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I. Eisenbach-Stangl, M. Ertl (Hg.) • Unbewußtes in Organisationen

Irmgard Eisenbach-Stangl, Michael Ertl (Hg.)

Unbewußtes in Organisationen

Zur Psychoanalyse von sozialen Systemen

Inhaltsverzeichnis

Statt einer Einleitung: Überlegungen zu einer Tagung und der folgenden Aufsatzsammlung
(Irmgard Eisenbach-Stangl und Michael Ertl)

Das Unbewußte bei der Arbeit
(Anton Obholzer)

Von der Gruppenmatrix zur Institutionsmatrix
(Harald Pühl)

Psychoanalyse und Organisationsanalyse
(Peter Heintel)

Nachtmahl war grundsätzlich Betrieb Über den Zusammenhang von Familiendynamik und Unternehmungsführung in einem Familienunternehmen. Eine Falldarstellung
(Gertraud Diem-Wille)

Das Unbewußte ins Werk setzen Über Sublimierungsunternehmungen in Kunst und Kultur
(August Ruhs mit einem Beitrag von Friedl Kubelka)

Rituale der Medizin aus psychoanalytischer Sicht
(Rainer Danzinger)

Eine Ausbildungsinstitution als Organisation
(Josef Shaked)

Scham, Neid und Mitgefühl im Behälter der Institution: Zur Anwendung der Gruppenanalyse in der Sozialarbeit
(Felix de Mendelssohn)

Über den Umgang mit Ängsten im Strafvollzug, oder: Das Unbewußte beim Einsperren
(Wolfgang Gratz und Wolfgang Stangl)

Statt einer Einleitung: Überlegungen zu einer Tagung und der folgenden Aufsatzsammlung

Irmgard Eisenbach-Stangl und Michael Ertl

Der vorliegende Band (die vorliegende Aufsatzsammlung) ist in der Folge einer Tagung entstanden, die wir (die Herausgeber) im Jahr 1994 für die Sektion Gruppenpsychoanalyse des ÖAGG (Österreichischer Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik) organisierten. Das Interesse an dem Thema und den Vorsatz zur Organisation einer entsprechenden Tagung hatten wir im Laufe eines Workshops der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Gruppenpsychoanalyse im Jahr zuvor entwickelt. Nicht zufällig: Die Workshops der Internationalen Arbeitsgemeinschaft, die zweimal jährlich in Altaussee in der Steiermark stattfinden, sind eine ausgeklügelte Organisation, Unbewußtes ins Bewußtsein zu rücken: eine raffinierte Abfolge von Klein- und Großgruppen, Theorie- und Kasuistikseminaren untertags wird abends üblicherweise mit informellen Trinksitzungen beschlossen, die in den – in Zahl beschränkten – Wirtshäusern des kleinen Ortes stattfinden, der am Ende einer Straße, am Fuße hoher schroffer Berge, an einem See liegt. Die Workshops in Altaussee dienen nicht nur der Selbsterfahrung, sondern auch der Ausbildung und diese zumindest doppelte Funktion erhöht die Komplexität der Organisation nochmals. (Vorweg: der interessierte Leser findet eine ausführliche Darstellung der Workshops der Internationalen Arbeitsgemeinschaft in diesem Band. Sie ist von Josef Shaked – einem der drei Gründer und Gesellschafter der Arbeitsgemeinschaft – verfaßt.)

Bei den Altausseer Workshops also rückt die Organisation, die das Bewußtmachen von Unbewußtem ermöglicht, in das Blickfeld: eine Organisation, die bei anderen psychoanalytischen Settings, jenem der Einzelanalyse z.B., wie jenem der sogenannten fortlaufenden psychoanalytischen Gruppe (die üblicherweise einmal pro Woche stattfindet) weit weniger sichtbar wird. (Vielleicht ist sie auch schlicht nur bekannter und wird deshalb weniger hinterfragt bzw. regt deshalb auch weniger zur Hinterfragung an.) Und von da an war es nur ein kleiner Sprung – der eines Abends, in einem der Wirtshäuser Altaussees bei einigen Gläsern Rotwein stattfinden konnte – zu der Frage: und wie sieht es mit dem Unbewußten in Organisationen aus, die nicht zu seiner Bewußtmachung erdacht wurden? Oder in anderen, unbescheideneren Worten formuliert: wie sieht es mit dem Unbewußten in jenen Organisationen aus, die keine psychoanalytischen Settings sind, also in fast allen – „anderen“ – gesellschaftlichen Organisationen? Können die z.B. träumen, Fehlleistungen begehen oder verdrängen?

Die Tagung, die wir schließlich organisierten, trug jedoch weder den Titel: „Können Organisationen träumen?“ (den wir auch in Erwägung gezogen hatten), noch war es auf ihr möglich Antworten auf diese Fragen zu probieren. Wiederum nicht zufällig, wie wir meinen. Denn vor, während und nach der Tagung, die den, von Mitorganisator Reinhardt Lobe, erdachten Titel: „Unbewußtes in Organisationen. Die Organisation von Unbewußtem“ trug, kam es zu mehr oder minder heftigen – verbalen – Zusammenstößen mit Organisationsberatern, die wir neben Psychoanalytikern als wesentliche Zielgruppe anzusprechen gedachten und auch erfolgreich ansprechen konnten. In unserer Wahrnehmung standen einander zwei unvereinbare Blöcke oder auch Lager gegenüber: das, der mit dem Privaten, den Gefühlen, dem Unbewußten und Irrationalen befaßten Psychoanalytiker und das, der mit dem Öffentlichen, dem Verstand, dem Bewußten und Vernünftigen befaßten Organisationsberater. Zwischen diesen Lagern gab es kaum Möglichkeiten der Verständigung und auch wir als bewußt – unbewußte Organisatoren und Inszenatoren dieses Antagonismus zwischen Privatem und Öffentlichem, Gefühl und Verstand, Irrationalem und Rationalem mußten uns einer Seite zuordnen: es war, wie zu erwarten, die uns nähere und vertrautere, die der Psychoanalyse.

Unsere inhaltlichen wie organisatorischen Vermittlungsversuche scheiterten, wie auch jene Doppelgänger, die wir eingeladen hatten, jene seltenen Personen, die sowohl Psychoanalytiker als auch Organisationsberater sind, auf der Tagung eingestanden: daß sie beides nicht zu verbinden verstünden und entweder so oder so tätig würden. Mit einer Ausnahme: mit Ausnahme des Psychoanalytikers und Organisationsberaters Anton Obholzer, des Chief Executive des Tavistock Centers, den wir zu einem Vortrag eingeladen hatten. Bevor wir uns diesem Vertreter einer anderen Kultur zuwenden und damit vermutlich größeren Verbindungsmöglichkeiten zwischen Privaten und Öffentlichen, Gefühl und Verstand, Unbewußtem und Bewußtem, nochmals zurück zu den feindlichen Lagern, wie wir sie vorfanden und durch die Art unserer (Tagungs-)Organisation auch inszenierten und bestätigten. Obwohl die Tagung gut gelang – das Interesse war groß und die Stimmung, trotz oder vielleicht auch wegen der Kampfbereitschaft der Teilnehmer, außerordentlich gut – fand sie keinerlei Fortsetzung. Es waren in der Folge auch Organisationsberater und nicht Psychoanalytiker, die Anton Obholzer – den Brückenschläger – zu weiteren Seminaren einluden. Und auch die vorliegende, in der Tagung wurzelnde Aufsatzsammlung erscheint reichlich spät und trotz unserer großen Bemühungen ohne Arbeiten von Organisationsberatern – allerdings wiederum mit einer Ausnahme: jener von Peter Heintel.

Wie kann man diese Lagerbildung verstehen? War es Zufall, ein Organisationsfehler oder die Spiegelung eines universelleren Problems? Wir meinen in der Tat in diesen „Lagern“, die wir auch als „Teile“ oder gar als „Hälften“ verstehen, eine gesellschaftliche Struktur zu erkennen, die im deutschsprachigen Raum möglicherweise tatsächlich schärfer und antagonistischer ausgebildet ist, als z. B. im englischsprachigen Raum. Peter Heintel, der sich in seiner Arbeit ausgiebig mit dieser widersprüchlichen Gesellschaftsstruktur beschäftigt, identifiziert die eine Seite als die „private“ Familie, die prägende Einflüsse auf die in sie Hineingeborenen ausübt und die andere als komplexe Organisationswelt, für die die familialen Prägungen inadäquat, wenn nicht sogar hinderlich sind. Eine andere Sichtweise der gespaltenen gesellschaftlichen Struktur wäre eine geschlechtsspezifische: die Seite oder Domäne der Frauen wäre dann natürlich jene der privaten Familie, die lange als „der Gesellschaft“ vorgelagerte oder als „Basis“ der Gesellschaft und damit als quasi außergesellschaftlich betrachtet worden war, die Seite oder Domäne der Männer jene der differenzierten Organisationen, der Gesellschaft, Kultur oder gar der Zivilisation schlechthin. Nur am Rande, um Mißverständnissen vorzubeugen, sei angemerkt: wir gehen nicht davon aus, daß – geschlechtsspezifische – Natur bei dieser, den Geschlechtern zuordenbaren unterschiedlichen Lebenswelten am Werk ist, sondern davon, daß die gesellschaftlich hergestellte „Geschlechterdichotomie dazu benutzt wird, andere tiefgehende Polaritäten ‚zu tragen‘“ (Goldner 1995, 221).

Eine weitere – und letzte – der tiefgehenden Polaritäten soll genannt werden, die Familie und Organisationswelt, Frauen und Männer, Psychoanalyse und Organisationsberatung jeweils einer der unterschiedlichen Seiten zuordnet: die der Liebes- und die der Tauschbeziehungen. Die Beziehungen in der Familie (man könnte auch sagen, die der Frauen oder der Psychoanalytiker – siehe zum letzteren z.B. Morgenthaler 1991) sollten herrschenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen entsprechend vorrangig auf Liebe und nicht auf Tausch aufgebaut sein, im Gegensatz zu den Beziehungen in der Organisationswelt. Aber damit hat es – wie im übrigen auch mit den anderen Polaritäten – zunehmend seine Probleme. Die Frauen z.B. fordern (mehr) Geld – manche auch für Erziehung, Hausund Gefühlsarbeit – und in der Organisationswelt werden zunehmend die (irrationalen und unbewußten) Gefühle entdeckt – in ihren, die Produktion und Verwaltung behindernden und fördernden Ausformungen. Auf die gesellschaftliche Entwicklung, die möglicherweise die langsame Auflösung der genannten (und anderer) Polaritäten bewirkt, kann hier nicht eingegangen werden. Anzumerken bleibt, daß sie Angst und Unsicherheit auslöst, aber auch neue Denk- und Handlungsspielräume eröffnet.

Die in diesem Band vorgelegten Arbeiten versuchen diese neuen Denk- und Handlungsspielräume auf unterschiedliche Weise und mit wenigen Ausnahme von psychoanalytischer Seite zu erkunden. Der größere Teil der Autoren analysiert Organisationen im allgemeinen oder spezielle Organisationen bzw. gesellschaftliche Systeme („Kultur“, „Medizin“, „Gefängnis“) und versucht, dem Unbewußten in der jeweiligen Kommunikations- und Handlungsstruktur, wie auch in der jeweiligen spezifischen Dingwelt auf die Spur zu kommen. Die Arbeit von Anton Obholzer, die wie die Arbeiten von Rainer Danzinger, August Ruhs, Friedl Kubelka, Wolfgang Gratz und Wolfgang Stangl durchaus auch dieser „klassischen“ Art psychoanalytischen Zugangs zur Organisationswelt verpflichtet ist, unterscheidet sich jedoch von diesen durch das Ausmaß des Einbezugs sozialwissenschaftlichen Wissens. Der oben angesprochene gesellschaftliche Wandel, die beobachtbare langsame Auflösung der Polaritäten von Familie und Organisationswelt – und der damit sich verändernde Stellenwert von Arbeit für das Individuum wie für die Organisation – wird angesprochen und in die psychoanalytische Analyse miteinbezogen. Dem theoretischen Vorgehen Obholzers entspricht im übrigen auch sein praktisches Vorgehen: er arbeitet mit Organisationsberatern zusammen. Freilich wird der psychoanalytische Organisationsberater, wie er anmerkt, immer erst als letzter gerufen, wenn „gar nichts anderes mehr hilft“. Der geringe Stellenwert und der abgewertete Status der „Gefühle“ in der Organisationswelt (der „Gefühle“, die doch in die „Familie“ gehören) wird dadurch erst deutlich sichtbar. Eine mögliche Ursache der Abwertung und auch Abwehr des emotionalen Geschehens könnte darin zu suchen sein, daß es sich – wie nicht nur Obholzer ausführt, sondern es auch mehr oder minder explizit bei den anderen genannten Autoren anklingt – auch zentral um Angst handelt: Um Angst, das Gefühl der „Moderne“ und der mit ihr einhergehenden Vereinzelung oder „Individuierung“ (Görlich 1995).

Peter Heintel stellt, wie bereits erwähnt, Familie und Organisationswelt als „moderne Antagonismen“ dar. Die mit der „Moderne“ einhergehende Vereinzelung und die, für den Einzelnen stets inadäquate, familiäre Prägung angesichts einer immer komplexer werdenden Arbeitswelt, kann – so Heintel – durch die Psychoanalyse – ihre Theorie und Praxis, vor allem aber ihre spezielle Organisationsform, ihr „setting“ – überbrückt werden. Organisationen wie Gruppen benötigen ihrerseits spezielle Settings, um ihr jeweiliges Unbewußtes aufzuklären und wieder – sozial – einzubetten. Wie ein solches, die Selbstreflexion oder „Selbstaufklärung“ steuerndes Setting für Organisationen aussehen könnte, ob und wenn ja, wie es sich aus psychoanalytischen Organisationsformen weiterentwickeln ließe, läßt Heintel allerdings offen. Die Psychoanalyse, ihre Theorie und Praxis und ihre Organisationsform werden solcherart letztlich doch nur als adäquates Erkenntnis- und Veränderungsinstrumentarium für individuelle „Bruchsituationen“ anerkannt und damit eine „klassische“ – auch auf der Tagung vorgefundene – organisationsberaterische und organisationswissenschaftliche Position eingenommen.

Diese Position unterscheidet sich nicht nur von jener der bereits erwähnten Autoren, sondern auch von jener von Gertraud Diem-Wille, die sich mit dem Ineinandergreifen der gesellschaftlichen Formationen Familie und Betrieb auseinandersetzt. Wie sie anhand des Fallbeispiels eines Familienbetriebes zeigt, weist nicht nur die (moderne) Organisationswelt der Familie ihren gesellschaftlich (untergeordneten) Ort zu, sondern prägt und beeinflußt die Familie auch ihrerseits die betriebliche Welt: Das zweckrationale und arbeitsteilige Gefüge eines Betriebes erscheint durchaus vom emotionalen familiären „Unterfutter“ unmittelbarst – wenn auch nicht ohne gegenseitige Verluste – profitieren zu können. Die Familie – und die in ihr beheimateten Gefühle und Konflikte, die die zentralen Themen der Psychoanalyse sind – kann für den Betrieb dienstbar gemacht werden und vermutlich auch der Betrieb für die Familie. In diesem Zusammenhang sei an sozialwissenschaftliche Analysen erinnert, die darauf verweisen, wie sehr die moderne, zweckrational und arbeitsteilig organisierte Wirtschaft ganz konkret von der patriarchal organisierten Familie profitiere, ja sie geradezu benötige und, daß nicht nur die Familie, sondern auch der Betrieb ein gesellschaftlicher Ort sei, an dem nicht der Tausch die Beziehungen präge (Steinert 1996).

Wenn, wie Diem-Wille es darstellt, Familie und Betrieb zwar durchaus andersgeartete gesellschaftliche Formationen sind, aber auch interdependente Strukturen aufweisen, dann – so ließe sich weiter folgern – wäre in der Tat nicht nur die Analyse von Organisationen bzw. Systemen anhand psychoanalytischer Theorie legitim, sondern – wie auch Obholzer meint – auch die Veränderung von Organisationen anhand von psychoanalytischer Theorie und mittels psychoanalytischer Settings möglich. Wie psychoanalytische Organisationsformen allerdings aussehen können, mittels derer auch die „Bruchsituationen“ von Organisationen verändert werden könnten, darüber herrscht große Uneinigkeit und Unsicherheit.

Die „britische“ Praxis des Tavistock Centers, von Anton Obholzer dargestellt anhand von Fallbeispielen, nimmt sich leicht und mühelos aus gegenüber den Beispielen der „deutschen“ und „österreichischen“ Praxis, diskutiert und ebenfalls anhand von Fallbeispielen dargestellt von Harald Pühl und Felix de Mendelssohn. Psychoanalytische Theorie und Praxis können – folgt man Obholzer – ohne Scheu auf Organisationen angewendet und in eine „consulting“ eingebracht werden, freilich wie es scheint, nicht ohne sie vorher auf ihre Brauchbarkeit für den Erkenntnis- und Beratungsprozeß „abgeklopft“ zu haben. Und auch die Handhabung des Setting bleibt so flexibel wie Theorie und Praxis: Ziel ist es, Erkenntnis über die gesamte Organisation zu gewinnen und in dieser Veränderung zu bewirken, auch wenn man als Berater „nur“ von einer Abteilung oder einem Team gerufen wurde. Die Beziehung zwischen dieser Abteilung oder diesem Team und anderen Abteilungen oder Teams und ihre Beziehung zur Gesamtorganisation zu verstehen, erscheint nicht als wesentliches Problem, sofern der Berater einige grundlegende Prinzipien des psychoanalytischen Setting einhält: Obholzer betont insbesondere die Unabhängigkeit von der Organisation und die Beschränkung der Kontakte auf die Beratung.

Harald Pühl und Felix de Mendelssohn bezeichnen – ohne Zweifel in Übereinstimmung mit den Usancen und den Auftrag- und Geldgebern – ihre Arbeit in und mit Organisationen als „Supervision“, obgleich es einer Untersuchung wert wäre, herauszufinden, in welchen konkreten Aspekten diese sich von jener der Tavistock-consultants unterscheidet. Die Konflikte, die sie bei ihrer Arbeit sehen, scheinen sich von jenen, die in Obholzers Fallbeispielen beschrieben werden, mehr in der Intensität und weniger in ihren Inhalten zu unterscheiden. Pühl betont die beiden „Dreiecke“, in die Supervisoren unabdingbar geraten: in jenes mit Team und Organisationsleitung und in jenes mit Team und Klienten. Diese schwierige Position des Supervisors erfordert – so Pühl – die Aufgabe einiger Prinzipien des psychoanalytischen Setting – so z. B. der Verschwiegenheitspflicht und einer ausgeprägten Abstinenz. Der Supervisor müsse „aktiver strukturierend“ sein und ein „zuviel“ an Angst und Regression verhindern.

Auch bei Mendelssohn finden sich die beiden Dreiecke, doch betont er stärker das „Dreieck“ der gesamten Organisation (Organisationsleitung – Team – Klienten) und sieht sich auch stärker als neutraler Beobachter. Und finden sich bei ihm auch keinerlei Hinweise darauf, daß die analytische Haltung in supervisorischen Kontexten beschränkt werden müsse, weist er doch darauf hin, wie schwierig es sei, in diesen zu Unbewußtem vorzudringen und daraus entstehende Einsichten individuell, kollektiv und organisatorisch zu integrieren.

Ohne die hierarchische Struktur aller modernen Organisationen in Frage zu stellen, läßt sich angesichts ihrer Betonung bei Pühl, die sich in abgeschwächter Form auch bei Mendelssohn wiederfindet, doch mit aller Vorsicht die Vermutung formulieren, daß sich die Wahrnehmung und die Konzepte von Organisationen und vermutlich auch deren Realität im deutschsprachigen Raum von jenen im englischsprachigen Raum unterscheiden. Wo z. B. Mendelssohn die Veränderungsmöglichkeiten in bürokratisch und charismatisch geleiteten (in sozialwissenschaftlicher Sprache: in bürokratischer und charismatischer Führung oder Herrschaft unterworfenen) Organisationen diskutiert, untersucht Obholzer die Fähigkeit oder auch Unfähigkeit von Organisationen und Organisationsleitungen, das nötige „containment“ für alle jene bereitzustellen, die in der einen oder anderen Weise mit dieser Organisation zu tun haben, und sieht die Aufgabe des „consultants“ darin, diesen Mangel zu mildern (auch Obholzer 1996). Konflikte in und durch die Hierarchie werden gar nicht anvisiert, da von vornherein davon ausgegangen wird, daß letztlich alle von allen abhängen und zu einem Ganzen gehören.

Dies erinnert an die Überlegungen von Johan Galtung (1983), der davon ausgeht, daß die Erkenntnissammlung und -aufarbeitung im englischsprachigen Raum sich von jener im deutschsprachigen Raum unterscheidet und, daß sie im Ersteren ein Form annimmt, die einer Vielzahl kleiner – und damit auch bodennäherer – Pyramiden ähnle, während sie im letzteren immer darauf gerichtet sei, alles in einer Pyramide unterzubringen und aus deren Spitze abzuleiten. Oder in Worten des englischen Historikers Thompson: „Überall um mich herum gelingt meinen jüngeren gefiederten Verwandten ihre Mutation; sie verwandeln sich in kleine Adler, und ab schwirren sie mit einem Windstoß … Ich hatte schon überlegt mich ihnen anzuschließen, aber meine Flügel wollten nicht wachsen. Wenn ich‘s versuchte, ich weiß es sehr gut, dann würde ich mit meiner … kurzsichtigen empirischen Perspektive … einfach – plumps! – mitten in den Ärmelkanal fallen“ (1980, 86).

Vermutlich entspricht diese kulturell unterschiedliche Form Erkenntnis zu sammeln und zu organisieren auch einer unterschiedlichen Form von Organisationswelt selbst. Die militärischen Vorfahren von Betrieben und Verwaltung könnten – und dafür sprechen einige Befunde – diese im deutschsprachigen Raum stärker und nachhaltiger geprägt haben als im englischsprachigen Raum und nicht nur hierarchischere, sondern auch „die Familie“ und „das Private“ ausschließendere Strukturen hinterlassen haben.

Wir möchten die feindlichen Lager, die uns seit der Tagung und auch in der „Einleitung“ zu dieser Aufsatzsammlung noch beschäftigt haben, verlassen und uns abschließend noch kurz mit einem Abkömmling oder einer Verwandten (die Beziehung ist bisher ungeklärt) der Psychoanalyse zuwenden, deren brückenschlagende Fähigkeiten hier nur unzureichend untersucht und diskutiert werden: der Gruppenpsychoanalyse. Bekanntlich wurde die Gruppenpsychoanalyse – was ist zufällig – während des Zweiten Weltkrieges in England entwickelt, vorrangig von Psychoanalytikern, aber auch unter Mitwirkung von Soziologen. Und die Gruppenpsychoanalyse stellt eine Organisationsform – ein Setting – zur Verfügung, in dem Unbewußtes nicht dyadisch, sondern kollektiv erleb- und integrierbar wird. Gruppen und Teams werden andererseits auch in der Organisationswelt immer wichtiger (Hirschhorn, Gilmore 1993), da die hierarchischen Strukturen sich den sich immer rascher verändernden Markt- und Umweltbedingungen viel zu wenig anzupassen in der Lage sind. Der Gruppenpsychoanalyse mangelt es jedoch – wie Mendelssohn betont, der sich intensiv mit den Vorzügen ihrer Praxis vor allem bei der Supervision auseinandersetzt – an einer entsprechenden Theorie. Und dem ließe sich hinzufügen: es mangelt auch an einer entsprechenden Theorie ihrer Organisationsform und damit an einer Theorie darüber, über welche Möglichkeiten sie verfügt, zwischen Privatem und Öffentlichem und damit letztlich auch zwischen „innen“ und „außen“ zu vermitteln. Um Norbert Elias zu Wort kommen zu lassen, einen Soziologen, der mit einem Begründer der Gruppenpsychoanalyse – S. H. Foulkes – theoretisch und praktisch zusammenarbeitete: „Hier (in der therapeutischen, speziell aber der psychoanalytischen Gruppe – die Autoren) treten Unterschiede und Beziehung von phantasiebeherrschten Verhaltensstrategien und realistischen Strategien besonders deutlich zu Tage, eben weil man beobachten kann, wie beide unaufhörlich ineinander übergehen, wie interdependent sie sind. Hier stellt sich heraus, daß die begriffliche Mauer zwischen Phantasie und Realität, zwischen dem was „innerhalb“ und dem was „außerhalb“ einer Person vor sich zu gehen scheint, ein intellektuelles Artefakt, ein Phantasieprodukt der rationalistischen Reflexion ist“ (1972, 32). Die Forderung von Elias die „Beziehung zwischen den Strukturen der Gruppe, die interdependente Individuen miteinander bilden, und den Strukturen dieser Individuen“ klar zu formulieren ist (wie z.B. kürzlich erst wieder Karola Brede festhielt) bis heute nicht geglückt. Die Diskussion um die Psychoanalyse als Erkenntnis- und Veränderungsinstrument, auch für mehr als individuelle „Bruchsituationen“ scheint uns nicht zuletzt aus diesem Grund alles andere als abgeschlossen.

Literatur

Brede, K. (1995) Unbewußtes und sonst gar nichts? Stellungnahme zu Reimut Reiche „Von innen nach außen?“, Psyche, Heft 49, 259–280

Elias, N. (1972) Soziologie und Psychiatrie, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Soziologie und Psychoanalyse, Kohlhammer, Stuttgart

Galtung, J. (1983) Struktur, Kultur und intellektueller Stil, Leviathan, 3, 303–338

Goldner, V. (1995) Gedanken zu einer kritischen Relationstheorie der Geschlechtsidentität, in: J. Benjamin (Hg.): Unbestimmte Grenzen. Beiträge zur Psychoanalyse der Geschlechter, Fischer, Frankfurt a. M., 211–243

Görlich, B. (1996) Angst, unveröffentlichtes Manuskript, Augsburg

Hirschhorn, L., Gilmore, Th. (1993) Die Grenzen der flexiblen Organisation, Harvard business manager, 1, 29–39

Morgenthaler, F. (1991) Technik. Zur Dialektik der psychoanalytischen Praxis, Europäische Verlagsanstalt, Hamburg

Obholzer, A. (1996) Psychoanalytic Contributions to Authority and Leadership Issues, unveröffentlichtes Manuskript, London

Steinert, H. (1997) Schwache Patriarchen – gewalttätige Krieger. Über Männlichkeit und ihre Probleme zwischen Warenförmigkeit, Disziplin, Patriarchat und Bruderhorde, in: H. Steinert, J. Kersten (Hg.): Starke Typen. Iron Mike, Dirty Harry, Crocodile Dundee und der Alltag von Männlichkeit. Jahrbuch für Rechts- und Kriminalsoziologie ’96, Kosmos, Baden-Baden

Thompson, E. P. (1980) Das Elend der Theorie. Zur Produktion geschichtlicher Erfahrung, Campus, Frankfurt