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Wissenschaftliche E-Book-Reihe, Band 6

In der Wissenschaftlichen Reihe publiziert das Archiv der Jugendkulturen seit 2007 zudem qualitativ herausragende wissenschaftliche Arbeiten zu jugendkulturellen Zusammenhängen. Die Arbeiten werden von fachkundigen GutachterInnen gelesen und vor der Veröffentlichung professionell lektoriert. Da pro Jahr von 30 - 40 eingereichten Arbeiten nur zwei veröffentlicht werden, kann bereits die Aufnahme in den Verlagskatalog als Auszeichnung verstanden werden. Doch für die AutorInnen lohnt sich die Veröffentlichung auch materiell. Die Archiv der Jugendkulturen Verlag KG verlangt von ihren AutorInnen keinerlei Kostenbeteiligungen! Im Gegenteil: AutorInnen, deren Arbeiten wir in unserer Wissenschaftlichen Reihe veröffentlichen, erhalten bereits für die Erstauflage ein Garantiehonorar von 2.000 Euro!

Seit 2011 wird diese Reihe durch eine elektronische Schwester ergänzt. Denn immer wieder mussten wir hervorragende Manuskripte ablehnen, da ein kleiner Verlag wie der unsrige sich nicht mehr als zwei wissenschaftliche Titel mit den gesetzten Qualitätsstandards (großformatige Hardcover, alle Bände sind reichlich illustriert, oft in Farbe) und dem bewusst sehr niedrig angesetzten Ladenpreis (um möglichst viele Menschen zu erreichen) leisten kann. Die E-Book-Reihe soll dieses Manko nun ausgleichen. Was für die Printreihe gilt, gilt auch für unsere E-Books: Sie werden ebenfalls unter der Fülle eingereichter Arbeiten sorgfältig ausgewählt und lektoriert, die AutorInnen erhalten ein kleines Garantiehonorar und werden am Umsatz beteiligt.

Das Archiv der Jugendkulturen e. V.
Das Berliner Archiv der Jugendkulturen e. V. existiert seit 1998 und sammelt – als einzige Einrichtung dieser Art in Europa – authentische Zeugnisse aus den Jugendkulturen selbst (Fanzines, Flyer, Musik etc.), aber auch wissenschaftliche Arbeiten, Medienberichte etc., und stellt diese der Öffentlichkeit in seiner Präsenzbibliothek kostenfrei zur Verfügung. Darüber hinaus betreibt das Archiv der Jugendkulturen eine umfangreiche Jugendforschung, berät Kommunen, Institutionen, Vereine etc., bietet jährlich bundesweit rund 80 Schulprojekttage und Fortbildungen für Erwachsene an und publiziert eine eigene Zeitschrift – das Journal der Jugendkulturen – sowie eine Buchreihe mit ca. sechs Titeln jährlich. Das Archiv der Jugendkulturen e. V. hat derzeit 240 Mitglieder weltweit (darunter viele Institutionen). Die Mehrzahl der Archiv-MitarbeiterInnen arbeitet ehrenamtlich.

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Screening Youth
Eine Studie über den Zusammenhang von Depression, Angst, Alkohol- und Nikotinkonsum
im Jugendalter

Tamara Hagmaier und Lisa Stadtmüller

Friedrich-Alexander-Universität
Erlangen-Nürnberg

Diplomarbeit

Betreuung:
Prof. Dr. H. J. Kaiser
Dr. Ina Bovenschen

Inhaltsverzeichnis

1. Zusammenfassung

2. Abstract

3. Einleitung

4. Theoretischer Hintergrund

4.1 Allgemeine Fragestellung

4.2 Theoretischer Hintergrund der einzelnen
Krankheitsbilder

4.2.1 Befunde zur Depression bei Jugendlichen

4.2.1.1 Definition, Klassifikation und Symptome

4.2.1.2 Prävalenz in Deutschland..

4.2.1.3 Ätiologie

4.2.2 Befunde zu suizidalen Handlungen und Gedanken Jugendlicher

4.2.2.1 Definition, Klassifikation und Symptome

4.2.2.2 Ätiologie

4.2.2.3 Prävalenz in Deutschland und bisherige Ergebnisse der Forschung.

4.2.3 Befunde zum Alkoholkonsum bei Jugendlichen

4.2.3.1 Definition, Klassifikation und Symptome des Alkoholmissbrauchs und der Alkoholabhängigkeit

4.2.3.2 Prävalenzen des Alkoholmissbrauchs und der Alkoholabhängigkeit

4.2.3.3 Ätiologie des Suchtmittelkonsums und der Suchtmittelabhängigkeit I

4.2.3.4 Bisherige Forschungsergebnisse zum Alkoholkonsum

4.2.4 Befunde zum Nikotinkonsum bei Jugendlichen

4.2.4.1 Definition, Klassifikation und Symptome des Nikotinkonsums und der Nikotinabhängigkeit

4.2.4.2 Prävalenzen des Nikotinkonsums und der Nikotinabhängigkeit

4.2.4.3 Ätiologie des Suchtmittelkonsums und der Suchtmittelabhängigkeit II.

4.2.4.4 Bisherige Forschungsergebnisse zum Nikotinkonsum

4.2.5 Befunde zu Alltags- und Zukunftsängsten von Jugendlichen

4.2.5.1 Definition, Klassifikation und Symptome

4.2.5.2 Ätiologie

4.2.5.3 Prävalenz in Deutschland

4.2.5.4 Bisherige Forschungsergebnisse

5. Hypothesen

6. Methode

6.1 Die Güte der Selbstauskünfte von Jugendlichen

6.2 Beschreibung des Untersuchungsmaterials

6.2.1 Fragebogenbeschreibung

6.2.2. Beschreibung des Erhebungsberichts

6.3 Vortest

6.4 Durchführung

6.4.1 Planung der Durchführung und Rekrutieren der Stichprobe

6.4.2 Datenerhebung

6.4.2.1 Repräsentativitätsprüfung nach Abschluss der ersten Datenerhebung

6.4.2.2 Repräsentativitätsprüfung nach Abschluss der Nacherhebung

6.4.2.3 Stichprobenbeschreibung der Gesamtstichprobe und abschließende Repräsentativitätsprüfung

7. Ergebnisse

7.1 Deskriptive und explorative Befunde

7.1.1 Die aktuelle Lebenssituation der Jugendlichen

7.1.1.1 Deskriptive Analyse der Familiensituation der Jugendlichen

7.1.1.2 Deskriptive Analyse kritischer Lebensereignisse der Jugendlichen

7.1.1.3 Deskriptive Analyse der Schulsituation der Jugendlichen

7.1.1.4 Deskriptive Analyse des sozialen Umfelds der Jugendlichen

7.1.1.5 Deskriptive Analyse der Zukunftsperspektive der Jugendlichen

7.1.1.6 Explorative Analyse der aktuellen Lebenssituation der Jugendlichen

7.1.2 Der Nikotinkonsum der Jugendlichen

7.1.2.1 Deskriptive Analyse des Nikotinkonsums Jugendlicher

7.1.2.2 Explorative Analyse des Nikotinkonsums Jugendlicher

7.1.3 Der Alkoholkonsum der Jugendlichen

7.1.3.1 Deskriptive und explorative Analyse des Alkoholkonsums

7.1.4 Depressive Symptome bei Jugendlichen

7.1.4.1 Reliabilitätsprüfung des Depressionsinventars für Kinder und Jugendliche (DIKJ)

7.1.4.2 Deskriptive und explorative Analyse der depressiven Symptome der Jugendlichen

7.1.5 Suizidgedanken bei Jugendlichen

7.1.5.1 Deskriptive Analyse der Suizid-Items

7.1.5.2 Prüfung der Itemkennwerte

7.1.6 Die Ängste der Jugendlichen

7.1.6.1 Deskriptive Analyse der Angstitems zur Skalenbildung

7.1.6.2 Bildung homogener Subskalen und Itemselektion

7.1.6.3 Bestimmung der Gütekriterien der Subskalen

7.1.6.4 Bildung des DAQ-Scores

7.1.6.5 Deskriptive und explorative Analyse der Angstskalen, des DAQ-Scores und der subjektiven Ängstlichkeit im Vergleich zu den Mitschülern

7.2. Prüfung der Kontrollvariablen

7.2.1 Anzahl der gestellten Fragen

7.2.2 Anzahl und Art der Störungen und Ernsthaftigkeit der Beantwortung

7.2.3 Einfluss des Erhebungsortes

7.2.4 Einfluss des Erhebungszeitraums

7.2.5 Einfluss der Versuchsleiterinnen

7.3 Hypothesentestung

8. Diskussion

8.1. Bewertung des Fragebogens insgesamt

8.2. Diskussion der Untersuchung und Ausblick

9. Literaturverzeichnis

10. Anhang

Leider lässt sich eine wahrhafte Dankbarkeit
mit Worten nicht ausdrücken
.“

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

Dennoch sei an dieser Stelle an all die Personen gedacht, die uns bei der Erstellung unserer Diplomarbeit mit Rat und Tat zur Seite standen. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei

unseren Eltern, die uns die ganze Zeit über begleitet haben!

unseren Freunden, Jens und Hannes, die nie die Geduld mit uns verloren haben!

unseren Beraterinnen Christine und Edith, für die tatkräftige Unterstützung!

unseren Freundinnen und Freunden, die uns hin und wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht haben!

allen Schulleitern und teilnehmenden Schülern, die diese Arbeit überhaupt erst ermöglichten!

und unseren Betreuern Herrn Prof. Dr. Kaiser und Frau Dr. Bovenschen, für die unkomplizierte und prompte Unterstützung, die uns jederzeit den Raum für eigene Ideen ließ, sowie den Glauben in unsere Fähigkeiten!

Gewidmet den Jugendlichen des 21. Jahrhunderts

1. Zusammenfassung

Diese Studie erforscht das Vorkommen depressiver Symptome im Jugendalter, die Lebenssituation und den Alkohol- und Nikotinkonsum von Jugendlichen. Suizidgedanken werden erfragt und verschiedene subklinische Ängste identifiziert. Ziel ist es, diese Themen in Zusammenhang zu bringen und zu überprüfen, ob Unterschiede zwischen den Schularten Hauptschule, Realschule und Gymnasium sowie den Jahrgangsstufen 7, 8 und 9 zu finden sind. Hierzu wird einer quasi-repräsentativen Stichprobe aus 495 Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren ein eigens für die Untersuchung konstruierter Fragebogen vorgelegt. Bei ca. 20 % der Jugendlichen finden sich depressive Symptome, 40 % rauchen und 75 % trinken Alkohol, wobei vor allem das frühe Einstiegsalter und das Ausmaß des Konsums auffällig sind. Weiterhin zeigen sich multiple Zusammenhänge aller Bereiche, welche verdeutlichen, dass die Probleme der Jugendlichen sehr komplex sind. Differenziert nach Klassenstufe und Schulart finden sich je nach Bereich unterschiedliche Ergebnismuster. Weitere Studien werden benötigt, um den Fragebogen zu evaluieren und Normen zu erstellen.

2. Abstract

The aim of this study is to examine the connection between the occurrence of depressive symptoms among adolescents, their life situation and alcohol and nicotine use. Moreover, the influence of suicidal ideation and sub-clinical fears are explored and differences between the different secondary school types “Hauptschule”, “Realschule” and “Gymnasium” and between three different class levels are examined. Data is provided by a quasi-representative sample of 495 adolescents at the age of 12 to 17 in Bavaria, Germany. A questionnaire, specifically developed to measure these factors, is used for the examination. 20 % of the adolescents show depressive symptoms, 40 % of them smoke and 75 % drink alcohol. The early initiation age and the enormous extend of consumption are particularly striking. Furthermore, multiple correlations between all domains are found, which reveal that the problems among youths are very complex. If you differentiate as to class level and school type there are diverse results. The findings indicate that further studies are needed to evaluate the questionnaire and to develop standards.

3. Einleitung

Es gibt Girlies und Tussis, Hooligans und Rapper, Raver, Streetballer und Trainsurfer, frühreife „Top-Models“ unter den strengen Augen von Heidi Klum und angehende „deutsche Superstars“, die nach einem „Welt-Hit“ aus dem Repertoire von Dieter Bohlen wieder in der Versenkung verschwinden. Wer blickt da noch durch?

Die Jugendlichen des 21. Jahrhunderts leben in einer Zeit, in der sich die Trends und begehrenswerten Dinge ständig ändern. Es gibt ein unbegrenztes Angebot an Waren und Inhalten, das per Kreditkarte, Mausklick oder Handy überall und zu jeder Zeit verfügbar erscheint. Was man braucht, um dazu zu gehören, geben die Modemacher und Technikdesigner vor.

Doch zu diesen verführerisch angepriesenen Waren gehören auch Dinge, die den Jugendlichen schaden, wie z.B. Alkohol. Zu diesem Thema schrieb die World Health Organization (WHO) in einer Erklärung im Jahr 2001:

„Die Globalisierung der Medien und Märkte prägt die Ansichten, Entscheidungen und Verhaltensweisen der Jugend immer stärker. Viele Jugendliche haben heute zwar mehr Möglichkeiten und verfügen über mehr finanzielle Mittel, sind aber durch die (aggressiver gewordenen) Verkaufsmethoden und Marketingtechniken für Verbrauchsgüter und potenziell schädliche Substanzen wie Alkohol stärker gefährdet. Gleichzeitig hat die vorherrschende freie Marktwirtschaft die existierenden Public-Health-Sicherheitsnetze in vielen Ländern durchlässig gemacht und die sozialen Strukturen für junge Menschen geschwächt. Der rasche soziale und wirtschaftliche Wandel, Bürgerkonflikte, Armut, Obdachlosigkeit und Isolation haben die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Alkohol und Drogen eine größere und destruktive Rolle im Leben vieler junger Menschen spielen.“ (ein Ausschnitt aus „Verringerung der Alkoholschäden bei Jugendlichen – Erklärung über Jugend und Alkohol“1)

Doch warum greifen Jugendliche heutzutage so oft zur Flasche? Haben sie tatsächlich jedes Wochenende etwas zu feiern? Ist es nur das Trinken selbst, das gefeiert, ja geradezu zelebriert wird? Trinken die jungen Leute, weil es alle so machen, weil es zum Erwachsenwerden dazu gehört?

Provokant kann man sagen, dass die Kinder und Jugendlichen in einem Wertevakuum leben: in einer Welt, die geprägt ist durch zerfallende Familien und fehlende Erziehung, ohne konstante Werte und ohne Vorbilder, dafür mit gesellschaftlicher und beruflicher Unsicherheit. Eine Welt in einer Wirtschaftskrise und mit der wachsenden Angst vor terroristischen Anschlägen. Eine Welt, deren Bild stark durch die zunehmend destruktiven und wertenden Medien geprägt wird. Betrachtet man die Jugendlichen einmal aus dieser Perspektive, so stellt sich die Frage, ob der Alkoholkonsum weniger dem puren Genuss, sondern vielmehr der inneren Betäubung dient? Er wäre damit ein Betäubungsmittel, das eine gewisse innere Leere oder Traurigkeit zumindest zeitweise vergessen macht und für kurze Zeit abschirmt gegen Angst und Unsicherheit vor der Zukunft und eine immer gefährlicher und chancenloser scheinende Welt. Wenngleich auch der Zusammenhang zwischen riskantem Suchtmittelkonsum und der starken Zunahme an diagnostizierten psychischen Erkrankungen, wie z.B. Depression und Angsterkrankungen, noch offen ist, könnten diese Faktoren als Konfliktlösestrategie der Jugendlichen angesehen werden, um das schnelle und unberechenbare Leben des 21. Jahrhunderts zu bewältigen. Dies würde allerdings nicht nur bedeuten, dass die Jugendlichen sich einer ungünstigen Coping-Strategie bedienen, sondern auch, dass der Staat und die Gesellschaft ihrer eigentlichen Verantwortung gegenüber der Jugend nur unzureichend nachkommen und ihr keine fördernde Umwelt mehr bieten. So heißt es in einer Pressemitteilung des Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vom 8. Dezember 2008: „Aufgabe des Staates ist es, Kinder und Jugendliche vor Gefahren und vor negativen Einflüssen in der Öffentlichkeit und in den Medien zu schützen und sie fit zu machen für das Leben in einer komplexen Welt.“2

Vielleicht sind es gerade die geschützte Umgebung sowie ausreichend Unterstützung, Anleitung und Liebe, welche den heutigen Jugendlichen fehlen, um sich den Herausforderungen des Lebens angemessen stellen zu können.

Um etwas mehr Licht in das Dunkel um das Wohlbefinden deutscher Jugendlicher zu bringen, beschäftigt sich die vorliegende Arbeit mit dem Vorkommen von Depressionen im Jugendalter, dem Alkohol- und Nikotinkonsum sowie alltäglichen Ängsten der jungen Generation. Zusätzlich sollen die Befunde zu den unterschiedlichen Bereichen mit soziodemographischen Faktoren, belastenden Lebensereignissen und Zukunftsvorstellungen der Jugendlichen in Verbindung gebracht werden.

Die bisherige Forschung zu diesen Themen ist sehr spezifisch, da jeder einzelne Bereich zwar durch viele, aber methodisch sehr verschiedene Einzelarbeiten abgedeckt ist. Um jedoch Zusammenhänge zwischen den Problembereichen sichtbar zu machen und durch das neu gewonnene Wissen letztlich in Prävention und Therapie investieren zu können, ist der Bedarf an integrierenden Forschungsarbeiten wie der vorliegenden Arbeit sehr vonnöten. Denn gerade die psychologische Forschung kann und sollte mit ihrem Wissen und ihren Ergebnissen dazu beitragen, die gesellschaftliche Verantwortung für junge Mitbürger und deren positive Entwicklung in einer fördernden Umwelt zu übernehmen!

1 „Verringerung der Alkoholschäden bei Jugendlichen – Erklärung über Jugend und Alkohol“, eine Erklärung der WHO; verabschiedet in Stockholm am 21. Februar 2001 von der Europäischen ministeriellen Konferenz der WHO „Jugend und Alkohol“. Quelle: http://www.edimuster.ch/alkoholpolitik/jugend.htm; zuletzt aufgerufen am 29.05.2009

2 Aus der Pressemitteilung zum „Aktionsplan der Bundesregierung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung“, Quelle: www.bmfsfj.de; zuletzt aufgerufen am 29.05.2009.

4. Theoretischer Hintergrund

4.1 Allgemeine Fragestellung

Die vorliegende Untersuchung wurde mit dem Ziel durchgeführt, das Vorkommen (Punktprävalenz) und die Ausprägung depressiver Symptome im Jugendalter genauer zu erforschen. Zusätzlich sollten neben der aktuellen Lebenssituation der Jugendlichen der in Fachwelt und Medien häufig zitierte, scheinbar ansteigende Alkoholkonsum der Jugendlichen und ihr Nikotinkonsum genauer betrachtet werden. Des Weiteren wurde methodisch und inhaltlich erprobt, jugendliche Suizidgedanken indirekt zu erfragen. Abschließend sollte überprüft werden, mit welchen Ängsten die Jugendlichen im Alltag konfrontiert sind, um Angstthemen dieser Altersgruppe zu identifizieren und das Vorkommen sowie die Ausprägung dieser Angstthemen zu beleuchten.

Das integrierende Ziel der vorliegenden Arbeit sollte sein, alle genannten Problembereiche miteinander in Verbindung zu bringen, um vorhandene Zusammenhänge aufzudecken. Darüber hinaus sollte überprüft werden, ob Unterschiede zwischen den untersuchten Schularten (Hauptschule, Realschule und Gymnasium) und den Klassenstufen (siebte, achte und neunte Jahrgangsstufe) zu finden sind.

Im Folgenden werden zunächst aktuelle Befunde zu den genannten Bereichen dargestellt, um anschließend die Hypothesen der vorliegenden Untersuchung ableiten zu können.

4.2 Theoretischer Hintergrund der einzelnen Krankheitsbilder

4.2.1 Befunde zur Depression bei Jugendlichen

Mit Rang vier auf der Liste der bedeutsamen Erkrankungen hinsichtlich der Ursachen gesundheitlicher Beeinträchtigung und vorzeitiger Mortalität weltweit (WHO World Health Bericht 2001) sowie geschätzten Kosten von 17 Milliarden Euro pro Jahr in Deutschland (vgl. Kompetenznetz Depression 20053), zählt die unipolare Depression zu den bedeutsamsten Erkrankungen in der heutigen Zeit. Neben dem oftmals chronisch rezidivierenden Verlauf der depressiven Erkrankungen wird als Ursache für diese erschreckende Situation eine fehlende angemessene Behandlung depressiver Kinder und Jugendlicher angegeben (Pössel, 2008). Erst in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die Depression als eigenständige psychopathologische Störung des Kindes- und Jugendalters aufgefasst und mit Eingang dieses Syndroms in das DSM-III wurden weiterführende Forschungen hinsichtlich der Diagnostik und Behandlung begonnen. Trotzdem ist die Depression bei Kindern und Jugendlichen nach wie vor ein unterschätztes Problem.

4.2.1.1 Definition, Klassifikation und Symptome

Der Begriff „Depression“ leitet sich von dem lateinischen Wort „deprimere“ (hinunterdrücken) ab. Ursprünglich bezeichnete er einen unspezifischen Zustand des allgemeinen Abbaus bzw. der Beeinträchtigung psychischer Funktionen. Heutzutage wird das Wort oftmals als Oberbegriff in ganz unterschiedlichen Kontexten verwendet. Es gilt dabei, drei Ebenen zu unterscheiden: die Symptom-, die Syndrom- und die Störungsebene (vgl. Abb. 1).

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Abb. 1: Überblick über die Verwendung des Begriffs Depression und dessen jeweilige Bedeutung

In der vorliegenden Arbeit ist der Begriff „Depression“ teilweise als Syndrom, teilweise auch als Störung aufzufassen. Es findet zwar keine eindeutige Diagnose statt, da diese unter Verwendung von nur einem Diagnostikum zu kurz gegriffen wäre, dennoch wird nicht nur die Symptomatik (Syndromebene), sondern insbesondere deren Ausprägung (Störungsebene) erfasst (vgl. Abb. 2).

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Abb. 2: Bedeutung des Begriffs „Depression“ in der vorliegenden Arbeit

Aus psychopathologischer Sicht wird die Depression den so genannten internalisierenden Störungen zugerechnet. Kennzeichnend für diese Störungsgruppe ist, dass sich die Erkrankungen auf eine Beeinträchtigung des inneren Erlebens, der Gefühls- und Stimmungslage sowie auf passives, vermeidendes und defensives Verhalten beziehen. Diese Störungen sind aufgrund der sich innerlich auswirkenden Kernsymptome meist nach außen hin schwer zu erkennen, was die Diagnose problematisch macht.

Zu den Kernsymptomen einer Depression zählen eine deutliche emotionale Niedergeschlagenheit bzw. starke Traurigkeit (a), ein herabgesetztes Interesse bzw. ein Verlust an Freude, Spaß und Lust an alltäglichen Aktivitäten (b) sowie ein verminderter Antrieb (Energieverlust) und eine erhöhte Ermüdbarkeit (c). Weiterhin kann eine Depression mit folgenden Symptomen einhergehen: geringes Selbstvertrauen, Schuldgefühle und Gefühle der Wertlosigkeit sowie Konzentrationsprobleme, Probleme beim Nachdenken und der Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen. Zudem treten häufig Schlafstörungen auf und die Betroffenen zeigen eine Veränderung ihrer Nahrungsaufnahme (Appetitverlust oder Appetitsteigerung). Ebenfalls typisch ist der soziale Rückzug sowie wiederkehrende Gedanken an den Tod oder Suizid. Außerdem verfügen die meisten Patienten über eine niedrige Frustrationstoleranz, werden schnell wütend, weinen und fühlen sich oft ohne konkreten Anlass traurig.

Nach DSM-IV müssen bei einer betroffenen Person mindestens fünf der aufgezählten Symptome für einen Mindestzeitraum von zwei Wochen nachweisbar sein, um vom Vorhandensein einer Depression zu sprechen. Zu den vorliegenden Symptomen muss auch die depressive Verstimmung (a) oder der Verlust von Interesse und Freude (b) gehören. Weiterhin dürfen die vorliegenden Symptome nicht durch einen medizinischen Krankheitsfaktor, eine substanzinduzierte Wirkung, einen stimmungskongruenten Wahn oder Halluzinationen ausgelöst worden sein. Zudem dürfen bei der Diagnose einer unipolaren Depression, nach DSM-IV auch als „Major Depression“ bezeichnet, keine Kriterien einer gemischten Episode (manisch-depressiv) vorhanden sein und der Schweregrad muss den einer einfachen Trauer übersteigen. Neben diesen Einschränkungen und Kriterien, welche eine differenzierte Diagnose erlauben, muss ebenfalls gewährleistet sein, dass sich die vom Patienten geschilderte Symptomatik nicht nur auf einen spezifischen Bereich (z.B. den Arbeitsplatz) auswirkt, sondern, dass die Beeinträchtigung und das Leiden in mehreren wichtigen Funktionsbereichen auftreten (vgl. Tabelle 1).

Tab. 1: DSM-IV-Kriterien einer „Major Depression“

DSM-IV: Major Depression, einzelne Episode (296.2x)

A) Vorliegen von fünf der folgenden Symptome über mindestens zwei Wochen; dabei muss entweder die depressive Stimmung oder der Verlust an Interesse und Freude zu den Symptomen gehören.

Hinweis: Auszuschließen sind Symptome, die eindeutig durch einen medizinischen Krankheitsfaktor, stimmungsinkongruenten Wahn oder Halluzinationen bedingt sind.

1. Depressive Verstimmung an fast allen Tagen, für die meiste Zeit des Tages, vom Betroffenen selbst berichtet (z. B. fühlt sich traurig oder leer) oder von anderen beobachtet (z. B. erscheint den Tränen nahe). (Beachte: kann bei Kindern und Jugendlichen auch reizbare Verstimmung sein).

2. Deutlich vermindertes Interesse oder Freude an allen oder fast allen Aktivitäten, an fast allen Tagen, für die meiste Zeit des Tages (entweder nach subjektivem Ermessen oder von anderen beobachtet).

3. Deutlicher Gewichtsverlust ohne Diät oder Gewichtszunahme (mehr als 5 % des Körpergewichtes in einem Monat); oder verminderter oder gesteigerter Appetit an fast allen Tagen. Beachte: Bei Kindern ist das Ausbleiben der zu erwartenden Gewichtszunahme zu berücksichtigen.

4. Schlaflosigkeit oder vermehrter Schlaf an fast allen Tagen.

5. Psychomotorische Unruhe oder Verlangsamung an fast allen Tagen (durch andere beobachtbar, nicht nur das subjektive Gefühl von Rastlosigkeit oder Verlangsamung).

6. Müdigkeit oder Energieverlust an fast allen Tagen.

7. Gefühle von Wertlosigkeit oder übermäßige oder unangemessene Schuldgefühle (die auch wahnhaftes Ausmaß annehmen können) an fast allen Tagen (nicht nur Selbstvorwürfe oder Schuldgefühle wegen des Krankseins).

8. Verminderte Fähigkeit zu denken oder sich zu konzentrieren oder verringerte Entscheidungsfähigkeit an fast allen Tagen (entweder nach subjektivem Ermessen oder von anderen beobachtet).

Wiederkehrende Gedanken an den Tod (nicht nur Angst vor dem Sterben), wiederkehrende Suizidvorstellungen ohne genauen Plan, tatsächlicher Suizidversuch oder genaue Planung eines Suizids.

B) Die Symptome erfüllen nicht die Kriterien einer Gemischten Episode.

C) Die Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

D) Die Symptome gehen nicht auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz (z. B. Droge, Medikament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors (z. B. Hypothyreose) zurück.

E) Die Symptome können nicht besser durch einfache Trauer erklärt werden, d.h. nach dem Verlust einer geliebten Person dauern die Symptome länger als zwei Monate an oder sie sind durch deutliche Funktionsbeeinträchtigungen, krankhafte Wertlosigkeitsvorstellungen, Suizidgedanken, psychotische Symptome oder psychomotorische Verlangsamung charakterisiert.

Neben dem hier geschilderten Krankheitsbild der „Major Depression“, welche eine mittelgradige bis schwere Episode einer Depression im Erwachsenenalter näher beschreibt und klassifiziert, muss beachtet werden, dass einige Symptome depressiver Erkrankungen altersunabhängig, andere hingegen in Abhängigkeit vom Entwicklungskontext auftreten (Kovacs, 1996; Groen et al. 2003). Diese entwicklungsspezifische depressive Symptomatik ist besonders im Hinblick auf die Praxis sehr relevant (vgl. Tabelle 2).

Tab. 2: Typische Symptome depressiver Erkrankungen in Abhängigkeit von der Entwicklungsphase

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Anmerkung. Angelehnt an die „Leitlinien der Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und - psychotherapie“ (Deutscher Ärzte Verlag 2003, ISBN: 3-7691-0421-8)

Betrachtet man die altersabhängige Symptomatik genauer, so fällt auf, dass die weitgehende Übereinstimmung innerhalb der Diagnosekriterien für Depressionen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen nicht den depressiven Erscheinungsbildern gerecht werden. So neigen Kinder mit einer Depression beispielsweise verstärkt zu körperlichen Beschwerden, Verhaltensauffälligkeiten und Angstsymptomen, während kognitive Symptome bei ihnen weniger offenkundig sind. Eine Verschiebung der Symptome in den Bereich des Denkens und Bewertens in Abhängigkeit des Alters der Betroffenen konnte auch in etlichen Studien nachgewiesen werden (Nevermann & Reicher, 2001). So kommt es nach und nach zu einer Zunahme an negativen Gedanken und tief greifendem Pessimismus, während die somatischen Symptome mit steigendem Alter abnehmen. Bei depressiven Jugendlichen kommt es im Vergleich zu den Kindern auch vermehrt zu Schlaf- und Appetitstörungen sowie Suizidgedanken. Gegenüber der Symptomatik bei Erwachsenen ist bei den Jugendlichen eine verstärkte Gereiztheit auszumachen.

Unterschiede zwischen Kindern und Jugendlichen zeigen sich auch im Verlauf der Symptomatik. Während bei Kindern depressive Symptome zwar auftreten, aber nur sehr selten in ein vollständiges Bild der Depression übergehen, ist die Depression eine der häufigsten und schwerwiegendsten Erkrankungen im Jugendalter (Groen et al., 2003).

4.2.1.2 Prävalenz in Deutschland

Ausgehend von Lebenszeitprävalenzen von ca. fünf Prozent im Kindesalter steigt diese Zahl bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres auf 15 bis 20 % an (Metaanalyse von Groen et al. 2003). Steinhausen et al. (2006) berichtet von Prävalenzraten unter drei Prozent bei Kindern und zwischen 0,40 % und 6,40 % bei Jugendlichen. Die Punktprävalenz kann bei Jugendlichen auf 2 bis 4 % geschätzt werden (Cooper & Goodyer, 1993; Lewinsohn et al., 1998). Insgesamt schwankt der Altersbereich, der angibt, wann es zu einem solchen Anstieg der Prävalenzen vom Kindes- ins Jugendalter kommt, in nationalen und internationalen epidemiologischen Untersuchungen. Die Prävalenz depressiver Erkrankungen steigt laut Burke et al. (1990) bei Jungen ab dem 14. Lebensjahr sprunghaft an. Essau (2007) berichtet in ihrer Übersichtsarbeit einen Altersbereich zwischen 13 und 18 Jahren, in dem sich dieser rapide Anstieg an Neuerkrankungen abspielt. Nach Birmaher et al. (1996, zitiert nach Groen et al., 2003) vollzieht sich der Anstieg der Prävalenzraten und die Annäherung an die Werte der Erwachsenen zwischen dem 12. und 15. Lebensjahr. Neben der Zunahme der Prävalenzraten vom Kindes- ins Jugendalter zeigen sich während dieses Überganges ebenfalls geschlechtsspezifische Einflüsse. Sind bis zum Jugendalter beide Geschlechter etwa gleich häufig betroffen, erkranken ab der Pubertät deutlich mehr Mädchen an einer depressiven Erkrankung (Pössel, 2008; Cohen et al, 1993, beide zitiert nach Groen et al., 2003). Ähnlich wie bei erwachsenen Frauen ist das Risiko, an einer Depression zu erkranken, für Mädchen im Gegensatz zu ihren gleichaltrigen männlichen Kameraden ab der Pubertät etwa doppelt so hoch (Pössel, 2008). Ob es sich dabei um einen stabilen, replizierbaren Effekt handelt, soll in der vorliegenden Arbeit überprüft werden (vgl. Hypothese 2, unter Kap. 5 Hypothesen). Hinsichtlich der Erklärung des erwarteten Geschlechtsunterschieds gibt es bisher zweierlei Ansätze: zum einen könnte die Differenz auf einem Anstieg der Inzidenzrate bei den Mädchen oder zum anderen aber auf einem gleich bleibenden Niveau der Neuerkrankungsrate der männlichen Jugendlichen beruhen (Wade et al., 2002, zitiert nach Pössel, 2008).

Die Gültigkeit dieser Erklärungsansätze konnte bisher nicht nachgewiesen werden und kann aufgrund der einmaligen Messung auch in der vorliegenden Arbeit nicht geklärt werden.

Hinsichtlich des Verlaufs von depressiven Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter konnten bisher keine konsistenten Ergebnisse ausgemacht werden. Studien verweisen auf ein Andauern der Erkrankung über wenige Wochen bis mehrere Jahre. Durchschnittlich liegt die Länge der Erkrankung bei einem dreiviertel Jahr, wobei durchaus auch kürzere Episoden häufig vorzufinden sind. Insgesamt liegen die Genesungsraten bei Kindern und Jugendlichen mit einer „Major Depression“ bei 90 % innerhalb von ein bis zwei Jahren, wobei das Rückfallrisiko mit 25 % nach einem und 75 % nach fünf Jahren ebenfalls erstaunlich hoch ist. Empirisch gut abgesichert ist die Tatsache, dass für Jugendliche, welche an einer Depression erkrankt sind, auch im weiteren Verlauf ihres Lebens eine erhöhte Wahrscheinlichkeit besteht, unter einer wiederkehrenden depressiven Episode oder anderen psychischen Krankheiten zu leiden (Groen et al., 2003).

Neben diesem ungünstigen Verlauf bleibt weiterhin zu beachten, dass reine depressive Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen eher selten auftreten. Mit einem Vorhandensein einer depressiven Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen gehen simultan oder im Verlauf auftretende und lebenslang andauernde komorbide Störungen einher (Steinhausen, 2006). Untersuchungen von Angold et al. (1999, zitiert nach Pössel, 2008) zufolge leiden 40 bis 70 % der depressiven Kinder und Jugendlichen unter mindestens einer weiteren psychischen Erkrankung und haben im Vergleich zu Gleichaltrigen deutlich stärkere psychosoziale Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebens- und Funktionsbereichen. Beispielsweise berichten depressive Jugendliche im Vergleich zu ihrer gesunden Altersgruppe von weniger sozialen Kompetenzen und mehr zwischenmenschlichen Problemen (Groen, 2003). Als bedeutsamste Gruppe der komorbiden Störungen erwiesen sich bei den Kindern und Jugendlichen die Angststörungen, gefolgt von Störungen des Sozialverhaltens, Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störungen (ADHS) und Störungen durch Substanzmissbrauch (Groen, 2003; Pössel, 2008).

Allgemein begründet wird das häufige gemeinsame Auftreten zwischen einer depressiven Erkrankung und Angststörungen zum einen durch Symptomüberlappungen. So finden sich etliche Symptome eines depressiven Jugendlichen auch bei einem Jugendlichen mit Angststörungen. Zum anderen wird hinsichtlich des gemeinsamen oder aufeinander folgenden Auftretens von Angst und Depression ein gemeinsamer ätiologischer Hintergrund vermutet. Eine negative Affektivität bzw. eine dysfunktionale Emotionsregulation wird bei beiden Erkrankungen zugrunde gelegt. Eine Person mit dementsprechender emotionaler Fehlanpassung wird beispielsweise bei vergleichsweise harmlosen Situationen aufgrund von verschiedenen sozialen, kognitiven, physiologischen und verhaltensbezogenen Beeinträchtigungen stark emotional reagieren und sich nur sehr langsam wieder beruhigen können (McCauley et al. 2001; Pössel, 2008). Diese dysfunktionale Emotionsregulation kann sich in Abhängigkeit des Entwicklungsstandes nach außen als Angststörung, als depressive Erkrankung oder als Störung gekennzeichnet durch eine Mischsymptomatik bemerkbar machen. Meist äußert sich bei Kindern eine solche Fehlanpassung in Angststörungen, während im Jugendalter verstärkt eine depressive Symptomatik vorzufinden ist. Oftmals geht einer Depression auch eine Angststörung voraus (Petermann et al. 2002a; Pössel, 2008).

Wie es zu einer solch dysfunktionalen Emotionsregulation kommt, ist bisher noch ungeklärt. Es wird vermutet, dass genetische Anlagen bzw. neurobiologische Fehlanpassungen des Serotoninsystems eine Rolle spielen (Axelson & Birmaher, 2001). Ebenso fand Muris et al. (2001a, zitiert nach Groen, 2003), dass Angst- und depressive Störungen bei Jugendlichen oftmals mit sozial gehemmtem Verhalten der Betroffenen einhergehen. Dieses introvertierte Verhalten, die Schüchternheit und die Ängstlichkeit in sozialen Situationen führen laut Muris et al. (2001a) zu einer Steigerung der Angstsymptome, welche wiederum eine erhöhte Depression bedingen. Führt man dieses Modell weiter und berücksichtigt, dass eine depressive Erkrankung oftmals mit sozialer Isolation des Betroffenen einhergeht, so vervollständigt sich der Circulus vitiosus (vgl. Abb. 3) und die Frage nach Ursache und Wirkung tut sich erneut auf.

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Abb. 3: Erweiterung des Erklärungsansatzes von Muris et al. (2001)

Groen et al. (2003) führen allerdings an, dass das sozial gehemmte Verhalten, welches Muris et al. (2001) fanden, durchaus als Disposition der Betroffenen betrachtet werden kann. Demnach könnte man die soziale Verhaltenshemmung auch auf genetische Korrelate zurückführen und annehmen, dass sie so als Vulnerabilitätskomponente bei der Entstehung einer Depression mitwirkt. Im Sinne des Diathese-Stress-Modells nach Zubin (1977) würde dies bedeuten, dass Personen mit einer solchen Veranlagung auf belastende Lebensereignisse oder Umweltsituationen inadäquat reagieren und die Wahrscheinlichkeit, an einer Depression oder Angststörung zu erkranken, durch die gegenseitige Wechselwirkung zwischen Diathese und Stress für diese Personen zunimmt. Zu beachten bleibt allerdings, dass eine Veranlagung wie beispielsweise das sozial gehemmte Verhalten zwar als Risikofaktor für die Entstehung von Depressionen und Angststörungen anzusehen ist, allerdings dieser Faktor für sich alleine noch keine Krankheit hervorruft.

Insgesamt bleibt zu betonen, dass zwischen Angst und Depression ein Zusammenhang besteht, wenngleich noch etlicher Forschungsbedarf hinsichtlich seiner Ätiologie und der Funktionsweise besteht. Daher soll anhand von Hypothese 1c in der vorliegenden Arbeit überprüft werden (vgl. Kap. 5 Hypothesen), inwieweit sich bereits zwischen spezifischen subklinischen Angstthemen und dem Vorliegen einer depressiven Erkrankung ein Zusammenhang zeigt.

Ebenfalls finden sich in der Literatur Belege für das gemeinsame Auftreten von Depressionen und Substanzmissbrauch im Jugendalter (Groen, 2003; Pössel, 2008).

Bezüglich der Kausalität des Zusammenhangs ist man allerdings bislang unschlüssig. So vermuten Windle & Davis (1999), dass depressive Jugendliche mittels übermäßigem Alkohol- und Medikamentenkonsum ihre erlebte innere Leere zu füllen versuchen. Negative Emotionen werden durch den Alkoholkonsum temporär vergessen gemacht und das angekratzte Selbstbewusstsein erfährt eine vorübergehende Stärkung: Alkohol als Problemlöser, der im Rahmen einer Selbstmedikation zu sich genommen wird.

In umgekehrter Richtung interpretieren Deykin et al. (1992) das simultane Auftreten von Depressionen und Substanzmissbrauch. Basierend auf Alkoholmissbrauch kommt es zu etlichen Problemen und Schwierigkeiten im Leben eines Jugendlichen. Streitigkeiten mit Gleichaltrigen, Eltern oder Geschwistern sowie finanzielle Probleme sind nicht selten die Folge von Alkohol- oder sonstigem Substanzmissbrauch bei Jugendlichen. Ein solch problembelastetes Umfeld dient dann wiederum als idealer Nährboden für eine depressive Erkrankung.

Ähnlich wie bei den Angsterkrankungen und der Depression gibt es auch hinsichtlich des Substanzmissbrauchs und der Depression Studien, welche die Komorbidität der Erkrankungen belegen (Groen, 2003; Möller et al., 2005). Über die Kausalität des Zusammenhangs ist allerdings noch sehr wenig bekannt. Ebenso offen ist, ob sich bereits ein Zusammenhang zwischen subklinischen Ausprägungen des Substanzgebrauchs (Alkohol- und Nikotinkonsum) und dem Vorliegen einer Depression zeigen lässt. Dies soll in der vorliegenden Arbeit anhand von Hypothese 1a und 1b überprüft werden (vgl. Kap. 5 Hypothesen).

Hinsichtlich des Auftretens von komorbiden Störungen lassen sich zudem Geschlechtsunterschiede ausmachen. Bei depressiven Mädchen treten meist zusätzlich Angstund Essstörungen auf. Substanzmissbrauch, externalisierende Störungen sowie ADHS sind dagegen vermehrt bei depressiven Jungen vorzufinden (Groen, 2003; Pössel, 2008).

4.2.1.3 Ätiologie

Ob ein Jugendlicher an einer Depression erkrankt oder nicht, hängt meist von ganz vielfältigen Bedingungen und individuellen Gegebenheiten ab. Aufgrund dieser Komplexität liegt bis heute auch noch kein einheitliches und umfassendes Erklärungsmodell für die Entstehung von Depressionen im Jugendalter vor. Es wird davon ausgegangen, dass die Entstehung der Depression multifaktoriell bedingt ist und daher für deren Genese und Aufrechterhaltung eine wechselseitige Beeinflussung biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren sowie spezifische Entwicklungsfaktoren entscheidend sind (Abb. 4).

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Abb. 4: Multifaktorielles Modell zur Depressionsgenese nach Groen et al. (2003)

Wie diese Faktoren im Einzelnen interagieren, ist allerdings bislang noch unklar. In etlichen Studien konnten bisher risikoerhöhende oder risikominimierende Bedingungen ausgemacht werden, welche die Entstehung einer Depression fördern bzw. hemmen (vgl. Tab. 3). Auf diese wird im Folgenden näher eingegangen.

Tab. 3: Risikofaktoren bei der Depressionsgenese im Kindes- und Jugendalter nach Groen et al. (2003)

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Zu beachten bleibt, dass dennoch von einer Äquifinalität der Risikofaktoren ausgegangen wird. Dies bedeutet, dass ganz unterschiedliche Risiken zu der Entstehung einer Depression führen können. Dabei sind viele der Risikofaktoren bei der Depressionsgenese auch bedeutsame Aspekte bei der Entstehung anderer psychischer Krankheiten, so dass sich ausgehend von denselben Risikofaktoren ganz unterschiedliche Krankheiten entwickeln können (Multifinalität).

Biologische Risikofaktoren. Aufgrund der hohen familiären Häufung depressiver Erkrankungen wird den genetischen und psychosozialen Transfermechanismen eine sehr große Bedeutung zugeschrieben. Schätzungen zufolge haben Kinder und Jugendliche, deren Elternteil an einer affektiven Störung leidet, ein sechsfach höheres Risiko, an einer Depression zu erkranken als Kinder und Jugendliche mit unauffälligen Eltern (Groen, 2003; Bauer, 2004). Allerdings existieren bisher noch keine konsistenten Befunde über die genaue Identität von Genen, welche für die Depressionsgenese eine entscheidende Rolle spielen. Ebenso ist noch ungewiss, wie einflussreich genetische Komponenten bei der Depressionsgenese wirklich sind und welche Faktoren an die nächste Generation weitergegeben werden. Dies könnten einerseits rein biologische Komponenten wie endokrinologische Fehlfunktionen oder neurobiologische Dysfunktionen sein. Andererseits könnte sich die affektive Störung eines Elternteils auch mittels psychosozialer Mechanismen auf das Wohlbefinden des Kindes auswirken. Betrachtet man beispielsweise eine Mutter mit einer postnatalen Depression (oder auch „Wochenbettdepression“), so wird deutlich, dass diese Person aufgrund der Erkrankung ihrem Baby weniger Aufmerksamkeit und Unterstützung zukommen lässt. Sie verhält sich kommunikations- und reaktionsärmer und agiert teilweise sehr inkonsistent gegenüber ihrem Kind. Insgesamt deuten die bisherigen Forschungsergebnisse darauf hin, dass bei der unipolaren Depression weniger die rein genetische Komponente, sondern vielmehr die Gen-Umwelt-Interaktionen eine wichtige Funktion einnehmen (Alsaker & Dick, 2003; Brakemeier et al., 2008). Des Weiteren ist es bis dato nicht gelungen, ein für die Depression spezifisches neurochemisches Defizit zu bestimmen. Vielmehr scheinen Dysregulationen in mehreren Neurotransmittersystemen bei der Depressionsgenese beteiligt zu sein. Der Klassiker unter den Neurotransmitterwirktheorien ist die Noradrenalin-Serotoninmangelhypothese. Vereinfacht gesagt geht diese Theorie davon aus, dass ein niedriger Noradrenalinspiegel und ein niedriger Serotoninspiegel im synaptischen Spalt zu Depressionen führen. Abgesehen davon gibt es mittlerweile Theorien, welche Dysfunktionen im dopaminergen und GABAergen System sowie in deren Rezeptoren als wesentliche Faktoren bei einer Depressionsentstehung postulieren (Schüle et al., 2007; Brakemeier et al., 2008). Es bleibt daher zu beachten, dass je nach Art der Depression selbst die neurochemischen Ursachen ganz unterschiedlicher Natur sein können. Insbesondere für die Forschung und die Behandlung von Betroffenen ist es daher eminent wichtig, die verschiedenen neurochemischen Ebenen sowie deren Zusammenspiel zu ermitteln (Bauer, 2004; Laux, 2002).

Als weitere biologische Ätiopathogenesefaktoren gelten endokrinologische Veränderungen. Insbesondere das Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-System (HHN-System) nimmt dabei eine entscheidende Funktion ein. Die „Kortikoidrezeptor-Hypothese“ der Depression geht davon aus, dass bei depressiven Patienten die Produktion des Releasing-Hormons Corticoliberin (CRH) im Hypothalamus erhöht ist. Dies äußert sich in einer gesteigerten Aktivität des gesamten HHN-Systems (Birbaumer, 2006; Schandry, 1993). Durch die erhöhte Aktivität der hypothalamischen Zentren kommt es wiederum bei ca. 60% der Erwachsenen mit einer unipolaren Depression zu einem Hyperkortisolismus. Dies bedeutet, dass bei den Betroffenen der morgendliche Cortisolwert stark erhöht und die Cortisolausschüttung auch im weiteren Tagesverlauf ungewöhnlich hoch ist (Ströhle, 2003). Zudem konnte bei einigen Erkrankten eine Dysfunktion des Mineralokortikoid- und des Glukokortikoidrezeptors gefunden werden, welche die negative Rückkopplung des Cortisols beeinträchtigt, wodurch der Cortisolspiegel ebenfalls erhöht ist (Bauer, 2004).

Neben den Regulationsstörungen des HHN-Systems geht eine depressive Erkrankung auch mit hormonellen Störungen auf anderen Achsen einher. So kommt es beispielsweise bei Personen mit einer Depression oftmals zu einer gestörten Balance der Wachstumshormonachse, welche sich u.a. in Störungen der Schlafarchitektur bemerkbar macht (Brakemeier, 2004; Schüle, 2007; Bauer, 2004).

Weiterhin konnte bei etwa 25 bis 30 % der an einer Depression erkrankten Menschen im Erwachsenenalter eine Veränderung im Schilddrüsenhormonsystem nachgewiesen werden. Diese Personen zeigten eine abgeschwächte Thyreotropin-Releasing-Hormon-Antwort (TRH) im Stimulationstest. Dies bedeutet, dass bei diesen Personen die Freisetzung von TRH und Thyreotropin (TSH) reduziert ist, ähnlich einer Hypothyreose (Schilddrüsenunterfunktion). Ein solcher Befund erklärt auch, weshalb Menschen mit einer Hypothyreose Symptome aufweisen (Senkung des Grundumsatzes des Körpers, Müdigkeit und Antriebslosigkeit), die denen einer depressiven Erkrankung ähnlich sind (Brakemeier, 2004; Schüle, 2007).

Weniger gut belegt sind hingegen andere hormonelle Einflüsse: In etlichen Studien fanden sich keine direkten Zusammenhänge zwischen der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse und depressiven Symptomen. Allerdings scheint ein plötzlicher Abfall gonadaler Steroide, wie er in der Postpartalzeit beobachtet werden kann, ein Risikofaktor für die Entstehung depressiver (z.B. postpartale Depression) und psychotischer Symptome zu sein. Auch der Anstieg der Prävalenzraten bei den weiblichen Jugendlichen während und nach der Pubertät steht möglicherweise in Verbindung mit den gonadalen Steroiden. Anhand von präklinischen Studien konnte inzwischen gezeigt werden, dass eine hohe Östrogenkonzentration die serotonerge Neurotransmission fördert und damit protektiv auf den weiblichen Organismus einwirkt (Amin et al., 2005, zitiert nach Schüle et al., 2007). Bei depressiven Männern konnten neben höheren Cortisolwerten insbesondere niedrigere Testosteronwerte gefunden werden (Schweiger et al., 1999, zitiert nach Schüle et al., 2007). Eine antidepressive Wirkung einer Testosteronsubstitutionstherapie konnte nachgewiesen werden (Pope et al., 2003, zitiert nach Schüle et al., 2007). Dies bedeutet, dass die Erhöhung der Testosteronkonzentration bei männlichen Jugendlichen während der Pubertät möglicherweise erklären kann, weshalb in diesem Zeitraum der Anstieg der Inzidenzraten bei männlichen Jugendlichen wesentlich geringer ist als bei weiblichen.

Zu beachten bleibt, dass neben der Depression allerdings zahlreiche weitere psychische sowie physische Erkrankungen mit hormonellen Veränderungen einhergehen, so dass eine hormonelle Veränderung allein noch kein ausreichendes Anzeichen für eine mögliche Depressionsgenese darstellt. Vielmehr ist hierbei eine gründliche Differenzialdiagnostik unabdingbar.

Ebenfalls untersucht werden neuromorphologische Veränderungen bei der Depressionsgenese. Die bedeutsamste Gehirnregion stellt hierbei der Hippocampus dar. Diese Region ist bei der Feedbackregulation des HHN-Systems involviert, beteiligt an Lern- und Gedächtnisprozessen, Ort der Neurogenese und steht in enger Verbindung zu limbischen Strukturen, welche für die Affektregulation von immenser Bedeutung sind. Die „Neurotrophin-Hypothese der Depression“ sowie die „Kaskadentheorie“ von Robert Sapolsky (2000) gehen davon aus, dass ein anhaltender Hyperkortisolismus, wie er bei depressiven Menschen vorzufinden ist, u.a. zu einer Schädigung und verminderter Neurogenese im Bereich des Hippocampus führen (Schüle et al., 2007).

Befunde - basierend auf bildgebenden Verfahren - konnten ebenfalls Hinweise darauf geben, dass es bei unipolaren Störungen zu strukturellen Veränderungen im Bereich des Hippocampus, der Basalganglien, des präfrontalen Kortex, des Kleinhirns sowie der Hypophyse kommt (Metaanalyse von Scherk et al., 2004). Da allerdings auch bei Ersterkrankungen eine Volumenreduktion im Hippocampus der betroffenen Personen gefunden wurde, kann die Frage hinsichtlich der Kausalität zwischen Depression und hirnstrukturellen Veränderungen nicht eindeutig geklärt werden.

Insgesamt konnten inzwischen wichtige Nachweise von biologischen bzw. neurobiologischen Vulnerabilitätsfaktoren erbracht werden. Diese Erkenntnisse liefern plausible Hinweise auf die Entstehung und Aufrechterhaltung affektiver Erkrankungen, werden allerdings alleine genommen dem komplexen Krankheitsbild der Depression nicht gerecht. Da die meisten Untersuchungen in diesem Bereich bisher mit Erwachsenen durchgeführt wurden, ist bisher noch unklar, inwieweit diese neurobiologischen Erkenntnisse auch für die Entstehung einer depressiven Erkrankung im Kindes- und Jugendalter herangezogen werden können.

Psychologische FaktorenAbbildung 5