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Cover

INHALT

Widmung

VORREDE VON DR. WATSON

DER VERSCHWUNDENE DIPLOMAT

DAS GLAS MIT DEM MAGENBITTER

DIE ZWEIUNDVIERZIG NAPOLEONS

SCHRAUBENFLÄCHEN MIT GENEIGTER ERZEUGUNGSLINIE

DORNRÖSCHENSCHLAF

DER RHEINGAUER PRINZENRAUB

DIE DRACHENLADY

KURZE VORBEMERKUNG DES HERAUSGEBERS

DIE RIESENRATTE VON SUMATRA

FÜR IMMER 1895

DIE AUTOREN

Der Herausgeber

 

DIE NEUEN FÄLLE DES MEISTERDETEKTIVS

SHERLOCK HOLMES

 

 

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In dieser Reihe bereits erschienen:

 

3001 – Sherlock Holmes und die Zeitmaschine von Ralph E. Vaughan

3002 – Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge von J. J. Preyer

3003 – Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand von Ronald M. Hahn

3004 – Sherlock Holmes und der Werwolf von Klaus-Peter Walter

3005 – Sherlock Holmes und der Teufel von St. James von J. J. Preyer

3006 – Dr. Watson von Michael Hardwick

3007 – Sherlock Holmes und die Drachenlady von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)

3008 – Sherlock Holmes jagt Hieronymus Bosch von Martin Barkawitz

Klaus-Peter Walter (Hrsg.)

 

SHERLOCK HOLMES

und die Drachenlady

 

Basierend auf den Charakteren von
Sir Arthur Conan Doyle

 

 

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© 2014 by BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Lektorat: Dr. Richard Werner

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-206-6

INHALT

 

Vorrede von Dr. Watson

Der verschwundene Diplomat – Peter Jackob

Das Glas mit dem Magenbitter – Wolfgang Schüler

Die zweiundvierzig Napoleons – Christian Endres

Schraubenflächen mit geneigter Erzeugungslinie – Klaus-Peter Walter

Dornröschenschlaf – Franziska Franke

Der Rheingauer Prinzenraub – Karsten Eichner

Die Drachenlady – Klaus-Peter Walter

Die Riesenratte von Sumatra – Franziska Franke

Für immer 1895 – Nachwort des Herausgebers – Klaus-Peter Walter

Die Autoren

 

 

 

Zur Erinnerung an meine liebe, gute Tante Icke

(Frieda Habermehl, 1893-1983)

VORREDE VON DR. WATSON

 

Im Englischen wie im Griechischen und vor allem im Deutschen ist der Tod männlichen Geschlechts. Als Death, Thanatos oder Sensenmann mäht er uns Menschen mit roher Kraft nieder, sichelt uns grausam hinweg aus unserem Dasein, trennt uns von unseren Lieben, ob wir es wollen oder nicht. Um wie viel sympathischer sehen ihn die romanischen und slawischen Völker! Bei ihnen ist der Tod eine Frau und heißt mors oder la muerte beziehungsweise smertj. Smertj! Kaum ein Wort könnte weicher, ja zärtlicher klingen als dieses.

Vor vielen Jahren – oder besser Jahrzehnten – sah ich einmal Reproduktionen von Gemälden des polnischen Symbolisten Jacek Malczewski. Auf ihnen ist der Tod stets eine schöne Frau, eine Tödin sozusagen, mit langem Zopf und einer Sichel in der rechten Hand. Mit einer hypnotischen, liebkosenden Geste der Linken bringt sie dem Müden und Beladenen den ersehnten ewigen Schlaf.

Meine Tödin wartet schon lange auf mich. Ich spüre es, sie umschreitet jede Nacht gelassen, ohne Eile oder Ungeduld, das Haus. Es liegt in London und gehört meiner Tochter und ihrem Mann. Noch zögert meine Tödin, es zu betreten, noch blickt sie nur aus dem Hof wartend zu meinen beiden Fenstern empor, hinter denen trotz der späten Stunde noch das Licht brennt, denn ich finde kaum mehr Schlaf.

„Lassen wir den alten Doktor noch ein wenig schreiben“, mag sie denken, „damit die Welt noch ein paar allerletzte Sherlock-Holmes-Geschichten bekommt. Dann mag er für immer die Feder niederlegen und sich ausruhen.“

Ich hoffe, dass ich bei ihrem Eintreten noch die Kraft besitze, mich höflich zu erheben. Alles andere wäre eines Gentlemans nicht würdig. Ich möchte im Stehen sterben.

Bis sie also klopft (Oder wird die wahre Herrscherin der Welt ohne Klopfen eintreten? Ich weiß es nicht!) – also, bis es so weit ist, werde ich noch ein paar Fälle meines Freundes Sherlock Holmes zusammenstellen, über die ich bislang noch nicht berichtet habe. Nicht immer konnte er seine Fälle, wie etwa den des verschwundenen britischen Diplomaten Lionel Preston, einem erfolgreichen Ende zuführen. Manchmal lag sogar überhaupt kein wirkliches Verbrechen vor wie im Falle der zweiundvierzig Napoleons. Meine kleine Sammlung ist jedoch einmal mehr dazu angetan, dem Charakter des größten Detektivs, den die Welt je besaß, die eine oder andere unbekannte Facette hinzuzufügen.

Diesmal wird es mir gleichgültig sein, ob die Welt schon reif für diese Fälle ist oder nicht, oder ob die Diskretion gebietet, den Mantel des Schweigens über sie zu breiten. Ich lasse mir von niemandem mehr dreinreden. Denn wenn sie meiner Leserschaft zugänglich sein werden, werden alle Beteiligten – Holmes, Sir Mycroft, Inspektor Lestrade, meine Wenigkeit und alle anderen – längst zu dem Staub zerfallen sein, aus dem wir dereinst erschaffen wurden.

Ich muss schließen, ich höre Schritte auf der Treppe. Vielleicht ist es nur meine Tochter mit dem Kamillentee. Vielleicht ist es auch sie. Vorsichtshalber werde ich versuchen aufzustehen.

 

Gottes Segen allen Lesern dieser Zeilen!

John H. Watson, M. D.

London, im Juli 1929

DER VERSCHWUNDENE DIPLOMAT

Peter Jackob

 

 

Schon seit Tagen lag sengende Hitze über London, weshalb ich früh aufstand und am offenen Fenster unseres gemeinsamen Wohnraums die Kühle des Morgens genoss. Ganz allmählich erwachte das städtische Treiben. Erste Kutschen fuhren vorüber, die Zeitungsverkäufer bezogen ihre Standorte, und mehr und mehr Menschen bevölkerten die Bürgersteige der Baker Street.

Ich sah auf meine Uhr. Jeden Moment würde mich Mrs Hudson mit meinem Frühstück versorgen. Wie schon die Tage zuvor, lag Sherlock Holmes wohl noch in den Federn. Er schien mit einem neuen Fall beschäftigt zu sein, denn er verließ stets abends gegen halb sieben unser Domizil und kam erst im Laufe der Nacht zurück.

Als ich ihn einmal darauf ansprach, gab er mir wie gewöhnlich nur spärlich Auskunft: „Eine äußerst vertrackte Geschichte, Watson. Gedulden Sie sich noch etwas. In ein paar Tagen präsentiere ich Ihnen die wesentlichen Fakten des Falls.“ Und nach einer kurzen Denkpause setzte er hinzu: „Wissen Sie, je kleiner das fehlende Detail, desto größer die Herausforderung.“

Mehr war nicht aus ihm herauszubekommen.

Ich hatte gerade die Tür zu meinem Zimmer geöffnet, als jemand unser Wohnzimmer betrat.

„Guten Morgen, Misses Hudson!“, grüßte ich. „Einen Augenblick bitte, ich hole nur schnell meine Brille für die Morgenzeitung.“

Mein Gruß wurde nicht erwidert. Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, empfing mich der Geruch frischen Kaffees. Ich war ein wenig erstaunt, dass unsere Vermieterin, die gute Seele der Baker Street 221B, gleich wieder gegangen war. Auch lag der Daily Telegraph nicht wie sonst neben dem Tablett auf dem Tisch. Ich wollte mich bereits auf den Weg nach unten machen, um die Zeitung zu holen, als mich die Stimme meines Zimmergenossen überraschte.

„Guten Morgen, Watson! Wie ich sehe, genießen Sie die angenehme Kühle der frühen Morgenstunden. Gibt es etwas Schöneres, als während dieser Hitzewelle nach getaner nächtlicher Arbeit noch ein wenig am offenen Fenster zu entspannen, bevor man sich zurückzieht?“

Es dauerte einen Augenblick, bis ich meinen Freund und Gefährten entdeckte. Er saß mit dem Rücken zu mir an seinem Experimentiertisch.

„Ein klassisches Beispiel für selektive Wahrnehmung, mein Lieber“, dozierte er in seiner schulmeisterlichen Art. „Sie konnten mich nicht sehen, weil …“

„… weil ich nicht erwartet hatte, Sie zu sehen“, schnitt ich ihm das Wort ab. „Das ist nun wirklich nicht der Rede wert, Holmes. Ist es das, was Sie derzeit fesselt? Selektive Wahrnehmung?“ Ich setzte mich und schenkte mir Kaffee ein. „Möchten Sie vielleicht auch eine Tasse?“, fragte ich nicht ohne ironischen Unterton. „Allerdings, so kurz vor dem Schlafengehen …“

„Einen Augenblick! Ihnen fehlt die Zeitung zum Kaffee.“ Er griff auf den neben ihm stehenden Hocker und warf sie mir zu.

Ich legte den Daily Telegraph auf den Esstisch, biss in meinen mit Schinken belegten Toast und aß eine Gabel Rührei.

„Ziemlich deftige Kost in Anbetracht der derzeitigen Hitze, würde ich meinen.“

„Mir steht eben der Sinn danach, Holmes. Wollen Sie mir nicht noch ein wenig Gesellschaft leisten? Ich war gestern übrigens in meinem Club.“

Er stand auf und blieb vor mir am Esstisch stehen. Seine stechenden Augen musterten erst mich und dann den Raum gründlich.

„Sie haben Billard gespielt, und zwar durchaus erfolgreich, wie sich unschwer erkennen lässt. Anschließend haben Sie noch ein wenig gefeiert, waren also bester Dinge.“

„Holmes, keine Spielchen! Ja, ich habe tatsächlich Billard gespielt. Was hat mich dieses Mal verraten? Die blaue Kreide des Queues?“

„An Ihrem Jackett.“ Er deutete auf das Kleidungsstück, das an der Garderobe hing. „Und unter Ihrem Fingernagel des rechten Daumens finden sich ebenfalls Partikel dieses unverkennbaren Blautons. Man sieht es natürlich nur, wenn man danach Ausschau hält.“

„So viel zur selektiven Wahrnehmung. Und Sie haben natürlich die gestapelten Münzen auf dem Sekretär gesehen“, kam ich ihm zuvor.

„Ich habe mir zudem erlaubt, kurz Ihren Gewinn zu überschlagen.“

Ein flüchtiges Grinsen umspielte seine Lippen, als er zum Kamin ging und seine Meerschaumpfeife vom Sims nahm. Er schien jetzt bereit, so gut kannte ich ihn mittlerweile, Einzelheiten seines neuen Falls zu berichten.

Mrs Hudson brachte das Frühstück für meinen Freund. Demnach war sie ihm bei seiner Heimkehr im Hausflur begegnet. „Mister Holmes, den Daily Telegraph haben Sie ja bereits mitgenommen. Im Eingang steht aber noch dieser Koffer. Was haben Sie damit vor? Ich meine, er sollte nicht länger dort herumstehen.“

„Danke, Misses Hudson. Ich kümmere mich darum.“ Er leerte seine Tasse und war auch schon aus der Tür. „Bin gleich zurück, Watson!“, rief er uns von der Treppe aus zu.

Nur wenige Augenblicke später stand er mit einem edlen, mittelgroßen Lederkoffer im Wohnraum. Er setzte sich wieder neben mich, goss sich eine zweite Tasse Kaffee ein und wartete, ohne einen Bissen seines Frühstücks anzurühren oder ein weiteres Wort zu verlieren, bis ich meine Morgenmahlzeit beendet hatte.

„Sie sind jetzt so weit?“, fragte er mich und schob das Geschirr zur Seite. Dann stellte er den Koffer auf den Tisch, öffnete den Deckel und machte eine ausladende Geste.

„Soll das wieder einmal eine Demonstration Ihrer deduktiven Fähigkeiten werden?“

„Nein. Ich stehe lediglich zur Verfügung, wenn Sie etwas übersehen sollten.“

„Was wollen Sie damit demonstrieren? Dass ich weniger genau beobachte als Sie? In Gottes Namen, Holmes!“ Die leichte Verärgerung in meiner Stimme war sicherlich nicht zu überhören.

„Ich erinnere mich noch gut an den Hut von Henry Baker und den Gänse-Club“, sagte ich knapp und musste ob der Erinnerung an diese Episode doch schmunzeln.

Holmes war aufgestanden, besah mit seiner Lupe eine der Ecken des Koffers und begann in der ihm unverwechselbaren Art zu dozieren: „Dies ist übrigens der einzige Hinweis auf den verschwundenen Regierungsbeamten Lionel Preston. Er sollte letzten Montag in einer wichtigen diplomatischen Mission nach Paris reisen. Heute ist Freitag, und der Mann scheint wie vom Erdboden verschluckt. Nur diesen leeren Lederkoffer hat man im Zug von London nach Dover am Fuße seines reservierten Platzes gefunden. Misses Preston hat mittlerweile bestätigt, dass es sich um den Koffer ihres Mannes handelt. Scotland Yard ist ratlos. Mycroft hat mich übrigens gleich am Dienstagmorgen eindringlich darum gebeten, mich unverzüglich in den Dienst des Empires zu stellen. Es hänge nicht weniger als die Sicherheit unseres Landes und halb Europas vom Inhalt des verschwundenen Schreibens ab.“

„Was genau war denn Prestons Auftrag in Paris?“

„Nun, er hatte eine schriftliche Stellungnahme unserer Regierung zu den neuesten Richtlinien der Bündnispolitik auf dem Kontinent bei sich. Ein versiegeltes Dokument, das es der französischen Regierung zu überbringen galt. In den falschen Händen könnte es unabsehbare Folgen haben. Außer ein paar der führenden Köpfe unserer Regierung kannte niemand den Auftrag des Diplomaten, geschweige denn den Inhalt des Briefes.“

„Das klingt nach einer Katastrophe europäischen Ausmaßes, Holmes!“

„Da haben Sie zweifellos recht. Es erinnerte mich auf Anhieb an den leidigen Vorfall mit dem Flottenvertrag. Sie wissen doch, Ihr Schulfreund Percy Phelps. Die Lage schien damals ebenso aussichtslos.“

Ich nickte. „Das heißt, Sie haben noch Hoffnung.“

„Das wäre eine Übertreibung, Watson. Dennoch, der Koffer bietet einige hochinteressante Hinweise, die wiederum ein gewisses Maß an Hoffnung zulassen.“

Ich versuchte mich zu konzentrieren, doch dieser Lederkoffer erschien mir so wenig außergewöhnlich wie damals der Hut von Henry Baker.

„Unser Objekt“, berichtete Holmes währenddessen weiter, „stand, wie ich ja schon erwähnt habe, in Prestons Abteil. Man hat versucht, Fahrgäste ausfindig zu machen, die den Diplomaten gesehen haben, aber ohne Erfolg. Die Fähre nach Frankreich hat er wohl nicht bestiegen. Scotland Yard überprüft jedes Hotel an der Südküste und führt zudem Kontrollen durch.“

„Wollen Sie etwa andeuten, dass uns der Koffer auf die rechte Spur bringen wird, Holmes?“

Er sah mich an und verzog die Mundwinkel zu einem leichten Lächeln. „Versuchen Sie es, Watson. Ich werde mir jede Art von abfälligen Bemerkungen verkneifen.“

„Kommen Sie. Ihre Eitelkeit kennt in solchen Momenten keine Grenzen“, erwiderte ich. Dennoch näherte ich mich dem Gepäckstück und untersuchte zuerst, ob es irgendwelche Schäden gab.

„Eine Abschürfung am Deckel, hinten links“, unterbrach mich Holmes. „Sonst ist der Koffer unversehrt, bis auf …“

„Holmes! Wenn Sie mich schon zu Versuchszwecken benötigen, dann schweigen Sie wenigstens, bis ich mit meiner Begutachtung fertig bin.“ Ich öffnete den Deckel und besah das mit feinem Stoff in Paisleymuster ausgeschlagene Innere. „Das hier, Holmes …“ Ich deutete auf eine erbsengroße, bräunliche Verfärbung. „Das scheint mir getrocknetes Blut zu sein.“

„Ausgezeichnet, mein Lieber! Ja, das ist in der Tat getrocknetes Blut.“

„Etwa von Preston?“, fragte ich.

„Eine interessante Annahme.“ Holmes ging zum Fenster, breitete die Arme aus und gähnte.

Weiterhin stellte ich fest, dass es zwei leere Innentaschen gab. Bei einer war das Futter leicht eingerissen. Aber der Koffer verbarg noch mehr, wie mir schien. „Man hat am Griff etwas entfernt, denn dort ist das Leder etwas heller. An dieser Stelle war wohl das Adressschild befestigt.“

„Bravo, Watson! Und was sagt Ihnen das?“

„Dass die Identität des Eigentümers verheimlicht werden sollte.“

Holmes schüttelte resigniert den Kopf. „Bitte, Watson … Natürlich stimmt das, aber man tut gut daran, auch über das Offensichtliche hinauszudenken. Ein klein wenig mehr Esprit ist an diesem Punkt schon vonnöten.“

„Das Namensschild“, startete ich einen weiteren Versuch, „und alle weiteren Indizien wurden von seinen Entführern entfernt, um keinen Hinweis auf Prestons Verbleib zu hinterlassen.“

„Von seinen Entführern? Haben Sie einen Hinweis darauf gefunden, dass Preston entführt wurde? Hätte man dann nicht auch den Koffer verschwinden lassen?“

Ich begann, meinen womöglich voreiligen Schluss noch einmal zu überdenken, und antwortete mit einer Gegenfrage: „Gibt es denn überhaupt noch etwas zu entdecken, Holmes?“

„Ich würde Sie wohl kaum weitersuchen lassen, wenn Sie das entscheidende Indiz schon gefunden hätten. Nur so viel: Das entfernte Namensschild spielt tatsächlich eine wichtige Rolle. Allerdings übersehen Sie das Eigentliche.“

Nach einer ausgedehnten Untersuchung fiel mir doch noch etwas auf, allerdings erschien mir der Tatbestand eher nebensächlich. „Es fehlt ein kleiner Nagel am Beschlag des Deckels.“

„Ausgezeichnet, mein Lieber! Und was folgern Sie daraus?“

Ich konnte mir nicht im Entferntesten vorstellen, warum dies ein wichtiges Indiz sein sollte. Ich starrte wie gebannt auf den Koffer, schüttelte schließlich den Kopf und entschloss mich, die Flucht nach vorn anzutreten. „Holmes, wenn ich mich recht entsinne, bin ich Arzt, aber kein Detektiv. Und ich würde meinen, dass ich bereits einiges aus diesem leblosen Kasten herausgelesen habe.“

„Das haben Sie, werter Doktor, das haben Sie. Aber wie so häufig sind es nur Spekulationen. Nicht eine sinnvolle Verknüpfung von zwei gemachten Beobachtungen ist Ihnen gelungen. Außerdem haben Sie in keinerlei Weise die Informationen, die ich Ihnen über Preston gab, mit einbezogen.“

Ich hob abwehrend die Hände. „Dann zeigen Sie mir eben, dass Sie es besser können.“

Die Schärfe in meiner Stimme ließ ihn aufhorchen, denn obwohl er bereits vor dem Koffer stand, brach er ab und wandte sich mir zu. „Entschuldigen Sie meine Ungeduld, Watson. Also, was können Sie mir noch über den verschwundenen Lionel Preston sagen?“

„Er ist wohlhabend und gewissenhaft, denn ein solcher Koffer kostet eine Menge Geld. Er bedarf der sorgfältigen Pflege, sonst sieht ein solches Stück schnell recht mitgenommen aus.“

„Aha, sehr gut. Und was noch?“

Ich fühlte mich ob der Zustimmung meines Freundes beflügelt. „Ich bleibe dabei, dass man Preston entführt hat. Der Koffer wurde als Lebenszeichen zurückgelassen.“

„Entführt, sagen Sie … Soll demnach unsere Regierung erpresst werden?“

Die leichte Ironie in seiner Stimme kannte ich nur zu gut. Ich hielt mich jedoch nicht mit seiner Bemerkung auf und führte meinen Gedanken weiter aus. „Ich denke, man hat das Adressschild entfernt, um Zeit zu gewinnen. Man wollte wohl nur in die Mission eingeweihte Personen aus Regierungskreisen auf die Entführung aufmerksam machen.“

„Nicht uninteressant, mein Lieber. Nur, warum einen Koffer zurücklassen, wenn man ohnehin mit den entsprechenden Stellen in Kontakt treten wird?“

Es fiel mir schwer, etwas dagegen vorzubringen.

„Watson, Sie haben die Fakten in eine von Ihnen vorab in Gedanken formulierte Idee hineingezwängt. Ihre Folgerungen sind nicht ohne logische Konsequenz, rein formal gesehen, aber Sie lassen die wahren Gegebenheiten außer Acht. Sie arbeiten nicht wirklich deduktiv, sondern induktiv, soll heißen …“

„Ich weiß, was das heißt, Holmes!“ Ich war selbst überrascht ob meines recht brüsken Tons und fuhr fort: „Es gibt da eine Sache, die ich Ihnen schon lange einmal sagen wollte.“

Er sah mich fragend an. „Ja?“

Ich stand vom Tisch auf, ging ein paar Schritte in Richtung Zimmermitte und drehte mich mit einem Mal zu ihm um.

„Watson, jetzt sagen Sie schon, was Ihnen offenkundig bereits seit geraumer Zeit auf der Seele brennt.“

„Ich möchte nicht harsch erscheinen, Holmes, aber Ihr Gerede über Fakten, genaue Beobachtung und all das … na ja, das ist Augenwischerei, keine wirkliche Deduktion.“

„Watson!“

Er schien wirklich aufgebracht, weshalb ich versuchte, ein wenig zu beschwichtigen. „Natürlich arbeiten Sie auch deduktiv, aber sind Hypothesen und Vermutungen nicht unvermeidlich? Sie denken nicht anders wie jeder andere, nur sind Sie unendlich viel genauer in Ihren Beobachtungen, Analysen und den Schlüssen, die Sie daraus ziehen. Und das ergibt dann die perfekte Symbiose aus induktivem und deduktivem Denken, mit einer besonderen Affinität für die Deduktion.“

Holmes stand da, den Mund leicht geschürzt, und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander, was eine gewisse Erregung verriet. Minutenlang geschah nichts. Schließlich blickte er erst den Koffer, dann mich an und sagte: „Vielleicht kommen wir jetzt wieder zum eigentlichen Gegenstand unseres Interesses. Hören Sie einfach nur zu, mein Lieber.“

Er ging um den Tisch herum und blieb dahinter stehen. Dann hielt er seine Hände fast beschwörend über den Koffer und deutete auf die Abschürfung an der linken Ecke des Deckels. „Hinweis Nummer eins. Das sind frische Kratzer, nicht älter als ein paar Tage. Das können Sie unschwer an den Fasern des Leders erkennen, die noch abstehen.“ Er hielt mir seine Lupe hin, doch ich winkte ab. „Im Zug sind diese Spuren nie und nimmer entstanden. Das heißt, der Koffer fiel und wurde für einen kurzen Moment über den Boden gezogen. Können Sie mir folgen?“

Er sprang gänzlich unvermittelt auf, eilte zu seinem Experimentiertisch, griff eine Pinzette und kam wieder zurück. „Und wenn Sie genauer hinsehen, finden wir geringe Reste Erde. Es handelt sich einwandfrei um sandige, rote Erde. Kaum zu erkennen, aber sehen Sie selbst. Diesen Erdtyp findet man nur in einem Teil von ganz London.“

„Im Nordwesten, hier ganz in der Nähe.“ Natürlich erinnerte ich mich an einen unserer ersten gemeinsamen Fälle: Das Zeichen der Vier.

„Ganz genau, Watson. Wir wissen, dass Lionel Preston den Zug um 7.10 Uhr am Montagmorgen von der Victoria Station aus genommen haben soll.“

„Haben soll? Was wollen Sie damit andeuten?“, hakte ich nach, doch wie so häufig, wenn er in einen Gedanken vertieft war, bekam ich keine Antwort auf die gestellte Frage.

„Wieso also befand sich der Koffer von Lionel Preston im Nordwesten Londons?“, sprach Holmes einfach weiter. „Diese Frage ist von wesentlicher Bedeutung. Preston wohnt südlich des Bahnhofs in der High Street, nicht weit von der Victoria Station entfernt. Es macht doch auf den ersten Blick keinen Sinn, dass sich der Koffer noch vor seiner Abreise ein ganzes Stück weiter nordwestlich befunden hat. Was sagt Ihnen das?“

„Na, da bleibt einem doch nur, eine Vermutung anzustellen und intuitiv mit den gesammelten Fakten zu arbeiten“, erwiderte ich.

Holmes grinste mich wissend an, ignorierte jedoch meine Bemerkung. „Sehen Sie sich das hier bitte noch einmal an. Es dürfte der entscheidende Hinweis auf den Verbleib des Diplomaten sein.“ Er legte den Finger direkt neben die Stelle, wo sich der Nagel befunden hatte, der wohl im Laufe der Zeit aus dem Beschlag herausgefallen war. Ich griff nach seiner Lupe und versuchte etwas – irgendetwas – zu erkennen, aber bis auf ein paar wenige Kratzer am Rand des Beschlages war absolut nichts zu entdecken. Holmes trat mit einem Skalpell in der Hand zu mir.

„Was wollen Sie dann damit?“, fragte ich ihn.

„Passen Sie auf!“, entgegnete er, schob die Klinge unter den Messingbeschlag und hebelte diesen mit zwei schnellen Bewegungen vom Koffer. Darunter kam ein zusammengefalteter Zettel zum Vorschein.

Ich traute meinen Augen nicht. „Woher wussten Sie, dass sich etwas darunter verbergen würde?“

„Watson, was genau sagt uns dieser Zettel?“

„Dass Preston weiß, was er tut?“, mutmaßte ich.

Holmes hob den Zeigefinger und nickte.

„Aber was ist mit dem Blutfleck?“, wollte ich wissen.

„Er muss sich beim Entfernen des Beschlages verletzt haben.“

Ich versuchte, die Fakten ein weiteres Mal durchzugehen. Preston war also im Zug von London nach Dover verschwunden. Nur den Koffer hatte man gefunden. „Bevor Preston entführt wurde … oder besser gesagt, verschwunden ist, hat er einen Hinweis auf einen Zettel geschrieben und unter dem Beschlag versteckt?“

„Das scheint auf den ersten Blick naheliegend, erweist sich aber bei genauerer Überlegung als unsinnig.“

Ich kam nicht weiter. Holmes hatte in der Zwischenzeit das Papier geöffnet.

„Was steht auf dem Zettel, Holmes?“

„Das sieht nach einem Gepäckaufbewahrungsschein aus, Watson“, bemerkte er knapp.

Es dauerte einen Moment, bis ich den Sinn seiner Worte erfasst hatte und antworten konnte. „Aber wieso denn ein Gepäckaufbewahrungsschein? Steht nichts Handschriftliches darauf, keine Anweisung?“

„Nein, keine Silbe.“

Ich überlegte. Wieso hatte Preston den Koffer in der Gepäckaufbewahrung deponiert und dann wieder abgeholt? Wie lange hatte der Koffer dort gelegen? Bedeutete das womöglich, dass der Diplomat etwas geplant hatte, noch bevor er die Reise nach Paris antrat? Mir schwirrte der Kopf Holmes fingerte unterdessen Tabak aus seinem persischen Pantoffel und stopfte eine seiner Pfeifen. Ich wurde den Eindruck nicht los, dass er genau wusste, welches die nächsten Schritte sein mussten. Am liebsten hätte ich ihm zu verstehen gegeben, seine Spielerei auf der Stelle zu beenden, aber meine Neugierde war zu groß.

„Ich denke, wir sollten aufbrechen“, meinte er unvermittelt.

„Zur Gepäckaufbewahrung?“, fragte ich, ohne zu wissen, welcher Bahnhof gemeint sein könnte.

„Manchmal sind die Dinge genauso offensichtlich, wie sie aussehen. Auf zur Victoria Station!“

Wir brachen per Kutsche in Richtung Bahnhof auf. Dort angelangt, durchschritten wir die herrschaftliche Halle und kamen durch eine Tür zur Gepäckaufbewahrung. Holmes legte den Gepäckschein auf den Tisch. Der Bahnbeamte, ein etwas schwerfälliger älterer Mann, musterte ihn kurz, nickte und verschwand zwischen den langen, tief ins Innere des Bahnhofs reichenden Gepäckregalen. Schließlich kam er mit einem Lederkoffer zurück, der dem in der Baker Street bis auf die Größe auf das Genaueste zu gleichen schien. Ich war sprachlos.

„Ich müsste wissen, wann das Gepäckstück hier deponiert wurde“, sagte Holmes.

Der Mann griff zu einem Registerband. „Moment … hier hab ich es. Letzten Sonntag, am späten Nachmittag. Genau um halb sechs Uhr, Sir.“

Diese Information schien sich mit den Erwartungen meines Freundes zu decken.

„Darf ich Sie noch nach Ihrem Namen fragen?“

„Kippler, Sir. Jonathan Kippler.“

„Ich danke Ihnen, Mister Kippler.“

„Nichts zu danken, Sir.“

„Holmes, wollen Sie ihn nicht nach dem Aussehen des Mannes fragen, der den Koffer hier deponiert hat?“, bemerkte ich einigermaßen verwirrt.

„Es besteht nicht der geringste Zweifel, Watson, dass es Lionel Preston selbst war, der das Gegenstück zu unserem Koffer hier aufgegeben hat. Es ist ein klarer Hinweis darauf, dass der Diplomat noch lebt und sich versteckt hält.“

„Also wurde er nicht entführt?“

„Wie ich Ihnen schon sagte, ganz sicher nicht! Watson, wieder einmal ist Ihnen das Naheliegende entgangen. Preston selbst hat sein Verschwinden inszeniert, und zwar aus Angst davor, dass man ihn entführen oder ermorden könnte. Er ist seinen Widersachern offensichtlich zuvorgekommen. Das bedeutet jedoch, dass es nicht um den Brief ging, denn diesen hätte er noch rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Dies wiederum lässt eigentlich nur eine Deutung zu, auch wenn sie im ersten Moment recht ungewöhnlich zu sein scheint.“

„Wie sagen Sie immer, Holmes?“, unterbrach ich ihn. „Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie auch klingen mag.“

Er nickte und führte seinen Gedanken weiter aus. „Preston muss etwas erfahren haben, das ihn von der einen auf die andere Sekunde zu einem gefährlichen Mitwisser machte. Ein Mann in seiner Position erfährt häufiger, als es ihm lieb sein kann, Dinge, die sein Leben gefährden. Er versucht uns – und auf diesem Wege die britische Regierung – darüber zu informieren.“

Ich verstand mittlerweile gar nichts mehr.

„Der Gepäckschein, der auf den zweiten Koffer verweist“, setzte mein Gefährte ein zweites Mal an. „Wer außer Preston sollte einen Grund dafür haben, ein solch kompliziertes Versteckspiel zu betreiben? Sie wissen, warum der verschwundene Diplomat all diese Anstrengungen unternommen hat?“

„Ich hatte wirklich angenommen, dass er die Papiere schützen wollte.“

„Wie gesagt, es geht natürlich auch um die Papiere, aber das war gewiss nicht der entscheidende Grund für all diese Mühen. Ich würde sogar behaupten wollen, dass es ihm nicht einmal um seine eigene Sicherheit ging. Und doch scheint sein Überleben von maßgeblicher Bedeutung.“

Ich konnte mich nur darüber wundern, wie Holmes zu dieser geradezu aberwitzigen Bemerkung kam, dem Diplomaten sei es zwar nicht um die eigene Sicherheit, wohl aber um sein Überleben gegangen. Das schien mir blanker Unsinn zu sein. Preston hatte doch ganz offenkundig den versiegelten Brief mit den Instruktionen der Regierung geschützt.

Als wir die Victoria Station verließen und auf den weitläufigen Vorplatz traten, fragte ich: „Holmes, sollten wir uns nicht erst einmal den Inhalt dieses Koffers ansehen?“

„Zweifelsohne werden wir darin verschlüsselte Hinweise finden. Und es dürfte sich wohl kaum um den abgeschnittenen Daumen des Diplomaten handeln.“ Er konnte sich ein kurzes Auflachen nicht verkneifen.

„Wie überaus amüsant, Holmes!“

„Und doch müssen wir uns beeilen, denn wir sind ganz sicher nicht die Einzigen, die Preston auf der Spur sind.“

„Sind wir nicht?“

„Nein, natürlich nicht. Wieso, denken Sie, wäre Preston sonst verschwunden? Wie gesagt, der versiegelte Brief kann nicht der Grund gewesen sein.“

„Weil er den zweiten Koffer schon am Sonntag vor seiner Abreise deponiert hat“, entgegnete ich.

„Exakt, Watson. Er hätte zu diesem Zeitpunkt noch genügend Möglichkeiten gehabt, den Brief einem Regierungsbeamten zukommen zu lassen, um damit jedes Risiko zu vermeiden, dass das Schriftstück in die falschen Hände gerät.“

„Das leuchtet ein.“

„Preston muss an eine äußerst wichtige Information gelangt sein, die er wohl nur lebendig überbringen kann, wenn ich das einmal so ausdrücken darf.“

„Sie meinen also, er hat irgendetwas gesehen.“

„Oder gehört. Deshalb hat er sich versteckt und hofft, dass jemand die Hinweise auf sein Versteck richtig deutet.“

„Und dieser Jemand sind Sie, Holmes?“

„Davon gehe ich aus.“

„Na, dann …“

Wir nahmen eine Kutsche zurück zur Baker Street. Mein Gefährte klopfte auf den Koffer und sah mich an. „Ich denke, wir werden in Kürze erheblich klarer sehen.“

„Das wäre wünschenswert. Brauchen Sie mich denn überhaupt noch? Oder fungiere ich nur als Claqueur für Ihre ausgeprägte Selbstherrlichkeit?“

Die Kutsche hielt und wir stiegen aus. Die angenehme Wärme der ersten Morgenstunden hatte sich in eine schwüle Hitze verwandelt, weshalb wir in aller Eile unsere Räume aufsuchten. Nachdem die Fenster verdunkelt waren, widmeten wir uns dem zweiten Koffer, der wie der kleinere Bruder des ersten wirkte.

Holmes deutete auf den Beschlag links hinten auf dem Deckel und sagte: „Hier fehlt kein Nagel.“ Er betrachtete mit genauem Blick den Messingbeschlag, öffnete den Koffer und gab mir zu verstehen, dass keine Kratzspuren auf dem Metall zu sehen seien. „Folglich findet sich dort auch kein Papier.“

Im Koffer fanden wir einen schmalen Streifen einer Buchseite, auf der nur ie sieben Wei zu lesen war.

„Es handelt sich ohne jeden Zweifel um das Stück eines Vorsatzblattes eines Buches. Preston hat den Rest entfernt. Offenkundig vertraut er auf unsere Allgemeinbildung. Enttäuschen wir ihn also nicht.“

Obgleich ich darauf brannte, diesen Fall so rasch wie möglich zu einem guten Ende zu bringen, konnte ich mir eine gewisse Schadenfreude nicht verkneifen, als Holmes sich nach einer Weile in seinen Lehnstuhl vergrub, die Beine anzog und an seiner Pfeife schmauchte. Plötzlich jedoch funkelten seine Augen. Er richtete sich auf, hob die rechte Hand, als müsse er sich Gehör verschaffen, und holte tief Luft.

„Holmes, Sie sprechen nicht vor dem britischen Oberhaus!“, fuhr ich dazwischen. „Etwas weniger Theatralik würde nichts schaden.“

„Die sieben Weisen, Watson!“, rief er aus.

Ich sah ihn erstaunt an.

„Das erste seiner zehn Bücher. Sie stimmen mir doch zu?“

„Ich glaube, Sie verlieren allmählich den Verstand.“

„Kommen Sie, Doktor! Sie kennen den Autor des Buches.“

Ich überlegte. Die sieben Weisen. Der Titel kam mir tatsächlich bekannt vor. „Ein klassischer Text“, vermutete ich.

Mein Gefährte nickte mehrfach.

„Wahrscheinlich das Werk eines griechischen Philosophen oder Historikers“, sinnierte ich weiter. Mit einem Mal fiel es mir wie Schuppen von den Augen. „Diogenes!“

„Diogenes. Exakt, Watson. Ein Hinweis auf meinen werten Bruder, der ja sein halbes Leben im Diogenes Club verbringt. Das Foreign-Office. Hier liegt die Verbindung zu meinem Bruder und zu mir.“ Er rieb sich vergnügt die Hände, er war in seinem Element. „Preston wusste also, dass ich seiner Spur nachgehen würde.“

„Klingt plausibel“, sagte ich.

„Ist plausibel“, verbesserte er mich. „Preston muss Zeuge von etwas geworden sein, das sein Leben von der einen auf die andere Sekunde aus der Bahn warf. Sein Widersacher scheint zu allem entschlossen. Allerdings hat er unterschätzt, wie schnell der Diplomat die Gefahr erkennen und darauf reagieren würde.“ Holmes fischte, über den Koffer gebeugt, eine Streichholzschachtel aus einer der Innentaschen und reckte sie wie eine Trophäe in die Höhe. „Aus der Bar des Criterion, Watson!“

„Dort habe ich doch damals Stamford getroffen, der mir davon berichtete, dass Sie einen Zimmergenossen suchen würden. Ist das aber ein Zufall!“

„Das ist natürlich kein Zufall, alter Junge. Es ist vielmehr die Bestätigung dessen, was ich Ihnen eben gesagt habe. Preston weiß, dass wir auf der Suche nach ihm sind. Ihnen ist sicherlich aufgefallen, dass sich die Wichtigkeit der Indizien nach der Schwierigkeit richtet, sie zu finden. Der erste Hinweis lag offen im Koffer, der zweite Hinweis in einer der Innentaschen. Ich bin überzeugt davon, dass es noch einen dritten, und zwar den entscheidenden Hinweis gibt.“ Holmes untersuchte jede Ecke des Koffers auf das Sorgfältigste – vergeblich. Schließlich griff er zu seiner Lupe. „Das kann nicht sein. Er muss uns noch einen Hinweis hinterlassen haben, sonst würde das alles keinen Sinn ergeben.“

„Vielleicht müssen wir uns im Diogenes Club oder in der Bar des Criterion umsehen“, gab ich zu bedenken.

Holmes' Augen verengten sich zu zwei schmalen Schlitzen. „Nein, keine Chance, Watson“, meinte er schließlich und schüttelte den Kopf. „Möglicherweise müssen wir Mycroft hinzuziehen. Er kennt Preston besser als wir. Wenn er allerdings …“ Er unterbrach sich, klappte den Koffer zu, stellte ihn auf und überlegte. „Natürlich, was denn sonst?“, sagte er plötzlich und deutete auf das lederne Adressschild, das bei dem anderen Koffer fehlte. „Ist es tatsächlich so einfach, wie ich vermute?“

Behände zog er das weiße Papier mit den vorgedruckten Linien für Name, Straße und Stadt hervor und drehte es um. Zu meiner Verblüffung stand dort 221B Baker Street, Mittag, sowie das heutige Datum. Ich sah auf meine Uhr. Es war zehn vor zwölf. „Jetzt heißt es warten und dann strategisch geschickt vorgehen, damit wir den Diplomaten nicht durch eine Unachtsamkeit in Gefahr bringen“, bemerkte Holmes, zog eine Zigarette aus seinem silbernen Etui und bot mir ebenfalls eine an.

„Soll das etwa heißen, Preston kommt hierher?“

„Angesichts der Tatsache, dass sein Widersacher ein äußerst gefährlicher Mann sein dürfte, wäre das wohl keine sonderlich gute Idee. Warten wir einfach noch einen Moment ab, dann wird sich der Nebel fraglos lichten.“

Um drei Minuten nach zwölf klingelte es. Kurz darauf kam Mrs Hudson mit zwei Telegrammen zur Tür herein.

Holmes las beide und pfiff durch die Zähne. „Wundern Sie sich nicht, mein Lieber. Eines ist von Mycroft. Und das andere …“ Er streckte mir das Papier hin. „… ist ein nicht unspektakuläres, aber lösbares Rätsel, würde ich meinen. Oder was denken Sie, Watson?“

„Jona. Zur selben Zeit“, las ich laut vor. „Ein lösbares Rätsel, Holmes? Ist das Ihr voller Ernst?“

„Denken Sie daran, dass es an uns gerichtet ist und demnach etwas sein muss, dass nur wir beide verstehen sollen. Denn nur wir haben die Koffer.“

„Die Koffer“, wiederholte ich laut. „Aber was hat das mit dem Aufenthaltsort von Preston zu tun?“

„Er befindet sich … oder kommt … an einen Ort, den wir bereits kennen. Und es muss ein Ort sein, der mit den Ereignissen der letzten Tage zu tun hat. Nur so viel, mein Lieber: Es sind nicht der Diogenes Club oder die Bar des Criterion.“

„Jona … Jona? Das ist doch aus dem Alten Testament“, redete ich vor mich hin. „Ist dieser Jona nicht geflohen, weil er sich geweigert hatte, einen Auftrag Gottes zu erfüllen?“

„Das beschreibt doch Prestons Situation ganz ausgezeichnet, oder finden Sie nicht?“ Holmes amüsierte sich offensichtlich. „Dieser Mann hat Format, Watson. Erst der Hinweis mit dem Diogenes-Buchtitel und jetzt das Alte Testament. Aber wir müssen konkret denken, denn wir suchen einen ganz bestimmten Ort.“

„Wird Jona nicht ins Meer geworfen und von einem riesigen Fisch verschlungen, in dessen Bauch er drei Tage ausharrt?“

„Und er betet“, fügte Holmes schmunzelnd hinzu.

Ich fand seinen Scherz einigermaßen unpassend, was ich ihm auch zu verstehen gab.

„Der Bauch des großen Fisches, der Bauch der Stadt. Was könnte damit gemeint sein? Alles steht in Zusammenhang mit einem Koffer.“

„Ein Bahnhof!“, rief ich aus. „Mit etwas Phantasie könnte man eine Bahnhofshalle mit einem Bauch vergleichen.“

„Sie erreichen in bestimmten Momenten eine gewisse Meisterschaft, die mir Respekt abverlangt, mein Lieber. Ja, ich denke, dass dies summa summarum die einzig schlüssige Lösung sein dürfte. Nur der Bahnhof ist der Ort, von dem wir sicher wissen, dass Preston ihn aufgesucht hat. Und die Worte zur selben Zeit legen nahe, dass wir wissen, wann Preston dort war.“

Holmes ging zum Fenster und lugte seitlich an der Jalousie vorbei auf das Treiben unten in der Baker Street. Dann lief er mehrfach in unserem Wohnzimmer auf und ab und blieb schließlich unvermittelt stehen. „Also Victoria Station, die Gepäckaufbewahrungsstelle. Und zwar um halb sieben heute Abend. Ich muss noch ein paar Telegramme schreiben und verschiedene Maßnahmen einleiten. Wenn Sie mich bitte für die kommenden Stunden gänzlich ignorieren könnten, wäre ich Ihnen dankbar.“

Ich ging, um einige Besorgungen zu machen. Unter anderem musste ich meinen zur Neige gehenden Vorrat von Nagy-Cut-Tabak aufstocken. Als ich gegen halb sechs Uhr wieder unser Wohnzimmer betrat, saß Holmes im Schneidersitz auf einem großen Kissen. Ich konnte gerade noch seine Umrisse erkennen, denn er war fast zur Gänze in dunkle Nebelschwaden gehüllt. Er hatte die Augen geschlossen, die Hände lagen auf seinen Oberschenkeln. Grußlos ging ich weiter in mein Zimmer und kam erst wieder heraus, als er mich rief und mir verkündete, dass wir in den nächsten fünf Minuten aufzubrechen hätten, wollten wir Preston rechtzeitig zu Hilfe kommen.

„Sie haben Ihren Revolver?“, fragte Holmes.

„Selbstverständlich!“

„Gut, dann lassen Sie uns aufbrechen. Lestrade wird uns mitnehmen. Mycroft wird übrigens ebenfalls zugegen sein. Er wird tatsächlich seinen geliebten Diogenes Club einmal verlassen, schon allein das zeigt die Bedeutung dieser Rettungsaktion.“

Als wir auf die Baker Street hinaustraten, fuhr eine Polizeikutsche vor. Inspektor Lestrade begrüßte uns, und im nächsten Moment waren wir auf dem Weg zur Victoria Station.

„Haben Sie meine Instruktionen befolgt, Lestrade?“

„“