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Über das Buch

Wir sehen Filme. Wir reden über Filme. Mitunter erinnern wir uns dann. Erinnern uns an das erste Mal und an die letzten Worte beim Abschied. An einen bestimmten Sommertag, an ein Gefühl, an die Atmosphäre. War es in München, in Berlin oder anderswo? Bilder entstehen. Ein neuer, eigener Film läuft ab. Der Konsument wird zum Produzent.

Frank Göhres Textcollage »Du fährst nach Hamburg, ich schwör’s dir« erinnert an Filme, deren großes Thema die Stadt ist, oder besser, das Porträt eines Stadtviertels: Hamburg St. Pauli in den 50er, 60er und 70er Jahren. Drei stilistisch sehr unterschiedliche Regisseure – Francesco Rosi (»Lucky Luciano«), Jürgen Roland (»Davidwache«) und Klaus Lemke (»Rocker«) – realisierten hier ihre Geschichten von Gastarbeitern, Gaunern und anderen Ausgegrenzten. Zugleich aber erzählen sie von der Entwicklung der organisierten Kriminalität. Von der »rechten Hand« des berühmt-berüchtigten Mafioso Lucky Luciano bis hin zur Etablierung der »Hell’s Angels« spannt sich der Bogen dieses ersten Teils eines »Heimatfilms«.

Zutage befördert wird dabei neben einer neuen Sicht auf die Filme ein Stück spannender Stadtgeschichte, angereichert mit einigen Spielfilmszenen und den Rock-Hits jener Jahre.

Der zweite Teil (Herbst 2014) beinhaltet die Filme von Roland Klick, Hark Bohm und Vadim Glowna.

Über den Autor

Frank Göhre, Jahrgang 1943, arbeitete als Buchhändler, Bibliothekar, Verlagsangestellter und Hörfunkautor. Er lebt in Hamburg und schrieb neben Romanen (www.pendragon.de) u. a. die Drehbücher zu den Kinofilmen »Abwärts«, »Die Ratte« und das mit dem Deutschen Drehbuchpreis ausgezeichnete Drehbuch »St. Pauli Nacht« (Regie: Sönke Wortmann). Göhre ist Mitarbeiter bei CULTurMAG (www.culturmag.de).

Frank Göhre

Du fährst nach Hamburg,
ich schwör’s dir

Ein Heimatfilm

CulturBooks Verlag

www.culturbooks.de

Rosi_Auf_Pauli_Teufel
Roland_Die_Engel
Lemke_rocker

Klaus Lemke

Du fährst nach Hamburg,
ich schwör’s dir

EINS Sie kommen aus ihren Höhlen, aus stillgelegter Kanalisation. Sie kommen auf uns zu. Sie tragen Leder und zerschlissene Jeans, Felljacken und Stiefel. Ihre Haare sind schulterlang und ihre Bärte sind struppig. Es sind zwei, vielleicht drei Dutzend Jungs und auch einige Bräute. Sie rauchen und sie trinken Bier aus der Flasche. Sie kicken ihre schweren, chromblitzenden Maschinen an, ihre heißen Öfen. Sie sind ein wilder Haufen, eine eingeschworene Gang. Sie brettern los: Auf dem Highway to – Santa Fu.

 

Rocker. Ein Film von Klaus Lemke. BRD 1971/72.

 

Im Verlauf der 85 Filmminuten hören wir die Rolling Stones mit Sister Morphine, Santana mit Jingo, Van Morrison and Them mit It’s all over now, Baby Blue, Elvis mit King Creole und Led Zeppelin mit Rock ’n’ Roll.

 

Es begann Ende der 60er Jahre. Sie war schon aus dem dritten Internat geworfen worden und verzichtete jetzt endgültig auf das Abi. Mit ihrer Clique stromerte sie über den Kiez. In Blankenese wohnte sie mit zwei schwulen Kunststudenten in einer Art WG zusammen. Durch sie entstand eine Verbindung zur Hochschule für bildende Künste und: »... da kommt also dieser ältere Herr [der zu der Zeit 28-jährige Filmkritiker Uwe Nettelbeck] und möchte mich doch tatsächlich zum Film bringen. Dachte ich: wie niedlich! Deshalb habe ich teenagerhaft rotzig erst mal Nein gesagt!« Aber: »Zwei Tage später ging es los. Spätnachts sind wir in München angekommen – und ich bin nicht mehr zurück nach Hamburg.«

 

Der Münchner Jungregisseur Klaus Lemke hing in einem Laden auf der Türkenstraße ab, flipperte nächtelang und drehte mit seinen Kumpel Filme über das, was er sonst noch so alles liebte, mit wenig und auch mit mehr Geld. Als er das Mädchen aus Hamburg kennenlernte, hatte er schon an der Cote d’Azur und in Acapulco gedreht. Sie verknallten sich ineinander, und er setzte sie neben Margarethe von Trotta als Darstellerin in seinem ersten ARD-Fernsehfilm ein.

 

»Brandstifter war ein politischer Film, wie ihn Klaus in dieser Konsequenz nie wieder gemacht hat. Es ist bemerkenswert, dass er eine reale Geschichte genommen hat, den Kaufhausbrand in Frankfurt. Als ich den Film 20 Jahre später wieder angeschaut habe, fand ich: Das ist doch Pop-Art. Absolut Pop-Art, was Klaus da gemacht hat, ob das die Musik betrifft oder die Erzählstruktur. Ich habe ja auch nur mich gespielt und es war für mich selbst ganz schön ungeheuerlich, mich plötzlich als 18-jähriges leise lispelndes Mädchen wiederzusehen. Ein Mädchen, das eineinhalb Jahre lang Molotowcocktails gebaut hat und losgezogen ist, das aus einem Instinkt heraus gesagt hat: Das ist das Richtige, da muss ich hin ...«

 

... und die ihn dann auch in ihrem damaligen schläfrig-lässigen Hamburgisch auf das Ding mit den nun wirklich coolen Typen da oben im Norden gebracht hat.

 

Er sagt: »... in den Ohren gelegen, vorgeschwärmt hat.« Ständig gestichelt soll sie haben, die Iris. Die Iris Berben. Doch wie auch immer. Mit Beginn der 70er Jahre ist er dann in Hamburg.

 

Nachdem er mit der Agnelli-Tochter Ira von Fürstenberg noch einen sauteuren Film in Eastmancolor gedreht hat, weitgehend finanziert vom damaligen Lover der Jetset-Ikone: »Ich hab ne Villa gehabt. Ich hab nen eigenen Jet gehabt. Als ich mit der Ira von Fürstenberg zusammen war, hatte ich wirklich einen eigenen Jet und eine Suite im Negresco an der Baie des Anges, der Strandpromenade von Nizza. Und wenn sie sich die Fingernägel feilen wollte, dann flogen wir nach London und hatten eine Suite im Dorchester. Ich hab mit der Bardot zu Abend gegessen. Wir haben mit ihr gezockt. Mit Richard Burton hab ich bei einer Bambi-Verleihung aus einer Flasche getrunken, Andy Warhol im Yachthafen die Hand geschüttelt. Ich hab in einer High Society gelebt, wie es sich kein Deutscher damals leisten konnte. Das war also die ganz große, weite Welt, aber diese große, weite Welt führte zu absolut schlechten Filmen ...«

 

... und das sollte nicht mehr sein. Von daher: Hamburg also. Ein Neubeginn: »Mit der aufkommenden Sonne, den Vogelstimmen im Elbgartendunst, dem Ticken in den noch leer stehenden Ampeln, dem Schlagen der Stechuhr, den Gesichtern der ersten Schicht kommen auch Hubschrauber auf ... Aufschwung über den Fluss, das Steilufer hoch über Emkendorfstraße und Övelgönne, Dichterstuben und Kapitänsquartiere, Parkbäume mit Pirol, Schatten für Golf, Geldhäuserhochzeiten ganz in Weiß in Reedergärten bis oben nach Falkenstein ... zieh den Kreis um die Stadt mal eng, einmal sind wir schon rum.«

 

Er hat kein Drehbuch und braucht auch keins mehr. Er sieht und hört sich in der Stadt um und findet die Geschichte sozusagen auf der Straße. Die Geschichte vom großen und vom kleinen Bruder und die Geschichte vom Rocker, der für den kleinen Bruder zum neuen großen Bruder wird.

 

»... eine Schleife über Dammtor und dem Harley Shop da, und Planten un Blomen bis Knast, schöner Abend mit Sonne im Mai, Schichtwechsel bei den Schließern vom Holstenglacis und auch in Santa Fu, der Strafvollzugsanstalt Fuhlsbüttel, tschüs dann, die Pflicht ist getan.«

 

Der Rocker Gerd wird aus der Haft entlassen:
»... das heißt, Sie sind bedingt entlassen worden. Ein Teil der Strafe ist zur Bewährung ausgesetzt worden. Man hat Ihnen also eine Chance eingeräumt und es liegt nun an Ihnen, diese Chance zu nutzen. Ihre Aufgabe wird es nunmehr sein, sich dieses Vertrauens, was Ihnen von Seiten des Vollstreckungsleiters entgegengebracht worden ist, würdig zu erweisen. Wunder werden von Ihnen in keiner Weise erwartet, sondern Sie sollen sich nur so verhalten, wie es – ja, man kann wohl sagen – für 95% aller Ihres Alters eine Selbstverständlichkeit ist. Für die nächsten zwei Jahre ... oder waren es drei?

»Zwei oder drei Jahre.«

»Ja, entweder oder. Ich weiß es nicht ganz genau. Sie müssen doch den Beschluss gelesen haben. Waren es zwei oder drei Jahre?« »Zwei oder drei Jahre.«

 

In den 50ern nannte man sie »die Halbstarken«: »Sie wollten nicht älter sein, und sie wollten nicht jünger sein. Aber so wie sie waren, abends am Platz, an den Zaun gelehnt, so wollten sie schon gar nicht sein. Die Kofferradios liefen nicht, hastig nahmen sie die aufgewärmten Batterien vom Herd, tagelang das Kuvert vom Jugendamt auf der Küchenwaage, es gab noch eine Ladung Kohlen aus dem Keller zu holen, dann waren sie draußen. Die Nachtstationen spielten immer neue Lieder, während der Alte mit hängenden Trägern über der Hose ins Schlafzimmer schob, dort spielte sich nichts mehr ab. Vom Qualm gekränktes Gespenst! Es kehrte nicht zurück, es blieb ihnen vom Hals, als sie um die Ecke zogen, wo sich die Mädchen trafen und ewig herschielten ...«

 

Der auf Bewährung entlassene Rocker Gerd hört, dass seine Freundin jetzt so richtig solide im Kaufhof arbeitet. Er fährt hin:

»Gehst du mit einem anderen?«

»Du glaubst doch, ich hab immer nur Typen im Kopf.«

»Klar, was sonst.«

»Ach, Gerd, nerv nicht.«

»Also du hast keinen Bock mehr auf mich.«

»Na, du kapierst mal schnell wieder.«

»Pass auf, dass ich dir keine rein hau’, Torte.«

»Ach, hör auf mit dem starken Mann.«

»Ich hau dir eine rein, Torte. Du kriegst gleich einen in die Fresse.«

»Das wird so langweilig.«

»Was wird langweilig?«

»Immer dasselbe.«

»Du flachst mich nicht an. Ich schwör’s dir, ich hau dir eine rein.«

 

»Ich habe die Hamburger Rocker kennengelernt«, erzählt Klaus Lemke, »und ein Deutsch kennengelernt, das mir das Herz gebrochen hat, das so gut war, wie das Englisch von Mick Jagger, was endlich die Realität, in der man lebte, auch wirklich fasste.«

 

»Sag mir doch mal, was wir falsch gemacht haben«, will der Rocker Gerd von Sonja wissen.

»Ach, gar nichts hast du falsch gemacht.«

»Ich tu alles für dich, das weißt du ganz genau, Sonja. Ich kauf mir ’nen Ofen. Wie hauen ab aus Hamburg, weg vom Leder.«

 

»Wir lebten in einem für ›Sozialschwache‹ gebauten Mietblock«, schreibt eine damalige Rockerbraut. »Mein Bruder hatte einige Freunde, die sich Rocker nannten, gefunden. In der Woche trafen wir uns fast täglich am Wandsbeker Markt.«

 

»Das Parkeck war der Treffpunkt der Rocker aus Barmbek und Winterhude«, weiß ein Ehemaliger. »Im Schanzenviertel war es das Frankenstein. Vor dem Wagenrad