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29. Kapitel

Im schwarzblauen Wasser brachen sich die Wellen am Bug und Gischt spritzte um das Motorboot auf, das uns von Bakers Beach abgeholt hatte. Es war ein sonniger Tag, nur hinter uns über der Cordillera hingen graue Wolkenbänke. Vor uns lag Manutok, nach Süden hin der große Berg, der die Insel beherrschte, davor eine fruchtbare Ebene. Palmen und Papayaplantagen reichten bis an den menschenleeren Strand.

Es war früher Vormittag und völlig windstill, als wir in eine tief eingeschnittene Bucht einliefen und an einer Mole anlegten. Ich war überrascht, dass es hier nur einen so einfachen Naturhafen gab. Ben machte mich auf eine flache Insel aufmerksam, die Manutok im Westen vorgelagert war. Dort befand sich der Flughafen, auf dem, wie Ben sagte, auch große Düsenmaschinen landen konnten, sowie ein Tiefseehafen, in dem alles, was auf Manutok gebraucht wurde, auf Lastkähne umgeladen wurde. Manutok sollte von Lärm und Unruhe. verschont bleiben, hier konnten nur Hubschrauber landen. Die Warenlager waren unter der Erde. Die Bucht wurde von einfachen Holzhäusern zwischen gelb und blau blühenden Büschen eingerahmt, einem typisch philippinischen Dorf, nur waren die Häuser in besserem Zustand als anderswo.

Auf der Mole fiel die Hitze wie ein Stein auf uns, nicht der geringste Luftzug brachte Kühlung. Wir verabschiedeten uns von der Besatzung, drei jungen Männern, die uns von Anfang an durch ihre tiefschwarze Hautfarbe, die mächtigen Schädel und raubtierhaft ausgeprägten Kinnladen aufgefallen waren. Myriam hatte von ihnen erzählt, dass sie ohne Sauerstoffflasche bis in fünfzig Meter Tiefe tauchen könnten.

Ein Jeepney holte uns ab, dessen Fahrer den gleichen gewaltigen Kopf wie die anderen Inselbewohner hatte, die beim Umladen unserer Koffer zuschauten. Als wir an ihnen vorbeifuhren, riefen sie uns Willkommensgrüße zu und winkten uns nach. Ihre Kinder sahen noch grotesker aus, da deren riesige Köpfe im Verhältnis zum Körper noch weniger proportioniert schienen.

Wir fuhren durch das Dorf über eine Straße aus Erde, auf die man Wasser gespritzt hatte, und stießen auf eine breite Asphaltstraße, die nun durch die Plantagen führte. Im Schatten hoher Santolbäume näherten wir uns langsam einer weißen Mauer, und als wir um die Kurve bogen, sahen wir in ein Tal, in das sanft Berge abfielen. Im Dunst hatten wir die vielen Berge Manutoks als einen einzigen wahrgenommen. Der höchste von ihnen war Bakers Beach zugewandt. Vom Tal her zogen sich Balkone, Terrassen und Gebäude mit vielen Fenstern die Hänge hinauf, die alle mit Treppen und Wegen verbunden waren.

Wir hielten vor einem hohen Tor, vor dem die Wächter freundlich grüßten. Von hier aus sahen wir, dass die Mauer die Insel teilte, die von einem Ufer zum anderen lief. Rechts von uns dehnte sich ein Golfplatz aus, doch in der Hitze spielte kein Mensch. Auf der linken Straßenseite ragten in einem Park fünf bis sieben Meter hohe Schlangenkreuze in einer Gruppenskulptur auf. Die Köpfe der Schlangen, die sich um die Enden der Balken wanden, glitzerten im Licht der hochstehenden Sonne. »Alles Diamanten«, sagte Ben. »Die Schlangen sind aus Gold, die Kreuze aus Hickoryholz.«

»Die Vereinigung des Guten mit dem Bösen«, suchte Myriams zu erklären. »Das Böse wird durch die Schlange symbolisiert, es muss zugunsten des Guten überwunden werden.«

Wir rollten auf einen gläsernen kubischen Bau zu, vor dem sich ein über zwanzig Meter hohes Kreuz aus einem ovalen Orchideenfeld erhob. Die Schlangen blickten aus rot glänzenden Augen auf uns herab. »Rubine«, sagte Ben. Aus den Mäulern schlängelten sich grüne Zungen. »Alles Smaragde«, betonte Myriam.

In dem gläsernen Bau empfing uns eine angenehme Kühle. An den Wänden hingen hier meterhohe fotografische Vergrößerungen von Zentren der Sekte auf Inseln oder in Gebirgen, auch Bilder aus Wüsten und Urwäldern waren dabei. Andere Paneele zeigten Mitglieder der Sekte bei der Arbeit in Zitrusplantagen, Reisfeldern, einer Hühnerfarm oder in Fabriken, Kranken- und Waisenhäusern, Altenheimen sowie in einer Irrenanstalt oder bei der Meditation in kahlen Räumen.

»Für die Krebs- und Aidsforschung geben wir viel Geld aus.« Ben nannte den Namen einer bekannten Arzneimittelfirma, die zu Human Reality gehörte.

»Das macht ihr doch nicht einfach so«, sagte ich. »Ihr hofft auf das große Produkt!«

»Ein Zehntel der Gewinne spenden wir Gesundheitsorganisationen in der Dritten Welt.«

»Schön und gut«, unterbrach ihn Corinna. »Aber was ist jetzt mit Pia?«

»Sie werden sie noch heute in die Arme schließen«, sagte jemand hinter uns auf Englisch. Es war Cyril Ho, der uns die Hände entgegenstreckte und zu mir sagte: »Wir haben uns bei Myriams Fest in München gesehen.«

»Das ein so schlechtes Ende genommen hat«, entgegnete ich. »Wir saßen am gleichen Tisch. Damals ahnten wir nicht, was daraus entstehen und vor allem mit meiner Tochter passieren würde. Ich kann nur hoffen, dass wir nicht auch auf diese Insel umsonst gekommen sind.«

»Wann wird Pia hier sein? Noch heute Morgen oder erst am Nachmittag?« Corinna ließ nicht locker.

»Sie wurde uns in der Nacht übergeben und ist bereits im Anflug.«

»Wann ist sie hier?« bohrte Corinna weiter.

»Ich verstehe Ihre Ungeduld und versichere Ihnen, dass Ihre Tochter, nein Stieftochter, noch heute bei Ihnen sein wird.« Cyril Ho entging nicht der unsichere Blick, den Corinna mir zuwarf, und sagte: »Es tut mir leid, wie man Sie von einem Land ins andere gehetzt hat. Sie haben gelitten, das weiß ich von Maroun.«

»Wo ist er eigentlich!«, rief Myriam mit Sorge in der Stimme.

»Er ist Ihnen allen ans Herz gewachsen, ich weiß. Es ist wirklich großartig, wie er Sympathien schaffen kann.« Cyril Ho schlug vor, einen Imbiss einzunehmen, wir seien ja früh aufgestanden und bis zum Mittagessen sei noch viel Zeit. Ich hätte ihm, nervös wie ich war, am liebsten den Hals umgedreht. Urplötzlich durchfuhren heftige Schmerzen meinen Arm, den ich mit der Hand packte.

»Ist es so schlimm?«, fragte Cyril Ho, breitete aber dann die Arme aus und zeigte auf die Vergrößerungen an den Wänden. »Wir dürfen stolz auf das sein, was wir geschaffen haben. Dafür haben wir alle hart gearbeitet.«

»Eine sehr pragmatische Art, sich Gott zu nähern«, sagte Myriam, während Corinna mir einen zweifelnden Blick zuwarf.

»Wir suchen uns in aller Gelassenheit auf Gott vorzubereiten«, fügte Cyril Ho hinzu.

»Wenn es ihn überhaupt gibt«, flüsterte Myriam mir zu.

Cyril Ho bat uns in einen kleinen Salon, in dem Kanapees und kalte Getränke von Sylvia angeboten wurden. Sie umarmte erst Corinna, dann mich und war nicht überrascht, uns hier zu sehen. Von Maroun hatte sie alles über uns erfahren. Ihre weißen Haare waren kurz geschnitten, sie hatte wie Myriam eine gesunde Hautfarbe und war schlanker, als ich sie in Erinnerung hatte.

»Ein Glück, dass Sie noch am Leben sind«, sagte ich zu ihr. »Über Sie standen abenteuerliche Geschichten in der Zeitung.«

»Abenteuerlich, aber übertrieben«, entgegnete Sylvia.

»Vom Schicksal Ihres Mannes waren wir alle sehr betroffen«, sagte Cyril Ho und trank Apfelsaft.

Schweigend reichte Sylvia Myriam ein Glas Champagner.

»Hat er nicht in einer Irrenanstalt in Thailand gearbeitet?«, fragte Corinna. Sylvia stutzte, dann erwiderte sie: »Es hat uns viel Freude gemacht, von Gott vergessenen zu helfen.«

»Auch Ihrem Mann?«, fragte Corinna.

»Es war eine Prüfung«, antwortete Ben, der sich über die Kaviarbrötchen hermachte. »Sylvia durfte ihren Namen ändern, Paula Buntfuß ist auch erheblich schöner, oder?«

»Ihrem Mann ist für die Namensänderung wohl keine Zeit mehr geblieben«, fragte Corinna. »Oder etwa doch?«

»Vielleicht lebt er ja noch.« Myriam war beim dritten Glas Champagner angekommen. »Vielleicht heißt er jetzt Paul Buntfuß.«

Cyril Ho schüttelte unwillig den Kopf und ließ seine Augen über uns wandern. Jetzt fiel mir auf, wie ungemein rund sie waren. Er hatte sie wohl weiten lassen.

»Wo ist denn Maroun?«, fragte Sylvia. »Ich dachte, er würde euch begleiten.«

»Er hat zu tun«, bemerkte Cyril Ho, und Sylvia bedauerte Maroun: »Immer muss er arbeiten. Aber er ist ja auch weit gekommen.«

Cyril Ho schlug vor, uns jetzt ein bisschen von Manutok zu zeigen, damit wir einen guten Eindruck bekämen.

»Den richtigen«, sagte Myriam, die schnell ein weiteres Glas gekippt hatte und leicht schwankte. Sylvia verabschiedete sich und küsste Corinna und mich. Wir sollten Pia von ihr grüßen, ihr wünschte sie besonders alles Gute.

»Und viele Grüße an Paul!« fügte Myriam mit schwerer Zunge hinzu.

»Sie bleiben bei ihr!«, sagte Cyril Ho zu Sylvia.

Als wir die beiden Frauen verlassen hatten und auf einem Conveyer durch einen Tunnel glitten, sagte Ben: »Myriam verträgt Alkohol nicht besonders, aber sonst hat sie sich gut eingelebt.«

Cyril Ho wurde auf seinem Handy angerufen und hörte länger zu. Er sagte kaum etwas. Ab und zu wollte er etwas von Ben Adler wissen, doch sprachen die beiden so leise, dass sie nicht zu verstehen waren. Endlich sagte Ben zu uns: »Pia wird bald in Manutok landen.«

Am Ende des Tunnels traten wir in eine mit grünem Marmor ausgelegte Halle, in deren Mitte ein Dutzend Schlangenkreuze mehrere Meter hoch aus einem Granitblock aufragten. Die Wände waren mit Porphyr, buntem Sandstein und fernöstlichen Geweben verkleidet. Breite Gänge führten sternförmig in den Berg, zu verschiedenen Ausbildungsstätten, wie Cyril Ho erklärte, zu Werkstätten, Fachschulen und einer Art Hochschule. Die Menschen, denen wir begegneten, waren einfach gekleidet. Nur an Sonntagen, wenn man meditierte, würden hellfarbene Kaftane angezogen, erfuhren wir von Ben. Es duftete nach einem eigenwilligen Parfüm.

Wir stiegen in einen Lift. Cyril Ho drückte auf den obersten Knopf und wurde erneut angerufen. Jetzt redete er mehr, aber da er in Mandarin sprach, konnte ich nichts verstehen, bis er mir sagte, dass wir noch etwas Geschäftliches zu erledigen hätten. Das würden wir an einem Ort mit herrlicher Aussicht machen, fügte Ben hinzu, der nun auf seinem Handy angerufen wurde, aber außer dreimal »Ja« nichts sagte.

»Es läuft wie geplant«, wandte er sich an Corinna und mich. »Pia wird nach der Landung auf unserem Flughafen mit einem Hubschrauber nach Manutok übersetzen.«

Nachdem wir im obersten Stockwerk angekommen waren, wurden wir in ein Sitzungszimmer geführt. Die Aussicht war hier wie aus einer Flugzeugkanzel. Eine Japanerin trat auf uns zu und sagte, alles sei vorbereitet, ob wir Kaffee wünschten. Ben und Cyril Ho nickten.

Ich trat mit Corinna an eines der Fenster, die wie Erker in den Berg eingelassen waren. Wir sahen nach Luzon hinüber, zu Bakers Beach. Über den Bergen ballten sich Gewitterwolken. Das Meer war glatt wie eine Glasplatte und schwarzblau, die typische Farbe des Südchinesischen Meeres. Ein leerer Tanker zog seine Bahn, ragte hoch aus dem Wasser und überholte ein mit Containern beladenes Frachtschiff. Wir waren schätzungsweise in fünf- bis sechshundert Meter Höhe. Unter uns nisteten Möwen, eine flatterte dicht am Fenster vorbei. Über uns flog ein Learjet nach Süden, vielleicht nach Manila. Ob es der war, mit dem Pia angekommen war? Die Klimaanlage setzte leise rauschend ein. Auch in diesem Raum duftete es nach Parfüm.

Hinter uns wisperten Ben und Cyril Ho miteinander, das Knistern von Papier war zu hören. Sie warteten darauf, dass wir uns zu ihnen setzten, bis Ben sagte: »Hör mal, alter Junge, wir müssen jetzt was besprechen.«

Corinna und ich nahmen den beiden Männern gegenüber Platz, und ich fragte: »Worum geht's?«

»Um Pia«, erwiderte Ben. »Wir hatten Kosten.«

»Sehr hohe!« Cyril Ho rollte die Augen.«Wir mussten Ihre Tochter freikaufen, und das haben wir nur Ihnen zuliebe getan. Sonst mischen wir uns in so was nicht ein.«

Ich dankte und fragte: »Wie viel mussten Sie auslegen?«

»Viel.« Cyril Ho legte die Stirn in Falten. »Aber soviel ist es auch wieder nicht, wenn Sie bedenken, dass Sie Ihre Tochter unversehrt zurückerhalten.«

»Ihr wurde kein Haar gekrümmt«, sagte Ben.

»Also wie viel?« Meine Kehle wurde trocken.

»Es ist etwas mehr geworden, als wir dachten.« Cyril Ho knabberte an seinem Daumennagel. »Wir haben unser Bestes versucht, das dürfen Sie mir glauben.«

»Wie viel?«, rief ich.

»Wir haben gehofft, mit fünf Millionen Dollar auszukommen.« Ben fuhr in die Hosentasche, die gekrümmten Finger hoben sich unter dem leichten Stoff ab. »Aber leider ist es doch mehr geworden.«

»Sehr viel mehr«, sagte Cyril Ho. »Wir hatten uns dann acht Millionen als Limit gesetzt.«

»Schrecklich.« Ben zog seufzend die Hand aus der Hosentasche und stopfte sich den Mund mit Körnern voll.

»Einfach entsetzlich«, sagte Cyril Ho mit hoher Stimme. »Auch das war diesen Gangstern noch zu wenig, aber sie hatten die besseren Karten.«

Am liebsten hätte ich geantwortet, dass diese Gangster zwei Meter vor mir säßen und soviel Unverschämtheit einfach unglaublich sei. »Und nicht mal acht Millionen haben genügt«, sagte ich schließlich.

»Wir mussten zehneinhalb akzeptieren.« Cyril Ho blickte mich traurig an.

Die Summe entsprach Beas Erbe, das von Beaunier & Beaunier in Bonds und Festgeld angelegt worden war.

»Das ist ja Wahnsinn!« stieß Corinna aus.

»Ja und nein«, entgegnete Cyril Ho. »Sie haben ja das Geld, das für Sie wie vom Himmel gefallen ist. Hat Ihnen Ihr Mann nichts davon erzählt?« Er wandte sich mir zu. »Es war Glück, dass wir von dem Erbe Ihrer Frau wussten und wie weit wir gehen konnten. Mit den Syndikaten ist nicht zu spaßen. Wenn sie sich hintergangen oder bedroht fühlen, verkaufen sie ihre Geiseln an die Konkurrenz oder bringen sie um. In Hongkong war es fast soweit. Ihre Freunde, die Journalisten, hätten um ein Haar alles kaputtgemacht.« Cyril Ho drückte auf eine Taste, und die Japanerin erschien mit einem ausgefüllten Überweisungsauftrag und einem Antrag zur Löschung von Beas Konto, auf dem das Lösegeld um einige zehntausend Dollar unterschritten war.

»Die spenden Sie uns«, schlug Cyril Ho vor. »Wir werden das Geld für eine Schule in Bangladesch verwenden.« Er reichte mir einen goldenen Stift. Mir sträubten sich alle Haare, ich hatte keine Garantie, nur die Zusicherung, dass Pia auf dem Weg zu uns war. Was Cyril Ho von mir verlangte, war eine reine Vorleistung. Ich musste das Spiel von Human Reality mitmachen, aber da ich schon mehrere solcher Situationen überstanden hatte, vertraute ich meinem Instinkt, außerdem blieb mir keine andere Wahl. So verdankte ich einmal mein Leben einem Palästinenser, als er mit dem Finger über seinen Schnurrbart gestrichen hatte, im Namen Allahs. Da musste ich ihm glauben.

Ich unterschrieb.

Ben schien erleichtert zu sein. Ausdruckslos sammelte Cyril Ho die Schriftstücke ein, sie sollten noch heute nach Zürich gefaxt werden. So plötzlich wie Beas Vermögen über mich gekommen war, so schnell hatte ich es auch wieder verloren.

Cyril Ho verabschiedete sich, Ben und Maroun sollten uns nun mehr von Manutok zeigen. Er wollte aber unbedingt dabei sein, wenn wir dann mit Pia zusammenträfen.

Ben führte uns über eine breite Treppe zum Gipfel des Berges, wo aus einer kraterähnlichen Grube ein Wald von Antennen aufragte.

»Wir kommunizieren mit der ganzen Welt«, sagte er. »Früher gab es das natürlich nicht. Das Zentrum Manutok ist über hundertfünfzig Jahre alt. Unser Glaube geht auf eine Ureinwohnerin Taiwans, eine Lukai, zurück, die in den Bergen lebte. Sie war Seherin und hat große Weltereignisse vorhergesagt, den Ersten und Zweiten Weltkrieg zum Beispiel, die chinesische Kulturrevolution und die Erkundung des Weltalls durch den Menschen. Die Lukai bestand darauf, dass unsere Zentren möglichst unter der Erde in Gebirgen, bergigen Inseln oder in großer Einsamkeit angelegt wurden. Alle fünf Jahre müssen wir zwei Monate bei der Erweiterung der Zentren oder beim Bau eines neuen ganz primitiv mitarbeiten. Es wird ständig mehr Raum benötigt, für den der Berg ausgehöhlt werden muss, bevor weitere Hallen, Säle und Räume mit modernsten Mitteln ausgestattet werden.«

Wir traten an den Rand des zum Meer steil abfallenden Gipfels. Weit unter uns schob sich ein Quai etwa hundert Meter in die See, auf dem mit Erdreich beladene Loren von Frauen und Männern gezogen wurden, die deren Inhalt ins Wasser kippten.

»Schwerarbeit«, sagte Ben, »so gewinnen wir zudem noch Land.«

Auf der flachen Insel stieg ein Hubschrauber auf, der sich Manutok näherte, ein anderer flog nach Nordwesten.

»Pia?«, fragte Corinna.

»Ich weiß es nicht.« Ben blickte auf den Boden. »Mit Pias Transport habe ich nichts zu tun.«

Ich suchte meine neu aufgekommenen Zweifel, die in Wut umschlugen, zu beherrschen. War ich getäuscht worden? Viel hätte nicht gefehlt, und ich hätte Ben zu den Loren hinunter gestoßen. Aber dann sagte er: »Ihr könnt froh sein, dass ›Human Reality‹ nicht die Lust an euch verloren hat. Allein hättet ihr kaum etwas erreicht. Mit Sicherheit hättet ihr Fehler gemacht und falsch verhandelt, und irgendwann wäre Pias Leiche gefunden worden.« Er blickte mich spöttisch an. »Du warst ja nicht einmal in der Lage, die Journalisten zum Teufel zu schicken.«

»Bei dem sind sie jetzt«, fügte ich hinzu.

Der Weg führte uns unter tropischen Bäumen abwärts, dann gingen wir an einer Hecke von Hibiskusbüschen entlang. Auf einer Terrasse saß Maroun im Schatten einer Palme. Er sprang auf und breitete die Arme aus. »Ist es nicht schön hier?« Er deutete auf eine Reihe hoher Bogenfenster: »Unsere Universität, dort habe ich in den Semesterferien gearbeitet.«

»Von ihm wurde immer besonders viel verlangt.« Ben klopfte Maroun väterlich auf die Schulter.

»Pia wird am Nachmittag bei uns sein«, sagte Maroun. »Ihr seid nicht umsonst hier.«

»Man kommt nie umsonst nach Manutok«, fügte Ben mit Nachdruck hinzu.

»Pia sollte längst angekommen sein.« Ich suchte den Himmel nach dem Helikopter ab, aber er war nicht zu sehen, und nun stiegen gleich drei hintereinander von der flachen Insel auf.

»Viel Verkehr heute«, sagte Maroun, und ich dachte daran, wie er – vielleicht schon bald – auf meine Fragen reagieren würde. Carlo, Enzo und wir hatten ihm vertraut, auch wenn ihm am Ende alles zu viel geworden war und er mit Pia hatte flüchten wollen. Wir schritten an hohen Fensterscheiben entlang.

»Unsere Bibliothek«, sagte Maroun und hielt wenig später vor einer hohen Glashaube, die dem Berg vorgebaut worden war.

»Das Museum«, sagte Ben. »Schauen wir mal rein, wir haben noch Zeit, und vielleicht gibt es ja eine kleine Überraschung. Du kennst es auch noch nicht, Maroun.«

Der Pförtner grüßte und ließ uns ein. Wir gingen durch das in den Vorbau flutende Sonnenlicht in eine weißgekalkte Halle, an deren Wänden Werke berühmter Maler hingen.

Auf einmal war Maroun nicht mehr wiederzuerkennen. Seine Augenlider zuckten, der Blick flackerte. Er riss den Mund wie ein erstickender Fisch auf, ließ ihn zuschnappen und presste die Lippen fest aufeinander. »Die Bilder sind aus Valdere«, flüsterte er mir zu.

Im Inneren der Halle war das Licht gedämpft, zur Mitte hin halbdunkel. Die Bilder waren angestrahlt.

Ein mittelgroßer, fragil wirkender Mann erhob sich von einer Bank und kam mit schwerer werdenden Schritten auf uns zu. Es war Enzo. »So eine Freude!«, rief er, wandte sich Maroun zu und umarmte ihn innig.

Dann fielen die Schüsse.

Maroun sackte zusammen. Enzo ließ ihn auf den Boden gleiten, blieb wie angewurzelt stehen und starrte auf ihn, strich ihm dann über die Augen und drehte sich um. Marouns Blut quoll auf den Marmor.

Ich war wie vereist. Corinna hatte einmal laut aufgeschrien und sich an meine Brust geworfen.

Ben war zum Ausgang gelaufen, um einen Arzt zu holen, wie er sagte. Sinnlos! Marouns Hinterkopf war weggeblasen, die Schädeldecke aufgerissen. Enzo hielt seine blutverschmierten Hände von sich und ging wortlos auf den lamentierenden Pförtner zu. Corinna wimmerte, und ich führte sie zu der Bank, auf der Enzo noch vor wenigen Minuten auf uns gewartet hatte. Sie wurde von einem Weinkrampf geschüttelt und sank neben mich. Ich wartete auf die Trauer, den Schmerz, aber in mir blieb es still, ganz still.

Der Arzt und eine Krankenschwester eilten heran, zwei Sanitäter hinter sich, dann stand Ben vor uns und machte ein Zeichen, ihm zu folgen. Bevor wir ins Freie traten, sagte er: »Diese Kunstwerke waren für Enzo und Carlo ihr ein und alles. Trevor Tang, der selbst ein großer Sammler ist, wusste, dass die Bilder irgendwo versteckt waren. Er übte auf Maroun so lange Druck aus, bis er sich nicht mehr widersetzen konnte, und so erfuhren wir von Valdere. Carlo erklärte uns dann, wie man zu den Bildern in der Burg gelangte.«

»Das hat er euch doch nicht freiwillig erzählt«, sagte ich.

»Nicht ganz, wir mussten ihm schon gut zureden.«

»Und dabei ist er dann wohl gestorben.«

Ben antwortete nicht, Carlos und Enzos Schicksal schien ihn nicht besonders zu beeindrucken. Ich war ohne Gefühl, mir war, als ginge ich neben mir her. Im Schatten maurisch anmutender Kolonnaden schritten wir abwärts. Corinna ließ sich von mir stützen.

Der Himmel hatte sich bewölkt. Weit unten zogen sich Hecken von weiß und rot blühenden Rosen am Berg entlang, zwischen denen Calamanzibüsche und Durianbäume wuchsen. Ein schwerer süßlicher Duft hing in der Luft. Bevor wir das Ende der Kolonnaden erreicht hatten, fing es zu regnen an.

»Wo werden wir Pia treffen?«, fragte Corinna, ihre Augen waren stark gerötet. Sie schien sich vorerst beruhigt zu haben. Ich war noch immer wie betäubt. Während wir in den Regen sahen, öffnete Ben eine Tür. Aus einem breiten Korridor schlug uns kühle Luft entgegen, der Teppich dämpfte unsere Schritte, wir gingen an nummerierten Türen vorbei.

»Maroun hat hier gelebt, es wird dauern, bis Trevor Tang wieder einen wie ihn gefunden hat.« Ben wirkte von Minute zu Minute zufriedener.

Am Ende des Korridors sahen wir Enzo mit zwei Männern, die eine Tür aufschlossen, hinter der sie mit ihm verschwanden.

»Wie schnell sich alles ändern kann«, sagte Ben. »Enzo liebte Maroun wie einen spätgeborenen Sohn.«

Wir stiegen in einen Lift, und Ben sagte: »Gleich ist es soweit.« Ich hasste ihn, wie man einen Menschen nur hassen kann.

Ohne anzuhalten, schossen wir in die Tiefe, dann traten wir in eine Halle. Auf der einen Seite aßen und tranken viele Menschen in einer Kantine, auf der anderen saß Pia in Jeans und Tennisschuhen an einem Tisch und las Zeitung. Corinna schloss sie als erste in die Arme.

»Wo ist Maroun?«, fragte Pia, bevor sie mich umarmte und sich an mich drückte. »Wo ist er?«

 

Am Abend flogen wir über Hongkong nach Frankfurt und kamen am frühen Morgen im Nebel an. Vier Wochen danach musste ich mir den Arm amputieren lassen.

Kurz vor der Operation erfuhr ich von der Versicherung, dass man den Brand durch Fernsteuerung entzündet hatte, aber noch immer nach den Tätern fahndete.

Noch bevor ich aus der Klinik entlassen wurde, vertraute mir Pia ein Geheimnis an. Sie trauerte noch immer um den Geliebten und wollte ihn, um ihn zu ehren und nie zu vergessen, in einem Roman verewigen. Das einzige, was ihr klar war, war der Titel: Maroun.

1. Kapitel

»Maroun!«, rief die Frau. »Wo sind Sie?« Ihr Haar hatte einen rötlichen Glanz, sie war um die vierzig und auf den jungen Mann zugegangen. Er legte den Arm um sie, und sie fragte: »Wann kommen Sie zurück?«

Ohne eine Miene zu verziehen, schaute er auf sie herab, zog sie an sich und küsste sie leicht auf die Stirn. Sie versuchte sich zu lösen und sprach jetzt leiser. Er flüsterte in ihr Ohr. Sie lächelte schwach und sprach noch leiser. Ich hatte nichts mehr verstehen können.

Die Frau hieß Myriam Sardone, war eine Freundin meiner Frau und hatte in dritter Ehe einen italienischen Unternehmer und Kunstsammler geheiratet. Maroun hatte den Arm um ihre Hüften gelegt und schlenderte mit ihr in den nächsten Raum der Galerie, in der eine Ausstellung fernöstlicher Maler eröffnet worden war. Männer und Frauen, alt wie jung, sahen ihnen nach. Es war Maroun, der ihre Neugier erregte. Kurz nachdem ich die Galerie betreten hatte, war er mir aufgefallen. Genauso wie Corinna, meiner Frau.

»Mit wem macht sich denn Myriam davon?«, fragte sie.

Wir lebten in München, in der Stadt, in der ich aufgewachsen war. Damals, an jenem Abend, waren wir noch von Schrecken und Unglück verschont geblieben, obgleich ich, wie ich meinte, schon genug davon abbekommen hatte.

Dachte ich später an diesen Abend zurück, hätten wir die Ausstellung sofort verlassen und uns Maroun vom Leib halten sollen. Er war über einen Meter neunzig und Ende zwanzig. Die nur leicht geschlitzten Augen gingen bei entsprechendem Lichteinfall in grünliches Blau über. Ich vermutete, dass er chinesisches Blut hatte, vielleicht auch koreanisches, auf jeden Fall fernöstliches. Die Backenknochen waren ausgeprägt, die schwarzen Haare glatt und dicht. Für einen fernöstlichen Asiaten war der starke Bartwuchs erstaunlich.

Die Backen glänzten dunkel. In Maroun mischte sich offenbar vieles.

Ich widmete mich den Bildern. Die meisten Maler waren jünger als ich mit meinen achtundfünfzig. Sie standen im Alter Corinna, meiner zweiten Frau, näher, die sechsunddreißig war. Seit ich pensioniert war, besuchte ich Galerien und wurde zu Vernissagen eingeladen. Gekauft hatte ich noch nichts. Unser Haus war voller Bilder, die meisten stammten von meinen Großeltern, wenige von Bea, meiner ersten Frau, die früh starb.

Corinna begleitete mich, wenn es ihre Arbeit in einer Beratungsgesellschaft erlaubte. Lyle & Bout war eine amerikanische Firma und beriet in wirtschaftlichen Fragen. Außerdem vermittelte sie Personal. Lyle & Bout ließ entlassen und ersetzte die Gefeuerten oft durch Menschen, die durch ihre Empfehlung in anderen Firmen verabschiedet worden waren. Corinna meinte, ganz so schlimm sei es nicht, aber ich wusste, wovon ich sprach. Über dreißig Jahre hatte ich für internationale Firmen gearbeitet und fast immer im Ausland.

Corinna war müde, sah an den Bildern vorbei und dachte an etwas anderes. Sie hatte einen schweren Tag hinter sich und war mir zuliebe mitgekommen.

Corinna strebte auf den Raum zu, in dem Myriam mit Maroun verschwunden war. Ich folgte ihr. Die Luft war stickig, Zigarettenrauch hing unter der Decke. In der Kunstszene rauchten viele unverdrossen weiter.

Mein Zahnarzt begrüßte mich, er investierte in Kunst. Corinna hatte einen Kollegen aus der Firma getroffen. Sie lächelte freundlich, entweder sagte sie: »Ja, ja« oder »nein, nein«.

Ich stand vor einem Bild purpurroter Wellenlinien auf braunem Grund. Mit meinem Zahnarzt hatte ich keine Lust zu reden, ihm ging es nicht anders, als Kunde war ich ihm sicher. Ich spürte Corinnas Hand auf meinem Arm.

»Das ist doch nichts«, sagte sie und zog mich weg. Ich sah auf ihren schmalen Rücken, die gewellten aschblonden Haare, die auf ihre Schultern fielen. Ihr langer Hals wirkte elegant. Sie war einen halben Kopf kleiner als ich und ging sehr aufrecht, sehr gelöst.

Myriam und Maroun waren in der kunstbeflissenen Menge nicht mehr zu sehen. In diesem Raum waren die Bilder sehr schmal, silberne Kurven auf dunklem Grund, die mich an EKGs oder die Charts einer nervösen Börse erinnerten. Im anschließenden Saal sah ich Maroun schon von weitem, auch Corinna hatte ihn entdeckt.

»Da sind Sie ja«, sagte sie.

Ein Klassenkamerad, den ich seit Jahrzehnten nicht gesehen hatte, verstellte mir den Weg. Er hatte eine Glatze, und sein Bauch war viel dicker als meiner.

»Fabian«, rief er. »Was machst du hier, ich dachte, es hätte dich in Teheran erwischt.«

»Ich lebe wieder hier.« Ich wies auf Corinna. »Meine Frau.« Der Name des Mannes, mit dem ich fünf Jahre in einer Klasse gewesen war, wollte mir nicht einfallen.

»Du hast dich wenig verändert«, sagte er.

Ich strich über meine grauen Haare, die kahle Stelle auf dem Hinterkopf. Corinna gab dem Klassenkamerad die Hand, und so wie sie lächelte, wusste ich, dass sie keine Lust hatte, ihn näher kennenzulernen. Ich sagte, wir müssten weiter, uns einmal in Ruhe sehen, und schrieb seine Telefonnummer auf. Er verbeugte sich vor Corinna und warf mir einen Blick zu, in dem Bewunderung und die Frage lag: So jung?

Dieser Mann war nicht der erste, der mich mit diesem Blick bedachte, der mich am Anfang unserer Ehe mit einem kleinen dummen Stolz erfüllt hatte. Überhaupt nicht witzig war mir jedoch vom ersten Moment an die Bemerkung vorgekommen, Corinna könnte meine Tochter sein. Je älter ihre Bewunderer waren, desto öfter bemühten sie diesen einfallslosen Vergleich. Zudem hatte ich eine Tochter, Pia, das Kind von Bea.

Myriam und Maroun standen vor einem Gebilde, das aus Autowrackteilen zusammengeschweißt war. Enzo, Myriams Mann, der wahre Kunstkenner, hätte davon wohl wenig gehalten. Maroun, der alle überragte, drückte das Kreuz durch, als wolle er nicht einen Zentimeter kleiner wirken.

Myriam winkte uns zu sich und stellte ihn vor.

Marouns Familiennamen verstand ich nicht. Jetzt, da er mir gegenüberstand, fielen mir die großen Ohrläppchen und die starken Zähne auf, die weiß und festgefügt aus dem Kiefer gewachsen waren. Seine Haut war dunkler getönt, als es von weitem ausgesehen hatte, ein gesunder Olivton. Maroun strahlte überhaupt Gesundheit aus, mir war es fast zu viel. Er unterhielt sich mit den beiden Frauen. Er war neunundzwanzig, wie wir später von Myriam erfuhren, beinah dreißig Jahre jünger als ich, fast ein Leben. Marouns Blick lief zwischen den beiden Frauen hin und her, mich ignorierte er. Ich wurde ungeduldig, trat von einem Fuß auf den anderen und wollte nach Hause. Ich hätte jedoch gern gewusst, nach wem Myriam Maroun gefragt hatte. In ihrer Stimme war eine gewisse Besorgnis gewesen, die nicht zu ihr passte. Ich hätte sie fragen sollen. Eine unterlassene Frage kann ein Leben verändern. Aber vielleicht war ich so verrückt, dass ich eine Veränderung wollte? Ich hatte nicht mehr viel zu tun.

Hinter mir schwelgten zwei Männer angesichts der eleganten Kühnheit einer Skulptur, einem Haufen alter Autoreifen. Mit Enzo hätten sie nicht so reden können.

Maroun fragte Corinna, was sie von der Ausstellung hielt.

»Es ist gut, dass was für junge Künstler getan wird«, erwiderte sie.

»Auch für ausländische, haben Sie was gekauft?«, fragte Maroun. »Noch sind diese Maler hier billig.«

Corinna machte eine bedauernde Handbewegung zu mir hin, die ich überflüssig fand. »Mein Mann meint, wir hätten genug Bilder.«

»Wir haben ganze Häuser voll«, fiel ihr Myriam ins Wort.

»Man könnte sie auswechseln, aber die meisten Männer entschließen sich da nicht so leicht, mir geht es genauso.« Wie schnell Maroun Gemeinsamkeit schaffen konnte.

»Leben Sie in München, Herr Frank?« Marouns Deutsch war fehlerfrei, der Akzent etwas hart. Meinen Namen hatte er sich also auch schon gemerkt.

»Ich bin wieder hier«, antwortete ich gegen meinen Willen, mich mit ihm zu unterhalten, und fragte, wieso er so gut deutsch konnte.

»Ich habe es von meiner Mutter gelernt, meine Großmutter war Deutsche, aus Kiel.«

»Er spricht fünf Sprachen«, sagte Myriam. »Oder mehr?«

»Mehr«, erwiderte Maroun.

Ich verabschiedete mich, ohne nachzufragen, welche Sprachen er sprach. Ich hatte das Gefühl, bereits zu viel mit ihm geredet zu haben. Corinna warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, bevor auch sie ihm die Hand reichte. Myriam wünschte, uns bald wiederzusehen. Sie wollte ihr neues Haus mit einem Fest einweihen, und wir sollten ihr mit Ideen und Einfällen helfen. Maroun hoffte ebenfalls, uns bald wiederzusehen. Ich nicht.

Wir blieben noch kurz vor dem einen oder anderen Bild stehen. Corinna war einsilbig geworden. Bevor wir die Ausstellung verließen, mussten wir durch einen Raum, in dem riesige abstrakte Ölbilder von der Decke hingen.

»Ob jemand Platz dafür hat?«, fragte ich.

»Warum gehst du eigentlich zu Vernissagen?«, entgegnete Corinna.

»Du meinst, ich bin zu negativ?«

»Dir gefällt kaum etwas, Enzo kann von Bildern nicht genug bekommen.«

»Du wärst noch gern bei Myriam und ihrem Begleiter geblieben, wie hieß er noch?« Corinna schwieg, und ich sagte dann: »Maroun.«

Sie fuhr, wie eigentlich immer, wenn wir zusammen im Auto saßen. Meine linke Hand war zur Hälfte gelähmt. Ich konnte nur den Daumen und den Zeigefinger bewegen. Die Lähmung setzte sich teilweise bis zum Ellbogen fort. Die Hand vermochte ich nur bis in Brusthöhe zu heben. Muskeln und Nerven waren zu einem großen Teil zerstört. Zerfetzt, wie es der junge Arzt in der Ambulanz damals ausgedrückt hatte.

Es war vor einem Jahr passiert in einer Regennacht. Pia, meine Tochter, hatte am Steuer gesessen. Von einem entgegenkommenden Auto geblendet, war sie in einer scharfen Kurve an einen Baum geprallt. Im Reflex hatte ich die Arme hochgerissen, dabei war der linke Arm schwer verletzt worden. Pia war mit zwei gebrochenen Rippen davongekommen.

Aber ich fuhr noch ab und zu Auto. Ich konnte das Steuer mit den beiden gesunden Fingern der linken Hand für kurze Zeit halten. Corinna fuhr gut, manchmal ein wenig zu aggressiv, wenn sie sich ärgerte oder mit mir nicht einverstanden war. Wir stritten selten. Wenn der eine bereit war zu streiten, lenkte der andere schon ein. So wie jetzt. Ich brachte das Gespräch auf unsere Sommerferien und fragte, wann sie Urlaub nehmen könne.

Zum ersten Mal mussten wir unsere Ferien nicht aufeinander abstimmen. Ich konnte mich nach ihr richten. Für mich gab es keine unverschiebbaren Termine, Geschäftsreisen und Sitzungen mehr. Corinna entspannte sich, Juli passte. »In Viareggio«, sagte sie.

Dort hatten wir ein Ferienhaus. Doch würde ich erstmals nicht mit ihr Wasserski laufen oder surfen. Mein rechter Arm war dafür allein nicht stark genug, obwohl ich ihn, den gesunden, wie meinen ganzen Körper mit Gymnastik und Kraftübungen gestärkt hatte, zum Ausgleich für den kaputten Arm.

Krüppel hatten nicht nur mein Mitleid erregt, oft hatte ich mich auch vor ihren verstümmelten Gliedern geekelt, und jetzt, nach wie vor, drohte die Gefahr, ich könnte meinen linken Unterarm durch Amputation verlieren, wenn sich sein Zustand nicht entscheidend bessern sollte. Nichts hatte bisher geholfen, auch nicht die elektronische Strahlenbehandlung, und war ich ehrlich, musste ich zugeben, dass auch die Beweglichkeit meines Daumens und Zeigefingers nachgelassen hatte. Aber das wollte ich offen nicht zugeben, noch nicht, weder vor Corinna noch vor Pia, die sich heftige Vorwürfe gemacht hatte. Sie war mein einziges Kind, sie sollte sich nicht noch mehr belasten, zumal der Unfall wirklich nicht ihre Schuld gewesen war.

Wir fuhren an der Isar entlang. Corinnas Armreifen klimperten über dem Lenkrad. Gegen ihren Willen hatte ich nach dem Unfall den gleichen schweren Wagen wieder gekauft. Ihre Hände waren leicht gebräunt. Vor unserer Ehe hatte sie sich aus Sport nicht viel gemacht. Sie hatte sich aufs Studium und dann den Beruf konzentriert, da sie darauf angewiesen war, sich selbst zu ernähren. Ich hatte ihr Skilaufen und Tennis beigebracht. Für Surfen und Wasserskilaufen hatte sie keinen Lehrer nötig gehabt. Ihre Eltern lebten nicht mehr. Corinna war früh Waise geworden. Ich habe das nie besonders bedauert, ihre Mutter, eine Bibliothekarin, wäre so alt wie ich gewesen, und der Vater, ein Hautarzt, nur einige Jahre älter als ich.

Ich weiß nicht, wie ich mit ihnen ausgekommen wäre.

Meine erste Frau hieß Beatrice und wurde Bea genannt. Mit ihren Eltern, einem Lehrerehepaar, war es nicht leicht gewesen. Sie hatten uns einmal in Teheran besucht und uns verschwenderisch genannt. Unsere Freunde hielten sie für oberflächlich, überhaupt die Art, wie wir lebten. Und Kaviar mochten sie schon gar nicht.

Corinna war auf ihre Art religiös. Ohne je darüber zu sprechen, glaubte sie an einen Gott, irgendwo musste auf dieser Welt das Gute sein. An manchen Sonntagen verschwand sie in einer der Kirchen von Bogenhausen.

Ich hatte sie bei einer Buchprüfung in Jakarta kennengelernt. Mein Vorgänger hatte die Niederlassung, die ich übernehmen sollte, um Millionen betrogen. In der Konzernzentrale hatte ich eine Prüfung der Bücher verlangt, bevor mir die Freunde meines Vorgängers die Verluste anlasten konnten. Es erschienen eine ältere Dame und Corinna, die damals sechsundzwanzig war, zehn Jahre jünger als jetzt. Es waren ihre Augen, helle Iris mit dunklem Rand, die mich sofort fasziniert hatten. Nach Bali flog sie noch mit ihrer Chefin. Aber auf die Insel Comodo zu den Waranen durfte ich sie begleiten.

Zwei Tage fotografierten wir die letzten Nachkommen der Dinosaurier, drei Meter lange, drachenartige Echsen, die mit ihren Klauen lebende, ihnen zum Fraß vorgeworfene Ziegen rissen. In der letzten Nacht, bevor wir nach Jakarta zurückflogen, kroch ich zu Corinna ins Bett.

Ich war ein achtundvierzigjähriger Witwer, der sich damals mit einer zwei Jahre jüngeren tschechischen Freundin tröstete. Aber als ich Corinna umarmte, glaubte ich, den Verstand zu verlieren. Ich bin nicht der Typ des Verführers, und deshalb weiß ich bis heute nicht, wer eigentlich wen verführt hat.

Corinna achtete auf ihren Körper, und nackt wirkte sie noch ein Stück jünger. Oft kam ich mir alt und verworfen vor, doch seitdem mich kein Büro mehr erwartete, liebten wir uns häufiger denn je. Corinna meinte, wir seien selbst am Anfang unserer Ehe nicht so emsig gewesen. Ich konnte nicht genug von ihr bekommen, und staunte selbst über mich, in knapp zwei Jahren würde ich sechzig werden. Unseren Altersunterschied hatte Corinna nie kommentiert, sie überging ihn einfach. Aus jüngeren Männern schien sie sich nichts zu machen, nur für Pia hätte sie gern einen passenden Mann gefunden.

Manchmal suchte ich Corinna zur Kündigung zu überreden. Wir brauchten ihren Verdienst nicht, glücklicherweise hatte ich genug. Ich hätte dann mehr von Corinna gehabt, lange Siestas, die mich beruhigten. Wenn meine Schmerzen sich sehr verstärkten, fürchtete ich, dass es mit uns nicht so angenehm weitergehen, dass Schluss sein könnte. Es war eine dumme neurotische Angst, natürlich konnte ich nicht ewig so mit Corinna weiterleben, aber eine Reihe von guten Jahren hatten wir doch noch vor uns.

Stets kamen die Schmerzen unangekündigt und vergingen ebenso schnell. Mittel halfen wenig, ich hatte alle möglichen Schmerzmittel ausprobiert. Am besten war es, Corinna zu lieben oder sich von ihr lieben zu lassen, dann blieb ich eine Weile schmerzfrei.

Corinna konnte keine Kinder bekommen, obschon sie gern welche gehabt hätte.

Dass sie kinderlos bleiben musste, war erst zu Beginn unserer Ehe festgestellt worden. Mich schmerzte es weniger als sie. Ich kam mir zu alt vor, und Pia, damals siebzehn, hatte eine schwierige Phase. Sie war auf Corinna eifersüchtig. Ich weiß nicht, zu was sie die Eifersucht auf ein Baby getrieben hätte.

Und so war es für Corinna leichter, Pia wie eine jüngere Schwester zu behandeln, was ihr mit der Zeit auch besser gelang. Jedenfalls glaubte ich das oder wollte es glauben. Aber mit Pia durfte man sich nie sicher sein. Sie behielt vieles für sich, und deshalb schrieb sie wohl auch.

Corinna bog in die Straße ein, in der wir wohnten. Das Haus, das ich liebte, hatte ich von meinen Eltern geerbt. Ich war als einziger meiner Familie übriggeblieben. Meine Schwester war als Tropenärztin an schwarzer Malaria in Brasilien gestorben.

Wir rollten an unserer Gartenmauer entlang, und ich öffnete das Tor mit der Fernbedienung. Ich schloss es auch, als Corinna in der Garage anhielt. Wenn das Garagentor sich senkte und mit leichtem Knacken in der Halterung einrastete, fühlte ich mich sicher. Schon als Kind hatte ich mich so gefühlt, damals hatte das Tor aus zwei schweren Flügeln bestanden.

Hinter der Mauer zur Straße war ein Pool. Zum steil abfallenden Wald hin grenzte die L-förmige Villa mit ihrer Querseite das Grundstück teilweise ab, es folgte eine Terrasse, die an einem Pavillon endete, hinter dem ein flaches Waldstück lag. Die Frontseite des Hauses und die Terrasse waren auf eine Plattform gebaut, die in den Wald ragte. Zum Ende hin schwebte sie mehr als zehn Meter über einen Spazierweg, der sich unter den Stahlträgern am Hang entlangzog.

Dieser Teil des Hauses war zweistöckig, die Längsseite bestand aus einem Stock. Als Kind hatte ich mit meiner Schwester im zweiten Stock gewohnt. Damals hatten wir über die Wipfel geblickt, von denen jetzt die höchsten ihre Schatten auf das Schieferdach warfen. Mein Großvater hatte die Villa in den zwanziger Jahren von einem Industriellen, der in Schwierigkeiten geraten war, gekauft. Im Erdgeschoss waren die Räume hoch. Zwei Wohnzimmer und die Bibliothek befanden sich an der Frontseite zum Wald. Corinna und ich schliefen im Erdgeschoss. Pia hatte sich über uns eingerichtet. Seitdem sie wieder allein lebte, war sie zu uns gezogen. Die Längsseite des Hauses war unbewohnt. Küche, Wirtschaftsräume und ein für uns zu großes Esszimmer befanden sich zu ebener Erde. Im Stockwerk darüber waren drei Zimmer und zwei Bäder mit Sicht in den Garten eines Grundstücksspekulanten.

Vor den Zimmern im ersten Stock waren Balkone. Von unserem aus konnte man im Frühling die Triebe einer Buche abbrechen. Im Winter sahen wir über die Dächer von Bogenhausen bis zur Isar, von Pias Zimmer sah man ein Stück weiter.

Meine Eltern hatten sich wie in einem Vogelnest gefühlt, so sagte meine Mutter immer, und waren am liebsten zu Hause. Ich hatte hier meine Kindheit verbracht, mehr Platz als die meisten meiner Freunde gehabt und Dinge gesehen, von denen die höchstens in der Zeitung lasen.

Wo immer ich gelebt hatte, war dieses Haus meine Zuflucht.

Erschienen mir Schwierigkeiten unüberwindlich, tröstete mich der Gedanke, dass ich diesen einen festen Platz besaß, an den ich jederzeit zurückkehren konnte. Seit kurzem lebte ich hier mit Corinna, entschlossen, dieses Haus nur als Toter zu verlassen, so wie meine Eltern und Großeltern.

Den größten Teil meines Lebens hatte ich im Ausland gearbeitet und damit verbracht, die Kohlen für andere aus dem Feuer zu holen. Gerade anfangs war ich dabei sehr weit gegangen, ohne an mich zu denken.

Mit den Jahren änderte sich das, ich ließ mich nicht mehr übers Ohr hauen. Ich lernte, wie man Personalchefs in deutschen Konzernen begegnete. Mein Ruf als Troubleshooter wuchs. Mit Mitte zwanzig holte ich einen Kollegen in Mexico City aus dem Gefängnis, nachdem ich vom Pförtner bis zu dem als unbestechlich geltenden Gefängnisdirektor alle geschmiert hatte. Mein Kollege war zu oft bei einem Engländer gesehen worden, der kein Engländer, sondern Israeli war, der für den MOSSAD arbeitete. Auf dessen Partys liefen die hübschesten Mädchen herum, und es wurde viel Whisky getrunken, ein damals in Mexico rares Getränk. Mein ahnungsloser Kollege hatte als Statist gedient.

2. Kapitel

Maroun hatte mir das Erdgeschoss der neuen Villa der Sardones gezeigt, die Salons, das Esszimmer, die Halle. Noch nie hatte ich so viele Bilder in einem Privathaus gesehen. Viele der Gemälde, Impressionisten und Expressionisten, hatte Enzo bereits als junger Mann erworben. Sie waren inzwischen alle im Preis gewaltig gestiegen, wie Maroun sagte, aber Enzo würde nicht eines verkaufen. Er liebte sie über alles.

Jetzt saß ich mit Maroun auf der Terrasse. Ich sollte mit ihm über das Einweihungsfest nachdenken. Corinna, die arbeiten musste, hatte mich hierhergeschickt. Mir fiele immer etwas ein, hatte sie mich ermutigt.

Maroun aß Apfelstrudel, auf den er einen Berg Schlagsahne geklatscht hatte. Gewichtsprobleme plagten ihn nicht. Es war ein sonniger Nachmittag, der Föhnwind fuhr durch die Bäume.

Mein Arm tat weh, die Schmerzen reichten bis in das linke Schulterblatt. Bei einem Wetter wie heute verursachte schon die kleinste Drehung der Hand ein Stechen. Marouns Blick ruhte auf meiner verkrüppelten Hand, wanderte zum Ellbogen und schließlich den Oberarm hoch. Sehen konnte er jedoch nur die Hand. Ich trug ein langärmeliges Hemd, die Jacke hatte ich ausgezogen. Seit dem Unfall trug ich nur noch Hemden mit langen Ärmeln. Den Anblick meines Armes wollte ich anderen ersparen, und auch mich ekelte der kraftlose, von tiefen Narben entstellte Unterarm.

»Maroun kann massieren«, hatte Myriam gesagt. »Und auch heilen.«

Was konnte Maroun noch alles?

»Dieses Haus gefällt Ihnen nicht besonders«, sagte er.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Das spüre ich.«

Er hatte recht, die Villa war mir zu überladen. Myriam hatte sich angeblich gegen ihren Mann nicht durchsetzen können. In Italien war sein letzter großer Erfolg eine Ökofastfoodkette gewesen. Jetzt wollte er die Deutschen vor McDonalds schützen.

»Das ist Ihnen alles etwas zu viel.«

Maroun deutete auf den ovalen Pool, um den man einige Nymphen gruppiert hatte.

»Sie sind doch ganz hübsch.« Ich trank einen Schluck Kaffee und hätte gerne soviel Schlagsahne wie Maroun gegessen. Durch die Gymnastik war mein Bauch zwar fester geworden, doch wölbte er sich nach wie vor unter der Brust. Corinna hatte nichts gegen ihn, sie fand ihn gemütlich.

»Aber sie passen nicht hierher.« Von den Nymphen sah Maroun auf meine schmerzende Hand. Ich hatte die Spitzen von Daumen und Zeigefinger aneinander gerieben. Eine Übung, die sie beweglich halten sollte.

»Aber hierher.« Ich deutete auf die römischen Säulen, die das Vordach trugen.

»Nicht mal da.« Seine Selbstgefälligkeit ärgerte mich, oder war es Unsicherheit? Als hätte er meinen Ärger gespürt, bot er mir Strudel an.

»Er ist noch warm, Sie müssen ihn probieren. Alles, was wirklich gut ist, soll man essen.«

»Ich mache mir nichts aus Süßem.« Das stimmte natürlich nicht, ich liebte Schokolade und Eiscreme. Maroun leckte sich die Lippen, und mir war, als lächelte er. Er fragte, ob ich in der Nähe wohnte, und ich nickte.

»Ihr Haus ist anders als dieses.«

Ich nickte wieder und schwieg. Über unser Haus, eigentlich war es ja meines, wollte ich mit Maroun nicht reden.

»Es ist eine etwas altmodische Villa. Einige Möbel könnten Sie ändern, aber Ihre Bilder sind auch nicht schlecht und die Teppiche wunderschön.«

Ich sah ihn überrascht an, er hatte ziemlich recht.

»Ihr Haus liegt in einem großen Garten, oder ist es ein Park?«

»An einem Park, der mir nicht gehört.«

»Macht nichts, Hauptsache man sieht in einen.«

»Woher wissen Sie das alles?«, rief ich. »Sie waren nie bei uns!«

»Wenn mich Menschen interessieren, erfahre ich vieles schnell über sie.«

Er sah wieder auf meine Hand. Sein Blick war intensiver geworden. Ich spreizte Daumen und Zeigefinger, die restlichen Finger blieben gekrümmt.

»Sie hatten einen Unfall«, sagte er leise. »Einen Autounfall. Aber Sie saßen nicht am Steuer, es war jemand, den ich nicht kenne, eine interessante, etwas schwierige Person. Sie hatten getrunken, ziemlich viel sogar, aber lassen wir das. Wir sollten uns Gedanken über dieses Fest machen. Es soll die Party des Jahres werden, Myriam ist sehr ehrgeizig in solchen Dingen!«

Maroun war mir unheimlich. Am liebsten hätte ich mich verabschiedet, und zwar für immer. Myriam telefonierte noch oder schon wieder, und auch von Enzo war weit und breit nichts zu sehen. Er herrschte bis spät abends in seinen Firmen. Männer wie er unterließen nichts, um im Büro zu sterben. Wenigstens hatte ich dem Bürotod ein Schnippchen geschlagen, aber viel hätte nicht gefehlt, und ich wäre im Auto umgekommen.

Maroun beugte sich vor und streckte seine Hand nach mir aus. Ich suchte seinem Griff zu entweichen, aber er war schneller und nahm meine verkrüppelte Faust in die Hände. Er strich über den Handrücken, vielmehr darüber, was davon übriggeblieben war, dann knöpfte er die Manschette auf und fragte: »Es stört Sie doch nicht?«

Es störte mich ganz erheblich, aber ich schwieg. Er krempelte den Ärmel hoch, und mein zerstörter Unterarm wurde sichtbar. Tiefe Narben durchfurchten ihn, wildes Fleisch glaste unter rötlicher Haut. Da die meisten Muskeln gelähmt waren, hatte der Arm an Umfang verloren und war so schmal wie der eines Kindes geworden. Dort, wo die Haut nicht zerstört war, wuchsen Inseln von Haaren. Dieser Unterarm, fand ich, glich einer deformierten Kralle.

Maroun glitt mit dem Mittelfinger über eine der tiefsten Narben, die vom Musikantenknochen in geschwungener Linie zum Handgelenk lief. »Sie haben Schmerzen«, sagte er.

Ich antwortete nicht, ich fühlte mich wie nackt vor ihm. Den Arm entblößte ich nur vor Ärzten und Krankenschwestern und nachts im Bett, da Corinna keine Pyjamas mochte, sonst hielt ich ihn selbst vor ihr und Pia bedeckt. Nach dem Duschen umwickelte ich ihn mit einem Handtuch, das ich erst wieder abstreifte, wenn ich in ein langärmeliges Hemd schlüpfte.

Meine Golf- und Tennishemden hatte Pia ihrem geschiedenen Mann geschenkt, den sie jetzt umflatterten.

Marouns Hände waren groß und glatt, unter den Knöcheln schimmerten einige Adern bläulich. Die Nägel waren kurz geschnitten.