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JAMES BOND

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COLONEL SUN

von

ROBERT MARKHAM

Ins Deutsche übertragen
von Anika Klüver und Stephanie Pannen

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Titel der Originalausgabe: JAMES BOND – COLONEL SUN

German translation copyright © 2014, by Amigo Grafik GbR.

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Copyright © Ian Fleming Publications Limited 1968
The moral rights of the author have been asserted.
Die Persönlichkeitsrechte des Autors wurden gewahrt.

JAMES BOND and 007 are registered trademarks of Danjaq LLC,
used under license by Ian Fleming Publications Limited. All Rights Reseved.

Print ISBN 978-3-86425-432-1 (September 2014)
E-Book ISBN 978-3-86425-462-8 (September 2014)

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ÜBER DEN AUTOR

Robert Markham war das Pseudonym von Kingsley Amis, dessen Karriere als einer der am meisten respektierten Romanschriftsteller Großbritanniens mit dem Werk Glück für Jim begann, das im Jahr 1954 veröffentlicht wurde. Sein Roman The Old Devils wurde mit dem Booker Prize ausgezeichnet. Er starb im Jahr 1995.

Im Gedenken
an
IAN FLEMING

EINLEITUNG

Ich schrieb dieses Buch, für das ich aus meiner Karriere als ordentlicher Romanschriftsteller ausbrechen musste, weil man mich bat, es zu tun, und weil ich das Projekt unwiderstehlich fand. Als Ian Fleming 1964 viel zu früh verstarb, war man der Meinung, James Bond sei eine so beliebte Figur, dass man ihm nicht einfach erlauben könne, seinem Schöpfer zu folgen. Wen gab es also, der in der Lage wäre, einen angemessenen Nachfolger für den Fleming-Kanon zu schreiben?

Ich war zweifellos eine ebenso gute Wahl wie jeder andere. Mein letzter Roman, der unter meinem eigenen Namen erschienen war, handelte teilweise von Spionage. Wichtiger war jedoch, dass ich 1965 Geheimakte 007. Die Welt des James Bond veröffentlicht hatte, das als unbeschwerter und einfühlsamer Überblick über die bis dahin veröffentlichten dreizehn Bände gedacht war. Einen Großteil davon hatte ich vor Flemings Tod geschrieben, und er hatte alles bis auf drei Kleinigkeiten abgesegnet, die ich berichtigte. Und wie ich schon sagte, ich konnte es kaum abwarten, mich daran zu versuchen.

Die grobe Handlung hatte ich recht schnell entwickelt, allerdings kann ich mich wie bei meinen anderen Romanen nicht daran erinnern, in welcher Reihenfolge die einzelnen Ideen in meinem Kopf auftauchten. Doch die Frage nach dem Schauplatz, dem Wo, das in allen Bond-Abenteuern so wichtig ist, muss ganz am Anfang aufgekommen und eine meiner frühsten Entscheidungen gewesen sein. Er war noch nie auf dem griechischen Festland im Einsatz gewesen, ganz zu schweigen von den Inseln, ebenso wenig wie ich, aber ich hatte einen amerikanischen Freund, der Griechisch sprach und mir bereits versprochen hatte, mir alles von der Akropolis in Athen (und dem Restaurant Dionysos, von dem aus man sie überblicken kann) bis nach Rhodos auf der anderen Seite der Meerenge zwischen Griechenland und der Türkei zu zeigen (einschließlich Tintenfisch und Ouzo am Hafen).

Und das tat er dann auch und noch einiges mehr. Bevor ich mit dem Schreiben anfing, hatte ich schon eine ziemlich genaue Vorstellung, warum Bond nach Griechenland reisen muss. Der bösartige Colonel Sun befindet sich auf einer Insel in der Ägäis. Er wurde von seinen abenteuerlustigen Befehlshabern, den Chinesen, auf eine Mission geschickt, um einen Schlag auszuführen, der sich nicht nur gegen den Westen im Allgemeinen und Griechenland im Besonderen richtet, sondern gegen Russland (also bekommt Bond eine russische Gehilfin). Außerdem ist M dort, allerdings nicht freiwillig – und es gibt einen guten Grund für seine Anwesenheit: Bei einem Blick auf die Landkarte fiel mir auf, dass sein Haus in Windsor Park nur ein paar Kilometer vom Londoner Flughafen entfernt liegt, sodass jeder, der planen würde, ihn zu entführen und außer Landes zu schmuggeln …

Ich musste natürlich zwei Reisen unternehmen, nach Athen und Piräus und vorbei am Kap Sounion zur Kykladengruppe, bestehend aus Kea, Kythnos, Serifos, Sifnos, Paros, Naxos und Ios – zwischen den letzten drei platzierte ich meine erfundene Insel Vrakonisi. Die erste Reise diente der Inspiration, die zweite unternahm ich, um sicherzustellen, dass die Details stimmten, die in jedem Bond-Roman essenziell sind. Es war nicht weiter schwierig, die besten Oliven, die besten Krustentiere und den besten örtlichen Wein zu finden, und mit den Beschreibungen der Sonne, des Meers und der Inseln hätte ich Dutzende von Notizbüchern füllen können. Wir reisten mit einem fünfzehn Meter langen umgebauten Fischerboot namens Altair, dem Zwilling und Namensvetter des Boots im Buch, und über dieses Fahrzeug und diese Erfahrung gab es eine Menge zu erzählen. (Noch mal würde ich mich wohl nicht in diese trügerischen Gewässer wagen.)

Dieses Material besserte ich mit dem Geheimdienstjargon und dem mutmaßlichen organisatorischen Hintergrundwissen auf, das ich durch meine Lektüre von Flemings Romanen und bestimmten sachbezogenen Broschüren aufgesogen hatte. Es gab ein nützliches Themengebiet, mit dem ich mich aus persönlicher Erfahrung bestens auskannte: ein paar der Infanteriewaffen aus dem Zweiten Weltkrieg. Also erschießt der Gute den Bösen in Colonel Sun nicht mit einer zeitgenössischen Waffe, sondern mit einem etwas genaueren Lee-Enfield-Geradezugverschlussgewehr, und die Heldin benutzt eine Thompson-Maschinenpistole, eine Waffe, mit der ich mich wieder näher beschäftigte, als sich herausstellte, dass die echte Altair ein funktionstüchtiges Exemplar in ihrem Ausrüstungsschrank hatte – »in Griechenland kann man nie wissen«, sagte der Kapitän.

Doch der James Bond aus Dr. No und Goldfinger hätte sehr viel mehr technisches Fachwissen benötigt, als ich liefern konnte. Der Amis-Bond greift seinen Feind mit Handgranaten oder einem Jagdmesser an, vertilgt vor einem nächtlichen Angriff Würstchen und Obst und marschiert zu Fuß los, um seinen Feind zu töten. Kein Hovercraft, keine Hubschrauber, keine Raketen, keine doppelten Portionen Beluga-Kaviar, die weiß gekleidete Kellner im Kerzenlicht eines Restaurants servieren. Er hat keine Verwendung für einen Dietrich und einen Sendeempfänger und den ganzen Rest der technischen Spielereien, die ihm die Q-Abteilung bei seiner Abreise mitgibt. Seine eigene Stärke, Entschlossenheit und Erfindungsgabe genügen ihm.

Der Unterschied zum ursprünglichen Bond, dem echten Bond aus den Fleming-Romanen, ist geringer als der zum Bond aus den Filmen, dieser verwegenen, aber unbedeutenden Figur, die vor oder nach der Flucht mit dem Raketenrucksack oder dem tauchfähigen Auto mit eingebautem Raketenwerfer oder dem reaktorbetriebenen Eisberg ganz beiläufig lässige Sprüche reißt. Die bislang aberwitzigste Abweichung ist die zwischen dem Buch Der Spion, der mich liebte (1962), das von einer netten jungen Kanadierin handelt, die gerade ein wenig Pech im Leben hat und von einem anständigen englischen Polizisten namens James Bond vor zwei Schmalspurganoven gerettet wird, und dem Film mit demselben Titel (1977), in dem ein Psychopath versucht, den Dritten Weltkrieg auszulösen, indem er amerikanische und russische U-Boote entführt, und Bond sich enorm ins Zeug legen muss, um ihn aufzuhalten.

Flemings Bond fand jede Menge Zeit, sich ins Zeug zu legen (und zwar wesentlich glaubwürdiger und spannender), während er sich verhielt wie ein glaubhaftes reales menschliches Wesen. Niemand würde in ihm eines der bedeutenden Charakterporträts der englischen Literatur sehen, aber er hat sehr viel mehr Persönlichkeit als die bloße »Silhouette«, die ihn sein Schöpfer abschätzig nannte. Zäh, ja, einfallsreich, zweifellos, aber gleichzeitig durchaus fähig, Empörung, Gewissensbisse, Reue und Zärtlichkeit zu empfinden und einen Beschützerinstinkt gegenüber hilflosen Wesen zu entwickeln, wie zum Beispiel in »Die Hildebrand-Rarität« und Feuerball. Und deswegen sind seine Abenteuer so viel interessanter als die jugendlichen Fantasien des filmischen »James Bond«.

Es erscheint mir angemessen, diese Einleitung im Gedanken an Ian Fleming zu beenden, der ein meisterhafter Schriftsteller spannender Geschichten in der Tradition von Conan Doyle und John Buchan war. Ich persönlich fand es unmöglich, auf würdige Weise in seine Fußstapfen zu treten, aber ich fühle mich geehrt, dass ich die Gelegenheit erhielt, es zu versuchen, und es hat mir sehr viel Spaß gemacht.

Kingsley Amis
London, 1991

INHALT

1. Der Mann mit Sonnenbrille

2. In den Wald

3. Nachwirkungen

4. Grüße aus Paris

5. Nächtliche Beobachtungen

6. Der Schrein der Athene

7. Ein unsicheres Versteck

8. Kriegsrat

9. Die Altair

10. Dracheninsel

11. Tod im Wasser

12. Allgemeine Inkompetenz

13. Das kleine Fenster

14. Der Schlächter von Kapoudzona

15. »Gehen Sie, Mr Bond«

16. Der vorübergehende Kapitän

17. Über Bord

18. Die Klauen des Drachen

19. Die Theorie und Praxis der Folter

20. »Leb wohl, James«

21. Ein Mann aus Moskau

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DER MANN MIT SONNENBRILLE

James Bond stand am mittleren Abschlag des achtzehnten Lochs auf dem neuen Golfplatz in Sunningdale und genoss die ruhige Normalität eines sonnigen englischen Nachmittags Anfang September. Er dachte darüber nach, dass der alte Platz mit seinen dichten Gruppen aus majestätischen Eichen und Kiefern landschaftlich charmant gestaltet war, aber etwas in seiner Natur fühlte sich von der nüchternen Strenge des neuen angesprochen. Hier gab es weniger Bäume, einen offenen Blick auf den Himmel und Flecken aus Heidekraut und schlanken Büschen auf dem sandigen Boden – und, weniger subjektiv betrachtet, eine Reihe von Löchern, die einen wirklich forderten. Bond war einigermaßen zufrieden mit sich, weil er auf der berüchtigten sechsten Bahn lediglich vier Schläge benötigt hatte. Dort sorgte eine leicht erhöhte Scholle in der Bahn schnell dafür, dass der Ball in einem teuflischen Gewirr aus Büschen und sumpfigen Hügeln landete. Er hatte es jedoch geschafft, den Ball zweihundertfünfzig Meter weit genau in die Mitte zu befördern, ein Schlag, der ihm seine gesamte Konzentration abverlangt und (welcher Segen) nicht die geringsten Beschwerden in dem Bereich hervorgerufen hatte, wo sich im vergangenen Sommer Scaramangas Derringerkugel in seinen Bauch gebohrt hatte.

In der Nähe wartete Bonds Gegner, der gleichzeitig auch sein bester Freund war, darauf, dass die vier Spieler vor ihnen zum nächsten Grün weiterzogen. Es handelte sich um Bill Tanner, Ms Stabschef. Nachdem Bond die tiefen Erschöpfungsfalten um Tanners Augen und seine fast schon alarmierende Blässe aufgefallen waren, hatte er den ungewöhnlich ruhigen Morgen im Hauptquartier dazu genutzt, ihn zu einem Ausflug in dieses verschlafene Eckchen von Surrey zu überreden. Zuerst hatten sie im Scott’s in der Coventry Street zu Mittag gegessen. Das Mahl hatte aus einem Dutzend frischer Whitstable-Austern pro Person bestanden, auf die ein kaltes Stück des besten Roastbeefs mit Kartoffelsalat gefolgt war. Begleitet wurde das Ganze von einer gut gekühlten Flasche Rosé d’Anjou. Das war vielleicht nicht der ideale Auftakt für eine Runde Golf und vermutlich sogar ein wenig maßlos. Aber Bond hatte kürzlich gehört, dass die gesamte Nordseite der Straße abgerissen werden sollte, und betrachtete daher jede Mahlzeit, die er in diesen ernsten, aber gemütlich eingerichteten Räumen genoss, als kleinen Sieg über das neue, verhasste London, das voll von eckigen Konstruktionen aus Stahl und Glas, Über- und Unterführungen sowie dem endlosen schrillen Dröhnen der Presslufthammer war.

Der Letzte der vier, der zuständige Caddie, trottete zum nächsten Grün weiter. Tanner ging zu seiner Schlägertasche – da sie sich während des Spiels über ein paar unwichtigere Geheimdienstangelegenheiten unterhalten wollten, trugen sie ihre Schläger selbst – und zog den neuen Ben-Hogan-Driver heraus, den er schon seit Wochen unbedingt ausprobieren wollte. Dann näherte er sich mit der für ihn typischen Bedächtigkeit seinem Ball. Der Einsatz bei diesem Spiel betrug lediglich symbolische fünf Pfund, aber Bill Tanner verfolgte jedes Ziel mit dem Maximum seines Könnens – eine Eigenschaft, die ihn zur besten Nummer zwei in der Branche machte.

Die Sonne brannte unerbittlich vom Himmel. Insekten summten in dem kleinen Gürtel aus Brombeersträuchern, Vogelbeerbäumen und Weißbirkentrieben zu ihrer Linken. Bonds Blick wanderte von der schlanken, konzentrierten Gestalt des Stabschefs zum Grün, das sich etwa vierhundert Meter entfernt befand, dann weiter zu der berühmten alten Eiche am achtzehnten Grün des alten Platzes und schließlich zu der reglosen Reihe geparkter Autos. War das die richtige Art zu leben? – eine anspruchslose Partie Golf mit einem Freund, auf die zu gegebener Zeit eine gemütliche Fahrt zurück nach London folgte (bei der man die M4 mied), und dann ein leichtes Abendessen allein in der Wohnung, ein paar Runden Piquet mit einem anderen Freund – 016 von Station B hatte Urlaub und war für zehn Tage aus Westberlin nach Hause gekommen – und zu guter Letzt um halb zwölf ab ins Bett. Es war zweifellos eine sehr viel vernünftigere und erwachsenere Routine als die Runde Gin und die Beruhigungsmittel, die er noch vor ein paar Jahren gebraucht hatte, vor seiner albtraumhaften Odyssee durch Japan und die UdSSR. Er sollte sich dafür auf die Schulter klopfen, dass er es durch diese schwierige Zeit geschafft hatte. Und dennoch …

Mit dem Geräusch eines hinabsausenden Säbels zischte Bill Tanners Driver durch die stehende, warme Luft, und sein Ball, der für einen Augenblick aus der Realität zu verschwinden schien, tauchte wieder auf und beschrieb einen weiten Bogen. Es war ein wundervoller, hoher Schlag, der so ausgeführt war, dass er den Ball weit genug nach links brachte, um nicht zwischen der Gruppe aus Waldkiefern zu landen, die schon viele vielversprechende Spielstände in letzter Minute ruiniert hatte. So wie die Dinge standen, musste er nur einen Gleichstand erzielen, um zu gewinnen.

»Sieht so aus, als wäre das Ihr Fünfer, so ungern ich es zugebe, Bill.«

»Wurde auch Zeit, dass ich Ihnen mal einen abnehme.«

Als James Bond vortrat, um seinen Schlag zu machen, kam ihm der Gedanke, dass es eine noch schlimmere Sünde als die Todsünde der Langeweile geben mochte. Gleichgültigkeit. Zufriedenheit mit dem Zweitbesten. Weich zu werden, ohne es zu merken.

Der Mann mit der ungewöhnlich großen und dunklen Sonnenbrille, der an den offenen Fenstern der Clublounge vorbei in Richtung des Grüns schlenderte, hatte keine Schwierigkeiten, die große Gestalt zu identifizieren, die sich in diesem Augenblick bereit machte, am achtzehnten Loch abzuschlagen. Er hatte im Laufe der vergangenen Wochen jede Menge Übung darin bekommen, sie zu identifizieren, sogar auf noch größere Entfernungen als diese. Und in diesem Moment schärfte Dringlichkeit seinen Blick.

Falls irgendein Mitglied des Clubs den Fremden mit der Sonnenbrille bemerkt hätte und mit der Frage, ob man ihm helfen könne, auf ihn zugekommen wäre, hätte diese Person die höfliche Antwort erhalten, dass er keine Hilfe benötige. Diese Antwort wäre mit einem nicht ganz britisch klingenden Akzent gegeben worden – nicht unbedingt fremdsprachlich, vielleicht südafrikanisch. Der Fremde hätte erklärt, dass er sich hier mit Mr John Donald treffen wolle, der jeden Moment zu ihm stoßen werde, um mit ihm die Möglichkeiten einer Mitgliedschaft zu besprechen. (Tatsächlich befand sich Mr John Donald derzeit in Paris, wie ein paar sorgsam geführte Telefonate früher an diesem Tag ans Licht gebracht hatten.) Doch niemand sprach den Mann mit der Sonnenbrille an. Keiner der Anwesenden bemerkte ihn auch nur. Das war nicht überraschend, weil eine langwierige, kostspielige Ausbildung dafür gesorgt hatte, dass er sehr gut darin war, nicht bemerkt zu werden.

Der Mann schlenderte über das Grün und schien mit Interesse das beeindruckende Zierblumenbeet mit seinen dichten Reihen aus Fackellilien und früh blühenden Chrysanthemen zu betrachten. Seine Haltung war vollkommen entspannt und sein Gesicht ausdruckslos, während die Augen hinter der Sonnenbrille in Richtung der Blumen schauten. Sein Verstand jedoch lief auf Hochtouren. Die heutige Operation war bereits drei Mal vorbereitet und dann jedes Mal in letzter Sekunde abgebrochen worden. Der Terminplan war so straff, dass eine weitere Verschiebung das gesamte Vorhaben zum Scheitern verurteilen mochte. Das hätte ihn sehr verärgert. Er wollte, dass die Operation durchgeführt werden konnte – nicht aus irgendwelchen ausgefallenen idealistischen oder politischen Gründen. Es ging um seinen beruflichen Stolz. Dieses Unternehmen wäre – sofern alles glatt lief – die unfassbarste und tollkühnste Gesetzesübertretung, von der er je gehört hatte. Mit dem Erfolg eines solchen Projekts in Verbindung gebracht zu werden, würde ihm zweifellos einen Aufstieg bei seinen Arbeitgebern einbringen. Ein Scheitern des Projekts hingegen …

Der Mann mit der Sonnenbrille schlang für einen Augenblick die Arme um seinen Körper, als hätte die herannahende Abenddämmerung eine verirrte kühle Brise mitgebracht, die ihn frösteln ließ. Der Moment verging. Er hatte kein Problem damit, sich wieder zu entspannen. Er dachte leidenschaftslos über die nicht zu leugnende Tatsache nach, dass der Zeitplan, nach dem er arbeitete, sogar noch straffer war als der Terminplan und kaum noch einzuhalten. Sie waren bereits eine halbe Stunde im Verzug. Dieser Bond und sein Begleiter hatten sich viel Zeit gelassen, um sich bei ihrem Mittagessen in dem Restaurant für reiche Aristokraten den Bauch vollzuschlagen. Wenn sie sich nun auch noch bei den Drinks Zeit ließen, die solche Leute um diese Uhrzeit einzunehmen pflegten, würde es sehr unangenehm werden.

Ein beiläufiger Blick zeigte ihm, dass die beiden Engländer ihre Runde dieses kindischen Spiels beendet hatten und sich nun dem Clubhaus näherten. Der Mann mit der Sonnenbrille, dessen Augen hinter den dunklen Gläsern nicht zu erkennen waren, beobachtete sie von der Seite, bis sie unter albernem Gelächter aus seinem Sichtfeld verschwanden. Es hatte keine weitere Verzögerung gegeben. Obwohl er seit einer halben Stunde nicht mehr auf seine Uhr geschaut hatte und es auch jetzt nicht tat, wusste er auf die Minute genau, wie spät es war.

Eine Pause entstand. Abgesehen von ein paar entfernten Stimmen, einem Motor, der auf dem Parkplatz angelassen wurde, und einem Jet irgendwo weit oben am Himmel herrschte Stille. Irgendwo schlug eine Uhr. Der Mann inszenierte eine knappe Geste, wie eine Person, die mit Bedauern beschloss, dass sie wirklich nicht noch länger warten konnte. Dann ging er gemächlich Richtung Eingang. Als er sich der Straße näherte, nahm er seine Sonnenbrille ab und ließ sie vorsichtig in die obere Jacketttasche seines unauffälligen hellgrauen Anzugs gleiten. Seine Augen waren von einem verwaschenen Blau, das auf seltsame Weise zu seinem tiefschwarzen Haar passte. In ihnen lag das kontrollierte Interesse eines Scharfschützen, der nach seinem Gewehr greift.

»Finden Sie, dass ich weich werde, Bill?«, fragte Bond zwanzig Minuten später, als sie an der Bar standen.

Bill Tanner grinste. »Ärgern Sie sich immer noch darüber, dass Sie mit zwei Punkten Abstand gegen mich verloren haben?« (Bond hatte auf dem letzten Grün einen Putt aus nur gut einem Meter Abstand verpatzt.)

»Das meine ich nicht, es ist nur … Also, es fängt schon damit an, dass ich unterbeschäftigt bin. Was habe ich dieses Jahr denn schon gemacht? Eine Reise in die Staaten, um etwas zu erledigen, das sich als eine Art Unhöflichkeitsbesuch herausstellte, und dann dieses elende Fiasko im Juni drüben im Osten.«

Bond war nach Hongkong geschickt worden, um den Transport eines gewissen Chinesen und einer Anzahl ungewöhnlicher Waren auf das kommunistische Festland zu überwachen. Der Mann war kurz vor Bonds Ankunft verschwunden und zwei Tage später in einer Gasse in der Nähe des Hafens gefunden worden. Sein Kopf war fast vollständig vom Körper abgetrennt. Nach drei weiteren Tagen, die hauptsächlich deswegen unvergesslich waren, weil in dieser Zeit ein gewaltiger und anhaltender Taifun tobte, war die Mission abgebrochen und Bond zurückgerufen worden.

»Es war nicht Ihre Schuld, dass unser Kontaktmann vor Ihrer Ankunft krank wurde«, sagte Tanner und verfiel automatisch in den Standardjargon des Secret Service, den sie in der Öffentlichkeit benutzten.

»Nein.« Bond starrte in seinen Gin Tonic. »Aber was mir Sorgen bereitet, ist die Tatsache, dass es mir nicht allzu viel auszumachen schien. Ich war sogar regelrecht erleichtert, dass mir diese Anstrengung erspart blieb. Irgendetwas stimmt nicht mit mir.«

»Aber nicht körperlich. Sie sind in besserer Form als in den letzten paar Jahren.«

Bond schaute sich in dem einfachen Raum mit den bequemen Bänken aus dunkelblauem Leder und den kleinen Gruppen aus Geschäftsleuten um – stillen, anständigen Männern, die sich in ihrem ganzen Leben noch nie gewalttätig oder verräterisch verhalten hatten. Sie waren bewundernswert, aber der Gedanke, zu einem von ihnen zu werden, widerte Bond plötzlich an.

»Ich höre langsam auf, ein tödliches Individuum zu sein«, sagte Bond nachdenklich. »Ich werde zu einem Gewohnheitstier. Seit meiner Rückkehr bin ich an drei von vier Dienstagen hier gewesen, komme immer ungefähr zur gleichen Zeit an, umgebe mich stets mit einem von drei immer gleichen Freunden, verlasse den Platz gegen halb sieben und fahre nach Hause, um dort meinen Abend auf die ewig gleiche Weise zu verbringen. Und ich kann daran nichts Falsches finden. Ein Mann in meiner Branche sollte aber nach einem Zeitplan leben. Das wissen Sie.«

Es stimmte durchaus, dass ein Geheimagent bei einem Auftrag nie in irgendeine Art von Routine verfallen durfte, die es seinen Gegnern ermöglichte, seine Schritte vorherzusehen, aber Bill Tanner sollte die seltsame unbeabsichtigte Bedeutung von Bonds Worten erst später erkennen.

»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen, James. Das trifft doch sicher nicht auf Ihr Leben in England zu«, entgegnete Tanner mit ebenso unbeabsichtigter Ironie.

»Ich dachte eher an das große Ganze. Mein Leben verfällt in eine Art Muster. Ich muss eine Möglichkeit finden, daraus auszubrechen.«

»Meiner Erfahrung nach ereignet sich eine solche Umstrukturierung von ganz allein, sobald die Zeit reif dafür ist. Man muss deswegen nicht selbst etwas unternehmen.«

»Meinen Sie damit etwa das Schicksal oder so etwas?«

Tanner zuckte mit den Schultern. »Nennen Sie es, wie Sie wollen.«

Für einen Augenblick machte sich eine seltsame Stille zwischen den beiden Männern breit. Dann schaute Tanner auf die Uhr, leerte sein Glas und sagte munter: »Nun, ich denke, Sie wollen sicher langsam los.«

Bond wollte gerade zustimmen, doch er hielt sich zurück. »Zum Teufel damit«, sagte er. »Wenn ich mein Leben ein bisschen durcheinanderbringen will, kann ich ebenso gut sofort damit anfangen.«

Er wandte sich an die Bardame. »Noch mal das Gleiche, Dot.«

»Kommen Sie dann nicht zu spät zu Ihrem Treffen mit M?«, fragte Tanner.

»Er wird sich wohl einfach in Geduld üben müssen. Er isst nicht vor Viertel nach acht zu Abend, und momentan reicht mir eine halbe Stunde in seiner Gesellschaft vollkommen.«

»Ich weiß, was Sie meinen«, erwiderte Tanner mitfühlend. »Ich darf ihm im Büro immer noch nicht zu nah kommen. Wir sind dazu übergegangen, die meisten unserer Plaudereien über die Gegensprechanlage abzuhalten, was mir bestens passt. Ich muss nur sagen, dass es nach Regen aussieht, und schon schreit er mich an und verlangt, dass ich aufhöre, um ihn herumzuwuseln wie ein verwirrtes altes Weib.«

Es war eine lebensechte Imitation, und Bond lachte, aber er wurde schnell wieder ernst, als er sagte: »Das ist nur natürlich. Seeleute hassen es, krank zu sein.«

Im vergangenen Winter hatte sich M einen beunruhigenden Husten zugezogen und er weigerte sich standhaft, etwas dagegen zu unternehmen. Er hatte behauptet, dass er schon von allein verschwinden würde, sobald das Wetter wärmer wurde. Doch der Frühling und der Frühsommer hatten mit der Wärme auch Regen und Feuchtigkeit gebracht, und der Husten war nicht verschwunden. An einem Morgen im Juli hatte Miss Moneypenny einen Stapel Telegramme in sein Büro gebracht und ihn halb bewusstlos über seinen Schreibtisch gebeugt vorgefunden. Sein Gesicht war aschfahl gewesen, und er hatte nach Luft gerungen. Sie hatte Bond aus seinem Büro im fünften Stock nach oben gerufen, und auf das nachdrückliche Beharren des medizinischen Offiziers des Hauptquartiers hin hatten sie M halb mit Gewalt in seinen alten Silver Wraith Rolls Royce bugsiert und ihn nach Hause gebracht. Nach drei Wochen Bettruhe unter der hingebungsvollen Pflege des ehemaligen Chief Petty Officer Hammond und seiner Frau hatte sich M weitestgehend von seiner Bronchialanschoppung erholt, auch wenn seine Laune – wie Bond bei seinen regelmäßigen Besuchen hinreichend feststellte – wohl länger brauchen würde, um auszuheilen … Seitdem hatte Bond es sich zur Gewohnheit gemacht, bei seiner wöchentlichen Rückkehr von Sunningdale beim Achterdeck vorbeizuschauen, dem hübschen kleinen Herrenhaus im Regency-Stil am Rande von Windsor Park. Dabei tat er immer so, als wolle er ganz formlos ein wenig über die Angelegenheiten des Secret Service plaudern, doch in Wahrheit ging es ihm darum, Ms Gesundheit im Auge zu behalten und ein paar heimliche Worte mit den Hammonds zu wechseln, um herauszufinden, ob sich der alte Man auch an die Anweisungen des Arztes hielt, viel Ruhe bekam und, was besonders wichtig war, die Finger von seiner Pfeife und seinen täglichen giftigen schwarzen Zigarrenstumpen ließ. Er war auf einen von Ms typischen Wutausbrüchen vorbereitet gewesen, als er ihm den ersten dieser Besuche vorgeschlagen hatte, doch M hatte nur eine umgehende, wenn auch säuerliche Zustimmung gebrummt. Bond vermutete, dass er sich von der Welt abgeschnitten fühlte, da man ihn vorübergehend zu einer Dreitagewoche verdonnert hatte. (Der medizinische Offizier hatte dieses Zugeständnis nur erhalten, weil er damit gedroht hatte, ihn auf eine Kreuzfahrt zu schicken, wenn er nicht einwilligte.)

Nun sagte Bond: »Warum kommen Sie nicht auch mit, Bill? Ich könnte Sie danach mit zurück nach London nehmen.«

Tanner zögerte. »Ich denke nicht, James, aber trotzdem danke. Später wird noch ein recht wichtiger Anruf von Station L ins Büro durchgestellt, den ich gerne persönlich entgegennehmen würde.«

»Wofür gibt es denn den diensthabenden Offizier? Sie arbeiten doch jetzt schon so viel, dass es für zwei Männer reicht.«

»Nun ja … es ist nicht nur das. Ich würde M ohnehin nicht besuchen wollen. Dieses alte Haus ist mir irgendwie unheimlich.«

Eine Viertelstunde später, nachdem er den Stabschef am Bahnhof abgesetzt hatte, lenkte Bond die lange Motorhaube seines Bentley Continental nach links von der A30 hinunter. Vor ihm lag eine angenehme, gemütliche Fahrt von etwa zehn Minuten, die ihn über gewundene Nebenstraßen zum Achterdeck bringen würde.

Der Mann, der Bond zuvor beobachtet hatte, saß in einem gestohlenen Ford Zephyr, der unauffällig in fünfzig Metern Entfernung von der Abzweigung geparkt war. Nun sprach er ein einzelnes Wort in seinen Hitachi-Sendeempfänger. Gut sieben Kilometer entfernt bestätigte ein anderer Mann die Durchsage mit einem einsilbigen Wort, schaltete sein eigenes Gerät ab und stieg mit seinen beiden Begleitern aus dem dichten Walddickicht, in dem sie die vergangenen zwei Stunden gelegen hatten.

Der Fahrer des Zephyr saß eine weitere Minute lang still da. Es lag in seiner Natur, unnötige Bewegung zu vermeiden, selbst in Momenten wie diesem, in denen er so angespannt war, wie er es sich nur gestattete. Der Zeitplan der Operation war nun fünfzig Minuten im Verzug. Eine weitere große Verzögerung würde nicht nur einen Abbruch nach sich ziehen, sondern eine Katastrophe, denn die Phase, die sein Funksignal soeben eingeleitet hatte, war ebenso unumkehrbar wie brutal. Aber es würde keine weitere Verzögerung geben. Momentan kündigte sich keine an. Das verriet ihm seine Ausbildung.

Am Ende der Minute, die er nach sorgfältigen Berechnungen als den optimalen zeitlichen Abstand bestimmt hatte, um dem Bentley zu folgen, legte er den Gang ein und startete den Zephyr, um in Richtung der Abzweigung zu fahren.

Bond überquerte die Grafschaftsgrenze nach Berkshire und fuhr ohne Eile zwischen den hässlichen Ansammlungen moderner Wohnhäuser hindurch – Herrenhäuser in halbherzig nachgeahmtem Tudor-Stil, Bungalows und zweistöckige Kästen mit sinnlos bunten Holzverkleidungen und Ziegeln sowie verrückten Pflastersteinanordnungen vor den Haustüren und den unvermeidbaren Fernsehantennen, die aus jedem Dach emporwuchsen. Sobald er den Ort Silwood hinter sich gelassen und die A329 überquert hatte, lagen diese Anzeichen des Wohlstands hinter ihm, und der Bentley fuhr brummend einen sanft abfallenden Hügel zwischen Kiefernwäldern hinunter. Schon bald zeigten sich weitläufige Ackerböden zu seiner Linken und der künstlich angelegte Wald zu seiner Rechten. Orte wie dieser würden am längsten als Denkmäler dessen Bestand haben, was England einst gewesen war. Als wollte sie seiner Überlegung widersprechen, tauchte vor ihm eine Trident-Maschine von British European Airways auf, die gerade vom Londoner Flughafen abgehoben hatte und voller Touristen war, die ihre Fish-and-Chips-Kultur in die spanischen Urlaubsgebiete, in Portugals schöne Algarve-Region und nun, da sich die Reichweite der Flugrouten ständig vergrößerte, sogar bis nach Marokko trugen. Aber es war ungehobelt, das alles und die steigenden Gehälter, die es möglich machten, zu verdammen. Vergiss es. Konzentriere dich darauf, M aufzumuntern. Und auf die Piquet-Runde heute Abend. Erhöhe die Einsätze und spiele ernsthaft. Oder sag die ganze Sache ab. Ein paar Anrufe und ein Abend zu viert in der Stadt. Brich aus dem Muster aus …

Diese Gedanken wirbelten durch Bonds Kopf, während er fast schon automatisch die zahlreichen kleinen Bewegungen eines guten Autofahrers ausführte, natürlich einschließlich eines gelegentlichen Blicks in den Rückspiegel. Der Zephyr tauchte nicht ein einziges Mal darin auf. Bond hätte ihm auch keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt, wenn es doch der Fall gewesen wäre. Er hatte ihn noch nie zuvor gesehen und hätte ihn selbst dann nicht erkannt, wenn der Fahrer den Wagen auf eine Höhe mit seinem gebracht hätte. Obwohl er seit sechs Wochen unter strenger Beobachtung stand, war Bond nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Wenn er sich nicht auf einem Auftrag im Ausland befindet, rechnet ein Geheimagent nicht damit, beobachtet zu werden. Es ist auch sehr viel einfacher, einen Mann zu beschatten, der einen regelmäßigen Tagesablauf sowie eine feste Wohnung und Arbeitsstelle hat. Daher war es zum Beispiel nicht nötig gewesen, irgendeinen Wachposten in der Nähe von Bonds Wohnung an der King’s Road aufzustellen oder ihm auf seinem Weg zwischen dort und dem Hauptquartier des Secret Service im Regent’s Park zu folgen. Noch wichtiger war, dass die Operation, die ihn betraf, für ihre Planer höchste Priorität hatte. Das bedeutete, dass ihnen ein großzügiges Budget zur Verfügung stand, was wiederum zur Folge hatte, dass eine ungewöhnlich große Anzahl von Agenten angeheuert werden konnte. Und das bedeutete, dass die Beobachter und Beschatter oft ausgetauscht werden konnten, bevor ihre wiederholte Anwesenheit dem fast schon unterbewussten Frühwarnsystem auffallen konnte, das sich im Laufe der vielen Jahre beim Secret Service in Bonds Verstand entwickelt hatte.

Der Bentley glitt über die Windsor-Bagshot Road. Auf der linken Seite erschienen die vertrauten Orientierungspunkte: der Squirrel Pub, die Stallungen des Arabergestüts, die Lurex-Garn-Fabrik (ein häufiges Ziel von Ms Empörung). Und nun tauchte auf der rechten Seite die bescheidene steinerne Einfahrt des Achterdecks auf, zuerst der kurze, gut gepflegte Kiesweg und dann das Haus selbst. Dabei handelte es sich um ein einfaches Rechteck aus Bath Stone, der durch die Verwitterung einen leicht grünlichen Grauton angenommen hatte und in der Abendsonne leuchtete. Teile des Hauses lagen im Schatten der dichten Plantage aus Kiefern, Birken, Weißbirken und jungen Eichen, die auf drei Seiten des Gebäudes wuchsen. Eine uralte Glyzinie wand sich bis zu dem winzigen Balkon im ersten Stock, hinter dem Ms Schlafzimmer lag, und darüber hinaus nach oben. Als er die Autotür zuschlug und auf den niedrigen Säulengang zumarschierte, hatte Bond den Eindruck, dass sich hinter den Glastüren zum Balkon flüchtig etwas bewegte. Das war zweifellos Mrs Hammond, die das Bett machte.

Unter Bonds Hand erklang in der Stille der scharfe Schlag der hängenden Messingglocke, die einst zu einem längst ausrangierten Kriegsschiff gehört hatte. Erneut folgte Stille, die nicht einmal von einem leisen Rascheln des Winds in den Baumwipfeln durchbrochen wurde. Bond stellte sich vor, wie Mrs Hammond noch immer im ersten Stock beschäftigt war und Hammond selbst gerade eine Flasche von Ms algerischem Lieblingswein – dem so treffend benannten »Infuriator« – aus dem Keller holte. Die Eingangstür des Achterdecks war zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang nie verriegelt. Sie gab unter Bonds Berührung sofort nach.

Jedes Haus hat sein eigenes, normalerweise nicht wahrnehmbares Hintergrundgeräusch, das aus fernen Stimmen, Schritten, Küchengeräuschen und all den gedämpften Lauten menschlicher Wesen besteht, die ihren Geschäften nachgehen. James Bond hatte kaum die Schwelle überschritten, als ihn seine gut ausgebildeten Sinne auf die vollkommene Abwesenheit dieser Klangkulisse aufmerksam machten. Plötzlich war er angespannt und schob die massive spanische Mahagonitür zum Arbeitszimmer auf, in dem M normalerweise seine Besucher empfing.

Der leere Raum starrte Bond düster an. Wie immer befand sich alles fein säuberlich an seinem Platz. Die Rahmen der Schiffsgemälde hingen absolut waagerecht, die Aquarellutensilien waren auf dem Maltisch am Fenster ausgebreitet, als würden sie zur Inspektion bereitliegen. Alles wirkte seltsam künstlich und entrückt, als wäre der Raum Teil eines Museums, in dem die Möbel und Gegenstände irgendeiner historischen Persönlichkeit so erhalten und ausgestellt wurden, wie sie zu ihren Lebzeiten in Gebrauch gewesen waren.

Bevor Bond mehr tun konnte, als sich kurz umzuschauen, zu lauschen und sich zu fragen, was los war, wurde die Esszimmertür auf der anderen Seite des Flurs, die einen Spalt offen gestanden hatte, ruckartig aufgestoßen, und ein Mann trat heraus. Er richtete eine langläufige Automatikwaffe auf Bonds Knie und sagte mit klarer Stimme: »Bleiben Sie, wo Sie sind, Bond. Und machen Sie keine plötzlichen Bewegungen. Wenn Sie es doch tun, werde ich Sie sehr schmerzhaft verstümmeln.«

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IN DEN WALD

Im Laufe seiner Karriere war James Bond buchstäblich Dutzende Male auf diese Art und Weise festgehalten und bedroht worden – und oft, genau wie jetzt, von einem völlig Fremden. Der erste Schritt für erfolgreiche Gegenmaßnahmen bestand darin, ein wenig Zeit zu schinden und zu analysieren, welche Informationen umgehend zur Verfügung standen.

Bond schob jegliche Spekulation über das Ziel seines Gegners und die Frage, was mit M und den Hammonds geschehen sein mochte, als nutzlos beiseite. Stattdessen konzentrierte er sich auf die Waffe des Feindes. Er erkannte sofort, dass es sich um eine mit einem Schalldämpfer ausgestattete Luger 9 mm handelte. Die Auswirkung einer Kugel mit diesem Kaliber, die fast dreißig Gramm wog und sich mit Schallgeschwindigkeit bewegte, war enorm. Wenn ihn eine solche Kugel aus der momentanen Entfernung traf, selbst wenn sie nur einen Arm oder ein Bein erwischte, würde er zu Boden geschleudert werden und als Folge des Schocks vermutlich das Bewusstsein verlieren. Wenn sie ihn irgendwo in der Nähe des Knies traf, auf das die Waffe in diesem Augenblick gerichtet war, würde er mit großer Wahrscheinlichkeit nie wieder laufen können. Alles in allem war es die Waffenausrüstung eines Profis.

Der Mann selbst hatte ein dünnes, knochiges Gesicht und einen schmalen Mund. Er trug einen leichten dunkelblauen Anzug und ordentlich polierte Schuhe. Man hätte ihn für einen vielversprechenden angehenden Geschäftsführer in der Werbebranche oder beim Fernsehen halten können, der bei den Frauen Eindruck schinden wollte. An seinem Aussehen fiel Bond besonders auf, dass er so groß wie er selbst, aber schmaler gebaut war. Also würde er sich vielleicht in einem direkten Kampf als angreifbar erweisen, falls sich eine derartige Situation herbeiführen ließ. Was Bond beunruhigte, war die Knappheit und Stärke der Worte, die sein Gegenüber benutzt hatte, sowie der geschäftsmäßige Ton, in dem er sie ausgesprochen hatte. Er war frei von ordinären Drohungen oder Triumph gewesen, und vor allem hatte darin nicht der kleinste Hauch dieser gekünstelten Lässigkeit gelegen, die ihn als Amateur und damit als potenziellen Einbrecher gekennzeichnet hätte. Dies war der Beweis, dass er wusste, wie man die Waffe benutzte, und es auch ohne zu zögern tun würde, wenn er es für ratsam hielt.

Das alles raste innerhalb von etwa drei Sekunden durch Bonds Verstand. Bevor diese Zeit abgelaufen war, hörte er, wie ein Auto in die Einfahrt einbog, und verspürte einen Hauch von Hoffnung. Doch der Mann mit der Luger drehte nicht einmal den Kopf. Der Neuankömmling würde Bonds Chancen zweifellos verschlechtern und nicht verbessern. Nun erklangen schnelle Schritte auf dem Kies, und ein weiterer Mann betrat das Haus durch die Vordertür. Er würdigte Bond, der lediglich einen flüchtigen Eindruck verwaschener blauer Augen erhaschte, kaum eines Blickes. Der Mann strich sein kurzes schwarzes Haar zurück und zog hinter seiner rechten Hüfte eine Waffe hervor, bei der es sich ebenfalls um eine Luger zu handeln schien. Dann schlich er nach draußen, ließ seinen Begleiter zurück und postierte sich am Fuß der Treppe. Seine Bewegungen ließen das Ganze wie eine bestens geplante und einstudierte Übung wirken.

»Raus hier und langsam nach oben«, sagte der erste Mann im gleichen Tonfall wie zuvor.

Es ist an sich schon schwierig, in Gegenwart bewaffneter Feinde aus einem Raum im Erdgeschoss zu entkommen, doch die Situation wird nahezu aussichtslos, wenn sie in ein oberes Stockwerk verlagert wird und es am Treppenabsatz oder im Flur eine Wache gibt.

Bond war sich dessen sofort bewusst, befolgte aber einfach die Anweisung und setzte sich in Bewegung. Nachdem er drei Meter weit gegangen war, wich der Mann mit dem schmalen Gesicht zurück, um den Abstand zwischen ihnen aufrechtzuerhalten. Der zweite Mann stand auf dem Treppenabsatz, hielt die Luger mit festem Griff vor seinem Bauch und zielte auf Bonds Beine. Ja, diese beiden Männer waren zweifellos Profis.

Bond schaute sich in der unpassenden Normalität der Eingangshalle des Achterdecks um – die glänzenden Täfelungen aus Kiefernholz, das Model von Ms letztem Schiff, dem Schlachtkreuzer Repulse, im Maßstab 1:144, Ms altmodischer Ulster, der achtlos über den ebenso altmodischen Kleiderständer geworfen worden war. Diese Sache war wirklich übel. Übel in jeder Hinsicht, vor allem weil er keine Waffe hatte. Britische Agenten tragen in ihrem eigenen Land außerhalb des Dienstes keine Waffen. Übel war auch, dass die Bereitschaft zu verstümmeln, womöglich sogar zu töten, in Friedenszeiten nicht üblich war – es sei denn, es stand etwas schrecklich Wichtiges auf dem Spiel. Und nicht zu wissen, wie dieser wichtige Einsatz aussehen mochte, kam einem unerträglichen Durstgefühl gleich.

James Bonds Füße traten automatisch auf die mit abgenutztem, altem olivgrünem Axminster-Teppich bezogenen Treppenstufen. Die beiden bewaffneten Männer gingen im gleichen sicheren Abstand jeweils vor und hinter ihm. Trotz ihrer eindeutigen Kompetenz waren sie ganz offensichtlich Angestellte, Unteroffiziere, die für jemanden arbeiteten. Der befehlshabende Offizier dieser Operation, worum auch immer es dabei gehen mochte, würde sich zweifellos jeden Moment zu erkennen geben.

»Rein da.«

Dieses Mal hatte der zweite Mann gesprochen. Der andere wartete auf der Treppe. Bond überquerte die Schwelle zu Ms Schlafzimmer, diesem hohen, luftigen Raum mit den Brokatvorhängen, die von den geschlossenen Balkontüren zurückgezogen worden waren, und stand plötzlich M persönlich gegenüber.

Ein entsetztes Keuchen entrang sich Bonds Kehle.

M saß auf einem Chippendale-Stuhl mit hoher Lehne neben seinem eigenen Bett. Seine Schultern waren zusammengesackt, als wäre er um zehn Jahre gealtert, und seine Hände hingen schlaff zwischen seinen Knien. Nach einem Moment schaute er langsam auf und seine Augen richteten sich auf Bond. In seinem Blick lag kein Erkennen, er war vollkommen ausdruckslos. Die übliche eisige Klarheit war aus seinen Augen verschwunden. Aus seinem offenen Mund drang ein seltsamer Laut, vielleicht eine Äußerung der Verwunderung oder eine Frage oder eine Warnung, vielleicht auch alles gleichzeitig.

Adrenalin wird von den Nebennieren produziert, zwei kleinen Ausbuchtungen, die sich an der Oberseite der Nieren befinden. Wegen der Umstände, die seine Ausschüttung in den Blutkreislauf und seine Auswirkungen auf den Körper bedingen, wird es manchmal auch als Droge der Furcht, des Kampfes und der Flucht bezeichnet. Bei Ms Anblick verfielen Bonds Nebennieren in ihre ursprüngliche Aufgabe, pumpten ihr Hormon in seinen Blutstrom und beschleunigten damit seine Atmung, um sein Blut mit Sauerstoff anzureichern. Außerdem beschleunigten sie seinen Herzschlag, um die Blutversorgung der Muskeln zu verbessern, verschlossen die kleineren Blutgefäße in der Nähe der Haut, um den Blutverlust im Fall einer Verletzung so gering wie möglich zu halten, und sorgten sogar dafür, dass sich die Haare auf seiner Kopfhaut minimal aufrichteten, was ein Überbleibsel aus der Zeit war, in der die primitiven Vorfahren der Menschen für ihre Feinde bedrohlicher ausgesehen hatten, indem sie ihre haarigen Körper aufgerichtet und sich aufgeplustert hatten. Und während Bond noch immer entsetzt auf M starrte, wurde er plötzlich aus unerfindlichen Gründen, womöglich durch das Adrenalin selbst, von einem seltsamen Hochgefühl erfüllt. Er wusste sofort, dass er nicht weich geworden war, dass er im Ernstfall noch immer dieselbe effiziente Kampfmaschine war wie eh und je.

Eine Stimme sprach. Es war eine neutrale Stimme mit einem neutralen Akzent, und sie benutzte den gleichen praktischen, emotionslosen Tonfall wie die vorherigen Stimmen. Sie sagte streng, aber ohne Eile: »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Bond. Ihrem Vorgesetzten wurde kein Leid angetan. Er wurde lediglich unter Drogen gesetzt, um ihn gefügig zu machen. Sobald die Wirkung nachlässt, wird er wieder ganz er selbst sein. Sie werden jetzt eine Injektion mit der gleichen Droge erhalten. Wenn Sie sich wehren, hat mein Kollege hier Anweisung, Ihnen ins Knie zu schießen. Wie Sie wissen, würde Sie das umgehend vollkommen hilflos machen. Die Injektion ist schmerzlos. Halten Sie die Füße still und lassen Sie Ihre Hose herunter.«

Der Sprecher war ein bulliger Mann Mitte vierzig. Er war blass, hatte eine Hakennase, fast keine Haare mehr und wirkte auf den ersten Blick genauso unauffällig wie seine Untergebenen. Ein zweiter Blick hätte allerdings gezeigt, dass mit seinen Augen etwas nicht stimmte, oder besser gesagt mit den Augenlidern, die eine Nummer zu groß zu sein schienen. Ihr Besitzer war sich dieser Tatsache eindeutig bewusst, denn er hob und senkte sie unablässig, während er sprach. Anstatt affektiert zu wirken, hatte diese Angewohnheit etwas seltsam Verstörendes an sich. Wenn Bonds Verstand für derartige Überlegungen offen gewesen wäre, hätte ihn dieser Anblick vielleicht an einen Mann der deutschen Agentengruppe »Schwarzer Stein« aus John Buchans Spionageroman Die neununddreißig Stufen erinnert. Dieser Mann konnte seine Augen wie ein Falke bedecken und hatte in Bonds Jugend seine Tagträume heimgesucht. Doch Bonds Gedanken rasten in eine praktischere Richtung.

Er hatte sich vollkommen unbewusst die Positionen seiner Feinde eingeprägt: Ein bewaffneter Mann stand ihm gegenüber, ein weiterer befand sich irgendwo auf dem Absatz oder der Treppe und bewachte die Tür, und der Mann, der gesprochen hatte, stand mit dem Rücken zu ihm an den Glastüren, die auf den Balkon hinausführten. Ein vierter Mann, irgendein Arzt, der körperlich eher schwächlich wirkte und daher zu vernachlässigen war, stand mit einer Spritze in der Hand am Fußende des Betts. So viel dazu. Nun verlangten zwei Probleme nach einer Lösung, und Bond wusste, dass sie entscheidend waren, ohne den Grund dafür zu verstehen: Wo lag der Trugschluss in dem, was der Mann an den Balkontüren gerade gesagt hatte? Und was war die winzige, unwichtige Tatsache in Bezug auf diese Glastüren, die keinem der vier Männer bewusst war und die Bond sehr wohl kannte, sodass er sie nutzen konnte? Wenn er sich nur daran erinnern könnte.

»Bewegung.«

Die Augenlider schlossen sich gebieterisch und öffneten sich dann wieder. Die Stimme war kein bisschen lauter geworden.

Bond wartete.

»Sie werden dadurch nichts erreichen. Sie haben fünf Sekunden, um meiner Anweisung Folge zu leisten. Sollten Sie es nach Ablauf dieser Frist nicht tun, werden Sie kampfunfähig gemacht und erhalten die Injektion, sobald es uns passt.«

Bond verschwendete seine Aufmerksamkeit nicht auf die verstreichenden Sekunden. Bevor die Zeit abgelaufen war, hatte er die Lösung für das erste seiner beiden Probleme gefunden. Er hatte festgestellt, dass in dem Vorhaben, das man ihm erläutert hatte, ein Widerspruch lag. Es war sinnlos, einem bereits hilflosen Mann eine Injektion zu verabreichen, die ihn hilflos machen sollte. Warum verstümmelten sie ihn also nicht direkt, was in Anbetracht der Umstände schneller gehen und kein Risiko beinhalten würde, und vergaßen die Sache mit der Injektion, die sich bereits als mühselig erwiesen hatte? Sie wollten ihn also nicht nur hilflos haben, sondern hilflos und unverletzt. Die Chancen, dass die Drohung mit der Schusswaffe nur ein Bluff war, standen gut. Wenn das nicht der Fall war, wenn es noch einen zusätzlichen Faktor gab, den Bond nicht bemerkt hatte, würde die Strafe dafür schrecklich sein. Doch es gab keine Alternative.

Die Stimme hatte mit dem Zählen aufgehört, und Bond hatte sich nicht bewegt. In der Stille gab M einen weiteren leisen unverständlichen Laut von sich. Dann …

»Ergreift ihn.«

Bonds Arme wurden von hinten gepackt und auf seinen Rücken verdreht – er hatte nicht gehört, wie der Mann mit dem schmalen Gesicht den Raum betreten und sich ihm genähert hatte. Bevor der Nelson-Griff vollständig ausgeführt war, hatte Bond mit den Fersen nach hinten ausgetreten und etwas getroffen. Einen Arm konnte er befreien. Doch er wurde sofort von dem zweiten Mann geschnappt.

Bei dem darauffolgenden Gerangel herrschten trotz der Tatsache, dass nun zwei gegen einen kämpften, fast ausgeglichene Bedingungen, denn Bond schöpfte Kraft aus dem Wissen, dass er mit seiner Vermutung richtiggelegen und damit den ersten Punkt gewonnen hatte. Hinzu kam noch die erfreuliche Wiedererlangung des Vertrauens in seine Kampffähigkeiten. Und er hatte Möglichkeiten, sie zu verletzen, die ihnen nicht erlaubt waren. Doch er musste sich einem Mann stellen, dessen Körperbau seinem ähnelte, und einem weiteren, der zwar schmaler war, aber ein Talent dafür besaß, die schmerzhaftesten Nervengriffe anzuwenden. Zu allem Überfluss hatte er jedes Mal, wenn Bond sich aus einem losgerissen hatte, schon den nächsten parat.

Ein Ellbogenstoß, der seine Leistengegend knapp verfehlte, ließ Bonds Oberkörper nach vorne sacken. Bevor er sich erholen konnte, hatten sich zehn Finger, die sich wie Stahlbolzen anfühlten, in die Nervenknoten an seinem Halsansatz gebohrt. Seine Oberarmmuskeln schienen sich in dünne Ströme aus kaltem Schlamm zu verwandeln. Wieder versuchte er, seine Ferse nach oben zu bringen, doch dieses Mal wurden seine Beine von vorne gepackt und festgehalten. Ein Zerren, ein Hieven und Bond landete unsanft auf dem Fußboden. Er lag mit dem Gesicht nach unten da, während einer der Männer auf seinen Schultern kniete und der andere den unteren Bereich seines Körpers bewegungsunfähig machte. Er verhielt sich ganz ruhig, wehrte sich nicht unnötig und dachte über die Balkontüren nach, falls er sie je erreichen konnte, die Balkontüren …

»Die Spritze.«