[1]Sozioökonomische Perspektiven

[2][3]Gerda Bohmann, Johanna Hofbauer, Johann August Schülein (Hg.)

Sozioökonomische Perspektiven

Texte zum Verhältnis von Gesellschaft und Ökonomie

[5]Inhalt

Zur Einführung

Sozioökonomie: Ein schwieriges interdisziplinäres, aber notwendiges wissenschaftliches Projekt

1 Sozioökonomie: Multidisizplinäre Perspektiven

Gertraude Mikl-Horke

Geld oder Leben. Reflexionen über Wirtschaft und Gesellschaft in Zeiten der Finanzmarktdominanz

Peter Berger

Normalzustand Wirtschaftskrise. Zur Geschichte eines notwendigen Übels

Reinhard Pirker

Die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie und ihre Wirkungsgeschichte

2 Sozioökonomische Entwicklung: Themen und Theorien

Otto Brunner

Das „ganze Haus“ und die alteuropäische Ökonomik

Daniel R. Fusfeld

Die ersten Anfänge der Wirtschaftstheorie und -politik

Max Weber

Okzidentale Rationalität und die Anfänge des Kapitalismus

Johanna Hofbauer

Fleiß, Arbeitsamkeit, Betriebsamkeit – Zur Herausbildung moderner Arbeitstugenden

Andrea Komlosy

Die „Dritte Welt“ in der „Einen Welt“. Geschichte der Nord-Süd-Beziehungen

[6]3 Strukturprobleme und Steuerungsfragen moderner kapitalistischer Gesellschaften

Gerda Bohmann

Kapitalistische Wirtschaft, Marktgesellschaft und der Wohlfahrtsstaat

Otto Penz

Strukturwandel der Arbeit. Vom Fordismus zum Postfordismus

August Österle

Pflege und Pflegepolitik in Europa zwischen Familie, Staat und Markt

Karl-Michael Brunner

Sozialstrukturelle Dimensionen zukunftsfähiger Entwicklung. Ein soziologischer Beitrag zur Nachhaltigkeitsforschung

Johann August Schülein

„… die im Dunkeln sieht man nicht.“ Bedingungen und Funktionsweise von Wirtschaftskriminalität

Die AutorInnen

[7]Zur Einführung

Sozioökonomie: Ein schwieriges interdisziplinäres, aber notwendiges wissenschaftliches Projekt

Die Probleme, die die Welt bewegen, halten sich nicht an die Grenzen akademischer Disziplinen. Wer Themen wie Armut und Reichtum, Ökologie und Nachhaltigkeit, politische Ideologien oder kulturellen und wirtschaftlichen Wandel behandelt, kann kaum Rücksicht darauf nehmen, dass es unterschiedliche Fächer wie Soziologie und Ökonomie gibt, die meist in verschiedenen Departments angesiedelt sind und meist wenig Gemeinsamkeiten haben. Denn diese Themen haben – wie alle wichtigen gesellschaftlichen Themen – soziale und ökonomische Grundlagen. Sie können daher nicht angemessen erfasst werden, wenn nicht ihre soziale wie historische Genese, ihre Formatierung und Dynamik im Zusammenspiel mit ökonomischen Bedingungen und Prozessen gesehen werden.

Dieses Verständnis ist inzwischen in öffentlichen Diskussionen fast eine Selbstverständlichkeit. Jeder vernünftige Zeitungskommentar berücksichtigt soziale und ökonomische Aspekte relevanter Themen. Nur die Wissenschaften hinken noch etwas hinterher. Obwohl die klassische Ökonomie in ihren Anfängen als Gesellschaftslehre verstanden wurde und die frühe Soziologie ganz selbstverständlich auch ökonomische Fragestellungen behandelt hat, existieren Soziologie und Ökonomie seit ihrer institutionellen Trennung als eigenständige Wissenschaften in einer je eigenen Subkultur mit starker Binnenorientierung und geringen Kontakten untereinander. Angesichts der Diskrepanz zwischen der sachlich notwendigen Integration verschiedener Sichtweisen zum Verständnis heterogener Problemlagen und der strengen Arbeitsteilung der Fächer stellt sich daher die Frage, wieso eine so naheliegende und so notwendige Kooperation bei allen Annäherungsversuchen kaum bis gar nicht stattfindet. Sprachlich ist es ja kein großes Problem, Ökonomie und Sozialwissenschaften zusammen zu bringen – man verwendet einfach eine Begriffskombination und schon hat man mit „Sozioökonomie“ ein neues Paradigma kreiert. Ganz so einfach geht es in der Wissenschaftspraxis leider nicht. Dass die unterschiedlichen Disziplinen so strikt getrennt sind, ohne sich um andere zu kümmern, ist kein Zufall, sondern hat wissenschaftshistorische wie systematische Gründe, zumal es das Projekt einer „Sozioökonomik“ oder „Sozialökonomie“ vor etwa 100 Jahren (v.a. im Rahmen der „Österreichischen Schule“) schon einmal gegeben hat.

Warum ist dieses Projekt nicht weiterentwickelt worden? Auf der Suche nach Ursachen fällt sofort auf, dass es schon lange „die“ Soziologie ebenso wenig gibt wie „die“ Ökonomie. Das gilt im Übrigen auch für andere Human- und Sozialwissenschaften:[8] Überall stellt sich bei näherem Hinsehen heraus, dass es keinen Konsens darüber gibt, was die Grundlagen des Fachs sind. Und das, obwohl nun schon einige Generationen von ernsthaften und engagierten Wissenschaftlern an der Begründung der Fächer gearbeitet haben. Dabei hat sich das Verständnis der Begründungsprobleme vertieft, aber ein akzeptierter Konsens ist nicht zustande gekommen. In manchen sozialwissenschaftlichen Fächern findet man daher auch ein auf den ersten Blick ungeordnetes und zufälliges Nebeneinander von heterogenen Subparadigmen, die sich bekämpfen. Was es immer wieder gegeben hat und gibt sind das jeweilige Fach beherrschende Diskurse; Diskurse also, die für sich in Anspruch nahmen oder nehmen, die allein richtige und alles umfassende Definition des Faches zu bieten und diesen Anspruch fachintern (temporär) durchsetzen können. Aber diese Vorherrschaft wurde und wird immer wieder auch heftig kritisiert – von außen, aber auch von innen. Wo die Vorherrschaft bestimmter Diskurse nicht total (bzw. totalitär) ist, entstehen alternative Sichtweisen, die zum Teil grundsätzlich verschiedene Vorstellungen propagieren. Aber auch das herrschende Verständnis entpuppt sich bei näherem Hinsehen oft als in sich widersprüchlich, so dass es ständig zu interner Kritik, zu Weiterentwicklungen, zu unterschiedlichen Interpretationen kommt.

Selbst scheinbar geschlossene Human- und Sozialwissenschaften stehen daher fast immer unter externem und internem Druck, weil sie viel weniger geschlossen sind, als sie erscheinen, weil sie aus strukturellen Gründen defizitär bleiben und weil sie sich häufig nur über Dogmatisierungen stabilisieren können. Dass unter diesen Umständen eine Kooperation mit anderen Wissenschaften schwierig ist, liegt auf der Hand. Das nahezu kommunikationslose Nebeneinander von Fächern, die thematisch eine breite Schnittmenge haben, hängt daher zumindest zum Teil mit der internen Heterogenität der Fächer und/oder deren Unterdrückung durch die Dominanz eines Subparadigmas zusammen. Man kann davon ausgehen, dass sich keine Wissenschaft einen solchen Zustand aussucht. Es muss also systematische Gründe dafür geben. Zu diesen systematischen Gründen gehören wesentlich die Problemlagen, mit denen diese Fächer beim Versuch, ihren Gegenstand zu erfassen, konfrontiert sind, sowie die institutionellen Folgen, die daraus resultieren.

Wissenschaften versuchen objektiv begründbares Wissen (im Gegensatz zu Glaubenssätzen und Meinungen) über ihren Gegenstand zu gewinnen. Dies funktioniert – in Abhängigkeit von der Logik ihres Gegenstandes – nicht immer auf die gleiche Weise. Man kann in diesem Zusammenhang analytisch (nicht empirisch) unterscheiden zwischen nomologischen und autopoietischen Sachverhalten. Nomologische Sachverhalte sind innerhalb definierbarer Grenzen immer und überall gleich, verändern sich nicht und werden daher auch durch den Forschungsprozess nicht beeinflusst. Sie können daher beliebig behandelt und manipuliert werden,[9] ohne dass sich ihre Logik ändert. Sie können zudem analytisch zergliedert und rekombiniert werden, weil sich dadurch weder die dadurch gewonnenen Partikel noch deren Beziehungen verändern. Unter diesen Umständen kann Forschung Teilaspekte isolieren, auch mit brachialen Methoden und vor allem wiederholt behandeln – das Ergebnis ist immer gleich und kann im Lauf des Bearbeitungsprozesses immer eindeutiger herausgearbeitet und isoliert werden.

Die Ergebnisse der Forschung lassen sich in diesem Fall kontextfrei ausdrücken. Das Fallgesetz beispielsweise gilt (bzw. variiert schwerkraftabhängig) innerhalb der Newton-Physik immer und überall auf die gleiche Weise und muss deshalb keine Angaben über Ort, Zeit und beteiligte Akteure enthalten. Zur Darstellung kann daher auch eine nomothetische Form benutzt werden – eine geschlossene Kunstsprache, die eindeutig definierte Zeichen im Rahmen einer festgelegten Grammatik und Semantik verwendet. Theorien als Formulierung von Erkenntnis sind dann (beispielsweise mathematische) Algorithmen, die zu eindeutigen Ergebnissen führen und die keine Interpretationsspielräume enthalten. Mit ihrer Hilfe lassen sich auch verlässliche Vorhersagen über die Zukunft treffen. Dieser Typ von Theorie ist von vielen Wissenschaftstheoretikern zum Ideal von jeder Wissenschaft ernannt worden. Tatsächlich ist er jedoch an die Voraussetzung gebunden, dass das Thema auch wirklich nomologisch geordnet ist. Dies ist jedoch bei weitem nicht überall gegeben. Bereits in der praktischen Physik – etwa der Erforschung von Wetter und Klima – kommen unberechenbare und unvorhersehbare Faktoren ins Spiel. Dadurch entwickelt das natürliche Geschehen eine Eigendynamik, die die Möglichkeiten rein nomothetischer Darstellung sprengt. Weil und wo die Logik des Geschehens von Wechselwirkungen, Veränderungen und Entwicklungen mitbestimmt wird, müssen Theorien selektive Vorab-Annahmen treffen und mit „Näherungslösungen“ und Interpretationen von Quasi-Algorithmen arbeiten. Die Bedeutung aktiver Entscheidungen im Umgang mit Realität und Forschungsinstrumenten nimmt zu, die Prognosemöglichkeiten nehmen ab.

Dies ist noch ausgeprägter der Fall, wenn der Gegenstand, der behandelt wird, sich autopoietisch entwickelt. Mit diesem Begriff wird in der neueren Literatur ein Realitätstyp beschrieben, der aus dem Zusammenspiel von heterogenen Teilprozessen besteht, die im Fluss der Ereignisse erst hergestellt werden. Dies ist ein zentrales Merkmal aller sozialen und ökonomischen Prozesse. Es gibt so etwas wie Normen, Rollen, Literatur, aber auch Waren und Märkte nur, wenn sie erzeugt und am Leben erhalten werden. Sie existieren nur als Resultate des Zusammenspiels von heterogenen Faktoren und Teilprozessen; als Moment in einem ständig weiterlaufenden Prozess von Erhaltung und Veränderung. Dieser Erzeugungsprozess ist weder im Verlauf noch im Ergebnis eindeutig. Er ermöglicht potenziell Alternativen, sein Resultat ist unter Umständen eine Einheit von Gegensätzen. Auf jeden Fall ergeben sich ständig neue Formen und Abweichungen. Autopoietische[10] Realität ist daher immer verschieden. Jeder Einzelfall ist anders, jede Entwicklung bringt neue und ein Stück weit unvorhersehbare Weiterentwicklungen hervor.

Diese Eigenschaften ihres Gegenstands stellen Human- und Sozialwissenschaften vor besondere Probleme. Methodisch kann autopoietische Realität nicht als solche „erfasst“ werden, weil durch jeden Eingriff etwas Neues entsteht, das sonst nicht entstanden wäre. Jede Methode hat daher konstitutive und selektive Eingriffe in den autopoietischen Prozess zur Folge. Experimente sind daher nur begrenzt möglich und ihre Aussagekraft ist beschränkt. Prinzipiell sind Methoden und ihre Ergebnisse hier unsicher; genauer: Je sicherer sie sind, desto weniger relevant sind sie. Auch Theorien haben keinen festen Halt. Ihr Gegenstand ist in Bewegung, vielgestaltig, widersprüchlich, ändert sich. Theorien müssen deshalb imstande sein, die unterschiedlichen Einzelfälle, ihre gemeinsame Logik und ihre Differenzen erfassen zu können. Dazu sind fixe Algorithmen nur begrenzt nützlich.

Daher müssen Theorien hier mit offenen Konzepten arbeiten, mit Begriffen (oder mit Max Weber: „Idealtypen“), die ihren Gegenstand fokussieren, aber nicht definitiv festlegen. „Armut“, „Nachhaltigkeit“, „Ideologie“ oder „Wandel“ sind daher Begriffe, die die Möglichkeit bieten, einen Sachverhalt zu erfassen, aber der Sachverhalt bestimmt, was der Begriff dazu leisten muss. Das heißt aber auch, dass sie angewendet werden müssen, um produktiv zu werden – die Theorie enthält Erklärungsmöglichkeiten und -strategien, aber noch nicht die Erklärungen selbst. Diese Anwendung kann – kontextabhängig – unterschiedlich ausfallen, ein und dieselbe Theorie führt nicht zwangsläufig zu gleichen Ergebnissen.

Zudem gibt es Theorien meist im Plural, weil die Komplexität des Gegenstandes nicht in einem Paradigma allein abgebildet werden kann – nicht eine Theorie der Familie, nicht eine Theorie der Firma, sondern verschiedene. Diese Theorien erscheinen daher meist im Plural, als multiparadigmatisches Feld. Für ein traditionelles Theorieverständnis ist dies ein unerträglicher Zustand. Daher gibt es eine ausgeprägte Tendenz, so zu tun, als handle es sich um einen nomologischen Sachverhalt oder ihn so zu manipulieren, dass er wie einer behandelt werden kann. Das bringt einen doppelten Vorteil mit sich: Man entledigt sich der belastenden Vielfalt von Optionen und gewinnt (Schein-)Sicherheit. Aber: Ganz abgesehen davon, dass der Ertrag problematisch ist, gehen solche Einengungen stets einher mit einem Verlust an Flexibilität und Kontaktfähigkeit.

Anders gesagt: Die Reflexion autopoietischer Prozesse steht vor der Wahl chronischer Instabilität ihrer Praxis und ihrer Ergebnisse, oder sie zieht sich auf die Themenaspekte und Verfahren zurück, die Sicherheit bieten, aber dafür an Beweglichkeit und damit ein Stück weit den Kontakt zu ihrem Thema verlieren. In beiden Fällen ist Forschung belastet von Balanceproblemen, was dazu führen kann, dass sie mehr mit sich selbst als mit den tatsächlichen Erfordernissen ihres Gegenstandes beschäftigt ist. Unter diesen Vorzeichen fungieren die Fachgrenzen[11] als Mittel der Stabilisierung; das autistische Nebeneinander unterschiedlicher Fächer ist eine Form der Bewältigung von Belastungen durch Kontaktvermeidung. Daher ist es auch nicht einfach ein Zeichen von Versäumnis oder Unfähigkeit, wenn die unterschiedlichen Fächer nicht kooperieren – es handelt sich um die institutionellen Auswirkungen einer (noch) nicht bewältigten Komplexität der eigenen Praxis und der Versuche, sie durch problematische Vereinfachungen in den Griff zu bekommen.

Soweit in aller Kürze der Versuch, zu erklären, warum Sozialwissenschaften, Ökonomie, Geschichtswissenschaft usw. sich schwer tun mit Kooperation und warum Sozioökonomie als Projekt es so schwer hat, sich in und zwischen den Fächern zu etablieren. Das ist jedoch kein Schicksal. Auch Erkenntnis und deren Institutionalisierung in Form von Wissenschaften sind ein autopoietischer Prozess, also keineswegs schicksalshaft festgelegt und abgeschlossen. Und auch der Ist-Zustand des isolierten Nebeneinanders ist das Produkt einer Entwicklung, die in gewisser Weise unvermeidlich war, aber die weiter geht und neue Chancen bietet. Diese Entwicklung hängt zusammen mit dem Modus der Emanzipation institutionalisierter Reflexion von den Restriktionen gesellschaftlich vorherrschender Glaubenssysteme und des Alltagsbewusstseins. Die ersten Schritte dieser Entwicklung sind dabei weitgehend undifferenziert – Natur und Kosmos, Kultur und Gesellschaft werden mit den gleichen Mitteln bearbeitet und in einem einheitlichen System interpretiert, wobei Normativität und Interpretation nur schwach unterschieden werden. Auf dieser Basis entstand in der frühen Neuzeit eine Proto-Sozialwissenschaft in Form der bürgerlichen Sozialphilosophie, die (zum Beispiel bei Hobbes und seinen Nachfolgern) zunächst noch nicht unterschied zwischen Anthropologie, Soziologie, Ökonomie, Psychologie. Erst mit der Entstehung des Industriekapitalismus und der „Modernisierung“ der Gesellschaft begannen die einzelnen Wissenschaften sich auseinander zu entwickeln. Ein Stück weit gingen dabei Sozialwissenschaften und Ökonomie noch gemeinsam: die Schottische Moralphilosophie, die Politische Ökonomie, aber auch viele der Begründer der Soziologie (von Marx bis zu Weber und Sombart) hielten an der engen Verbindung von beiden fest.

Liest man diese Texte heute, so werden Vor- und Nachteile dieser Kopplung deutlich: Auf der einen Seite bestechen sie durch ihre Reichweite und die Fähigkeit, Unterschiedliches zusammen zu denken, auf der anderen Seite tun sie dies mit noch unterentwickelten Methoden und theoretischen Modellen. Ein Grund für das Auseinanderbrechen dieser Symbiose war daher die Notwendigkeit von methodischer und theoretischer Weiterentwicklung. Die gleichzeitige Thematisierung von zusammenhängenden, aber verschiedenen Sachverhalten behinderte die Ausarbeitung von Methoden und Konzepten, die auf spezifische Sachverhalte hin spezialisiert sind. Durch die Auflösung des an sich sinnvollen Verbunds[12] entstanden die Freiheitsgrade, die Soziologie, Ökonomie, Historik, Psychologie usw. brauchten, um ihre Perspektiven zu professionalisieren. Dies ist inzwischen geschehen, aber mit dem Effekt, dass – bedingt durch die skizzierten Balanceprobleme – die Kontakte und vor allem auch die Kontaktfähigkeit zu anderen Perspektiven verloren gegangen sind. Stattdessen leben die verschiedenen Fächer nebeneinander und behandeln externe Themen lieber mit ihren (oft limitierten oder gar unpassenden) Eigenmitteln, statt sich dort Kompetenzen zu holen, wo sie vorhanden sind.

Höchste Zeit also für einen nächsten Schritt: das Aneinander-Heranführen der unterschiedlichen Perspektiven und Paradigmen auf dem inzwischen erreichten Niveau der Professionalisierung. Dem steht allerdings entgegen, dass die Organisation von Wissenschaft in Form von themenspezifischen Zünften nicht nur eine Strategie zur Bewältigung der thematischen Komplexität mit den skizzierten Folgeproblemen, sondern zugleich auch der herrschende Modus der Verteilung von Status und Ressourcen ist. Voraussetzung für einen Schritt über den Status Quo hinaus ist daher nicht nur eine reflexive Auseinandersetzung mit dem Ist-Zustand von paradigmatischer Monokratie und/oder Multiparadigmatik mit dem Ziel, sie weiter zu entwickeln in Richtung auf eine stabile Strategie, die sowohl die Identität des eigenen Fachs (des eigenen Paradigmas, der eigenen Perspektive) erhält als auch die anderer respektiert und nutzen kann. Dazu gehört auch die Kunst, Aufmerksamkeit und Mittel für Projekte zu gewinnen, die nicht einfach zuzurechnen sind – und der Mut, in der Mitte der Straße zu gehen, wo man, wie ein altes Sprichwort sagt, von beiden Seiten mit Steinen beworfen werden kann, weil man in keiner der Zünfte mehr ohne weiteres als „dazugehörig“ verstanden wird.

Kurz: Sozioökonomie ist ein sinnvolles und notwendiges Projekt, das mit methodischen und theoretischen sowie mit institutionellen Risiken verbunden ist. Aber es lohnt sich und kann dazu beitragen, den gegenwärtigen Zustand zu überwinden. Das wäre für die beteiligten Wissenschaften, aber auch für die Adressaten ihrer Erkenntnisse – für alle, die besser verstehen wollen, wie Ökonomie und Gesellschaft interferieren – ein wichtiger Schritt. Dieser Schritt wird hier in unterschiedlicher Form unternommen. Im ersten Teil geht es um einige prinzipielle Anmerkungen zur gegenwärtigen Situation.

Der zweite Teil enthält einige Texte, die sich mit der historischen Genese des gegenwärtigen Zustands von Wirtschaft und Gesellschaft beschäftigen.

Der dritte Teil diskutiert unterschiedliche Strukturprobleme und Steuerungsfragen moderner kapitalistischer Gesellschaften.

Die Texte behandeln durchgängig Schnittmengen von Ökonomie und Gesellschaft und versuchen, ökonomische Sichtweisen mit sozialwissenschaftlichen zu verbinden. Sie sind als Einführung in Problembereiche gedacht und bieten eine Übersicht zur jeweiligen Thematik. Wir hoffen, dass sie dazu anregen, weiter darüber nachzudenken und das wichtige Projekt einer transdisziplinären Sozioökonomie voran zu bringen.

Gerda Bohmann

Johanna Hofbauer

Johann August Schülein