Klaus Struck

SPORTSTADTMORD

Tatort Steilshoop

Ein Hamburg-Krimi

Für alle engagierten Ausbilder
– lasst euch nicht unterkriegen
.

„Wir beschließen etwas,

stellen das dann in den Raum und warten ab, was passiert.

Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände,

weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde,

dann machen wir weiter Schritt für Schritt,

bis es kein Zurück mehr gibt.“

Jean-Claude Junker über Europapolitik

(SPIEGEL 52/1999, 27.12.1999)

Die Handlung des vorliegenden Romans ist frei erfunden. Die Figuren und Firmen, mit Ausnahme der Personen der Zeitgeschichte, sind ebenfalls erfunden. Orte, Plätze und Gebäude sind der Realität entnommen, jedoch in eine erfundene Handlung eingefügt. Sofern Personen der Zeitgeschichte in diesem Buch wie Romanfiguren handeln, ist auch das erfunden. Eventuelle Namensübereinstimmungen mit lebenden Personen sind reiner Zufall.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Sonntagsarbeit

Lagebesprechung Mordkommission Hamburg,
Dienstagmorgen

Lagebesprechung mit Nachwehen

Lagebesprechung – Tag 4 nach Regens Tod

Lagebesprechung Mordkommission Hamburg,
Donnerstagmorgen

Einladung mit Überraschung

Lagebesprechung beim Chef

Lagebesprechung Mordkommission Hamburg,
Donnerstagsmorgen

Lagebesprechung, eine Stunde verspätet

Gegenbesuch

Die Ereignisse überschlagen sich

Die Büchse der Pandora wird geöffnet, die Katze aus dem Sack gelassen

Außerordentliche Lagebesprechung Mordkommission Hamburg

Lagebesprechung Mordkommission Hamburg,
Mittwochmorgen

Lagebesprechung, Tag 14 nach Regens Tod

Lagebesprechung mit neuen Wendungen

Hauptverhandlung – Teil 1

Hauptverhandlung – Teil 2

Hauptverhandlung – Teil 3

Gewinner und Verlierer

Neue Leben

Prolog

Das ganze Chaos begann mit Schmierereien an den Wänden des Übergangs von Gebäude A1 zu Gebäude B2. Jemand hatte den alten Merkspruch zu den Donauflüssen an die Wand geschrieben: Iller, Lech, Isar, Inn fließen nach der Do… hin. Altmühl, Naab und Regen, kommen ihr entgegen. Für ‚Donau‘ stand nur ein ‚Do‘ und einige Punkte, ‚Regen‘ war unterstrichen.

Eine Woche später spielte jemand im Partyraum, der sich im ersten Stock gegenüber der Kantine befand, bei offenem Fenster und voll aufgedrehter Musikanlage in einer Endlosschleife den 80er Jahre Politsong von Joseph Bouys Wir wollen Sonne statt Reagen. Immer wieder von vorn. Es dauerte über eine halbe Stunde, bis man die Musik abstellen konnte. Die Tür zu dem Raum war verschlossen und der Schlüssel nicht auffindbar. Erst der Hausmeister mit dem Generalschlüssel konnte helfen. Der dritte Vorfall bescherte der Bildungsstätte wieder beschmierte Wände. Diesmal ein Gedicht: Der Regen hält noch immer an! So klagt der arme Bauersmann; doch eher stimm’ ich nicht mit ein, es regne denn in meinen Wein.

Bis zu diesem Zeitpunkt reagierte man auf die Vorfälle vonseiten der Institutsleitung nur intern: Rundmails, Krisensitzung mit den Abteilungsleitern, verstärkter Wachdienst, Androhung von Strafanzeige. Dann kam jedoch heraus, dass unter den Bewohnern des Wohnheimes mindestens zwei Personen in letzter Zeit mit K.o.-Tropfen oder Ähnlichem betäubt und dann irgendwo im Gelände, bei strömendem Regen, völlig durchnässt und verwirrt aufgefunden worden waren. Man beauftragte den Hausjuristen mit der Einleitung von strafrechtlichen Maßnahmen und Kontakten zur Polizei. Alles sollte jedoch unauffällig geschehen, da man befürchtete, dass die Vorfälle Auswirkungen auf den Ruf der Bildungsstätte hätten. Die Mehrzahl der Umschüler wurde von der Arbeitsagentur, den Berufsgenossenschaften oder anderen Institutionen mit entsprechender Förderung an das Umschulungs- und Weiterbildungsinstitut vermittelt. Von diesen Zuweisungen hing der wirtschaftliche Erfolg, die weitere Existenz des Unternehmens ab. Die Konkurrenz war groß. Deshalb musste alles unternommen werden, damit diese Vorfälle nicht an die Öffentlichkeit gelangten.

Die Ereignisse beeinträchtigten jedoch die Zusammenarbeit aller in der Fortbildungsstätte. Besonders das lockere Verhältnis der Dozenten zu den Teilnehmern litt, denn eines war klar: Es konnte nur ein Insider für die Taten verantwortlich sein. Alle fragten sich: Wer steckt hinter diesen Aktionen und was sollen sie bezwecken? War es ein Einzeltäter oder war eine Gruppe dafür verantwortlich?

Als eine Woche nichts passierte, hoffte man, dass alles überstanden sei, doch das war ein großer Irrtum. Am Sonntagmorgen, ca. 6.30 Uhr, die Sonne war noch nicht vollständig aufgegangen, fand man den Abteilungsleiter Integrationsmanagement in einer Blutlache unterhalb der Penthouse-Wohnung auf den Gehwegplatten liegen. An den Wänden der umstehenden Gebäude war mehrfach Weine nicht, wenn der Regen fällt gesprüht. An einer Stelle stand noch: Es gibt einen, der zu dir hält.

Sonntagsarbeit

Gemäß Schichtplan hätte Heinz Schrenk, Hauptkommissar der Hamburger Mordkommission ein verlängertes Wochenende, also von Freitag bis Montag frei. Vier Tage vorher bedrängte ihn sein Kollege Benno Krieger jedoch mit der Bitte, den Dienst mit ihm zu tauschen. Das schien diesem äußerst wichtig zu sein, denn er bot als Belohnung seine Dauerkarte für die nächsten zwei Heimspiele des FC St. Pauli an. Heinz Schrenk sagte schließlich zu, denn er mochte seinen Kollegen. Er hatte sowieso nichts Besonderes vor, und wenn er Glück hätte, würde es ja auch ein ruhiger Sonntag ohne größere Vorfälle werden.

Wie so oft im Leben kam es anders, als man dachte. Schon Sonntagmorgen um 7 Uhr klingelte Schrenks Handy. Es gab einen dringenden Einsatz. „Ein Toter in einem Internat“, sagte man ihm am Telefon. Die Spurensicherung sei schon unterwegs. Seine Frau verfluchte zum tausendsten Mal seinen Beruf, trank mit ihm aber im Nachthemd in der Küche eine Tasse Kaffee. Zum Abschied gab er ihr noch schnell einen Routinekuss und zog los, ohne etwas gegessen zu habe. Sie legte sich wieder ins Bett, obwohl sie wusste, dass sie nicht wieder einschlafen würde.

Die Fahrt zum Stadtteil Steilshoop dauerte heute nur halb so lang wie an Wochentagen. Nach genau 18 Minuten, gemessen nach dem Verlassen der Tiefgarage in der Geibelstraße, in der er standesgemäß eine Genossenschaftswohnung der Vereinigten Hamburger Wohnungsbaugenossenschaft e.G. bewohnte – der Genossenschaft, die sich aus dem von Polizisten gegründeten Bauverein Hamm-Geest e. G. und dem Wilhelmsburger Spar- und Bauverein e.G. gebildet hatte – erreichte er die Auffahrt zum Gelände der Aus- und Weiterbildungsstätte AUSBILDUNG FÜR ALLE– Berufliche Fort- und Weiterbildung GmbH, im Volksmund kurz AFA genannt. Verblüfft war er über die vielen Leute, die um diese Zeit bereits an den von der Spurensicherung gespannten Absperrbändern neugierig herumstanden.

Obwohl Hamburg als Großstadt im kriminaltechnischen Dienst über 300 Mitarbeiter beschäftigte, kannte man sich. So gelangte er, ohne aufgehalten zu werden, bis an den Fundort des Mannes, der offensichtlich aus einem der vier Stockwerke gestürzt war. Von Weitem hatte er bereits entdeckt, dass heute sein alter Kumpel Dr. Bernhard Sütters die KTU-Arbeit leitete.

„Hast du auch kein Zuhause?“, begrüßte der ihn, worauf Schrenk antwortete: „Von wegen, ich hätte eigentlich sogar ein verlängertes freies Wochenende, hab’ aber mit Krieger getauscht – na ja, was tut man nicht alles für die Kollegen.“

„Zum Glück klappt das mit dem Diensttausch zwischen uns wenigstens noch ohne großen bürokratischen Aufwand“, erwiderte Sütters. „Wenn das nicht mehr geht, na dann – gute Nacht.“

„Na, Bernd, was hast du bisher, Selbstmord?“ Schrenk wollte sich nicht länger als unbedingt nötig hier aufhalten.

„Ich bin doch kein Hellseher, aber auf jeden Fall hat sich jemand an dem Mann zu schaffen gemacht, bevor wir hier waren.“ Dabei zeigte er auf den Toten, der wie aufgebahrt auf dem Rücken lag, die Arme am Körper angelegt. „Guck dir mal die Schuhe an, hast du so was schon mal gesehen?“

Schrenk glaubte seinen Augen nicht zu trauen, der Tote hatte die Schuhe verkehrt herum an, den linken Schuh am rechten Fuß und umgekehrt. Er schüttelte nur den Kopf und murmelte vor sich hin: „Das kann ja lustig werden.“

„Weiß man schon, wer das ist?“

„Ja, das ist ein Dozent und Abteilungsleiter von hier, er heißt Jens Regen. Was der hier am heiligen Sonntag zu suchen hatte, weiß ich aber noch nicht. Gefunden hat ihn der junge Mann dort drüben, der mit den langen Haaren. Von dem haben wir auch die Informationen.“ Sütters zeigte auf einen rauchenden Mann um die 40 in Jogginganzug.

„Na, dann werde ich den mal interviewen“, antwortete Schrenk und ging zu dem rauchenden vermeintlichen Jogger.

„Guten Morgen, ich bin Hauptkommissar Heinz Schrenk und leite die Ermittlungen. Sie haben den Herrn gefunden und uns angerufen? Vielen Dank. Darf ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen?“

„Ja sicher“, antwortete der Raucher.

„Bitte erzählen Sie mir in allen Einzelheiten, wodurch Sie auf den Toten aufmerksam geworden sind, wie Sie ihn gefunden haben und was Sie alles danach unternahmen. Wenn’s geht, immer mit den Uhrzeiten.“

„Was soll ich sagen, ich bin wie immer zum Sonnenaufgang so gegen 6 Uhr aufgestanden und hab’ meine Übungen gemacht, dabei hörte ich einen dumpfen Laut, der um diese Zeit absolut unnormal ist. Ich bin dem Geräusch nachgegangen und hab’ den Typen hier liegen sehen. Dann hab’ ich gleich die 112 angerufen.“ Der Raucher sagte alles wie auswendig gelernt und schaute dabei auf die Gehwegplatten.

„Haben Sie nicht geprüft, ob er noch lebt? Haben Sie nicht versucht, mit ihm zu sprechen? Hat er irgendwie gestöhnt oder sich noch bewegt? Hat er wirklich so da gelegen?“

„Der hat sich nicht bewegt, sah für mich absolut tot aus mit dem vielen Blut um den Kopf herum. Deshalb hab’ ich auch gleich telefoniert.“

„War da noch jemand bei dem Toten, vor Ihnen?“ Schrenk war mit den Antworten nicht zufrieden.

„Keine Ahnung, ich hab’ keinen gesehen.“

„Also, Sie haben um 6 Uhr den dumpfen Knall gehört und sind dem Geräusch gleich nachgegangen, richtig?“

„Ja, ich wohne da drüben im Internat, im 3. Stock.“ Er zeigte mit dem ausgestreckten Arm auf ein schräg versetzt stehendes, etwa 20m entferntes Gebäude.

„Die Meldung, also Ihr Anruf, ging bei uns um 6.42 Uhr ein. Sie haben also 40 Minuten gebraucht, bis Sie uns angerufen haben. Das nennen Sie gleich? Bitte erzählen Sie mir jede Einzelheit. Haben Sie sich erst noch angezogen? Haben Sie Ihre Übungen, welcher Art auch immer, noch fertig gemacht? Sind Sie noch jemandem im Treppenhaus begegnet? Alles kann wichtig sein!“

Der Mann schnippte die Glut der Zigarette weg und steckte den Rest der Kippe in aller Ruhe wieder in die Schachtel. Dann drehte er sich zu Schrenk um und sprach plötzlich aufgeregt und übertrieben laut: „Was halten Sie sich mit solchen Nebensächlichkeiten auf, wollen Sie denn den Sachverhalt nicht sehen? Da hat es irgendwie eine Auseinandersetzung zwischen dem Regen und jemand anderem in der Penthouse-Wohnung da oben gegeben und der oder die Anderen haben den Regen runtergeworfen. Wahrscheinlich haben sie ihn oben schon k.o. gehauen. Sehen Sie sich so schnell wie möglich in der Wohnung um, bevor man die Spuren beseitigt hat. Mehr habe ich nicht zu sagen. Ihre Kollegen haben ja meinen Namen und Sie wissen, wo ich wohne. Jetzt muss ich meinen Rundgang machen.“ Damit drehte er sich um und ging schnellen Schrittes in Richtung seiner Wohnung.

Schrenk war so überrascht, dass er erst reagierte, als der Typ ihm schon den Rücken zugedreht hatte. „Halten Sie sich zu unserer Verfügung und verlassen Sie nicht das Gelände, wir kommen nachher noch einmal auf Sie zu.“

Er ging noch einmal zu Sütters, der inzwischen alles um den Toten herum dokumentiert und seine Leute herbeigewunken hatte, um die Leiche in die Gerichtsmedizin schaffen zu lassen.

„Hast du noch etwas Besonderes festgestellt? Schussverletzung, Messerstiche oder so? Ist er durch den Aufschlag gestorben oder war er vorher schon tot?“ Schrenk wusste genau, dass er hierauf zum jetzigen Zeitpunkt keine eindeutige Antwort bekommen würde. Wäre dem Kollegen, der für einen Rechtsmediziner ungewöhnlich gesprächig war, etwas aufgefallen, hätte er es Schrenk bereits mitgeteilt. „Er war höchstwahrscheinlich beim Sturz nicht bei Bewusstsein, denn normalerweise verkrampft man bei einem Sturz und schützt unbewusst den Kopf. Hier ist der Kopf jedoch wie eine herabgefallene Melone aufgeplatzt, was auf einen entspannten Körper hindeutet.“ Er hob den Kopf des Toten leicht an und zeigte auf einen langen Riss am Hinterkopf.

„Also wurde er heruntergeworfen“, murmelte Schrenk vor sich hin. Er überlegte kurz, was noch zu tun war, zog dann sein Handy heraus und drückte eine Kurzwahltaste, hinter der sich die Nummer seines neuen Kollegen René Meiersson verbarg. Es war ihm zwar unangenehm, diesen aus der verdienten Wochenendruhe zu holen, aber hier brauchte er unbedingt Verstärkung.

Meiersson benötigte genau eine Stunde, bevor er am Tatort eintraf. Er tat zwar, als wäre er total sauer und schlecht gelaunt, aber alle seine Kollegen wussten, dass er mit ganzem Herzen bei der Polizeiarbeit war und sich sein derzeitiges Leben um nichts anderes drehte. Trotzdem begrüßte er Schrenk mit den Worten: „Das zahl’ ich dir irgendwann heim! Bin ich denn der einzige Depp, der immer wieder am heiligen Sonntag Dienst schieben muss? Wir sind doch noch ein paar mehr Leute, warum immer ausgerechnet ich?“

„Weil du nun einmal der Zuverlässigste bist“, schmeichelte Schrenk ihm. „Aber ehrlich, ich glaube, das wird hier ’ne ganz heiße Kiste, Rätsel über Rätsel. Diesmal brauchen wir eine absolut saubere Polizeiarbeit. Sieh dir als Erstes die Penthouse-Wohnung an. Ich war schon oben. Wahrscheinlich wurde der Tote schon dort fertiggemacht und anschließend über die Brüstung geworfen. Aber mach dir selbst ein Bild. Außerdem brauchen wir alle Mitarbeiter dieses Instituts und alle Umschüler zum Verhör, besonders die, die hier im Internat wohnen. Vom Dauerdienst bekommen wir noch zwei Leute zur Unterstützung. Räumlichkeiten müssen noch organisiert werden. Die Geschäftsleitung in Person der dort drüben stehenden Dame ist auch schon so früh hergekommen. Sie heißt Cordula Günther. Die werde ich jetzt erst einmal befragen.“

„Weißt du, welche Kollegen noch zur Verstärkung kommen?“, wollte Meiersson wissen.

„Nein, aber zeige denen gleich, wer hier das Sagen hat.“ Schrenk wusste aus langjähriger Erfahrung, wie wichtig es war, eine klare Linie zu zeigen. René, der aufgrund seiner Größe – in seinem Pass stand zwar 1,70m, er war aber definitiv kleiner – und seiner schmächtigen Figur eher wie ein Schülerlotse wirkte, wusste, was Schrenk damit meinte. Damit ließ er seinen Kollegen stehen und ging zu der attraktiven Dame, die sich schon durch ihren wasserstoffblonden Pagenhaarschnitt, den körperbetonten Jogginganzug, die halbgeöffnete Softshelljacke und das auffallende Dekolleté von den anderen abhob. Sie diskutierte mit zwei uniformierten Herren des hauseigenen Wachdienstes. Er hörte noch, wie einer der Wachleute über Herrn Regen sagte, der hätte es aber auch wirklich zu weit getrieben mit der Belegung des … dann verstummte er jedoch schlagartig, als er den Kommissar registrierte.

„Lassen Sie sich von mir nicht stören“, sprach Schrenk den Wachmann direkt an. „Womit hat es Herr Regen zu weit getrieben? Das hätte ich jetzt auch gern gewusst.“

„Na ja, ich mein’ ja nur, eigentlich steht mir eine Kritik gar nicht zu“, war die Antwort des Angesprochenen, „aber in den letzten Monaten hat Regen das Penthouse fast jedes Wochenende belegt. Dabei ist es doch für spezielle auswärtige Gäste oder besondere ‚Hohe Tiere‘ vorgesehen.“

„Herr Dabelstein, nun halten Sie sich mal zurück.“ Damit übernahm die elegante Dame die Gesprächsführung. „Mein Name ist Günther, ich bin die Geschäftsführerin. Und wer sind Sie genau?“ Die Frage war an Schrenk gerichtet. „Sind Sie der leitende Polizeibeamte oder der Staatsanwalt?“

Schrenk zog unbewusst seinen Bauch ein und strich sich über seine Glatze, holte seinen Dienstausweis heraus und stellte sich vor. „Ich bin Hauptkommissar Schrenk von der Mordkommission und leitender Ermittler in diesem Fall. Es wäre schön, wenn wir uns irgendwohin zurückziehen könnten. Sie können mir bestimmt einige Fragen beantworten.“

„Äh … ja, okay, kommen Sie mit, wir gehen in mein Büro“, war ihre zögerliche Antwort. Dabei setzte sie sich in Richtung des Hauptgebäudes in Bewegung. Schrenk bat sie, ihm schon unterwegs ein paar allgemeine Informationen über das Unternehmen zu geben. Darauf startete sie einen Vortrag, den sie bestimmt nicht zum ersten Mal hielt.

„Die AFA Hamburg wurde 1964 gegründet und ist mit über 1000 Teilnehmern und mehr als 400 Mitarbeitern das größte Zentrum für berufliche Reha, Kompetenzentwicklung und Integrationsförderung in Norddeutschland. Wir verstehen uns als modernes, werteorientiertes Dienstleistungsunternehmen im sozialen Bereich und wollen gesundheitlich beeinträchtigten Erwachsenen neue Perspektiven für Arbeit und Beruf eröffnen. Unsere Devise ist: Nur wer am Arbeitsleben dauerhaft teilhaben kann, fühlt sich der Gesellschaft zugehörig. Oftmals führen jedoch hohe körperliche Beanspruchungen und Stress zu starken Belastungen im Beruf, ebenso kann eine Krankheit oder ein Unfall eine weitere Ausübung des erlernten Berufes verhindern. Eine berufliche Rehabilitation bietet die Chance für einen beruflichen Neuanfang. Mit unserer speziellen Lehr- und Lernmethode sind wir das Vorzeigeunternehmen der Branche.“

Ohne merkbar Luft zu holen und ohne Schrenk direkt anzusprechen, fuhr sie fort: „Die ‚Methode AFA‘ bedeutet eine ganzheitliche Förderung durch Qualifizierung und Beratung, die die Integrationskompetenz der Teilnehmer maximal entwickelt. Wir sprechen von fünf Kompetenzdimensionen, die es möglich machen, die Entwicklung von Integrationskompetenz individuell, differenziert und transparent zu planen, zu erfassen, zu bewerten und zu qualifizieren. Wir machen unsere Teilnehmer nicht nur fachlich in ihrem neuen Beruf, sondern auch in ihren Umgangsformen und gesundheitlich fit. Kurz gesagt: Bereiten sie in jeder Hinsicht auf den Arbeitsmarkt vor. In Trainingsunternehmen qualifizieren sich die Teilnehmer durch die Bearbeitung von Lernaufträgen, in denen berufliches Handeln realistisch abgebildet wird. Hierbei kommen auch Realaufträge von Partnerunternehmen zum Einsatz. Als Mitarbeiter auf Zeit zum Beispiel in Praktika oder bei betrieblicher Wiedereingliederung setzen die Teilnehmer ihre neuen Kompetenzen in Unternehmen ein, vergleichen sie mit den realen Anforderungen und bauen sie weiter aus. Am Qualifikationsort wird durch Kurse und Beratung eine breite Angebotspalette zur Förderung der gesamten Berufspersönlichkeit bereitgestellt. Der gesamte Reha-Prozess wird gesteuert und koordiniert durch unser Eingliederungssystem. Integrationsvereinbarungen mit dem Teilnehmer und dem Reha-Träger werden verbindlich festgelegt und daraus individuelle Programme entwickelt. Darüber hinaus ist das Integrations-Management für Prozesscontrolling und Dokumentation verantwortlich, ist Ansprechpartner für die Reha-Träger.“

Sie blieb stehen, machte eine Pause und guckte jetzt zum ersten Mal den Kommissar direkt an: „Herr Regen war unser erfolgreichster und beliebtester Integrationsmanager, überall. Warum wurde er nur umgebracht? Er hat doch nur Gutes getan.“

Sie brach ab und schaute zur Seite, denn mit diesen Worten fing sie plötzlich an, zu schluchzen, was ihr wohl peinlich war.

Schrenk ließ sich Zeit mit einer Antwort. Sie hatten inzwischen das Hauptgebäude erreicht, waren durch den Zwischenflur und die Halle zum Fahrstuhl gegangen und warteten nun darauf, dass sich die automatischen Türen öffneten.

„Wie kommen Sie darauf, dass Herr Regen ermordet wurde? Er kann doch auch freiwillig heruntergesprungen sein.“ Schrenk stellte die Frage ruhig und freundlich, beobachtete sie aber sehr genau.

„Nein, der Regen nicht, auf keinen Fall. Warum sollte er auch. Der arme Kerl hatte doch noch so viel vor.“

Jetzt öffneten sich die Fahrstuhltüren und beide gingen hinein. Schrenk ließ nicht locker: „Sie haben ihn wohl sehr gut gekannt, da Sie es so genau wissen.“

„Was heißt hier ‚gut gekannt‘? Er war einer meiner leitenden Mitarbeiter, mit dem ich des Öfteren zu tun hatte. Er hat mir mehrfach gute Ideen persönlich vorgetragen, hat zum Beispiel die Adipositas-Gruppe aufgebaut.“ Es war eindeutig, dass sie mit dieser Antwort klarstellen wollte, dass ihre Bekanntschaft rein beruflich war.

Der Fahrstuhl hatte den sechsten Stock des Hauptgebäudes erreicht. Hier gab es Teppiche auf den Fluren und die Türen waren aus Massivholz. Von ihrem Büro, das nicht übertrieben groß oder protzig war, jedoch einen extragroßen Glas-Schreibtisch und eine Besprechungsecke mit Sitzgarnitur hatte, ging eine Verbindungstür zu einem Vorzimmer ab. Über ihrem Schreibtisch hing ein Poster von einer Dire-Straits-Tournee aus dem Jahre 1982 mit dem Titel Money for Nothing – Love over Gold-Tour. Schrenk kannte den Dire-Straits-Song Money for nothing und wusste, dass der nächste Satz in dem Lied „and chicks for free“ war. Was wollte die Dame damit rüberbringen? Er übersetzte das jedenfalls mit ‚Fürs Nichtstun bezahlt werden und Mädels umsonst bekommen.‘ Als Kontrast war der Bereich der Sitzecke mit Luftaufnahmen von Hamburg dekoriert.

Sie bot Schrenk einen Platz an und setzte sich ihm gegenüber.

Der Kommissar begann das Gespräch mit einer allgemeinen Einleitung und Erklärung über Sinn und Zweck des Interviews, um dann zu den Standardfragen zu kommen: Welche Aufgaben hatte der Tote in der Firma? Hatte er Feinde? Hatte er Probleme in der Firma? Was wissen Sie über sein Privatleben? Hatte er dort Probleme? Was könnte er am Sonntag hier gemacht haben? Wo waren Sie heute Morgen um 6 Uhr? Wie ist ihr Verhältnis zu dem Toten?

Sie beantwortete alle Fragen sachlich und emotionslos, verwies jedoch meist auf andere Mitarbeiter, die Herrn Regen besser kannten. Zum Ende des Gesprächs bat sie ihn noch, die Ermittlungen so diskret wie möglich durchzuführen und die Presse möglichst herauszuhalten. Eine negative Presse könnten sie sich zurzeit nicht leisten.

„Warum das?“, fragte Schrenk nach. „Mit jeder Presse werden Sie doch bekannter.“

Sie reagierte für Schrenk verblüffend vertraulich, wobei sie ihn an den Arm fasste und ihm tief in die Augen blickte: „Ach, Herr Hauptkommissar, bei uns sieht die Welt meist etwas anders aus, als es die derzeitige allgemeine Wirtschaftslage vermuten lässt. Brummt die Wirtschaft, sind die Arbeitslosenzahlen niedrig, bekommen wir weniger Teilnehmer von den Leistungsträgern zugewiesen. Das sind die Zeiten, in denen wir Verluste einfahren, denn unsere Kosten können wir nicht entsprechend den Anmeldezahlen gestalten. Unsere Raumund Personalkosten sind statisch und fix. Eine Untervermietung oder Personalreduzierung nach Bedarf ist kaum möglich. Das machen Sie einmal unseren Geldgebern klar. Ich kämpfe gerade wieder an allen Fronten. Gerade die Politik, und wir hängen nun einmal von der Stadt Hamburg ab, will immer wieder neue Maßnahmen und Konzepte sehen. Da muss ich oft ziemlich tief in die Trickkiste greifen. Und die Konkurrenz, die sich meist nur auf die lukrativen Teilbereiche der Maßnahmen spezialisiert hat, schläft nicht und bietet mit geringeren Kosten und freien Mitarbeitern scheinbar ebenfalls erfolgreiche Maßnahmen an.“ Sie machte eine kurze Pause, fuhr dann aber, gerade als Schrenk etwas erwidern wollte, fort: „Nur, und das können Sie mir glauben, mit dem Todesfall hat das garantiert nichts zu tun.“

„Gut“, antwortete Schrenk, „wir werden die Presse möglichst raushalten, aber trotzdem müssen wir seine Kollegen, seine Schüler und natürlich alle Zeugen befragen. Kennen Sie ihren Mitarbeiter Herrn Koch? Er hat uns gerufen.“

„Ich weiß, dass wir einen Mitarbeiter mit Namen Koch in der Abteilung Haus und Hof beschäftigen. Der ist es wohl, von dem Sie sprechen. Den kenne ich aber nicht näher. Sein Vorgesetzter ist Herr Martin, unser Facility-Manager. Im Übrigen, wir haben keine ‚Schüler‘, sondern ‚Rehabilitanden‘ oder besser gesagt ‚Teilnehmer‘.“

„Ach so.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er jedoch fort: „Herrn Koch müssen wir noch einmal zwecks Zeugenbefragung vernehmen. Hierzu werde ich ihn ins Präsidium bestellen. Oder können Sie uns hier einen entsprechenden Raum für länger zur Verfügung stellen, in dem wir ungestört mit den Leuten sprechen können?“

Frau Günther starrte ihn etwas verwirrt an. Schrenk interpretierte sie richtig, denn mit solchen Banalitäten gab sie sich normalerweise nicht ab. „Auch das sollten Sie mit Herrn Martin abklären“, antwortete sie nach kurzem Überlegen, „Ich werde ihn gleich anrufen und bitten, herzukommen.“ Sie holte ihr Mobiltelefon, natürlich das neueste Smartphone, aus ihrer Handtasche und drückte auf eine Kurzwahltaste. Es war zwar inzwischen nach 9 Uhr, aber am anderen Ende wurde nicht abgenommen. Sie sprach nach einiger Zeit mit einer veränderten Stimme ins Mikrofon, so, wie man spricht, wenn ein Anrufbeantworter anspringt. Nach kurzer Überlegung entschied sie dann doch selbst, ohne Herrn Martin.

„Im Erdgeschoss befindet sich ein Besprechungszimmer, das können Sie vorübergehend nutzen. Herr Martin wird Ihnen im Laufe des Tages sicher noch einen geeigneteren Raum geben können, ich kann ihn jedoch gerade nicht erreichen.“

„Wir benötigen außerdem eine Liste aller Umschüler, Entschuldigung, aller Teilnehmer, der letzten zwei Jahre sowie aller Mitarbeiter. Auch die Namen der in letzter Zeit ausgeschiedenen. Können Sie das bitte schnellstmöglich beschaffen?“ Schrenk wusste zwar, dass sie dafür wieder auf andere Mitarbeiter angewiesen war, aber als Geschäftsführerin hatte sie alle Kompetenzen. Eigentlich konnte er von Glück reden, dass er sie hier angetroffen hatte. „Und ich bedanke mich schon einmal für Ihre vorbildliche Hilfe.“

„Das ist doch selbstverständlich, schließlich ist bei uns ein Mitarbeiter zu Tode gekommen“, antwortete sie mit einer Stimme, als wollte sie ihn zum Tanzen auffordern.

Alles Weitere verlief relativ unspektakulär. Bis auf den mysteriösen Herrn Koch konnte keiner der am Sonntag anwesenden Personen, meist Internatsbewohner, verwertbare Aussagen machen. So mussten sie die Befragungen am frühen Nachmittag abschließen und alles Weitere auf Montag verschieben.