Die Autorin dankt dem Landesarchiv Berlin für den Einblick in die Akte A Pr.Rep.030-03 Br. 1830

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Er saß erst seit einer Woche in Untersuchungshaft, aber die Leute auf der Straße hatten ihr Urteil über ihn bereits gefällt. Sie forderten lebenslänglich. Er hatte kaum Hoffnung, dass das Urteil der Justiz milder ausfallen würde, auch wenn von Totschlag und noch nicht von Mord die Rede war. Seine Gefährlichkeit wurde so groß eingeschätzt, dass der Untersuchungsrichter Haftantrag wegen Fluchtgefahr erlassen hatte.

Natürlich hätte er zu fliehen versucht. Wenngleich er selbst am allerwenigsten daran glaubte, dass ihm die Flucht gelungen wäre. Er hatte in der Vergangenheit schon mehrfach versucht davonzulaufen. Und war jedes Mal gescheitert. Er floh bis in die peruanische Pampa und landete am Ende doch immer wieder in München, in den Armen seiner Mutter, die jedes Mal fester zudrückten, bis ihm irgendwann gänzlich die Luft wegblieb.

Dass das Ganze ein Unglück war, glaubte ihm niemand. Sein Körper wies keinerlei Spuren von Verletzungen auf, die seine Behauptung, dass er aus Notwehr gehandelt hätte, glaubhaft klingen ließen. »Ich habe es doch weiß Gott nicht zum Vergnügen getan!«, dachte er. Unvorstellbar, dass er dafür ein Leben lang büßen sollte.

Er hatte die grauenvollsten Tage seines Lebens hinter sich. Wie bei einem Verbrecher wurden ihm Handschellen angelegt und Fingerabdrücke abgenommen, er wurde fotografiert, dem Haftrichter vorgeführt und wieder fotografiert. Er musste in stundenlangen Verhören Fragen über sich ergehen lassen, die ihn zwangen, die Stunden vor der Tat nachträglich mit Bedeutung aufzuladen. Jede Nebensächlichkeit, jede beliebige Äußerung, jede belanglose Handlung bot eine mögliche Spur. In den ersten Verhören schwankte er noch zwischen Nervosität und Neugier wie ein Kandidat in einem Ratespiel, der nicht wusste, was man ihn als Nächstes fragen und ob er die richtigen Antworten geben würde. Doch dann verengte sich das Fragespektrum auf Detailfragen zum Ablauf der Tat, und er begann, Erschöpfung zu zeigen. Er fühlte sich nicht mehr in der Lage, über die Vorkommnisse an jenem Abend zu sprechen, an dem seine Mutter bei einem ihrer hysterischen Auftritte so weit gegangen war, nach dem Dolch zu greifen, den er stets im Gürtel bei sich trug. Was dann geschah, zerrte die Sache aus ihrer gemeinsamen Wohnung ins Licht der Öffentlichkeit und gab anscheinend aller Welt das Recht, sich einzumischen und die arme Frau zu bedauern, die von ihrem eigenen Sohn erstochen worden war. Er selbst fand sich als Schlagzeile wieder: »Sohn ermordet Mutter«. Und: »Verbrechen aus Geldgier«. Seine Mutter hätte ihre helle Freude daran gehabt. Was in den Zeitungen stand, die ihm die Polizisten auf der Mordkommission unter die Nase hielten, war eine Nummer ganz nach ihrem Geschmack: »Sie gab ihm, was er brauchte. Seiner Ansicht nach gab sie nicht genug. Dabei schlug sie sich mühsam durchs Leben und musste nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Sohn ernähren.« Nie im Leben hätte sie sich das nehmen lassen, hatte sie ihn doch stets für sämtliche Enttäuschungen und Entbehrungen, die sie ertragen musste, verantwortlich gemacht – und jede sich bietende Gelegenheit genutzt, ihm seine Schuld an ihrem vermeintlichen Unglück kund zu tun. Mit Wonnen hatte sie sich in die Rolle der Märtyrerin hineingesteigert. Bedauerlicherweise war ihr nun die Befriedigung, so viel Mitgefühl von völlig Unbekannten zu bekommen, versagt geblieben.

Als er gefragt wurde, ob irgendetwas darauf hingedeutet hätte, dass seine Mutter tatsächlich vorhatte, ihn umzubringen, sagte er: »Ihr Lächeln.«

Der Kommissar, der während der Vernehmung an einer Zigarre zog, starrte ihn ungläubig an. Das Gesicht des jungen Mannes wirkte so unschuldig. Wie er sich hin und wieder das lange, gewellte Haar nach hinten strich und mit der Hand durch die Luft fuhr, sah er eher wie ein Künstler aus, ein Dirigent oder ein Komponist. Seine Hände waren lang und schmal und hatten übertrieben gepflegte Fingernägel. »Weibisch!«, dachte der Kommissar verächtlich. »Keiner, der ehrlich arbeitet, hat solche Hände.« Dieser Gedanke drängte sich ihm einfach auf. Alles an dem Täter war weich, die schräge Stirn, das fliehende Kinn, der Händedruck, die Stimme. Sie hörte sich viel zu hell für einen erwachsenen Mann an. Wenn er redete, sprang sein Adamsapfel auf und ab. Dann ähnelte er mit seiner schlaksigen Figur einem unruhigen Vögelchen. Nur der breite Mund mit den hochmütigen Lippen verriet, dass dieses Bürschchen mit seinem sanften, engelsgleichen Aussehen sie alle hinters Licht führen wollte. Und was er sagte, klang so überlegt und distanziert, dass man schließlich den Eindruck gewinnen musste, ihn ließe die Situation innerlich völlig kalt. Sogar jetzt, wo er sich müde die Augen rieb, lag noch etwas von Hochmut in seiner Stimme, als er über mögliche Gründe für seine schauerliche Tat spekulierte. Einige hässliche Geräusche hätten sich in seinem Gedächtnis fest eingegraben, obwohl er sie nur ein einziges Mal gehört habe, sagte er. So verbrachte er den Kriegssommer 1917 mit einem Kindertransport auf einem Gutshof am Kochelsee, wo er in der Landwirtschaft mit anpacken musste. Als er gemeinsam mit ein paar Jungen den Getreidekarren auflud, rutschte einer der Lastochsen auf dem Ackerweg in einer tiefen Furche aus und brach sich den Knöchel. Ihm wäre jedes Mal übel, wenn er sich das feine Knacksen des brechenden Knochens in Erinnerung riefe. Es rufe in ihm ähnliche physische Qual hervor wie der Schrei, den seine Mutter ausstieß, als sie mit ihm um den Dolch kämpfte. Wie eine Wahnsinnige hätte sie gebrüllt. Er mutmaßte ungerührt, dass es wahrscheinlich dieser Schrei war, der in ihm den Impuls ausgelöst hatte, zuzustechen. Es könnte sein, so sagte er, dass er das Geräusch abstellen wollte, das er nicht mit seiner Mutter, sondern mit einem Tier in Verbindung brachte. Dass das nicht die normale Reaktion eines gesitteten Menschen sei, bräuchte ihm niemand zu sagen. Dann schwieg er und fuhr sich mit seinen Fingern, mit denen er während des Sprechens seine Oberarme geknetet hatte, wieder über die Augen.

Als er gefragt wurde, warum er der verblutenden Mutter keinen Arzt geholt hätte, entgegnete er, dass er sie in ihrem Zustand keinen fremden Blicken aussetzen habe wollen. Der Kommissar nahm angewidert seine Zigarre aus dem Mund: »Lässt aus Gründen der Diskretion seine Mutter verrecken.«

Die Obduktion ergab, dass wie rasend auf die Frau eingestochen und ihr Leichnam mit Stricken verschnürt worden war. Die Tat war so entsetzlich, dass sie sich vor alles schob, was ihr etwas von ihrer Abscheulichkeit hätte nehmen können. Dass sich der Sohn der Ermordeten nach der Tat selbst gestellt hatte, sprach ebenso wenig für ihn wie der Umstand, dass er dem Anblick seiner toten Mutter auszuweichen versuchte. Er besaß eben keine Nervenstärke. Wenn man ihn fragte, warum er während des Kampfes nicht ausgerissen sei, wusste er nichts zu erwidern. Und auf die Frage, was überhaupt der Anlass war, dass seine Mutter und er derart in Streit gerieten, konnte er nur sagen, dass es keinen Anlass gab. Zumindest keinen, der auf Ungewöhnlicheres hingedeutet hätte, als es ihre Lebensgemeinschaft an sich schon gewesen sei.

»Hört sich nach einem Rosenkrieg an«, bemerkte der verhörende Kommissar spitz, nachdem ihm der Häftling noch einmal versichert hatte, dass das Zusammenleben mit seiner Mutter immer schwieriger geworden war, weil sie ihn hasste und gleichzeitig jeden Schritt von ihm eifersüchtig überwachte. »Gestatten Sie mir die Korrektur, aber es war eher ein Blumenkrieg, wie ihn die Azteken vor Jahrhunderten führten.« Der Täter lächelte verlegen.

Was war von einem solchen Menschen zu halten, der einem das Wort im Munde herumdrehte und ständig vom Wesentlichen abzulenken versuchte? Von einem Meister der Irreführungen und der Lüge, der sich auf dem Revier als Schriftsteller ausgab, ohne eine Zeile geschrieben zu haben und behauptete, in Notwehr gehandelt zu haben, was man ihm schnell als Ausflucht nachweisen konnte. Denn er hatte nicht wahllos zugestochen, sondern auf ganz bestimmte Körperstellen gezielt, und das Dolchmesser sehr gekonnt von unten nach oben, mit der scharfen Klinge nach innen, in den Körper geführt. Außerdem hatte er in den Verhören zugegeben, dass er im Augenblick der Tat von dem Gedanken getrieben war, er müsse noch fester zustechen. Als die Mutter mit dem Dolch im Hals auf den Boden niedersank, hatte er sie so lange auf den Boden gedrückt, bis sie zu stöhnen aufhörte.

Einige Zeugen sagten aus, dass der Sohn seit längerem versucht hätte, die Mutter in einer Nervenheilanstalt unterzubringen. Dieser Bursche hatte es faustdick hinter den Ohren, war er sich sicher. Sein kriminalistischer Instinkt hatte ihn noch nie getrogen. Der Sohn hatte die Mutter mit allen Mitteln loswerden wollen.

Vor ein paar Jahren hatte es einen ähnlichen Fall gegeben. Eine Frau, die von ihrem zwanzigjährigen Neffen umgebracht worden war. Ein glasklarer Raubmord, schnell und unkompliziert zu lösen. Das Pikanteste an der Geschichte damals war der Umstand, dass die Ermordete Psychologin war und eine Theorie entwickelt hatte, der zufolge der Charakter einer Person ausschließlich von ihrer frühkindlichen Erziehung geprägt war. Hermine Hug-Hellmuth war just von jenem Neffen abgemurkst worden, den sie von klein auf in ihrem Haus großgezogen und als Schulbeispiel für ihre Theorie herangezogen hatte. Das nannte man wohl traurige Ironie des Schicksals. Als Kriminologe glaubte er nur an das, was er am Tatort vorfand. Leider ließ sich in diesem Fall aus dem medizinischen Befund der Tathergang nicht eindeutig rekonstruieren und in den Verhören waren die entscheidenden Fragen bisher offen geblieben.

Allein die Sache mit dem Namen. Der Täter hieß Ludwig Bücherl, ließ sich – wie es mehrere Zeugen bestätigten – von seinen Freunden jedoch seit ein paar Jahren mit dem eigenartigen Namen Sujanani anreden. Als er Bücherl fragte, was das Wort bedeute, entgegnete der von oben herab, dass das ein Name indischen Ursprungs sei – womit im Grunde gar nichts erklärt war. Offensichtlich hatte es Bücherl darauf angelegt, ihn seine geistige Überlegenheit spüren zu lassen, denn nach einem Moment des Schweigens streckte Bücherl selbstbewusst sein Kinn vor und sagte, dass er sich seit Jahren mit exotischen Kulturen beschäftige. Woher dieser kleine Näherinnensohn sein dünkelhaftes Auftreten nahm, war ihm ein Rätsel. Die Mutter musste ihn kolossal verwöhnt haben. Und als Dank brachte ihr Söhnchen sie um. In seiner Lage hätte der Gefangene besser daran getan, Reue und Einsicht zu zeigen. Aber nein, nichts davon. Zunächst raubte er seiner toten Mutter den letzten Rest Würde, indem er sie post mortem in eine mehr als demütigende Stellung brachte, dann verstieg er sich zu der Behauptung, dass sie selbst die Schuld an dem trug, was geschehen war. Sie hätte auf ihn eingedrungen. Er hätte nur gehandelt, wie es von ihm verlangt worden wäre. Und jetzt saß er am Tisch und gab den Empfindsamen, der von Kopfschmerzen faselte und sich mit gespreizten Fingern die Stirn massierte, der kurz aufblickte und den Beamten, der auf einem Schemel neben der Tür des Vernehmungszimmers vor sich hindöste, um ein Glas Wasser bat. Der Polizist blickte verblüfft zu seinem Vorgesetzten hinüber, der ihn mit einer wedelnden Handbewegung anbaffte, dass sie keine Zeit hätten, ewig auf das Wasser zu warten. Dabei fiel Asche von seiner Zigarre und mischte sich mit dem Staub, der im lichtdurchfluteten Zimmer in der Luft tänzelte.

Der Wachtmeister zog die Augenbrauen zusammen. Das kam davon, wenn man anfing, Verbrechern Sonderrechte einzuräumen. Sie begannen sofort, die Staatsgewalt wie einen Laufburschen durch den Raum zu scheuchen, dachte er düster.

Bücherl saß in sich versunken da, einen Arm auf den Stuhlrücken gelehnt, den anderen auf den Tisch gestützt, das Gesicht mit der Hand bedeckt, und ließ sich nicht anmerken, dass ihm nicht entgangen war, wie heftig der Polizist das Wasserglas auf den Tisch gestellt hatte, um ihm deutlich zu verstehen zu geben, was er von ihm hielt. Es bestärkte ihn in dem Gefühl, dass seine Handlungsweise, so wie sie von außen gesehen wurde, ein völlig verzerrtes Bild von ihm liefern musste.

Er trank das Glas Wasser aus, richtete sich auf und gab mit einem kurzen Kopfnicken zu verstehen, dass man das Verhör fortsetzen könne. Aber sobald ihm die nächste Frage gestellt worden war, fiel er wieder in sich zusammen. Sein Gesicht verdüsterte sich. Was sollte er noch auf Fragen antworten, die um das immer Gleiche kreisten. Warum sich seine nackte Mutter mit ihm im gleichen Zimmer aufhielt? Er hätte sagen können, dass es in einer kleinen Zweizimmerwohnung nun mal nicht ausblieb, dass man sich hin und wieder auch nackt über den Weg lief. Zumal seine Mutter der Ansicht war, dass sie ihn nackt geboren hätte und es infolgedessen keinen Grund gab, ein paar Jahre später errötend wegzublicken, sobald sie voneinander mehr als die Haut oberhalb des Hemdkragens zu sehen bekämen. Aber da ihn angesichts der Fragen jener behördlichen Kleingeister, die ihre Vorstellungskraft schon vor langer Zeit in den Büros trister Justizgebäude verloren hatten und nichts mehr denken konnten, das jenseits ihres engen Horizonts lag, Mutlosigkeit ergriffen hatte, erklärte er nur, dass er sich nicht mehr in der Lage fühle, dem Verhör zu folgen und bat um eine Unterbrechung.