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Andreas Förster

Schatzräuber

Die Suche der Stasi
nach dem Gold der Nazizeit

Andreas Förster

Schatzräuber

Die Suche der Stasi
nach dem Gold der Nazizeit

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Für Katharina und Christoph

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Geheimnisvolle Kisten voller Gold, Silber und Edelsteine

Geplünderte Safes, aufgebrochene Schließfächer

Die »Aktion Licht«

Aktien gegen Dollar

Das Geschäft mit alten Wertpapieren

Munition gegen Abs

Das Archiv der Deutschen Bank

Waffenhändler mit dubiosen Versprechungen

Die Suche nach dem Göring-Schatz

Mit Hacke und Spaten

Das vergrabene Porzellan der Grafenfamilie

Die Legende vom Toplitzsee

Belastungsmaterial in 100 Meter Tiefe?

Im Berliner Untergrund

Das Geheimarchiv der I.G. Farben

Hoffen auf »Robinson«

Der unerfüllte Traum vom Bernsteinzimmer

Epilog

Das Geheimnis von Schacht 311

Anhang

Quellenangaben

Angaben zum Autor

PROLOG

Geheimnisvolle Kisten voller Gold, Silber und Edelsteine

Am 21. Dezember 1989 rollen ein dunkler Lada und ein Kleintransporter auf den Hof der Ost-Berliner Staatsbank in der Charlottenstraße. Die Fahrzeuge kommen vom Lichtenberger Hauptquartier des Stasi-Nachfolgers »Amt für Nationale Sicherheit«, wo man in diesen Tagen noch in der Illusion lebt, als demokratisch legitimierter »Verfassungsschutz der DDR« Wende und Mauerfall überstehen zu können.

Hastig schaffen die Fahrzeuginsassen Kisten, Säcke, Taschen und Koffer aus den Wagen ins Gebäude. Die streng geheime Aktion darf kein Aufsehen erregen, denn die insgesamt 112 Behältnisse beinhalten einen Schatz: Edelsteine, Blatt- und Zahngold, Silberbarren, kostbare Schmuckstücke, seltene Münz- und Briefmarkensammlungen, alte Orden, Uhren und Mineralien. Diese Werkstücke stammen aus den Kellern der Stasi und gehen an diesem Tag in das Eigentum des DDR-Finanzministeriums über. In einem Tresor der Staatsbank sollen sie die Weihnachtsfeiertage und den Jahreswechsel sicher überstehen, geschützt vor möglichen Zugriffen der Bürgerkomitees.

In den ersten Januartagen 1990 werden die verplombten Behältnisse geöffnet und ihr Inhalt von zwei Arbeitsgruppen gesichtet. Die Kostbarkeiten sollen möglichst schnell und geräuschlos verwertet, der Erlös dem Staatshaushalt zugeführt werden. Die Aktion steht unter der Leitung der stellvertretenden Finanzministerin Herta König und des Leiters der Inspektion im Finanzministerium, Dr. Detlef Wilberg. Kein Zufall, denn was zu diesem Zeitpunkt kaum einer weiß: Herta König – alias IMS »Gudrun« – und Dr. Wilberg – als »Offizier im besonderen Einsatz« (OibE) Oberstleutnant der Hauptabteilung XVIII – sind der Stasi besonders verpflichtet.

In den Folgemonaten verlieren sich die Spuren des »Stasi-Schatzes«. Im Bundesfinanzministerium, das erst Anfang 1999 durch einen Hinweis des früheren DDR-Bürgerrechtlers Reinhard Dobrinski auf die damaligen Vorgänge aufmerksam gemacht wurde, hat man bei der Übernahme der Alt-Bestände des DDR-Finanzministeriums im Oktober 1990 keine Unterlagen dazu gefunden.

Eher unwahrscheinlich ist, daß sich irgendwelche Seilschaften die Pretiosen im Frühjahr oder Sommer 1990 unter den Nagel gerissen haben. Für diese Absicht hätte man sich den »Umweg« über das Finanzministerium sparen können. Viel mehr spricht dafür, daß die Wertgegenstände tatsächlich verkauft und anschließend gezielt Spuren vernichtet wurden, um die Existenz und die Herkunft des »Stasi-Schatzes« zu verwischen.

Wie sich inzwischen herausstellte, hat das Ministerium für Staatssicherheit in den vier Jahrzehnten seiner Existenz nicht nur Oppositionelle und »Andersdenkende« im eigenen Land verfolgt, Westpolitiker ausspioniert und Partisanen für das letzte Gefecht mit dem Klassenfeind geschult. Mit nie erlahmendem Eifer suchte die Stasi auch nach geheimen Depots und unterirdischen Verstecken, in denen die Nationalsozialisten kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges ihre in ganz Europa zusammengeraubten Schätze vor dem Feind verbargen.

Mielkes Mannen gingen jedem noch so abstrusen Hinweis nach, auch wenn manche verheißungsvolle Spur ins Leere lief oder die Kosten für eine Bergung die finanziellen Möglichkeiten der Stasi mitunter überforderten. Die Suche nach den Nazi-Schätzen war mit den Jahren zu einer Art privatem Hobby von Erich Mielke geworden, der dabei nur selten die Parteiführung in die delikaten Operationen einweihte. Einerseits aus Furcht vor einer Blamage, sollte sich die kostenintensive Suche als Flop erweisen, zum anderen, um den Erlös aus den gefundenen Kunstgegenständen im Fall des Falles so aufzuteilen, daß für die schwarzen Kassen des Mielke-Ministeriums genügend übrigblieb.

Denn waren die Schatzsucher von der Stasi einmal erfolgreich, suchte das MfS nicht etwa nach den wahren Besitzern der Gemälde, Schmuckstücke, Wertpapiere, Münzen- und Briefmarkensammlungen, um ihnen oder ihren Erben das von den Nazis geraubte Eigentum zurückzuerstatten. Man unternahm im Gegenteil alles, um aus der brutalen Raubmordpolitik des Dritten Reichs selbst noch Profit zu schlagen und die Funde auf eigene Rechnung zu versilbern: Mielkes willige Hehler ließen sich dazu mit Kriminellen ein, verbündeten sich mit SS-Leuten und windigen Geheimdienstlern, beteiligten sich am internationalen Kunstschmuggel, gründeten eigene Deckfirmen und bedienten sich der internationalen Verbindungen von Schalcks Devisenimperium Kommerzielle Koordinierung (KoKo). Auch für die eigene »Schatzkammer« fiel dabei immer einiges ab, wie die 112 Schatztruhen vom 21. Dezember 1989 belegen.

Die für die Aufklärung der DDR-Regierungs- und Vereinigungskriminalität zuständigen Ermittlungsbehörden haben die Stasi-Schatzräuber in den vergangenen zehn Jahren weitgehend in Ruhe gelassen. Mit Sicherheit hätten entsprechende Verfahren für internationales Aufsehen gesorgt und möglicherweise komplizierte Rückübertragungsansprüche nach sich gezogen. Das mag wohl der Grund dafür sein, daß bislang kein politisches Interesse an der juristischen Aufarbeitung dieser Problematik bestand.

Im vorliegenden Buch soll daher versucht werden, den organisierten Schatzraub der Stasi etwas genauer zu beleuchten und anhand markanter Fälle zu dokumentieren. Die Darstellung muß fragmentarisch bleiben, weil die überlieferten und bislang aufgefundenen Akten nur einen Bruchteil aller Vorgänge dokumentieren. Viele der Beteiligten und Zeitzeugen sind zudem abgetaucht oder zeigen sich nicht willig, über die Vergangenheit zu sprechen. Weitere Untersuchungen müssen folgen.

Geplünderte Safes, aufgebrochene Schließfächer

Die »Aktion Licht«

Direktoren und leitende Mitarbeiter der DDR-Bank- und Sparkassenfilialen im Bezirk Magdeburg hatten für den 6. Januar 1962 eine ungewöhnliche Einladung zum Mittagessen erhalten. Im Speisesaal der Magdeburger Stasi-Bezirksverwaltung sollten sie sich an diesem Sonnabend zu einem Arbeitsessen einfinden, hieß es. Mit der Heimkehr sei gegen Abend zu rechnen.

Schon gleich nach dem Hauptgang kamen die Genossen vom MfS zur Sache. Einsatzgruppen der Bezirksverwaltung würden jetzt die Bankchefs zu ihren Filialen begleiten, um die dort befindlichen Tresore, Safes und Bankschließfächer einer Inspektion zu unterziehen, teilten sie den verdutzten Mittagsgästen mit. Die »Aktion Licht«, der erste große Raubzug der Stasi, hatte begonnen.

In allen DDR-Bezirken wurden an diesem Sonnabend Banken und Sparkassen bis in den letzten Winkel von der Stasi durchsucht. Das Bankgeheimnis hatte Minister Mielke in Abstimmung mit SED-Chef Walter Ulbricht kurzerhand außer Kraft gesetzt.

Geführt wurde die streng geheime Aktion von einem Einsatzstab der für die »Sicherung der Volkswirtschaft« zuständigen MfS-Hauptabteilung III (später HA XVIII). Leiter des Stabes waren die Offiziere Strauch und Knobloch, wie aus einer der wenigen noch vorhandenen MfS-Unterlagen zu dem Beutezug hervorgeht. Doch Strauch und Knobloch führten nur das aus, was hochrangige Strategen im Mielke-Ministerium zuvor erdacht hatten. Einer der »Licht«-Planer war Heinz Volpert, zu jener Zeit Abteilungsleiter der Hauptabteilung V/5 (zuständig für die Bekämpfung von »Terrorakten, Diversion, Attentaten, Untergrundgruppen und Agentenzentralen«) und später einer der einflußreichsten Drahtzieher im Stasi-Apparat.*

Die Stasi-Pläne sahen vor, daß man selbst bestimmte, wem welche Wertgegenstände gehören, die man aus den Banken geholt hatte. Schmuckstücke, wertvolle Sammlungen und Gemälde, die in den Kriegswirren oder vorher in den Banken deponiert und nach Kriegsende nicht abgeholt worden waren, wurden kurzerhand zu Volkseigentum erklärt und konfisziert. Daß es sich hierbei zum Teil um den Besitz geflohener und ermordeter Juden handelte, interessierte die Räuber wenig.

Auch das Eigentum sogenannter »Republikflüchtiger« wurde ohne viel Federlesen einkassiert. Zum Schluß wanderten auch noch Tausende von Dokumenten und umfangreiche Aktenbestände aus der NS-Zeit in die Depots der Stasi. »Im Rahmen der Überprüfungsmaßnahmen des MfS wurden in den Objekten nicht registrierte und zum Teil völlig unbekannte Materialien und Unterlagen aus der Zeit des Faschismus, Schmuckwaren aus Gold und Silber, Edelsteine und andere Wertgegenstände ... aufgefunden«, triumphierte die Stasi in einem als »streng geheim« eingestuften Bericht.1

Daß die wahren Eigentümer der aufgebrochenen Schließfächer zum Teil bekannt waren und man in einigen Fällen sogar deren aktuellen Aufenthaltsort kannte, belegen »Licht«-Berichte aus Thüringer Kreisdienststellen. So fand man in der Notenbank Jena beispielsweise Sparbücher des dortigen Studentenvereins, des Jenaer Studentenwerks und einer Vermögensverwaltungsfirma aus den dreißiger und vierziger Jahren. Obgleich einer der aktuellen, zu jener Zeit in Westdeutschland weilenden Verfügungsberechtigten namentlich bekannt war, wurden die Bücher kurzerhand beschlagnahmt. In der Kreissparkasse Saalfeld requirierte man den Inhalt eines Blockschließfaches, das einem nun in Westdeutschland lebenden Mann gehörte. Zur Beute der Stasi-Räuber gehörten in diesem Fall zwei goldene Uhren, kostbarer Silberschmuck, eine alte Plattenkamera und sogar ein Testament.

Widerstand gegen den Raubzug gab es an mehreren Stellen. In der Notenbank-Filiale von Meerane »bereiteten verantwortliche Mitarbeiter ... erhebliche Probleme«, beklagte sich der Stasi-Einsatzleiter. So habe der Hauptkassierer versucht, die Überprüfung des Tresors zu verhindern, indem er sich weigerte, die Alarmanlage dafür auszuschalten. Auseinandersetzungen mußten auch mit dem Filialleiter und dem Parteisekretär geführt werden, »da auch sie der Meinung waren, daß Mitarbeiter des MfS Tresorräume nicht zu betreten haben«. Dem Argument, die Aktion erfolge im Auftrag von Partei und Ministerrat, begegneten die beiden mit der Bemerkung, »daß auch führende Mitarbeiter der Regierung bereits Fehler gemacht hätten (unter Hinweis auf Wollweber und Schirdewan)«, notierte der Einsatzleiter empört.2 Auch in der Dresdener Bezirksdirektion der Notenbank gab es Proteste. Dort waren in einem Tresorraum größere Mengen an Schmuckwaren und anderen Wertgegenständen sowie 14 Aktenschränke voller Bankunterlagen aus der NS-Zeit, insbesondere der Deutschen Bank, eingelagert. Bezirksdirektor Serick weigerte sich zunächst, die Gegenstände herauszugeben und vertrat die Meinung, »daß sie bis zur Wiedervereinigung Deutschlands aufgehoben werden müssen, um sie den rechtmäßigen Eigentümern zurückgeben zu können«.3

Weitaus größere Probleme als die vereinzelte Gegenwehr bereitete den Räubern allerdings die große Unordnung, die zum Teil in den Schließfach- und Tresorräumen der Banken und Sparkassen herrschte. Eine Übersicht der vorhandenen Fächer gab es häufig nicht, eine Nachweisführung über Inhalt und Besitzer fehlte ebenso. Auch Schlüssel suchte man mitunter vergeblich, so daß die Stasi-Einsatzgruppen in einigen Fällen unverrichteterdinge abziehen mußten.

Dennoch war der Wochenendeinsatz vom 6. Januar 1962 ein voller Erfolg, über den Minister Mielke drei Tage später ins Schwärmen geriet: »Die bisher durchgeführten Maßnahmen brachten den erwarteten Erfolg. (Es) konnten sowohl politisch-operativ auswertbare Dokumente als auch eine Vielzahl von Wertgegenständen sichergestellt werden.« Er wies an, die gefundenen Unterlagen »nach operativ auswertbaren Materialien« zu durchsuchen und die entsprechenden Dokumente im Zentralarchiv der Stasi abzulegen. Für die geraubten Wertgegenstände ordnete der Minister »die Schätzung und Nutzbarmachung ... in Abstimmung mit dem Minister der Finanzen« an.4

Beflügelt von diesem Erfolg, befahl Mielke die umgehende Fortführung der »Aktion Licht«. Tresore, Safes, Panzerschränke und ähnliche Anlagen, die bislang nicht geöffnet werden konnten, sollten von den Einsatzgruppen nun mit Spezialwerkzeugen aufgebrochen und ausgeräumt werden. Auch ehemalige Bankgebäude, die jetzt anderweitig genutzt wurden oder seit dem Krieg nur als Ruinen erhalten waren, müßten auf Geheimanlagen untersucht werden.

Ausdrücklich einbezogen in die Suche wurden zudem »solche Anlagen, bei denen noch keine Klarheit über die Eigentumsverhältnisse besteht. Als solche Objekte kommen z.B. in Frage: Deutsche Post, Deutsche Reichsbahn, Warenhäuser (insbesondere auch ehemalige kapitalistische Warenhäuser), ehemalige kapitalistische Konzern- und Großbetriebe, ehemalige Gutshöfe, alte Schlösser, Burgen, Museen, Wohnsitze ehemaliger Konzernherren, Gutsbesitzer, Faschisten und Kriegsverbrecher«. Einbezogen werden sollten darüber hinaus »verschüttete Stollen ehemaliger Bergwerke und andere unterirdische Einrichtungen (ehemalige faschistische Wehrmacht), von denen es Hinweise gibt, daß dort Wertgegenstände aufbewahrt wurden«.5

Selbst vor Kirchen und religiösen Stätten machte Mielkes Raubzug nicht Halt. Zwar ließ der Stasi-Minister in seinem offiziellen Rundschreiben an die Chefs der Bezirksverwaltungen vom 10. Januar 1962 noch »Kirchen, Klöster und ähnliche Kultstätten« von einer Durchsuchung im Rahmen der »Aktion Licht« ausdrücklich ausnehmen. In einem geheimen Zusatzprotokoll zu diesem Rundschreiben an Oberst Fritz Schröder, damals Chef der Hauptabteilung V – zuständig für Staatsapparat, Kirchen und politischen Untergrund –, redete Mielke aber Klartext: »In der 2. Etappe der Aktion ›Licht‹ ist es notwendig, in die Überprüfung auch alle Kirchen, Klöster und ähnliche Kultstätten einzubeziehen.« Sofort sei daher eine Übersicht der in Frage kommenden Objekte zu erarbeiten, »um eine konspirative Durchführung der Aufgaben auf diesem speziellen Gebiet zu gewährleisten«. Eine Durchsuchung einzelner Objekte müsse aber in jedem Fall vorher mit ihm abgestimmt werden, warnte Mielke Oberst Schröder.

Die Schreiben Mielkes zur Aktion »Licht« verdeutlichen die persönliche Verantwortung des Ministers für den organisierten Raubzug der Stasi durch Banken, Archive und Museumsdepots, der an jenem Januarwochenende 1962 seinen Anfang nahm und bis zum Untergang des MfS fortgesetzt wurde.

Bei allen materiellen Ergebnissen verfolgte Mielke damals aber auch bestimmte strategische Ziele. Mit der perfekt von seinem Ministerium durchorganisierten Operation wollte er SED-Chef Ulbricht davon überzeugen, die Ermittlungstätigkeit zu Personen und Vorgängen aus der NS-Zeit endgültig und ausschließlich in die Zuständigkeit der Stasi zu übergeben. Der Minister wollte die totale Kontrolle über diesen Bereich, um außerhalb wie innerhalb der DDR operative Absichten der Stasi und eigene Machtinteressen schlagkräftig verbinden zu können.

Schon 1947 hatte Mielke erfahren, welche Macht sich mit dem Herrschaftswissen über die NS-Zeit auf andere Menschen ausüben ließ. Zu jener Zeit war er stellvertretender Chef der Deutschen Verwaltung des Innern (DVdI), dem Vorläufer des kurz nach der DDR-Gründung am 7. Oktober 1949 gebildeten Innenministeriums. Am 16. August 1947 übertrug die Sowjetische Militäradministration mit dem Befehl Nr. 201 die Entnazifizierung in Ostdeutschland den einheimischen Behörden. Im »Kommissariat 5« (K5), also der Mielke unterstellten politischen Polizei, wurden daraufhin sogenannte »Untersuchungsorgane 201« gebildet, die zusammen mit den staatlichen »Entnazifizierungskommissionen« Personen auf ihre Verwicklung in den NS-Machtapparat zu überprüfen hatten.

Mielke erledigte die Aufgabe mit beeindruckender Gründlichkeit. In nur sieben Monaten, bis Anfang März 1948, hatten die »Untersuchungsorgane 201« insgesamt »520730 Personen wegen ihrer nachgewiesenen faschistischen Vergangenheit aus den verschiedensten Dienststellen und Einrichtungen entfernt«.6 Gegen 40350 »aktive Nazis und Militaristen« wurden Untersuchungsverfahren eingeleitet.7 Aus Volksbildung, Justiz und Polizei seien Faschisten entfernt und durch »fortschrittsdemokratische Kräfte« ersetzt worden, meldete das SED-Zentralorgan »Neues Deutschland« am 21. April 1948. Und DDR-Generalstaatsanwalt Josef Streit versicherte 1965 öffentlich, es gebe »im Bereich der Justiz, der Armee, der Volksbildung oder sonst einem Zweig des Staatsapparates der DDR keinen einzigen Mitarbeiter, der belastet ist«.

Doch die Wahrheit sah, wie so häufig, anders aus. Denn so recht verzichten konnten und wollten Ulbrichts Leute beim Aufbau der neuen Zeit auch nicht auf die gelernten (und damit erpreßbaren) Nazis. So ist einer von der SPD 1946 zusammengestellten Liste zu entnehmen, daß in die SED gewechselte ehemalige NSDAP-Mitglieder in der sächsischen Landesregierung zwei Präsidialdirektoren, einen Ministerialdirektor, zwei Präsidialräte, drei Oberregierungsräte, einen Oberlandwirtschaftsrat und drei Landwirtschaftsräte stellten. Die NSDAP-Gruppe im SED-Zentralkomitee brachte es über die Jahre hindurch immerhin auf eine Stärke von 27 Männern und einer Frau – darunter Hitlerjugendführer, SS-Angehörige, Gestapo-Mitarbeiter und sogar KZ-Aufseher. Ulbrichts persönlicher Referent Heinz Eichler war ebenso NSDAP-Mitglied wie Schalcks Schwiegervater Kurt Blecha, Leiter des DDR-Presseamtes, und acht DDR-Minister, berichtete die Zeitung Die Woche 1996 unter Berufung auf Personalakten aus dem SED-Zentralkomitee. Zu ihnen gehörte der spätere Außenwirtschaftsminister Gerhard Beil (NSDAP-Mitgliedsnummer: 10004595)8, dessen aufs eigene Fortkommen gerichtete Geschmeidigkeit im Umgang mit den Mächtigen – Beils Spitzname war »Die Katze« – sich die HVA schon von den fünfziger Jahren an zunutze machte.9

Ob auch die Stasi auf den reichhaltigen Erfahrungsschatz der alten Überwachungsexperten aus dem Dritten Reich zurückgriff, ist umstritten. Unter Berufung auf Unterlagen aus dem Berlin Document Center hatte der westdeutsche Geheimdienstexperte Heinz Höhne im Jahre 1985 zwar drei frühere SS-Männer benannt, die später als Stasi-Offiziere tätig gewesen sein sollen.10 Einer Überprüfung durch Forscher der Gauck-Behörde hielt dies jedoch nicht stand. Unbestritten aber ist, daß das MfS bei der Rekrutierung von Inoffiziellen Mitarbeitern keine Berührungsängste mit ehemaligen Nazis kannte.

Auch wenn die Entnazifizierung 1948 offiziell abgeschlossen war, wurden die »Untersuchungsorgane 201« nicht aufgelöst. Sie sollten weiterhin die Ermittlungen gegen Nazis und Kriegsverbrecher betreiben. Erst nach der Gründung des Staatssicherheits-Ministeriums am 8. Februar 1950, das dann den »K5«-Bereich übernahm, beschloß das DDR-Innenministerium die Auflösung der »201-Organe«. Die Ermittlungstätigkeit gegen NS-Täter sollte nach dem Willen des Innenministeriums jedoch nicht der Stasi übergeben werden, denn damit waren die eigenen Abteilungen C der Kriminalpolizei beauftragt.

Doch Mielke, anfangs stellvertretender Stasi-Minister im Range eines Staatssekretärs, nahm diese Entscheidung nicht hin. Wütenden Protesten aus dem Innenministerium zum Trotze ließ er seine Leute zunächst in Einzelfällen weiter ermitteln, später wurden auf seine Weisung hin immer mehr solcher Vorgänge durch das MfS bearbeitet. So wuchs der Anteil der von der Stasi bearbeiteten Ermittlungsvorgänge gegen Nazi- und Kriegsverbrecher in der DDR von 0,3 Prozent 1951 auf knapp 70 Prozent 1955.11

Parallel dazu wurden ab 1954 in der Stasi alle Erkenntnisse zu Personen aus der NS-Zeit und vorliegende Originaldokumente systematisch archiviert. »Dieser dadurch erschlossene Archivfundus (...) bildete in den folgenden Jahren eine wesentliche Informationsquelle für die gesamte politisch-operative Aufklärungs- und Abwehrarbeit des MfS, insbesondere für Beweisführungsmaßnahmen in Operativ- und Untersuchungsvorgängen und für die Öffentlichkeitsarbeit.«12

Mit dieser akribischen Arbeit erzielte Mielke bei den Genossen der SED-Führung Eindruck. So enttarnte sein Apparat in der DDR untergetauchte Kriegsverbrecher, machte die Nazi-Vergangenheit westdeutscher Politiker wie Globke und Oberländer öffentlich und prangerte die Beschäftigung von NS-Juristen (»Blutrichter«) sowie früheren SS- und Gestapoangehörigen im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik an.

Die erfolgreiche »Aktion Licht« von 1962 war das i-Tüpfelchen, das Ulbricht schließlich davon überzeugte, seinem treuen Kampfgefährten Mielke die alleinige Zuständigkeit für die »operative Aufarbeitung« der NS-Vergangenheit zu übertragen. Spätestens ab Mitte der sechziger Jahre durfte nur noch die Stasi entsprechende Ermittlungen durchführen.

Hiermit befaßt waren vor allem die Hauptabteilungen IX und XX, die Hauptverwaltung A und eine aus mehreren Diensteinheiten gebildete »Arbeitsgruppe Agitation«, die die Ergebnisse der Ermittlungen bei Bedarf an die westlichen Medien spielen sollte. In den siebziger und achtziger Jahren kamen in Einzelfällen noch die Mielkes Stellvertreter Neiber zugeordneten Hauptabteilungen II (Spionageabwehr) und VII (unter anderem zuständig für Bekämpfung von Schmuggel und Spekulation) hinzu.

Am 2. März 1965 wies Mielke die Aktion »Konzentration« an, mit der eine Erpressungskartei sondergleichen entstand. Sämtliche in den MfS-Bezirksverwaltungen und Stasi-Hauptabteilungen vorhandenen »politisch-operativen Hinweise und operativen Materialien über Nazi- und Kriegsverbrecher« sollten unter dem Codewort »Konzentration« an die Berliner Zentrale übergeben und dort in einer Abteilung zusammengeführt werden. Besonderen Wert legte Mielke auf »BRD-Bürger, ... die im öffentlichen Leben des Bonner Staates eine exponierte Stellung einnahmen«.13 Parallel dazu forderte der Minister bei allen Abteilungen Sachstandsberichte und Maßnahmepläne zu west- und ostdeutschen Bürgern an, die im Verdacht der Beteiligung an Nazi- und Kriegsverbrechen standen.

Mit dem Befehl 39/67 schuf Mielke zum 1. Februar 1968 die Abteilung IX/11, die das in der Aktion »Konzentration« zusammengeführte Material künftig auswerten und verwalten sollte. Ziel war es, mit Hilfe dieser Dokumente prominente Westdeutsche als ehemalige Nazis zu entlarven, andere MfS-Abteilungen bei deren Geheimdienstoperationen mit Belastungsmaterial zu unterstützen, geheime Ermittlungsakten gegen Kriegsverbrecher anzulegen sowie »spezielle Forschungsaufträge zu erfüllen«.14

Mit dem Beginn der Entspannungspolitik Anfang der siebziger Jahre veränderte sich auch der Charakter der Systemauseinandersetzung. Die Zeiten der großen Propaganda-Schlachten gingen zu Ende. Moderatere Töne waren gefragt. Die Abteilung Agitation verlor ihre Daseinsberechtigung und wurde aufgelöst. Das »Spiel« mit wahren und falschen Informationen für die Westmedien übernahm nun die Abteilung X der Hauptverwaltung Aufklärung in alleiniger Verantwortung.

Für die Zentrale des Staatssicherheitsministeriums rückte ein anderer Aufgabenbereich ins Zentrum des Interesses: die Devisenbeschaffung. Hierzu gehörte alsbald der Handel mit NS-Devotionalien, Wertpapieren, Schmuckstücken und anderen Wertgegenständen, die von den Nazis geraubt worden waren und sich noch in Verstecken oder Depots auf dem Gebiet der DDR befanden.

Auf den Geschmack war Mielke bereits bei der »Aktion Licht« gekommen. Dabei stellte sich heraus, daß die aufgefundenen Dokumente und Materialien nur in begrenztem Umfang für die wissenschaftliche oder publizistische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit genutzt werden konnten. Dagegen ließen sich die kostbaren Kunst- und Wertgegenstände auf dem westlichen Markt schnell gewinnträchtig verhökern.

Einen Beleg für die Gewichtung der Aktion bietet bereits der vorläufige Abschlußbericht Mielkes vom 11. Juli 1962. Gleich als erstes listete der Stasi-Minister die »umfangreichen Mengen nicht erfaßter Wertgegenstände (auf), deren Gesamtwert nach vorläufigen Schätzungen auf 4,1 Millionen DM beziffert wird«.15 In dem sechsseitigen Bericht, der laut Verteilerliste unter anderem an SED-Chef Ulbricht, den stellvertretenden Ministerpräsidenten Willi Stoph und DDR-Finanzminister Willi Rumpf ging, werden dagegen die Funde von historisch wichtigen oder operativ auswertbaren Dokumenten mit keinem Wort erwähnt. Sie waren offensichtlich bloß Nebeneffekt einer von Anfang an auf Raub und Bereicherung ausgerichteten Aktion.

Allein vom Verkauf einer ersten Teilmenge der geraubten Kunstwerke, Schmuckstücke und Porzellansammlungen, die im Herbst 1962 an die Tresorverwaltung des DDR-Finanzministeriums übergeben wurde, versprachen sich Stasi und SED einen Erlös von mindestens zweieinhalb Millionen DM. Das geht aus Einschätzungen von MfS-Experten hervor, die der für Devisen zuständigen ZK-Abteilung Verkehr zugestellt wurden. Der tatsächliche Gewinn dürfte jedoch weit über dieser Prognose gelegen haben, denn wegen der Kürze der Zeit konnte das MfS den Wert diverser Originalhandschriften, historischer Dokumente, Gemälde und anderer Kunstgegenstände nicht mehr von Fachleuten schätzen lassen.

Das am 13. Oktober 1962 gefertigte, mehr als 100 Seiten lange Übergabeprotokoll dokumentiert auf beispiellose Weise die Dimension des »Licht«-Raubzuges. So wurden von den in Tresoren und Bankschließfächern gefundenen und häufig aus jüdischem Besitz stammenden Kostbarkeiten zum Verkauf freigegeben:

– mit Brillanten besetzte Diademe, Colliers, Ohrringe und Kronen, Gold-Armbänder mit Edelsteinen, ein mit Diamanten verzierter Hausorden von Katharina II.;

– mehr als 250 Gemälde, Kupferstiche und Radierungen, darunter mehrere Werke von Lucas Cranach, Canaletto, Albrecht Dürer und Rembrandt;

– weit über 100 Handschriften und Briefe, unter anderem von Busch, Fallersleben, Fontane, Goethe, Hauptmann, Heine, Schiller, Zola, Herder, Chodowiecki, Arndt, Dvorak, Mendelssohn-Bartholdy, Paganini, Reger, Saint-Saens, Strauss, Schumann, Wagner, Corinth, Menzel, Darwin, Humboldt, Haeckel, Maria Theresia, August der Starke, Friedrich II., Napoleon, Bismarck und Louis XIV.;

– mehrere Münz- und Briefmarkensammlungen, deren Wert allein auf knapp 700 000 DM taxiert wurde;

– komplette Speiseservices aus Meißner Porzellan, Besteckwaren aus Silber, künstlerische Skulpturen, Kalender aus dem 18. Jahrhundert, wertvolle Tischuhren, mehrere historische Fotoapparate und Filmkameras, Persianerfelle und diverse weitere kostbare Einzelstücke;

– 1006 Sparbücher aus der NS-Zeit sowie 14 Kontenblätter mit »Uraltguthaben«.

Noch vor der Übergabe des Raubgutes durch die Stasi im Herbst 1962 hatte der damalige DDR-Finanzminister Willi Rumpf den Leiter der Tresorverwaltung, Habakuk, angewiesen, bis Ende Oktober 1962 einen Bericht »über den wertmäßigen Umfang der übergebenen Wertgegenstände« und den »Zeitraum zu (ihrer) schnellen Verwertung« zu erstellen. Habakuk sollte in dem Bericht genau aufschlüsseln, welche Gegenstände für den Export ausgewählt und welche dem Binnenhandel und dem Edelmetallfonds der DDR zugeführt werden konnten.16

Am 23. Oktober 1962 legte Habakuk seinen Bericht vor. Zwar sei der Wert der Porzellane, Gemälde und Handschriften sowie weiterer Kunstgegenstände noch nicht geschätzt worden. Allein mit den Schmuckwaren, Münzen und Briefmarken sei aber im Export ein Erlös von knapp zwei Millionen Mark zu erzielen, schreibt der Leiter der Tresorverwaltung. Im Binnenhandel könne man mit weniger wertvollen Schmuckstücken und Glaswaren immerhin noch knapp 350000 Mark verdienen. Dem Edelmetallfonds werden zudem zwei Kilogramm Feingold, 300 Kilogramm Silber und zehn Gramm Platin zugeführt. Abschließend schreibt Habakuk, die für den Export vorgesehenen Gegenstände könnten »sofort verwertet werden, sobald das Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel die in der Unterredung beim Minister übernommene Verpflichtung zur Herbeischaffung der interessierten Käufer erfüllt hat«.17

Alexander Schalck-Golodkowski – seit der Gründung im Jahre 1966 Chef des von der Stasi kontrollierten Außenhandelsbereichs Kommerzielle Koordinierung (KoKo) – hat stets bestritten, in die vor der KoKo-Gründung liegende »Aktion Licht« einbezogen gewesen zu sein. Zeitzeugen behaupten jedoch das Gegenteil. Demnach soll Schalck an der Verwertung der »Licht«-Beute im Westen durchaus beteiligt gewesen sein.

Schalck war zu jener Zeit Sekretär der SED-Kreisleitung Außenhandel. Doch der gewiefte Außenhändler beschränkte sich nicht nur auf die propagandistische Anleitung seiner Genossen und das Aufspüren parteifeindlichen Verhaltens. Mit tatkräftiger Unterstützung der ZK-Abteilung Verkehr und des Ministeriums für Staatssicherheit war Schalck in Spekulationsgeschäfte und verdeckte Transaktionen von DDR-Außenhandelsfirmen eingebunden. Daneben studierte der lernbegierige Devisenjäger »am lebenden Objekt« in den HVA-Vertrauensfirmen F. C. Gerlach und Simon Industrievertretungen, wie unter anderem mit Schmuggel und Versicherungsbetrügereien dem Klassenfeind ein Schnippchen geschlagen werden konnte.18

Für Heinz Volpert, einem der Strategen der »Aktion Licht«, dürfte Schalck erste Wahl gewesen sein, als es um die Frage ging, wer den Verkauf der »Licht«-Beute im Westen übernehmen könnte. Er unterhielt zu Schalck schon seit 1960 engen Kontakt. Ob Stasi und SED den späteren KoKo-Chef dann aber tatsächlich in die »Aktion Licht« eingebunden haben, ist mit den bislang aufgefundenen Unterlagen nicht endgültig zu klären.

Mehrere Anhaltspunkte sprechen jedoch dafür. So erwähnt Schalck in einem handschriftlichen Lebenslauf vom 12. Juni 1966, er habe »in den letzten zwei Jahren ... im Auftrag des Genossen Matern eine Reihe Operationen zur außerplanmäßigen Beschaffung von Kapital-Valuten für das Zentralkomitee durchgeführt. In dieser Tätigkeit hatte ich einen engen Kontakt mit der Abt(eilung) Verkehr des ZK.«19

In einem Brief vom 29. Dezember 1965 an Hermann Matern, damals Chef der Zentralen Parteikontrollkommission und zuständig für die ZK-Abteilung Verkehr, rechnet Schalck zudem eine Summe von 1239500 DM ab, die er in diesem Kalenderjahr »an das Zentralkomitee in bar« abgeführt habe. »Mit Stand vom 28. Dezember 1965 befinden sich noch Barmittel im Werte von 262170,15 DM-West in meinen Händen, die ich Dir unmittelbar am Jahresbeginn übergeben werde«, schreibt Schalck weiter.20 Das Bargeld für die SED dürfte kaum aus Transaktionen von DDR-Außenhandelsfirmen stammen, in die Schalck eingebunden war. Denn in einem solchen Fall wären die Erlöse wohl kaum durch seine Hände an die Partei gegangen, sondern von den Firmen direkt an den Staatshaushalt abgerechnet worden. Es spricht also vieles dafür, daß Schalck 1964 bis 1966 besonders vertrauliche Geschäfte im Auftrag der ZK-Abteilung Verkehr abgewickelt hat. Um was für Geschäfte es sich dabei im einzelnen handelte, ist aber auch noch 35 Jahre später »streng geheim«.