Kapitel 8

»Was ist das für eine Scheiße?«, flüsterte Ginny.

Veronica wusste es nicht. Gilles und Marzen servierten das ›Abendessen‹ an einem langen, mit Tischtüchern gedeckten Tisch. Khoronos tafelte in angemessener Weise am Kopf. »Das ist Sashimi«, erklärte er.

Teller mit fahlen Fleischstreifen wurden vor ihnen abgestellt. Weiße Stücke, rötliche Stücke und gelbe Klumpen. Ein unverkennbarer Geruch ging davon aus.

»Das ist roher Fisch«, flüsterte Veronica.

Ginny spuckte beinahe ihr Evian aus. »Ich weigere mich, rohen F...«

»Optimale Nahrung für Künstler«, fiel ihr Khoronos ins Wort. »Ika, Toro und Uni – reich an Nährstoffen, Aminosäuren und Omega-Fettsäuren. Neuesten Studien zufolge fördert Sashimi die Intelligenz, das Gedächtnis und kreatives Denken.«

»Ja, aber es ist roher Fisch«, beschwerte sich Ginny laut.

»Probieren Sie. Der Ika, der Tintenfisch, ist besonders gut.«

Tintenfisch, dachte Veronica. Na toll.

Marzen und Gilles begannen, zu essen, und hantierten dabei fachmännisch mit Stäbchen. Die Portionen waren riesig. Veronica zupfte an ihren Stücken, entschied sich schließlich für einen roten Streifen, betrachtete ihn misstrauisch und aß ihn letztlich.

»Toro«, klärte Khoronos sie auf. »Fetthaltiger Thunfischbauch. Guter Toro kostet Hunderte von Dollar das Kilo.«

»Thunfischscheiße kostet auch Hunderte von Dollar das Kilo, trotzdem möchte ich sie nicht essen«, murmelte Ginny leise.

»Sei höflich«, flüsterte Veronica ihr zu. »Schmeckt gar nicht mal so übel.«

»Sashimi fördert außerdem den Sexualtrieb«, merkte Gilles an und stopfte sich zwei Stücke gleichzeitig in den Mund.

Marzen sah Veronica an. »Es erhöht die Fähigkeit, zum Orgasmus zu kommen.«

Veronica errötete.

»Na, wenn das so ist ...«, meinte Ginny. Umständlich hantierte sie mit ihren Stäbchen und hob damit einen der gelben Klumpen hoch, der aussah wie ein Pfropfen Rotz.

Khoronos lächelte. »Nur zu.«

Ginny aß, hielt inne und schluckte. »Irgendwie matschig, aber nicht schlecht.« Sie steckte sich ein weiteres Stück in den Mund.

»Was Sie gerade essen«, erläuterte Marzen, »nennt sich Uni

Gilles fügte hinzu: »Das sind die rohen Keimdrüsen des Seeigels.«

Ginny heulte mit geschlossenem Mund auf. Sie spuckte die Uni in eine Serviette und flüchtete vom Tisch.

Khoronos, Marzen und Gilles lachten. »Nicht besonders abenteuerlustig«, stellte Khoronos fest. »Der wahre Ästhet darf sich nie vor einer neuen Erfahrung scheuen.«

Was haben rohe Seeigelkeimdrüsen mit wahrer Ästhetik zu tun?, fragte sich Veronica. Sie probierte selbst ein Stück. Es schmeckte ... komisch.

»Erzählen Sie uns von der Liebe, Ms. Polk«, forderte Khoronos sie unvermittelt auf.

»Wie bitte?«

»Liebe.«

Alle Blicke richteten sich auf sie. Ihr fiel keine Antwort ein.

»Was ist Wahrheit?«, fragte Khoronos als Nächstes. »Was ist Wahrheit wirklich?«

»Ich verstehe nicht«, gestand Veronica.

»Wahrheit ist Liebe, oder?«, meinte Khoronos.

»So habe ich es noch nie betrachtet.«

»Liebe ruht im Herzen«, warf Marzen ein.

Khoronos ergriff wieder das Wort. »Wahre Kreativität ist im Herzen verwurzelt. Leiten Sie davon ab.«

Alles klar, dachte Veronica. Diese Typen sind verrückt. »Na schön. Wahre Kreativität ist im Herzen verwurzelt. Wahrheit ist Liebe. Daher muss Kreativität Wahrheit sein.«

»Haargenau.« Khoronos wandte sich an den Franzosen. »Gilles, sieh doch mal nach, ob es Ms. Thiel gut geht.«

Gilles verließ den Tisch. Khoronos fuhr fort: »Kreativität ist alles, was wir sein können – das heißt, wenn wir authentisch sein wollen. Viele von uns sind zu anfällig für die fragilen Externa der Welt.«

»Wollen Sie damit sagen, dass die meisten Menschen falsch sind? Unaufrichtig?«

»Ja. So ist es. Allein Künstler bewahren sich die echte Wahrheit der Menschlichkeit.«

»Wir sind die Vorboten«, fügte Marzen hinzu. »Wir sind die Omen.«

Danach folgte eine Pause, so geschickt platziert wie der Ziegelstein einer gewaltigen Mauer. Schließlich fragte Khoronos: »Ms. Polk, haben Sie je geliebt?«

Vorboten, ging ihr durch den Kopf. Omen. Sie spürte einen sich abzeichnenden Sinn, doch Khoronos’ letzte Frage warf sie aus der Bahn. »Einmal«, antwortete sie. »Zumindest glaube ich das.«

»Sie verwechseln Körperlichkeit mit Geist«, meinte Marzen.

»Um Liebe zu erfahren, muss man beides zusammenführen. Das eine ohne das andere ist eine Lüge, nicht wahr?«

»Ich denke schon«, räumte Veronica ein. Die Unterhaltung drückte ihr bereits aufs Gemüt. Sie weckte Erinnerungen an Jack.

»Sie lieben sich selbst nicht genug, um einen anderen zu lieben.«

Gott, verhielt sich dieser Mann unhöflich. »Woher wissen Sie das?«, konfrontierte sie ihn.

»Ich beschränke mich lediglich auf das Wesentliche. Es ist jedoch unübersehbar, dass Ihnen in Ihrem Inneren etwas fehlt.«

»Was ist mit Ihnen?«, konterte Veronica. »Haben Sie je geliebt?«

Khoronos’ sonst so stechender Blick schien angesichts der Frage zu verschwimmen. »Schon viele Male«, erwiderte er mit gesenkter Stimme.

In der Zwischenzeit aß Marzen, der Deutsche, unbekümmert weiter, als habe er diese Diskussion in der Vergangenheit schon oft verfolgt. Dann vermittelte ihm ein kurzer Blick von Khoronos den Befehl, den Raum zu verlassen.

Veronica fühlte sich dadurch noch mehr in die Enge gedrängt. Sie versuchte, das Thema zu wechseln. »Kommt Amy Vandersteen nicht?«

»Morgen früh«, antwortete Khoronos. »Wechseln Sie nicht das Thema.«

»Ich fühle mich mit dem Thema nicht wohl.«

»Warum?«

»Weil Sie mir das Gefühl vermitteln, ich hätte einen Fehler begangen.«

»Indem Sie hergekommen sind?«

»Nein.«

»Warum dann?«

Er spielte sie gegen sich selbst aus, ließ sie gegen ihren inneren Zwilling kämpfen. Wohin zum Henker war Ginny verschwunden? Warum konnte sie nicht zurückkommen und sie vor diesem ... Verhör retten?

Statt etwas zu erwidern, starrte Veronica ihren Gastgeber eindringlich an.

»Ich liebe jeden, der wahr ist«, sagte er. »Ich möchte, dass Sie wahr sind.«

Was sollte das wieder bedeuten? Er musste sich der Macht bewusst sein, die er auf sie ausübte. War es wirklich Wahrheit, die ihn antrieb, oder Grausamkeit?

»Warum sind Sie betrübt?«, wollte er wissen.

Veronica spürte, wie sie auf ihrem Sitz zusammensank. »Ich war in diesen Mann verliebt, aber ich habe die Beziehung beendet, und jetzt bin ich nicht sicher, ob ich das Richtige getan habe.«

»Nur Sie können entscheiden, ob Sie das Richtige getan haben. Was meinen Sie, wie Sie das anstellen?«

Veronica starrte ihn schweigend an.

Khoronos erhob sich am Ende des Tisches. Aus seinen Zügen sprach die Nachsicht grenzenloser ... was? Weisheit? Oder handelte es sich um Wahrheit, die Summe der Weisheit? Das jedenfalls spürte Veronica in jenem Augenblick in ihm – einen völligen Mangel an Falschheit. Er verkörperte einen Menschen, der wahrhaftig liebte.

Er verkörperte einen Menschen, der wusste.

»Tut mir leid, dass ich Sie durcheinandergebracht habe«, sagte er mit einer Stimme, die wie Rauch aus ihm hervorquoll. »Sie sind eine großartige Künstlerin.«

»Ich bin keine ...«

»Und sobald Sie in der Lage sind, sich selbst und Ihre Begierden in einem wahrhaftigeren Licht zu sehen, werden Sie noch großartiger sein.«

»Ich ...«, setzte Veronica stammelnd an.

»Sie werden zeitlos sein, Ms. Polk.« Das unterschwellige, wie gemeißelt wirkende Lächeln streifte sie wie eine Liebkosung. »Sie werden unsterblich sein.«

»» – ««

Die Zeiger der Uhr mit dem Logo der Brauerei Mitchell’s krochen auf Mitternacht zu.

»Ich sollte mich allmählich auf den Weg machen«, sagte Faye Rowland. »Ich wohne in Tylersville, das liegt 50 Meilen entfernt – und ich muss morgen früh zum Campus fahren.«

Irgendwie war Jack nüchtern geblieben. Sich vor der Frau zu besaufen, hätte keinen professionellen ersten Eindruck hinterlassen. Er bewunderte ihr Engagement – sie war eine Stunde gefahren, nur um sich frühzeitig zu informieren und Zeit zu sparen.

»Sie können bei mir übernachten, wenn Sie wollen«, bot er an und bereute es sofort. Wahrscheinlich glaubt sie jetzt, ich will sie anbaggern. »Ich habe mehrere Gästezimmer, und mein Haus liegt etwas näher als Tylersville.«

»Wie nah?«

»Etwa eine Viertelmeile von hier.«

»Gut«, sagte sie. »Ich meine, falls es keine Umstände macht. Wenn ich heute Nacht hierbleibe, kann ich morgen früher anfangen.«

»Kein Problem.« Jack winkte nach der Rechnung.

»Geht die Uhr zwei Stunden nach?«, fragte Craig ungläubig.

»Seit Kurzem verwandele ich mich um Mitternacht in einen mit Scotch gefüllten Kürbis.« Jack bezahlte, und als sich die Frau außer Hörweite befand, flüsterte er: »Es ist nicht das, wonach es aussieht.«

»Klar«, erwiderte Craig. »Und ich bin Jungfrau. Wir sehen uns.«

Jack führte Faye die kurze Treppe zur Straße hinauf. Im Schaufenster eines Buchantiquariats auf der gegenüberliegenden Straßenseite hing ein Poster: BIG BROTHER IS WATCHING YOU. In letzter Zeit fühlte sich Jack überall beobachtet, wohin er auch ging, verfolgt von eigenen Selbstzweifeln. Aber in dieser Nacht beeindruckte er sich selbst – zum ersten Mal seit Langem verließ er das Undercroft nüchtern.

Sie fuhren in Fayes Auto, einer großen roten Klapperkiste von Chevrolet, deren Motor sich anhörte wie ein russischer Panzer. Jack führte sie in sein Reihenhaus und schaltete die Lichter ein. »Im Erdgeschoss habe ich drei Zimmer. Zwei davon sind an Collegestudenten vermietet, aber die sind im Urlaub.« Er zeigte ihr das Gästezimmer. »Der Wäscheschrank ist dort, die Dusche da. Ich bin oben, falls Sie was brauchen. Und danke, dass Sie das für mich machen.«

Sie streifte ihre Schuhe ab. »Über einen Ritualmord zu recherchieren, ist ein wenig interessanter, als den ganzen Tag Schwankungen der Arbeitslosenrate im Staat zu analysieren. Ich freue mich über die Abwechslung.« Als sie ihren Koffer abstellte, fiel Jack der Ehering an ihrer Hand auf. Wie hatte er ihn zuvor nur übersehen können?

Er bemühte sich, nicht überrascht zu wirken. »Übrigens, Sie können ruhig das Telefon benutzen, wenn Sie Ihren Mann anrufen wollen, um ihm Bescheid zu geben, wo Sie sind.«

Sie schaute zu ihm auf und lachte. »Ach das?«, sagte sie und hob die Hand. »Ich bin nicht verheiratet. Ich hasse es bloß, belästigt zu werden. Den trag ich nur, um nicht angebaggert zu werden.«

Jack lächelte traurig. Die Äußerung setzte ihm zu, und seine Stimmung fiel in sich zusammen. Schätzchen, dachte er, du wirst wesentlich mehr brauchen, um dich vor den Ladykillern in dieser Stadt zu schützen. Frag Shanna Barrington.

»Gute Nacht«, sagte er.

Kapitel 9

»Gute Nacht«, sagte Khoronos.

Veronica drehte sich an der Tür zu ihrem Zimmer um. »Wir sehen uns morgen früh.«

»Denken Sie daran, Ms. Polk, Sie sind auch hier, um etwas zu erschaffen. Fangen Sie an, sich ein paar Gedanken über Ihr Projekt zu machen.«

Nach dem Abendessen hatten sie noch stundenlang beisammengesessen und ausschließlich über künstlerische Formalitäten gesprochen. Die Unterhaltung war harmlos verlaufen, doch Veronica wusste, dass dies zu Khoronos’ Taktik gehörte. Beim Essen hatte er seine psychologische Saat gestreut; nun wurde es Zeit, sie wachsen zu lassen. Was wollte er von ihr? Nur ein Gemälde? Formalistisches Geplauder? Der Mann und seine geheimnisvollen Motive lenkten sie ab. Sie hatte keine Ahnung, was sie malen sollte.

»Träume«, sagte Khoronos. Er bildete einen gesichtslosen Schatten am Treppenabsatz.

»Was?«, hakte Veronica nach.

»Angenehme Träume.« Lautlos verschwand er zurück nach unten.

Träume, dachte sie und zog die Tür hinter sich zu. Hatte er damit gemeint, dass sie ihre Träume als Vorlage heranziehen sollte? In der Vergangenheit hatte sie viele ihrer Träume gemalt, doch in letzter Zeit hatte sie damit aufgehört. Es kam ihr maßlos, geradezu selbstsüchtig vor.

Liebe ruht im Herzen, hatte Marzen gesagt. Wahre Kreativität ist im Herzen verwurzelt, hatte Khoronos hinzugefügt. Konnte man es dann wirklich als Maßlosigkeit bezeichnen? Immerhin stellten Träume Manifestationen des eigenen Ichs dar – in gewisser Weise des Herzens. Khoronos hatte sogar angedeutet, dass der Ursprung jeder wahren Kunst in der Maßlosigkeit des Künstlers lag. Betrachtung und vor allem die Tiefe, mit der man alles sah, standen im Mittelpunkt. Maßlosigkeit ist Vision, überlegte sie und kicherte. Ihr gefiel, wie das klang.

Irgendwie fühlte sie sich merkwürdig. Sie schaltete die Lampe aus und ließ das Mondlicht ins Zimmer scheinen. Durch die offenen Balkontüren wehte eine warme Brise herein. Kurz darauf streifte sie die Kleider ab.

Was mache ich denn da?, fragte sie sich. Sie stand nackt vor den Türen. Jeder, der sich im Garten aufhielt, konnte hochschauen und sie sehen. Allerdings fand sie die Vorstellung aufregend, heimlich beobachtet zu werden. Maßlosigkeit ist Vision. Ich bin nur maßlos. Abermals kicherte sie. Dann trat sie hinaus auf den Balkon.

Dort fühlte sie sich gut – nackt unter dem nächtlichen Himmel. Veronica spreizte die Beine und ließ die leichte Brise über ihre Scham streichen. Auch das fühlte sich gut an. Mittlerweile symbolisierte sie: Die Nacht war ihr Liebhaber, der Mond seine Augen, der Wind seine Hände, die über ihren Körper wanderten. Ja, das wollte sie – einen anonymen Liebhaber, einen Fremden voll primitiver Begierde. Keine Förmlichkeiten, keine heuchlerischen gesellschaftlichen Zwänge oder verkrampfte Hemmungen.

Schlagartig füllte sich ihr Geist mit Bildern von rohem Sex. Raue, forschende Hände auf der Haut, das Gewicht eines männlichen Körpers auf ihr, ein Mund, der an ihren Nippeln saugte, bis sie schmerzten. Sie versuchte, ihrem Liebhaber ein Gesicht zu geben, doch es funktionierte nicht, als sei das Fehlen jeglicher Identität genau das, was die Fantasie wahr werden ließ – sie brauchte kein Gesicht, um real zu sein. Die Fantasie brauchte nur ein Herz und einen Schwanz, einen heißen, gekrümmten Kolben, der bis zu den Eiern in ihr steckte. Das konnte man wahrlich als Vision bezeichnen – das Verwandeln einer Fantasie in eine innere Wahrheit. Khoronos hatte ihr tatsächlich geholfen, sich selbst ehrlicher zu betrachten. So fühlte sie sich in diesem Augenblick – gefickt von einem neuen Wahrheitsempfinden.

Als Nächstes winselte sie leise. Als genug von ihrem Bewusstsein durch die Muse drang, stellte sie fest, dass sie einen Finger tief in ihre Scheide gebohrt hatte. Was mache ich denn da?, schrie sie in Gedanken auf.

Rasch wich Veronica ins Zimmer zurück. Ihr Schweiß schlug in ein Bad der Verlegenheit um. Was, wenn sie tatsächlich jemand gesehen hatte? Ich muss verrückt sein!

Als sie die Balkontür schloss, hörte sie, wie sich ihre Zimmertür mit einem Klicken öffnete. Ein Japsen blieb ihr in der Brust stecken. Sie wirbelte herum.

Die Gestalt stand im fahlen Licht des Flurs. Ein Schatten ohne Gesicht. Veronica starrte nur hin. Die Gestalt schloss die Tür und trat vor.

»Ich gehe wieder, wenn dir das lieber ist«, sagte der Mann. Offensichtlich handelte es sich um Marzen. Da er sich mittlerweile näher befand, konnte sie in den Streifen von Mondlicht erkennen, dass er nackt war, wenngleich die hohen Schatten im Raum sein Gesicht verbargen.

»Möchtest du, dass ich gehe?«

Ihr starrer Blick richtete sich auf ihn. »Nein«, antwortete sie.

»Dann schließ die Augen.«

Veronica tat es, ohne zu zögern. Dies war die finale Ergänzung jeder Fantasie: Realität. Sie wollte die Augen geschlossen haben, damit er ohne Gesicht blieb. Veronica konnte jeden seiner Schritte so präzise fühlen, als beobachte sie ihn dabei. Sie zuckte nicht einmal zusammen, als er ihre Hand ergriff.

Er zog sie an seinen Mund und nuckelte an dem Finger, mit dem sie masturbiert hatte.

»Hinlegen«, forderte er sie in abgehacktem Flüsterton auf. »Runter auf den Boden.«

Veronica ließ sich auf den Teppich sinken und spreizte die Beine. Sie zog die Knie zum Kinn an und präsentierte ihm ohne jegliche Skrupel alles. Sie fühlte sich verdorben, unanständig. Ich bin eine Schlampe, dachte sie und unterdrückte ein Kichern. Sie spreizte die Oberschenkel, so weit sie konnte, die Füße hoch in der Luft. Ihre Scham fühlte sich wie ein Topf mit warmem Öl an.

Sofort begann Marzen, sie zu lecken. Er tat es langsam und intensiv. Die Empfindung und die schiere Ansatzlosigkeit seiner Handlung jagten einen elektrisierenden Schauder durch sie. Es fühlte sich zugleich herrlich und wild an. Dann hielt die Zunge auf ihre Öffnung zu und drang in sie ein. Veronica wünschte sich, sie könnte riesig sein; ihre Spalte wurde mit einer Sündigkeit erobert, die sie nach mehr verlangen ließ, die den Wunsch nach einer tieferen, akribischeren Erforschung in ihr weckte. Ihre nackten Zehen ballten sich in der Luft, als er an ihrer Klitoris zu saugen begann.

Die Eindringlichkeit und der völlige Mangel jeglichen Vorspiels steigerten den Genuss. Hier gab es keine Falschheit – nur arglose Lust. Das wollte sie doch, oder? Marzen, das Phantom ohne Gesicht, das die Nacht herbeigerufen hatte – ihre Fantasie der Maßlosigkeit in Fleisch und Blut.

Oh nein, dachte Veronica. Sie war schon bereit, zu kommen. Etwas in ihr steigerte sich einem Höhepunkt entgegen, etwas Riesiges, das nach Befreiung verlangte. Ihre Brüste schmerzten, ihre Scheide, ihr Bauch und die Innenseiten ihrer Schenkel fühlten sich an, als stünden sie in Flammen. Just, als ihr Orgasmus einsetzen wollte, hörte Marzen auf.

Sie öffnete die Augen einen Spalt. Marzen kniete zwischen ihren Beinen. Im Mondlicht konnte sie den Schatten seiner Erektion sehen. Alles, was sie sich in jenem Augenblick von der Welt wünschte, war, dass er seine Männlichkeit auf der Stelle in ihr versenkte. Besteig mich einfach und fick mich, wollte sie sehnsüchtig keuchen. Steck deinen Schwanz in mich und fick mich durch den Boden.

Der Blick seiner großen blauen Augen wanderte von ihrer Scham zu ihrem Gesicht. »Liebe ist Metamorphose«, sagte er.

Wovon redete er? Veronica streckte die Arme aus, um seinen Penis zu ergreifen, aber er schlug ihre Hände weg. Als sie sich aufsetzen wollte, landete seine große Handfläche zwischen ihren Brüsten und drückte sie zurück nach unten. Keine sanfte Geste, sie mutete im Gegenteil fast gewalttätig an.

Seine Stimme jedoch blieb ruhig. »Liebe ist Transposition«, flüsterte er. »Du bist noch nicht bereit zu transponieren.«

Veronicas Faszination rang mit ihrer Wut um Vorherrschaft.

»Bevor du einen anderen Menschen wahrhaftig lieben und von einem anderen Menschen geliebt werden kannst, musst du erst lernen, dich selbst zu lieben.«

Sie war nicht sicher, was er meinte.

»Tu es«, forderte er sie auf. »Denk nicht darüber nach, grüble nicht. Tu es.«

»Was tun?«, stieß sie hervor.

Er drückte ihre Beine weiter auseinander und schaute zu ihrer Scheide.

Oh mein Gott, dachte sie. Irgendwie hatte er sie tatsächlich auf dem Balkon gesehen. Wahrscheinlich hatte er sie von der Tür aus beobachtet. Seltsamerweise verspürte sie keine Verlegenheit. Nur Frustration, die mit ihrer Lust kollidierte.

Sie setzte die Finger an und begann zu masturbieren. Marzen blieb zwischen ihren Beinen knien. Sein steifer Penis pulsierte fast direkt über ihren sich bewegenden Fingern. Die andere Hand ließ Veronica über ihren Körper wandern. Die Kombination der Empfindungen fühlte sich noch besser an als Marzens orale Zuwendungen.

Mittlerweile brannte ihre Scheide förmlich und pochte gegen das behutsame Spiel ihrer Finger. Sie schaute zu Marzen auf, zu seinen glänzenden Muskeln, zu seiner Erektion, weil sie glaubte, sein Anblick verleihe der Erfahrung einen zusätzlichen Kick, doch das tat er nicht. Transposition, dachte sie. Ich bin noch nicht bereit, zu transponieren. Veronica wusste nicht einmal, was das bedeuten sollte, doch innerhalb des Gefüges dieser bizarren Liturgie der Selbsterkundung funktionierte es unbestreitbar. Sie bemühte sich, die Bilder anderer Männer aus ihrem Geist zu verbannen. Ihre Säfte flossen weiter. Veronica dachte stattdessen nur an sich selbst. Sie stellte sich bildlich vor, wie sie sich berührte, wie sie sich liebte, und dann kam sie.

Sie stöhnte unter den Schatten. Marzens Schweigen legte Zeugnis von einer ergreifenden Beaufsichtigung ab, wodurch es sich aus unerfindlichem Grund irgendwie besser anfühlte. Wie besessen entlockten ihre Finger ihren Lenden wiederholte Orgasmen, während sich ihre Pobacken anspannten. Ihre Säfte schienen aus ihrer Scheide zu schießen wie aus einem angezapften Fass voll Fleischeslust und Wonne. Noch nie in ihrem Leben war sie so heftig und oft gekommen.

Bald konnte sie nicht mehr; die Spitzen der Lust ließen ihr Geschlechtsteil so empfindlich werden, dass eine weitere Berührung sie zum Schreien gebracht hätte. Als sie die Finger von ihrem Körper wegzog, spürte sie plötzlich, wie heiße Spritzer auf ihrem Bauch und ihren Brüsten landeten. Veronica wusste, was er tat, und es gefiel ihr sogar; es sättigte sie, von der Flüssigkeit seines eigenen Orgasmus befeuchtet zu werden. Die letzten Reste seiner Ejakulation tropfen warm auf ihren Bauch.

Eine Zeit lang lag sie keuchend da. Ihr Körper verwandelte sich in Gummi. Sie öffnete die Lider und beobachtete, wie sein Penis in der Dunkelheit erschlaffte.

»Da wir uns nun selbst geliebt haben, können wir uns nächstes Mal gegenseitig lieben, ja?«

Nächstes Mal? »Gib mir nur eine Minute«, bat sie. »In einer Minute bin ich wieder bereit.«

Ihre Enttäuschung bäumte sich auf. Marzen erhob sich und verließ das Zimmer. Bevor er die Tür schloss, sagte er sehr leise: »Angenehme Träume.«

Veronica seufzte. Sie hatte keine Kraft übrig, um etwas zu erwidern oder sich auch nur zu bewegen. Dann schloss sich die Tür mit einem Klicken: Endgültigkeit.

Die langen Linien seines Samens fingen an, abzukühlen. Sie fuhr mit den Händen darüber, stellte sie sich als Körperlotion vor und bedeckte so viel ihrer Haut wie möglich damit. Die Flüssigkeit trocknete rasch und wurde steif – noch mehr Endgültigkeit. Veronica trug weniger seinen Samen am Leib als vielmehr ihn. Ein Gedanke, der sie tröstete. Obwohl Marzen gegangen war, hatte sie ihn noch überall an sich.

Sie schlief auf dem Teppich ein, zusammengerollt wie ein warmes Knäuel. Sein Geruch vermengte sich mit dem Moschusaroma, das von ihr selbst ausging, und die wohlige Erschöpfung ließ ihr Bewusstsein entschwinden.

Veronica träumte die ganze Nacht.

Sie stand nackt in der tiefsten vorstellbaren Grotte. Eine Gestalt stieg vor ihr auf – eine gänzlich aus Flammen bestehende Gestalt. Die Gestalt liebkoste sie. Unter der feurigen Haut bewegten sich geschmeidige Formen, die Andeutungen von Fleisch. Lodernde Hände kneteten ihren Körper. Ein Mund aus Flammen küsste ihre Lippen. Der feurige Schaft der Gestalt drang in ihre Vagina ein und ejakulierte endlose Funkenstöße.

Veronica wusste: Das Feuer war Liebe.

Es verbrannte sie nicht. Es schmerzte nicht.

Sie verspürte nur eins, als das Feuer sie verzehrte: Ekstase.

Kapitel 10

»Es besteht nicht aus Metall«, verkündete Jan Beck in dem Moment, als Jack Cordesman ihr Labor betrat, das sich über das halbe Untergeschoss der Bezirkszentrale erstreckte. Unterschiedlichster Krempel füllte den Arbeitsbereich aus: Regale mit Chemikalien und Geräten aus Glas, Reihen dampfender Schränke, Vergleichsmikroskope und sperrige Maschinen. Jan Beck wirkte inmitten von alldem winzig, denn sie selbst war äußerst zierlich. In ihrem Laborkittel wirkte sie geradezu mitleiderregend dürr. Zu ihrem stumpfbraunen, krausen Haar trug sie eine mächtige Brille. In einer Hand hielt sie einen breiten Borstenpinsel, mit dem sie sich auf die andere Hand klopfte.

»Möchten Sie eine Cola, Captain?«

»Gern. Und was ist nicht aus Metall?«

Sie öffnete einen Kühlschrank und holte zwei Flaschen heraus.

Jack blieb Zeit, einen flüchtigen Blick auf einen durchsichtigen Asservatenbeutel aus Kunststoff zu erhaschen, der einen menschlichen Fuß enthielt. Dann schloss sich die Kühlschranktür mit einem Schmatzen.

»Ich habe die Neutronenaktivierungsanalyse abgeschlossen«, erklärte sie und reichte ihm eine Cola. »Die Waffe, mit der Shanna Barringtons Körper aufgeschnitten wurde, besteht nicht aus Metall.«

»Ein Flugzeugmesser oder so? Eins von den Teilen aus Polykarbonat?«

Jan Beck schüttelte den krausen Kopf. »Kunststoffverbundstoffe wären einfacher zu identifizieren. Ich glaube, es ist eine Art Stein. Unsere Materialregister enthalten keine Vergleichsproben für Steinbearbeitungsgegenstände. Deshalb wird die Identifikation eine Weile dauern.«

Ja, sie musste um die 40 sein, dachte Jack. Hatte jahrelang für die Staatspolizei gearbeitet und war dann zum Bezirk gewechselt, um mehr zu verdienen und »weil es beim Bezirk bessere Morde gibt«, wie sie es ausdrückte. Jack fragte sich, was genau einen ›besseren‹ Mord ausmachte.

»Stein«, dachte er neben ihr laut nach.

»Etwas Sprödes. Es hat heftig gegen die Rippen und das Brustbein geschabt. Einen Teil der Partikelrückstände konnte ich mit splitternacktem Auge sehen, verdammt.«

Jack liebte die Ausdrucksweise dieser Frau.

»Aber es ist auch ein Gegenstand mit einer fiesen Schneide. Feuerstein vielleicht oder Obsidian. Einige der ersten Einschnitte könnten glatt von einem Skalpell stammen.«

Ein Steinmesser, überlegte Jack. Er musste Faye Rowland so bald wie möglich darüber informieren. Die Instrumente des Rituals konnten einen Hinweis auf das Ritual selbst liefern.

»Und die Blutgruppe Ihres Mörders ist B negativ«, fuhr Jan Beck fort.

Er reagierte überrascht. »Wie zum Teufel ... Ihre Fingernägel sind sauber gewesen. Und Sie sagten, der Samen hat keinen Treffer ergeben.«

»Stimmt beides. Ich habe willkürliche Blutflecken in Salz gelöst und mit Malachit behandelt. Shanna Barringtons Blutgruppe war A positiv. Eine der Malachitproben hat einen anderen Farbton ergeben, also habe ich sie mir genauer angesehen. All der Scheiß, den der Mörder an den Wänden hinterlassen hat, das Dreieck und die Symbole – die Zeichen bestanden aus dem Blut des Opfers. Alle bis auf eines.«

»Aorista?«, mutmaßte Jack.

»Gut geraten, Captain. Das Wort wurde in B negativ geschrieben. Was hat es eigentlich zu bedeuten?«

»Ein Vorgang, der nicht endet«, murmelte Jack.

»Das ist aus Ihrer Sicht ein ziemlicher Arschtritt.« Jan Becks zynisches Grinsen wirkte verschlagen. Ihre ganz persönliche Art auszudrücken: Da haben Sie ja wirklich das ganz große Los gezogen, Detective. Ein Mörder, dessen Motto für einen Vorgang stand, der nicht endete, lief auf die Aussage hinaus: Ich werde nicht aufhören. Aber Jack dachte vielmehr über das Blut nach. Der Pisser hat sich selbst geschnitten, ging ihm durch den Kopf. Warum?

»Wir haben außerdem ein haariges Problem«, fuhr Jan Beck fort. Sie führte Jack zu einem Labortisch, auf dem sich rot gebundene Ausgaben verschiedener Fachbücher türmten. Morphologische Differenzierung von menschlichem Haar, lautete ein Titel. Ein anderer: Mikrochemische Kortexanalyse. Mehrere große CRP-Präparathalter hingen an einer Leuchttafel. Jack sah, dass sie lange, stark gekräuselte Haare enthielten.

»Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen, Captain?«

»Klar«, erwiderte Jack.

»Haben Sie sich schon mal die Mühe gemacht, Ihre Schamhaare zu messen?«

Jack starrte die Frau an. »Also ... nein, hab ich nicht, Jan.«

»Dachte ich mir. Wir Fachleute bezeichnen das als ›Genitalhaarkunde‹. Irgendeine Vorstellung von der durchschnittlichen Länge eines Schwanzhaars?«

»Um ehrlich zu sein, Jan, ich habe bisher noch nicht allzu intensiv über die durchschnittliche Länge von Schambehaarung nachgedacht.«

»Sie beläuft sich auf zehn Zentimeter. Manche werden bis zu 15 Zentimeter lang, bevor sie ausfallen. Die meisten Menschen dürfte es überraschen, dass sie so lang werden.«

»Diese neue Erkenntnis verschlägt mir die Sprache.«

Sie wies mit dem Fingerabdruckpinsel auf die Präparathalter. »Die da sind 28 Zentimeter lang.«

Jacks Züge knautschten sich zusammen. »Das sind Schamhaare?«

»Ja, Captain. Es ist einfach, verschiedene Arten von Körperbehaarung voneinander zu unterscheiden. Eine mikroskopische Standarduntersuchung der Schaftwand und des Haarmarks bestätigt, dass es sich um Schamhaare handelt. Das einzige Problem besteht darin, dass sie etwa doppelt so lang wie der Durchschnitt sind.«

Jack starrte wie gebannt auf die gekräuselten Haare in den Halterungen.

»Da ist noch etwas, das den meisten Menschen nicht bewusst ist.« Jan Beck schien seine Bestürzung abzuwägen. »Weibliche Schamhaare sind dicker als männliche. Aber die Schamhaare Ihres Mörders sind die dicksten, die ich je gesehen habe.«

»Sie sagen mir jetzt aber nicht, dass der Mörder eine Frau ist, oder?«

Jan Beck lachte leise. Eine dumme Frage verdiente eine dumme Antwort. »Nur, wenn Sie eine Frau kennen, die eine Ladung von 80 bis 100 Millilitern Sperma abspritzen kann. Kennen Sie solche Frauen, Captain Cordesman? Oder Frauen mit Schwänzen dicker als Nudelhölzer?«

Jack nickte, um seine Dämlichkeit einzugestehen. »Fahren Sie fort.«

»Der Kerndurchmesser bei diesem Kerl beträgt über 400 Mikrometer. Der Durchschnitt liegt bei 50. Wissen Sie, das ist schon echt merkwürdig.«

»Ja«, pflichtete Jack ihr bei. Er wünschte sich sehnlich einen Drink. »Aber vielleicht liegt das an einer hormonellen Störung oder so.«

»Gutes Argument. Allerdings gibt es da noch etwas. Die Jungs vom Tatort haben mehrere andere Haare mitgebracht, die sich im oberen Bereich des Opferumrisses befanden. Glatt und schwarz. Und die gehörten nicht zur Körperbehaarung.«

»Mit anderen Worten Kopfhaare.«

»Richtig. Nun ist es aber so, dass Kopf- und Körperhaare derselben Person mikroskopisch bei fusiformen Zellvergleichen und Thermalanalysen der Schuppenanzahl immer übereinstimmen.«

»Das ist mir zu hoch, Jan. Vergessen Sie nicht, ich bin bloß ein dämlicher Bulle.«

»Die Schamhaare und die Kopfhaare stammen nicht von derselben Person. Die schwarzen Haare weisen eine andere Pigmentcharakterisierung auf, und sie waren abgeschnitten. Ihnen fehlten die Wurzel-Zellhüllen. Und lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen: Wissen Sie, was Dihydrotestosteron ist?«

Jack klopfte sich mit dem Daumen gegen die Stirn. »Nein, Jan, das weiß ich nicht.«

»Es ist eine Hormonabsonderung der menschlichen Kopfhaut. Diese Substanz ist an der Schuppenschicht des Haarschafts jedes menschlichen Haars unter dem Mikroskop immer vorhanden. Bei diesen schwarzen Haaren allerdings nicht.«

Jack wurde es allmählich leid. »Lassen Sie es mich so ausdrücken, Jan: Wovon, verdammte Scheiße noch mal, reden Sie da, Herrgott noch mal?«

»Der Mörder trug eine Perücke.«

Jack setzte sich auf einen Laborstuhl, obwohl er sich inständig wünschte, es sei ein Barhocker. Er brauchte einen Drink. Noch dringender brauchte er Normalität. Die Erinnerung hing in grellen Farben vor ihm: Shanna Barrington, abgeschlachtet auf ihrem blutdurchtränkten Bett, ihr Körper aufgeschlagen wie ein Buch. Jack wollte seine Welt zurück – nein, er wollte eine andere Welt, eine Welt, in der sich die Menschen gegenseitig liebten und nicht abschlachteten. War das zu viel verlangt? Schlagartig wurde ihm so übel, dass er sich am liebsten vorgebeugt und gleich hier auf Jan Becks glänzenden Linoleumboden übergeben hätte. Alles wäre aus ihm herausgespritzt, nicht nur sein Frühstück, sondern auch alles andere von ihm: zerbrochene Träume, unglückliche Liebe, Geist und Psyche. Sein Herz.

»Geht es Ihnen gut?«

Dann sah er Longford vor sich, was er als genauso schlimm empfand. Es hatte so viele Videobänder gegeben ... die Gesichter schienen Jack auf ewig zu verfolgen. Das reine Böse. Es war die einzige Erklärung. Dem Umfeld, der Erziehung und Persönlichkeitsstörungen konnte man die Schuld nur bis zu einem gewissen Grad zuschieben. Dann kam ein Punkt, an dem das einfach nicht mehr ging. Erwachsene Männer mit eigenen Frauen und Kindern und immens erfolgreichen Unternehmen. Sex mit entführten Kindern. Was ist falsch mit der Welt?

»Captain Cordesman, geht es Ihnen gut?«

»Ja«, antwortete Jack leise. Er holte tief Luft und schloss die Augen. Schließlich verging der Augenblick mit all seiner Schwärze.

Jan Beck sah ihn merkwürdig an.

»Was ist mit den Abdrücken?«, fragte er.

»Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht?«

Jack spürte, wie sein Temperament ins Schwanken geriet und ein böser Geist sein Herz samt Verstand zu verschlingen drohte. Reiß dich zusammen, flehte er sich an. »Ich hatte nur einen üblen Moment, Jan. Aber es geht mir gut.«

Eine Pause entstand. Plötzlich wurde Jan Beck ungewohnt ernst. »Viel mehr gibt es nicht. Wir können auch später darüber reden, wenn Sie wollen.« Eine längere Pause. »Irgendwie hab ich über die Gerüchteküche gehört ...«

»Sie haben gehört, dass mich meine Freundin abserviert hat, ich ein Säufer bin und es seit dem Longford-Fall mit mir bergab geht, richtig?«

»Na ja ...«

Sie erwies sich als zu höflich, um zu antworten. Jack wusste, dass er die Kontrolle verlor, aber warum? Und warum ausgerechnet jetzt? Sogar nach dem Longford-Fall war es nicht so schlimm gewesen. Er fühlte sich ohnmächtig. Ihm fiel die Graffiti-Kritzelei ein, die er in der vergangenen Nacht gesehen hatte. Liebesverlust ist gleich Selbstverlust. Verkörperte Veronica den Katalysator?

»Erzählen Sie mir etwas über die Abdrücke, Jan.«

»Die Techniker haben keine angefertigt. Der ganze Block dieser Wolkenkratzer steht ziemlich nah an der Bucht, und der Wasserspiegel ist denkbar ungünstig. Wenn es regnet, wird der Boden dort echt schlammig. Allerdings konnten wir ein Muster ermitteln. Kraftvoller Gang, lange Schritte. Die Fußabdrücke weisen auf jemanden hin, der groß und wahrscheinlich schwer ist – ein kräftiger Kerl. Die vorhandenen Überreste der Abdrücke fielen ziemlich tief aus. Und wir wissen, dass er sich nicht hinten abgeseilt hat. Ich habe seine Fingerabdrücke auf dem Balkongeländer unter Barringtons Wohnung gefunden.«

»Also ist er mit bloßen Händen runtergeklettert?«, hakte Jack nach.

Jan Beck nickte. »Von Balkon zu Balkon und runter auf den Boden. Vielleicht ist der Typ beim Militär gewesen oder so.«

Was habe ich?, überlegte Jack. Ich habe einen Sexualmörder mit 28 Zentimeter langen Schamhaaren und einem Schwanz wie eine Nockenwelle. Benutzt er ein gewöhnliches Messer? Nein, er benutzt ein Steinmesser. Tötet er Frauen, um dabei Spaß zu haben? Nein, er tötet sie im Rahmen eines Rituals. Er hinterlässt überall Fingerabdrücke, weil er weiß, dass sie nicht registriert sind. Er verletzt sich sogar selbst. Und er hinterlässt genug Samen im Opfer, dass man von mehrfachem Geschlechtsverkehr ausgehen müsste, allerdings wissen wir, dass er sich lediglich ein paar Minuten in der Wohnung aufgehalten hat. Und zu guter Letzt trägt er eine Perücke und ist körperlich in der Lage, mit bloßen Händen fünf Etagen nach unten zu klettern. Habe ich es mit einem typischen Mörder zu tun? Nein. Ich Glückspilz habe es mit einem absolut außergewöhnlichen Mörder zu tun.

»Sie haben gestern Abend gesagt, Sie hätten irgendeinen Kräuterextrakt in ihrem Blut nachgewiesen.«

»Ich habe die Kette über die Festnetzleitung durch die NADDIS-Datenbank gejagt. Was immer es ist, in dem Index ist es nicht zu finden.«

NADDIS, das Informationssystem für Narkotika und gefährliche Medikamente, war ein behördenübergreifender Rauschmittelkatalog, den die DEA anderen Behörden zur Verfügung stellte. Dafür wurden die Molekularbausteine einer unbekannten Substanz per Telefon digital übertragen und in den Datenspeichern codiert. Im NADDIS fanden sich Tausende von Molekülketten. »Wenn die Substanz dort nicht registriert ist, wie lange werden Sie brauchen, um sie zu identifizieren?«

»Wer weiß?«, gab Jan Beck zurück. Sie stellte ihre Cola auf den Deckel eines Blutanalysegeräts der Vision-Serie von Abbott Industries. »Ich bin mir schon vorher sicher gewesen, dass es kein Suchtmittel ist, und es handelt sich auch nicht um etwas Pharmazeutisches. Jetzt muss ich wenigstens keine Zeit verschwenden, um herauszufinden, was es nicht ist. Ich gebe Ihnen Bescheid.«

»Sonst noch was?«

»Das ist alles, Captain.«

Jack stand auf und ließ den Blick abwesend durch das Labor schweifen. Den unverhofften Impuls, der ihn in jenem Augenblick erfasste, konnte er zunächst nicht einordnen. Jahrelang hatte ihn der Job seiner Gefühle beraubt. Nun strömten die Gefühle zurück wie ein wilder Vogelschwarm. Vielleicht musste er in seine Gefühle eintauchen, sich mit ihnen durchtränken. Vielleicht reichte nicht einmal das.

»Wo ist die Leiche?«, erkundigte er sich.

»Noch in Verwahrung. Leider gibt es keine Verwandten, an die sie überstellt werden könnte. Irgendwie traurig.«

Irgendwie traurig, wiederholte Jack in Gedanken. »Was passiert mit ihr?«

»Nach 60 Tagen übernimmt sie der Staat.«

Jack nickte und versuchte, sich abzulenken. »Ich muss sie sehen.«

Jan Beck verengte die Augen hinter der mächtigen Brille zu Schlitzen. »Die Leiche?«

»Genau. Die Leiche.«

»Da gibt’s nichts zu sehen, Sir. Sie ist zugenäht und eingetütet. Sie ...«

Jack hob eine Hand, um ihren Einwand zu bremsen. Sie hält mich für verrückt, erkannte er. »Zeigen Sie mir einfach die Leiche, Jan.«

Ihre Gesichtszüge froren ein. Sie führte ihn den Flur hinab. Die Technikabteilung verfügte über ihre eigenen Autopsieeinrichtungen: Die corpora delicti der scheußlicheren Morde wurden hierher statt ins Bezirkskrankenhaus gebracht, um die Beweissicherung zu beschleunigen. Jack war schon viele Male hier gewesen. Er nannte es ›die Werkstatt‹.

Auf der glänzenden schwarzen Tür stand ›Verwahrungsraum‹. Es gab keine Schubladen oder dergleichen, nur Metalltische mit großen schwarzen Leichensäcken. Ein durchdringender Geruch erfüllte den kühlen Raum, eine Mischung aus Formalin und Jodlösung.

Einer der Säcke war winzig – ein Kleinkind, erkannte Jack. Auf einem anderen Tisch lagen mehrere kleinere Tüten. Leichenteile. Jan Beck trat an den Tisch in der Mitte. Der im Neonlicht schimmernde Sack verfügte nicht über den erwarteten Reißverschluss, sondern über dicke Metallkammern.

Jack musste die Leiche sehen, deshalb war er hier. Er brauchte das Gefühl einer Reaktion, die ihm ins Gesicht schlug. Jan Beck löste die Klammern und öffnete die innere Hülle aus durchsichtigem Kunststoff.

Anschließend trat sie zurück.

Stille schien in Jacks Ohren zu toben – die Stille einer tiefen Schlucht oder der höchstgelegenen Orte der Welt. Er schaute weniger hin, vielmehr wurde ihm gezeigt. Aber wer zeigte ihm etwas? Gott? Das Schicksal? Das tut die Welt Menschen an, flüsterte eine Stimme, die nicht ihm gehörte. Das tun wir, wenn uns langweilig ist.

Shanna Barringtons Kopf war rasiert worden; Metallklammern, keine Nähte, befestigten die Schädeldecke. Sie sah aus wie eine misslungene Schaufensterpuppe. Der berüchtigte Y-Schnitt, die universelle Signatur der Pathologen, verlief von den Schlüsselbeinen zum Schambein, zusammengehalten von einer dicken schwarzen Naht. Ihre Organe hatte man gewogen, histologisch untersucht und zurück in den Leichnam gelegt. Jack musste an einen mit den eigenen Innereien gefüllten Truthahn aus dem Supermarkt denken.

Ja, so etwas tat die Welt Menschen manchmal an – einfach so zum Spaß. Die Welt juckte es nicht. Stocksteif starrte er die Leiche an. Was für ein kosmischer Beschiss. Die weiße Haut des Körpers schien beinahe zu leuchten. Wenn die Welt einem Unschuldigen das als Quittung austeilte, sollte die Welt sich zum Teufel scheren. Plötzlich wurde Shanna Barrington zu Jacks konzeptueller Schwester. Es spielte keine Rolle, dass er sie in Wirklichkeit nicht gekannt hatte. Er kannte sie wegen dem, was sie verkörperte. Sie hatte ihre persönliche Quittung dafür erhalten, dass sie es gewagt hatte zu träumen – ein Kühllager in einem Leichensack von Parke-Davis. Sie hatte sich nur Liebe gewünscht und stattdessen das hier von der Welt bekommen. Gut und Böse bildeten keine Gegensätze – sie waren identisch, eineiige Zwillinge. Das Grauen stellte einen ebenso mächtigen Herrscher wie Gott dar.

Du bist jetzt meine Schwester, dachte er, als ihm das Blut heiß in den Kopf stieg. Er wusste nicht, was er inniger tun wollte – lachen oder weinen.

Mit zusammengebissenen Zähnen grinste er. Der Ort, an dem er gerade stand – ein Kühlhaus für Menschenfleisch –, lieferte die Antworten auf alle Fragen seines Lebens gleichzeitig. Die Antwort lautete: Es gibt keine Antworten auf irgendetwas. Jan Beck musterte ihn mit einem zutiefst merkwürdigen Blick von der Seite, während Jack weiter die Leiche betrachtete. Die blauen Nippel waren einst rosa vor Verlangen gewesen. Die blauen Lippen hatten einst auf der Suche nach Liebe geküsst. Irgendwo unter der schwarzen Naht befand sich ein Herz, das einmal erfüllt von Träumen geschlagen hatte.

Ich werde dich rächen, Shanna Barrington. Ich werde den Drecksack fassen, der dir das angetan hat, ich werde ihn mit bloßen Händen verscharren und auf sein Grab pissen. Ich werde ihn Stück für Stück an die miese, nach Scheiße stinkende Welt verfüttern, die ihn ausgespuckt hat.

Durch den Schwindel Tausender grausamer Wahrheiten trat er näher hin. Mit der Fingerspitze berührte er die Hand des Kadavers. Oh ja, schwor er sich. Ich werde ihn dafür bezahlen lassen.