bis sie schlussendlich abschaltet. Das kostet uns beide viel Kraft.« Eine Stressreduktion von dreißig auf fünf Minuten? Beachtlich. Und das, obwohl die Mutter kein einziges Wort sagte. Obwohl? Weil! So wirkt Schweigen. Nicht immer. Aber immer dann, wenn Worte nicht mehr wirken, weil deren zu viele gewechselt wurden.

Doch genau das verstehen viele Menschen nicht. Wenn sie merken, dass ihre Worte nichts bewirken – dann machen sie nur noch mehr Worte. Sie tun mehr desselben, anstatt das Muster zu wechseln. Dieses Musterverharren ist nicht allein aufs Quasseln beschränkt. Doch es wirft ein bezeichnendes Licht auf unsere Kommunikation: Wir reden meist nicht, weil es sinnvoll ist und nützt, sondern weil es eine (schlechte) Gewohnheit ist, die wir nicht loswerden. Deshalb sagen die Engländer: »Careless talk costs lives.« Übereilt dahingeworfene Worte kosten Leben. Wer redet, sollte das überlegt tun und nicht aus der Hüfte schießend. Denn:

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Worte provozieren oder zementieren Missstände. Schweigen nicht.

Weil Schweigen (richtig eingesetzt) keine Trotzreaktion auslöst. Wenn Mama sagt, die Kleine solle die Glotze ausschalten, dann wehrt sie sich natürlich. Rein aus Trotz. Wenn Mama dagegen schweigt, dann regen sich in der Kleinen Gewissen oder gesunder Menschenverstand (zumindest besteht die Chance dazu). Und diese innere Regung wirkt weitaus stärker als jede Ermahnung von außen. Natürlich kann das mütterliche Schweigen nur dann wirken, wenn vorher einige Worte gefallen sind. Wenn der Tochter schon einige Male gesagt wurde, dass sie erst die Hausaufgaben machen solle und dann …

Schweigen wirkt. Die Mutter schweigt, anstatt zu predigen, und hat Erfolg damit. Wie sieht die Situation aus Sicht der Tochter aus? Die Tochter schweigt auch. Was tut sie sonst noch? Sie kocht innerlich. Sie hat sich vor dem Fernseher so schön gemütlich eingerichtet und dann kommt die Mutter hereinspaziert, dieses ewig meckernde, personifizierte schlechte Gewissen, und verdirbt dem Mädel den gemütlichen Nachmittag. Niemand (außer der Mutter) würde es der Tochter übel nehmen, wenn sie maulte: »Immer nur Hausaufgaben! Kann man in diesem Haus nicht mal für eine halbe Stunde vor dem Fernseher entspannen?« Etwas Dampf ablassen hilft immer.

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Die Botschaft dieses Buches lautet: Öfter mal die Klappe halten! Wer jedoch resignativ schweigt, eine Beleidigung herunterschluckt, innerlich kochend vor Wut oder Frustration oder verletztem Ehrgefühl, der schweigt zu viel.

Die richtige Balance: wenig reden, viel schweigen

Wie für alles auf der Welt gilt auch für das Schweigen: Es gibt beide Extreme; ein Zuviel und ein Zuwenig. Wir leben zwar in einer plapperhaften Zeit. Doch etliche Menschen schweigen zu oft und zu lange. Die Quartalscholeriker zum Beispiel. Viele Menschen ebenfalls, die in Beziehungen und in der Familie viel zu lange einstecken, bevor sie den Mund aufmachen und sich wehren. Die Balance ist verloren gegangen und sollte wiederhergestellt werden. Unsere ganze Gesellschaft ist etwas aus dem Gleichgewicht geraten: Auf der einen Seite steht das Heer jener, die ewig herunterschlucken und dann krank werden oder irgendwann explodieren (oder beides). Auf der anderen Seite gibt es jene, die selbst auf den kleinsten Übergriff mit stundenlangen Vorwürfen, Anklagen und Tiraden reagieren. Bei beiden stimmt die Balance nicht. Umso wohltuender empfinde ich Menschen, die noch wissen, wie viel man reden und wie viel man schweigen sollte.

In der Fußgängerzone einer deutschen Großstadt sah ich zum Beispiel zwei Handwerkern zu, wie sie ein Gerüst aufstellten. Dem Jüngeren von beiden fiel ein Gerüstteil um und schlug knapp neben einem Passanten auf, der einen gehörigen Schreck bekam. Ungefähr ein Dutzend Fußgänger blieb stehen und erwartete freudig erregt die Abreibung, die ganz sicher nun den Lehrling treffen würde. Doch der Meister entschuldigte sich lediglich höflich bei dem erschreckten Passanten und sagte dann zu seinem Lehrling: »Jürgen, die Teile sind schwerer, als sie aussehen. Also immer beide Hände zum Abstützen nehmen.« Und: »So etwas wird dir nie wieder passieren.« Dann ging er wieder schweigend seiner Arbeit nach. Ich bin davon überzeugt: Hätte er den Azubi fünf Minuten nach allen Regeln der Kunst zusammengefaltet, hätte sich dieser vor lauter Scham und verletztem Ehrgefühl nicht die Bohne gemerkt und beim nächsten Mal denselben Fehler wieder gemacht. Sein Meister aber wusste, wie viel man reden (wenig) und wie viel man schweigen sollte (viel). Wie steht es mit Ihnen?

ÜBUNG

Überlegen Sie einmal, wann und wo und mit wem Sie nachher ein wenig schweigen könnten. Bei welchen Gelegenheiten? Am Anfang wird Ihnen vielleicht keine einfallen. Das macht nichts. Das kommt mit der Zeit. Denn Sie werden oft genug reden. Und beim Reden denken Sie von nun an automatisch ans Schweigen. Doch Vorsicht: Schweigen im Gespräch bedeutet nicht Schweigen statt Reden. Es bedeutet vielmehr: Verkneifen Sie sich zwei-, dreimal während eines Gesprächs den Redefluss, lassen Sie eine (übereilte) Antwort aus, probieren Sie es ab und an ohne Worte und beobachten Sie die Wirkung auf sich und den Gesprächspartner.

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Reden und Schweigen sind Schwestern, komplementäre Stilmittel. Beide zusammen wirken sehr viel besser als jedes für sich allein.

Warum nur wenige diese wunderbare Welt kennen

Vielleicht ahnen Sie es: Sie sind nicht allein. Ich habe dieses Buch auch deshalb geschrieben, weil ich in Coaching, Training, Beratung, aber auch im Privaten mehr und mehr Menschen treffe, denen immer stärker bewusst wird, dass zu viel geredet wird.

Auch für Worte gilt: Was zu viel ist, ist zu viel

Was Susi erzählt, kennt sicher jede(r): »Wenn ich mich mit meinem Partner streite, könnte ich mir hinterher auf die Zunge beißen. Ich sage jedes Mal Dinge, die ich hinterher bitter bereue. Und ihm geht es sicher nicht anders.« Verkäufer sagen mir: »Ich kann bei Preisverhandlungen einfach nicht den Mund halten! Ich fange viel zu schnell an, über Rabatte zu reden! Meine Rabattquote liegt weit über dem Durchschnitt! Mein Chef lässt das sicher nicht mehr lange durchgehen. Aber ich kann einfach nicht die Klappe halten, wenn der Kunde zu jammern anfängt.«

ÜBUNG

In welchen Situationen und mit welchen Gesprächspartnern reden Sie zu viel? Was ist dabei zu viel? Wo würden Sie lieber einen Punkt setzen?

Das war eine kleine, leichte Übung. Doch wenn Sie sie (auch nur gedanklich) mitgemacht haben, sind Sie einen großen Schritt weiter. Und haben vielen Zeitgenossen einiges voraus:

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Die meisten Menschen merken nicht, dass sie bei bestimmten Gelegenheiten zu viel reden.

Sie registrieren es noch nicht einmal, wenn der Ehepartner, Kinder oder Kollegen sie darauf aufmerksam machen. Denn sie können es nicht fassen: »Aber was gesagt werden muss, muss doch gesagt werden!« Das heißt, sie erliegen dem Irrtum, dass nur etwas, was da ist, auch wirken kann. Sie können es sich buchstäblich nicht vorstellen, dass manchmal das Ungesagte mehr sagt als das Gesagte. Das übersteigt ihre Abstraktionsfähigkeit. Das ist schade, denn nur wer erkennt, dass er manchmal zu viel redet, kann schweigen. Und nur wer schweigt, betritt die wundersame Welt der Stille.

Erstaunliche Wirkung

Wenn Menschen ganz bewusst zu schweigen beginnen, wo sie früher unüberlegt geredet haben, dann entwickelt das eine beeindruckende Wirkung. Entweder auf ihren Gesprächspartner oder auf sie selbst. Meist auf beide.

Eine Büroangestellte erzählte mir: »In unserer Kaffeepause lästern meine Kollegin und ich meist über Vorgesetzte, Kollegen und Kunden. Gestern habe ich nicht so stark wie sonst mitgelästert, sondern öfter mal geschwiegen, ihr ganz bewusst zugehört, genickt, zustimmende Geräusche gemacht. Irgendwann kam sie vom Lästern zum Erzählen. Von ihrer Scheidung, den beiden Kindern, dem Hausverkauf. Ich wusste gar nicht, dass sie ihr Haus verkaufen muss. Deshalb war sie wohl in letzter Zeit öfters etwas zickig.«

Wer redet, kann nicht hören

Das muss man sich vorstellen! Da lebt und arbeitet man jahrelang mit einem Menschen zusammen, auf engstem Raum, und bekommt noch nicht einmal mit, dass er sein geliebtes Häuschen verkaufen muss! Weil wir zu viel quasseln und zu wenig zuhören. Wer schweigt, bekommt mehr mit von der Welt und ihren Menschen. Und wird ganz anders respektiert. Wir können uns vorstellen, dass die Kollegin, die ihr Herz über den drohenden Hausverkauf ausschüttete, sehr dankbar war, dass sich endlich jemand auch ihre Sorgen anhörte. Meist passiert das nicht einmal mehr in der eigenen Familie.

Ein Sachbearbeiter erzählte mir im Coaching, dass er sich wohl eine neue Arbeit suchen müsse. Ihm war nicht wohl dabei: »In diesen Zeiten? In unserer Branche wird gerade überall entlassen. Ich muss froh sein, dass ich noch Arbeit habe. Aber mein Chef bringt mich zum Wahnsinn!« Beide stritten sich jeden Tag mindestens zwanzig, dreißig Minuten. Ich schlug dem Sachbearbeiter vor, nicht seinen Arbeitsplatz zu wechseln, sondern seine Gesprächsstrategie. Ich empfahl ihm, sich im nächsten Streit jede zweite Erwiderung zu verkneifen und souverän zu schweigen. Er schaffte es nicht ganz. Er schaffte nur jede dritte. Trotzdem war nach zehn Minuten der Streit beendet: »Mein Chef hat sich nicht mehr so aufgeregt wie früher. Kein Wunder, ich hab ihm ja ein Drittel weniger widersprochen.« Aber hat der Sachbearbeiter dabei nicht etwas Sachliches verschwiegen, das er hätte aussprechen müssen? Nein, und das ist das Schöne daran: Wir können gut 50 Prozent von dem, was wir sagen, getrost weglassen – es macht keinen Unterschied. In Konflikten sollten wir manchmal sogar 100 Prozent weglassen.

ÜBUNG

Nehmen Sie sich vor, bei nächster Gelegenheit zu schweigen, und beobachten Sie die Wirkung Ihres Schweigens. Auf Ihren Gesprächspartner und auf sich. Vergleichen Sie die Wirkung mit der Wirkung im üblichen Verlauf eines Gesprächs. Wo liegen die Unterschiede? Wie stark sind sie? Wie äußern sie sich?

Wie stark wir zu schweigen verlernt haben, zeigt sich auch daran, dass bei einer so einfachen Übung oft ganz seltsame Fragen auftauchen: »Aber ich kann doch nicht schweigen, wenn mich jemand etwas fragt!«, wenden viele Menschen an dieser Stelle ein. Wer hat das verlangt? Natürlich verdient jede (nichtrhetorische, nichtsuggestive) Frage eine Antwort. Alles andere wäre grob unhöflich. Doch es fragt Sie ja nicht ständig jemand etwas, oder? Hinter dem seltsamen Einwand verbirgt sich der eigentliche Grund für die verbreitete Logorrhö:

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Wir reden meist nicht überlegt, sondern reflexhaft.

Am deutlichsten wird das in Konfliktsituationen. Michael sagt zu Susi: »Du blöde Kuh, du!« Hinterher sagt sie zu mir: »Aber da muss ich mich doch wehren, wenn er so etwas sagt! Das kann ich doch nicht auf mir sitzen lassen!« Warum »sitzt« das auf Susi? Wie schon Eleonore Roosevelt sagte: »Es kann dich niemand beleidigen, dessen Beleidigung du nicht akzeptierst.« Man kann nur auf sich sitzen lassen, was man vorher akzeptiert hat. Was geht es mich an, dass Michael mich für eine blöde Kuh hält? Es reicht doch wohl, dass ich mich nicht dafür halte. Zumindest wäre das eine Überlegung wert. Aber nein, wir überlegen nicht, wir wehren uns sofort, reflexhaft und unüberlegt – und eskalieren damit den Streit! Natürlich ist es schwierig, in so einer Situation die Klappe zu halten und die Zote des Partners mit einem überlegenen, süffisanten Lächeln Marke »Red’ du nur, Alter!« zu übergehen. Gerade deshalb plappern wir doch: Es ist nicht besser, aber es ist leichter, als souverän zu sein. Deshalb lassen wir uns oft verführen, den Mund aufzumachen. Eingehend beschäftigen wir uns in Kapitel 3 mit all den Gründen, warum uns Schweigen manchmal so schwerfällt – auch wenn es besser für uns wäre.

Einige Menschen lernen, der Versuchung der vorschnellen Rede zu widerstehen. Eine Abteilungsleiterin zum Beispiel, die für ihre resolute Art bekannt ist, gestand mir: »Wenn der Streit jedes konstruktive Niveau verlassen hat, schweige ich oft gezielt und ausdauernd. Das hilft immer!« Warum? »Na, versuchen Sie doch mal mit einer zu streiten, die keinen Ton sagt. Das wirkt.« Entweder rennt der Streithahn zur Tür hinaus, was gut ist. Oder er beruhigt sich, wird weniger persönlich und etwas sachlicher – was noch viel besser ist. Aber Vorsicht:

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Wer schweigt, sollte das niemals provokant oder trotzig tun.

Denn in dieser Form eskaliert das Schweigen selbstverständlich jede Kommunikation und führt zur Beziehungsbeschädigung. Ist das nicht erstaunlich? Man kann auf verschiedene Arten schweigen! Nämlich konstruktiv oder destruktiv. Geben Sie Ihrem Partner nie das Gefühl, dass Sie ihn anschweigen, schweigend anstarren, mit verschränkten Armen und verkniffenem Gesicht (Körpersprache!) auflaufen lassen, boykottieren. Vermitteln Sie ihm immer, dass Sie schweigend bei ihm sind, dem Gespräch folgen, sich Ihre Gedanken über ihn und das Gesprochene machen. Mit dieser Empfehlung im Hinterkopf können Sie sogar Schweigeregeln brechen. Eben sagten wir, dass man niemals auf eine Frage hin schweigen sollte. Selbst das ist erlaubt und wirkt überraschend gut, wenn Sie dabei die Beziehung wahren.

Es gibt einen unterschied zwischen trotzigem und zugewandtem Schweigen

Eine Hausfrau, Mutter und Gattin berichtete mir in einem Seminar über etwas, das viele Ehefrauen kennen: »Mein Mann kommt jeden Abend heim, grüßt mich und die Kinder, fragt uns, wie es geht, und erzählt dann von seinem Tag. Ich komme oft gar nicht dazu, von unserem Tag zu erzählen, weil sein Beruf natürlich viel spannender ist und mehr Geschichten hergibt. Also habe ich vorgestern zum ersten Mal auf seine Frage nicht mit dem üblichen höflichen ›Ja, gut, und dir?‹ geantwortet, sondern mich ihm einfach nur zugewandt, gelächelt und geschwiegen.« Es hat eine Weile gedauert, bis der Gatte das unerwartete Schweigen einordnen konnte, doch danach fragte er besorgt: »Schatz, was hast du? Ist etwas passiert?« An diesem Abend hörte er ihr zu. Wenigstens bedeutend länger als sonst üblich. Warum? Warum wirkt Schweigen oft so viel besser als Reden?

Warum Schweigen wirkt

Es ist ganz erstaunlich, wie viele gute Gründe es für die hohe Wirksamkeit von Schweigen gibt. Betrachten wir im Folgenden die stärksten Wirkfaktoren.

Der Überraschungs-Effekt

Schweigen überrascht

Alles Ungewöhnliche wirkt ungewöhnlich gut. Und in einer plapperhaften Welt ist Schweigen wirklich das Ungewöhnlichste, was ein Mensch in einer Kommunikation erleben kann. Nehmen wir den Chef des Sachbearbeiters, den ich oben erwähnte. Der erwartet doch im fünfhundertsten Streit zweifellos, dass der Sachbearbeiter ihm wie 499 Male zuvor wieder das Leben schwer machen und ständig widersprechen wird. Und dann tut er das nicht! Wenigstens viel seltener als vorher. Das überrascht den Chef. Und verunsichert ihn. Und wer verunsichert ist, der tritt für gewöhnlich auf die Bremse. Schweigen nimmt jedem Konfliktgegner den Wind aus den Segeln. Weil er sich aufs Streiten eingestellt hat. Das Schweigen überrascht ihn erst einmal.

Der Spielabbruch-Effekt

Schweigen verhindert Sprachspiele

Nehmen wir an, ich sage zu Ihnen: »Allein der Umstand, dass Sie dieses Buch lesen, beweist, dass Sie ein mieser Kommunikator sind!« Sie würden mir vehement widersprechen? Dann hätte ich schon gewonnen. Denn wenn Ihnen jemand einen Vorwurf macht, dann ist sein vordergründiges Ziel immer die Provokation. Und wenn Sie sich verteidigen, gehen Sie auf die Provokation ein. Das ist so vorhersehbar wie ein Brettspiel. Deshalb nennen es die Transaktionsanalytiker auch tatsächlich ein Spiel. Es gibt Dutzende solcher Kommunikationsspiele: Vorwurf – Rechtfertigung, Behauptung – Rechthaben, Anschuldigung – Kadi einschalten, Jammern – Trösten, Drohen – Zurückschlagen, … John Badham drehte mit dem jungen Mathew Broderick einst den Film War Games, in dem ein Computer im Pentagon die Welt zu vernichten drohte, weil er auf einen atomaren Zwischenfall mit dem atomaren Gegenschlag reagieren wollte: Zug – Gegenzug. Auch der dritte Weltkrieg wird ein Spiel sein. Im Film legte der junge Protagonist dem Computer daraufhin mithilfe einer Metapher logisch nachvollziehbar dar, was der Computer dann so formulierte: »A funny game. The only winning move is not to play.« Diese zentrale Erkenntnis der Transaktionsanalyse gilt für sämtliche Kommunikationsspiele: Wer mitspielt, hat schon verloren. Wer sich provozieren lässt, hat schon verloren. Wer auf eine Anschuldigung mit Rechtfertigung reagiert, hat schon verloren. Wer auf eine Drohung mit einer Gegendrohung reagiert, hat schon verloren. Nämlich die Nerven und die Transaktion.

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Schweigen hat so große Wirkung, weil es Sprachspiele unterbricht.

Wir spielen ständig solche Spiele! Rund 90 Prozent der Kommunikation unter Menschen dienen irgendwelchen offenen oder versteckten Spielen. Niemand sagt bloß: »Mach bitte die Tür zu!« Immer schwingt dabei mit »Wie kannst du sie offen stehen lassen?« oder »Ich bin krank, ich vertrage keinen Zug!« oder »Warum muss immer ich die Tür zumachen, wenn du sie offen stehen lässt?« Gehe ich auf diese versteckten Botschaften ein, dann stecke ich schon mitten im Spiel. Was andererseits erklärt, warum uns Schweigen oft so schwerfällt.

Wer sich ködern lässt, kann nicht schweigen

»Du blöde Zicke!« – »Selber blöd!« Das geht so automatisch, dass wir meist gar nicht bemerken, dass wir eben schon wieder auf ein Sprachspiel hereingefallen sind. Wir sind buchstäblich geködert worden. Der Köder ist unser verletztes Selbstwertgefühl. Wir fühlen uns verletzt – und schlagen verbal zurück. Nicht, weil unsere Reflexe schneller waren als unser Großhirn, sondern weil wir den Köder nicht als solchen erkannt und prompt geschluckt haben.

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Wenn Sie im richtigen Moment nicht schweigen können, dann fallen Sie auf zu viele Köder herein.

Natürlich benötigt es etwas Übung, solche Köder zu erkennen. Doch die Übung zahlt sich schnell aus, wie mir eine Innendienstleiterin berichtete: »Dem Schmitz stinkt es, dass ich als Frau seine Vorgesetzte bin. Ständig wirft er mir durch die Blume Inkompetenz vor. Früher habe ich mich verteidigt. Wir stritten oft. Dabei kam natürlich nie etwas heraus, außer Frust und Zeitverlust. Heute erkenne ich den Köder. Der macht das nur, um mich auf die Palme zu bringen. Den Gefallen tu ich ihm nicht mehr. Ich überhöre ihn einfach. Manchmal macht ihn das noch wütender – was mir recht ist. Aber genauso oft gibt er es auf, weil er merkt, dass ich mich nicht mehr provozieren lasse.« Schweigen verhindert dumme Büro- und Familienspiele, bei denen alle nur verlieren können, selbst der Aggressor.

Der Aktivierungs-Effekt

Schweigen regt zum Denken an – Sie und Ihren Partner

Neulich schaute ich einem Vater zu, der seinem Sohn Fußballunterricht gab. Der Kleine traf selbst aus fünf Metern Entfernung kein Scheunentor. Der Papa, wohl selbst begnadeter Fußballer, war schon außer Atem vor lauter Ratschlägen: »Oberkörper nach vorne, Standbein ausstellen, mit den Armen balancieren, mehr Vollspann, nicht so schwach …!« Es war hoffnungslos. Der Kleine drosch die Bälle einen nach dem anderen in die Pampa. Mir tat der Papa aber mehr leid. Mit hochrotem Kopf war er dem Infarkt nahe. Nicht sein Intellekt, sondern die blanke körperliche Ermüdung rettete ihn. Er sagte frustriert immer weniger, schwieg immer öfter – und der Sprössling machte es immer besser. Irgendwann fragte er sogar: »Wie kriege ich den Ball jetzt halbhoch?« Der Papa, früher wohl Libero, war clever genug, aus seinem Fehler zu lernen, und fragte zurück: »Wie würdest du es denn versuchen?« Der Junge meinte, er wolle den Oberkörper beim Schuss zurücklehnen. Der Papa sagte gar nichts mehr. Er schwieg und hob beide Daumen. Er hatte an diesem Mittag etwas gelernt, was jeder Libero, Vater, Mann und auch jede Frau lernen sollte:

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Wer den anderen zutextet, schaltet dessen Hirn aus! Wer schweigt, aktiviert.

Und zwar sowohl Intellekt als auch Verantwortungsgefühl, Verständnis, Interesse und das Engagement des Gesprächspartners. Natürlich schaltet sich nicht bei jedem, den Sie anschweigen, der Verstand wieder ein. Manche haben schlicht keinen, der sich einschalten ließe. Aber dann aktivieren auch keine feurigen Worte, was ohnehin nicht vorhanden ist. Leider kapiert das kaum jemand. Wenn wir Menschen motivieren wollen, dann reden wir intensiv auf sie ein – und werden letztendlich enttäuscht. Denn alles gute Zureden hilft nicht wirklich und nicht langfristig. Motivation von außen versagt irgendwann immer. Meist recht schnell. Die intrinsische Motivation, die Motivation von innen heraus, wirkt viel stärker und länger. Man kann diese mit Worten zu wecken versuchen. Doch ebenso wichtig ist das Schweigen genau an dem Punkt, an dem der Worte genug gewechselt sind und der Angesprochene seine Eigenmotivation aktivieren sollte. Und diese Eigenmotivation fördern Sie nicht, indem Sie ihn in Grund und Boden reden.

Das Coaching-Prinzip

Schweigen ist Empowerment

Schweigen aktiviert Menschen so gut, dass es – was kaum einer weiß – ein zentrales Wirkprinzip des Coachings ist, eine der wirksamsten und schnellsten Veränderungsmethoden. Ein klassisches Beispiel dafür ist, wenn Vorgesetzte bei Gardinenpredigten den Spieß umdrehen. Ein Abteilungsleiter berichtet: »Ich habe das mal in einem amerikanischen Buch gelesen und mache es seither so: Wenn ein Mitarbeiter Mist gebaut hat, dann habe ich früher wirklich eine halbe Stunde auf ihn einreden müssen, bevor er endlich seine dummen Ausreden aufgab, den Fehler eingestand und Besserung gelobte. Weil ich den Hickhack leid war, habe ich den Spieß einfach umgedreht: Ich lasse den Mitarbeiter in mein Büro kommen, biete ihm meinen Chefsessel an, setze mich ihm gegenüber auf die Besucherseite und sage ihm, dass wir jetzt die Rollen tauschen und er mir mitteilen müsse, was er mir als Vorgesetzter sagen würde, wenn ich den Fehler gemacht hätte, den er begangen hat.« Revolutionär: Der Chef hält keine Gardinenpredigt! Er schweigt – und lässt sich sogar selbst eine halten!

Das Resultat: Die Mitarbeiter gehen regelmäßig viel härter mit sich ins Gericht, als das der Abteilungsleiter vorgehabt hatte. Und sie bringen gleich von sich aus Vorschläge, wie der Fehler künftig vermieden werden kann: Schweigen aktiviert! Aus diesem Grund gibt es auch den wesentlichen Unterschied zwischen Beratung und Coaching:

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Der Berater gibt Ratschläge, die kaum einer befolgt, weil sie nicht »passen«. Der Coach regt den Coachee fragend und schweigend an, selbst Lösungen zu entwickeln, die er danach auch umsetzt, weil es seine eigenen sind.

Eltern, die den Mut haben, dieses Coaching-Prinzip bei der Erziehung anzuwenden, erzielen damit beeindruckende Erfolge. Neulich hat ein Bekannter seinen Sprössling sogar dazu gebracht, seine Schuhe in den Schuhschrank zu stellen, wenn er ins Haus kommt. Das hat er drei Jahre lang kein einziges Mal gemacht und sich in dieser Zeit sicher fünfhundert Ermahnungen anhören müssen. Diese hat der Papa sich irgendwann verkniffen und den Filius einfach nur gefragt, wie er es denn schaffen könne, künftig die Schuhe aufzuräumen. Dann schwieg er. Der Knirps meinte, er wisse es nicht. Der Papa schwieg weiter. Das fesselte den Verstand des Kleinen stärker als die ständigen Ermahnungen, bei denen er seit drei Jahren auf Durchzug stellte. Also dachte er sich etwas aus. Seither räumt er zumindest jedes fünfte Mal seine Schuhe auf. Ein großer Erfolg ohne große Worte.

Coaching wäre ohne Schweigen nicht halb so erfolgreich

Berater versuchen manchmal, Ratsuchende mit gut gemeinten Ratschlägen zuzudecken. Dabei sagt schon das Sprichwort: »Der schlimmste Feind von gut ist gut gemeint.« Coaches wissen das. Also stellen sie wenige Fragen, schweigen viel und lassen den Coachee ganz viel nachdenken. Wer schweigen kann, kann aktivieren.

Das Vorsichts-Prinzip

Der kluge Verhandler schweigt

Wenn ich Verhandlungen führe oder ihnen beiwohne, dann beeindrucken mich immer die abgeklärten, souveränen und überlegenen Verhandlungspartner. Früher habe ich mich oft gefragt, was diese besser machen als die Greenhorns, die sich einen Misserfolg nach dem anderen einhandeln. Natürlich haben die alten Hasen manchmal die besseren Argumente und das größere Selbstbewusstsein. Doch sie reden auch weniger und prägnanter. Sie verschwenden keine Worte, geben jedem einzelnen Wort Gewicht. Mit weniger Worten kommen sie weiter. Sie brauchen weniger Worte für dasselbe Ziel – und schweigen den Rest der Zeit. Sie schweigen manchmal doppelt so oft und doppelt so lange wie die Plapperer, sind dafür aber auch doppelt so erfolgreich.

Diese Fähigkeit zum Schweigen in Verhandlungen scheint auch ein Phänomen der Nationalität zu sein. Ein britischer Verhandlungsspezialist eines internationalen Bauunternehmens erzählte mir einmal, dass es schwierig sei, mit Japanern zu verhandeln: »Die verlangen alle halbe Stunde eine Pause, um sich mit ihrer Zentrale daheim abzustimmen.« Die Deutschen seien viel einfacher über den Tisch zu ziehen: »Auch wenn die Verhandlung schon lange die Kompetenzgrenze der deutschen Manager überschritten hat, verlangen die keine Denkpause, sondern verhandeln munter weiter – und reden sich um Kopf und Kragen.« Weil sie reden, anstatt zu schweigen.

Dass es in Verhandlungen manchmal besser sein kann, zu schweigen als zu sprechen, wusste schon der römische Dichter Boethius, als er sagte: »Si tacuisses, philosophus mansisses.« Hättest du geschwiegen, wärst du ein Philosoph geblieben. Philosophen plappern nicht unüberlegt. Heute sind die Philosophen fast ausgestorben. Oder kennen Sie mehr als einen Menschen, der sich überlegt, was er sagt? Der seine Worte weise wägt, bevor er sie äußert?

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Bevor man etwas Dummes sagt, schweigt man besser.

Das ist jedem klar. Warum machen es dann so wenige? Weil sie durch ihr Schweigen nicht den Eindruck erwecken wollen, ein wenig begriffsstutzig zu sein. Deshalb plappern sie lieber unüberlegt drauflos. Besser wäre, das Risiko anders auszuräumen, zum Beispiel mit einer Erklärung seines Schweigens: »Das muss ich mir erst einmal durch den Kopf gehen lassen.« Auf so einfache Sätze kommen wir meist nicht. Stattdessen quasseln wir munter drauflos und bereuen es hinterher. Wir tun das auch, weil die meisten Menschen glauben, sie könnten beides gleichzeitig: reden und denken. Das gilt für Routineüberlegungen. Man kann durchaus mit seinem Partner übers Wetter reden, während man sich eine Stulle schmiert. Doch wer das jemals wirklich getan hat, wird sicher bemerkt haben, dass er die Stulle sehr viel ordentlicher und schneller schmiert, wenn er dabei nicht gleichzeitig reden muss.

Man kann nicht gleichzeitig reden und denken

Wer sich diese Unvereinbarkeit vor Augen führt, der wird bald verärgert sein über seine eigene Gedankenlosigkeit beim Reden. Das ging bei mir so weit, dass ich selbst bei so einfachen Fragen wie »Wie geht’s dir?« erst einige Sekunden nachdachte und in mich hineinhörte, weil ich das gedankenlos-reflexhafte »Ja, danke, ganz gut und dir?« so satt hatte und so oberflächlich und unehrlich fand. Übrigens mit unerwarteten Auswirkungen auf meine Gesprächspartner. Die merkten instinktiv, dass ich eine ehrliche, überlegte Antwort gab, und waren dann ihrerseits auch bereit, so ehrlich und offen zu sein. Die Gespräche empfand ich damals als sehr angenehm (meine Gesprächspartner auch). Heute mache ich das nicht mehr ausnahmslos. Was uns einer weiteren Erkenntnis näherbringt:

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Sie müssen nicht immer schweigen. Sie können und sollen durchaus wählen zwischen Schweigen und Reden. Aber wenn Sie keine Wahl haben und immer unüberlegt drauflosreden, haben Sie ein Problem. Nämlich mit Ihrer Wirksamkeit.

Auch wenn Sie es nicht bemerken – Ihre Umwelt wird das ganz sicher bemerken. Und darunter leiden. Oder Sie ausnutzen. Denn wer unüberlegt plappert, kann herrlich manipuliert werden. Warum? Siehe oben: weil man eben nicht gleichzeitig scharf nachdenken und reden kann.

Der Beschwichtigungs-Effekt

Schweigen löst keinen Trotz aus

Wir leben in hektischen Zeiten. So viele Zeitgenossen gehen uns mit so vielem auf die Nerven. Was die alles von uns wollen! Die meisten Chefs müssen nur den Mund aufmachen und schon gehen sie uns auf den Geist. Und erst einige Kollegen, Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten, Verwandte, Kinder … Haben Sie schon einmal überlegt, dass es anderen mit Ihnen genauso geht? Warum ist das so? Wie schafft es der Chef, mit einer simplen Äußerung über den erwarteten Geschäftsverlauf der nächsten drei Monate die Hälfte seiner Abteilung gegen sich aufzubringen? Die Antwort ist einfach. Kommen Sie drauf? Sie lautet: Indem er redet.

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Die meisten Menschen wissen nicht, dass selbst neutrale Äußerungen immer auch ein gewisses Maß an Reaktanz, Trotz, Widerstand auslösen.

Der Chef kann sagen, was er will. Allein deshalb, weil er Chef ist, lösen seine Worte Widerwillen bei schätzungsweise zwei Dritteln seiner Mitarbeiter aus. Diese empirische Erkenntnis der Kommunikationsforschung verstört Führungskräfte regelmäßig. Die meisten glauben noch, dass die Mitarbeiter ihnen zuhören würden, als verkündeten sie das Evangelium. Ein tragischer Irrtum.

Neulich berichtete mir ein Betriebsratsvorsitzender, dass die letzte Runde im Tarifstreit nicht halb so stressig gewesen sei wie sonst üblich. Ich fragte, ob der Chef denn endlich ein angemessenes Angebot unterbreitet habe. Der Arbeitnehmervertreter schüttelte den Kopf: »Er hat bloß viel weniger gesagt als sonst. Vielleicht hatte er einen schlechten Tag. Aber das war so angenehm für uns!« In überraschend vielen Gesprächssituationen tut Ihrem Partner jedes Wort weh, das Sie sagen. Schweigen tut nicht weh. Es lindert sogar. Also schonen Sie die Nerven Ihres Gesprächspartners. Reden Sie weniger und schweigen Sie mehr.

Der Motivations-Effekt

Schweigen motiviert

Wenn Menschen andere motivieren wollen oder müssen, was machen sie dann? Sie reden. Logisch. Warum ist das logisch? Warum wird Anfeuern, Einpeitschen, Drohen und gut Zureden als Synonym für Motivation verwandt? Wer hat das eingeführt? Die besten Motivatoren unter den Eltern und anderen Führungskräften, die ich kenne, kommen mit überraschend wenig Worten aus. Sie schweigen mehr, als sie reden, denn:

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Wenige Worte und viel Schweigen motivieren am besten.

In einem Fertigungsbetrieb erlebte ich einmal ein schlagendes Beispiel dafür. Ein Produktionsleiter musste seinen Mitarbeitern beibringen, dass die neue Pumpe 20 Prozent billiger werden müsse, um mit den asiatischen Produkten konkurrenzfähig zu werden. Als ich bei ihm eintraf, zwinkerte er mir zu und sagte: »Heute halte ich meine große Motivationsrede.« Ich erwartete die übliche zweistündige »Auf-zu-neuen-Ufern-Rede« mit Versatzstücken wie »Das schaffen wir!«, wie ich sie von vielen Vorständen gut kenne. Der Fertigungsleiter überraschte mich. Er war in zwei Minuten fertig. Er ging in die Werkshalle, wo er vor seinen versammelten Mitarbeitern schon ein kleines Podest mit zwei verhüllten Objekten aufgebaut hatte. Er zog das Tuch vom ersten Objekt: Es war die verhasste asiatische Pumpe mit einem überdimensionalen Preisschild: »280 Euro«. Dann enthüllte er die eigene Pumpe: »350 Euro. Unverkäuflich!« Den Mitarbeitern fiel die Kinnlade herunter. Daraufhin sagte der Abteilungsleiter nur eines: »Wir haben drei Monate Zeit. Lasst uns ein neues Preisschild bauen!« Ende der Motivationsrede. Dass er und seine Mitarbeiter daraufhin trotzdem noch eine geschlagene Stunde um die beiden Pumpen herumstanden und stürmisch diskutierten, war das beste Beispiel dafür, wie motivierend wenig Reden und viel Schweigen wirkt: Die Mitarbeiter diskutierten bereits hitzig diverse Vorschläge zur Kostensenkung. Das hätten sie nach einer Zwei-Stunden-»Motivations«rede nie getan. Da hätten sie sich erst einmal einen Kaffee geholt, eine Zigarette angezündet und sich den Schweiß von der Stirn gewischt. Warum verstehen das bloß so wenige? Quasseln motiviert nicht! Wenige Worte und viel Schweigen – das ist das beste Motivationsrezept. Das liegt eigentlich schon in der Wortbedeutung: Motivieren heißt Bewegen. Und wie will ich jemanden bewegen, indem ich ihn vollrede? Zutexten passiviert! Zuhören aktiviert.

Wenn Sie scharf mitgedacht haben, wird Ihnen aufgefallen sein, dass der oben beschriebene Fertigungsleiter nur deshalb aktivierend schweigen konnte, weil seine wenigen vorher geäußerten Worte so überaus stark waren: »350 Euro. Unverkäuflich!« Dahinter steckt ein Geheimnis: Wer Worte weise wählt, kommt mit ganz wenigen aus. Wer viel redet, zeigt nicht, dass er viel zu sagen hat, sondern dass er zu denkfaul war, um die wenigen wirkungsvollen Worte zu suchen, die seine Botschaft am besten übermitteln. Winston Churchill redete nicht wie bei Politikern üblich stundenlang, um sein Volk zum Widerstand gegen den deutschen Aggressor zu mobilisieren. Er hielt lediglich eine kleine Rede, an deren Anfang er sagte: Damit war auch dem Letzten klar, worum es ging. Der durchschnittliche Manager von heute bräuchte für diese Message wohl eine halbe Stunde. Der durchschnittliche Politiker zwei …