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Die FriedhofsgärtnerinimageReihe: 21

Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buch
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Monika Carbe

Die Friedhofsgärtnerin

Roman

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INHALT

ECKENHEIMER LANDSTRASSE

Efeu

Brennnessel

Himmelsschlüssel

Cannabis

Oregano

Distel

Flohkraut

Knöterich

Knallerbsen

GRÜNANLAGEN

Anemonen

Kastanien

Teepflanze

Weizen

Kiefer

Yucca-Palme

Zwiebel

Weihnachtsstern

MAINUFER

Schneeglöckchen

Bambus

Traubenhyazinthen

Löwenzahn

Flieder

Jasmin

Nelken

Ginkgo

Biographisches

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Für Linden John Fraser

ECKENHEIMER LANDSTRASSE
EFEU

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Das Lächeln einer fülligen Roma-Matrone, vor deren Foto auch jetzt im Sommer ein Grablicht flackerte, verlockte Alice ebenfalls zu einem Lächeln, wenn auch wehmütig, da die freundliche Abgebildete schon lange nicht mehr unter den Lebenden weilte. In ihrer grünen Kittelschürze ging Alice an der Gräbern entlang und warf einen Blick auf Namen, Fotos und Pflanzen. Rosen blühten zwischen Efeu, verspäteten Stiefmütterchen und Goldlack. Der Verkehrslärm der Eckenheimer Landstraße hinter der Friedhofsmauer war unüberhörbar, Bremsen quietschten, und ab und zu bimmelten Straßenbahnen. Üppig geschmückt waren die Grabstätten der Roma-Familien; ihre Einfriedung bestand meist aus Marmor, und manchmal steckten auch künstliche Rosen an den mit Messing umrahmten Bildern. Was für ein Unterschied zu den schlichten Kreuzen und Inschriften auf den Steinplatten der anderen Ruhestätten!

Alice war ohne Vater aufgewachsen und hatte ihn nie vermisst. Geboren ein paar Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, war sie als von der Mutter und den Großeltern geliebtes und verwöhntes Kind groß geworden. Ihr Vater war im April 1945 gefallen, hieß es – und ihre Mutter, die sinnenfreudige Johanna, hatte ihn immer idealisiert und ihrem Kind als Vorbild dargestellt. Als Kind in thüringischen Meiningen, hatte Alice alles geglaubt, was man ihr erzählte. Während sie aber jetzt, mit Ende 40, an den Gräbern der einst verfolgten Sinti und Roma vorüberging, wurde ihr wieder einmal bewusst, an was für entsetzlichen Verbrechen ihr Vater beteiligt war. Sie hatte sich mit der Vergangenheit beschäftigt, den Papieren ihrer Familie gekramt und so davon erfahren.

Eigentlich arbeitete Alice lieber im Gewann B oder J, dort, wo man wie abgeschnitten war von der Gegenwart, beschützt vom Grün der Eichen, Buchen und Pappeln, zwischen steinernen Kreuzen, Putten und Statuen. Dort herrschte Stille, wenn die Kollegen nicht mit ihren Pritschenwagen vorbeiratterten, die Laubsäge ansetzten oder die Wege mit ihren automatischen Besen säuberten. Hier war Alice ganz mit sich selbst eins und konnte ihren Erinnerungen nachhängen. Mit ihrem kastanienbraunen Haar wirkte sie jünger; sie war schlank, hatte eine gute Figur, legte jedoch kaum Wert auf ihr Äußeres. Seit ein paar Jahren werkelte und jätete sie auf dem Hauptfriedhof, nachdem sie in ihren früheren Stellen gescheitert war. Sie wollte nicht mehr darüber nachdenken, wie es dazu gekommen war, denn die Umstände, unter denen ihr immer wieder von heute auf morgen der Stuhl vor die Tür gesetzt worden war, ließen nur trübsinnige Gedanken aufkommen. Die Erinnerung daran tat zu weh.

Lieber gab sie sich zwischen Buchsbaumhecken und steinernen Zeugen der Vergangenheit anderen Erinnerungen hin, an ihre Kindheit, in der alles seinen Sinn gehabt hatte, als bestünde die Welt aus einer riesigen Wiese von Himmelschlüsseln zwischen Linden, Kirsch- und Apfelbäumen und den Tabakpflanzen, die ihr Großvater angebaut hatte. Damals in Meiningen, am Steinernen Berg. Dann der Bruch, als sie, knapp sieben, mit der unternehmungslustigen Johanna die Großeltern verließ und über West-Berlin nach Hannover flog. Es war eine Flucht erster Klasse aus der DDR, und sie landeten weich, hatte Johannas Bruder doch auf einem Bauernhof in Ostwestfalen für ihre Unterkunft gesorgt. Auch dort hätte sich alles sinnvoll zusammen gefügt, wäre nicht ihre extrem schwierige Pubertät gekommen.

Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Auch daran dachte sie ungern, an ihre Zeit als junges Mädchen, als sie sich zum ersten Mal – unglücklich – verliebte und in die Nervenklinik kam, dort in einen langen Schlaf versetzt wurde und danach viel Zeit brauchte, um wieder zu sich zu kommen. Das Abitur schaffte sie trotzdem und lernte dann im Studium in Marburg an der Lahn ein neues Leben kennen, das so gar keine Ähnlichkeit mehr mit den strengen Konventionen der westfälischen Kleinstadt hatte, in der sie aufs Gymnasium gegangen war. Literaturwissenschaften studierte sie, lernte Althochdeutsch und Mittelhochdeutsch, schrieb Seminararbeiten über Heinrich Heine, Gottfried Benn und Heinrich von Kleist, verliebte sich und wurde wieder geliebt, und alles funktionierte hervorragend bis zur Trennung von ihrem Freund und der Stadt, in der sie alle denkbaren Freiheiten gekostet hatte. Anfang der 1970er Jahre kam sie in die Großstadt, nach Frankfurt am Main.

Die Regenwolken hatten sich verzogen, und der Erdgeruch wurde vom Duft der Rosen und Jasminbüsche überlagert. An diesem schwülen Sommertag kletterte das Thermometer fast bis dreißig Grad, und die alten Damen, die wie immer am frühen Nachmittag unterwegs waren, stöhnten über die Hitze. In der einen Hand trugen sie Beutel, aus denen die Pflanzen der Saison hervorquollen, mit der anderen pressten sie ihre Handtaschen fest gegen die Brust, da man nirgendwo vor Überfällen sicher sein konnte. Gemessenen Schrittes gingen die Frauen an ihr vorbei und strebten, ganz in ihre Gedanken versunken, ihrem Ziel zu, dem Grab ihres verstorbenen Ehemanns oder eines Verwandten. Grußlos schob Alice ihre Schubkarre an ihnen vorbei; für die Trauernden gehörte sie zum Inventar des Friedhofs, und da wurde weder ein »Hallo!« noch ein kurzer Kommentar über die Hitze erwartet.

Alice hatte an der Mauer hinter den Patriziergräbern zu tun; Unkraut wuchs dort aus den Mauervorsprüngen und überwucherte die Grabstätten. Mit Maschinen war diesem Gestrüpp nicht beizukommen, hatte ihr der Meister erklärt, und ob sie vielleicht Hand anlegen könnte, ohne die wertvollen Sträucher zu verletzen. Alice nickte. Die Hitze machte ihr wenig aus. Unter ihrem Kittel trug sie Jeans und ein dünnes T-Shirt, ihre nackten Füße steckten in Sandalen. Am liebsten wäre sie barfuß gegangen, aber das ließen die Vorschriften nicht zu. Von morgens sieben bis halb vier Uhr nachmittags jätete, harkte und werkelte sie, mal in den alten Gewannen, mal weit draußen, im neuen Teil, hinter dem Wirtschaftshof, dort, wo die Gräber in genau abgezirkelten, übersichtlichen Reihen angelegt waren. Alice scheute weder Regenwetter, Blitz noch Donner. Dann zog sie ihr wasserdichtes Cape und holte sich noch nicht mal einen Schnupfen.

Bevor sie ihre Leiter an die Mauer lehnte, blieb sie vor Schopenhauers Grab stehen. Vor einigen Jahren hatte man das Geviert erweitert, damit Arthur Hübscher ein Platz an seiner Seite vergönnt war. Die Hecke war wie immer frisch geschnitten, der wuchernde Efeu ließ die beiden Grabplatten mit der schlichten Aufschrift der Namen frei, und wieder lag ein Strauß frischer Nelken auf Schopenhauers Grab. Viel Prominenz war im Gewann A beerdigt, Oberbürgermeister und Stadtverordnete, Pfarrer und Doktoren, Wohltäter und Finanzgenies – klingende Namen, die sich heute noch im Frankfurter Telefonbuch fanden.

Die Zeiten, in denen Alice sich ins Grab wünschte, waren vorbei, auch wenn sie manches Mal, wenn sie in ihrer Dachkammer im Westend saß, überlegte, ob sie ihr Fahrrad nehmen und in der Abenddämmerung durch den Rothschildpark mit seiner altertümelnden Ruine zur Alten Oper radeln sollte, dann über die Fressgass’ an den eleganten Flaneuren vorbei bis zur Hauptwache. Auf der Zeil angekommen, würde sie in die Neue Kräme einbiegen, das Rad durch das Gedränge an Bettlern und Obdachlosen vorbeischieben, die Berliner Straße überqueren, zwischen den Cafés am Paulsplatz hindurch zum Römer radeln und einen letzten Blick auf die Justitia werfen, die auf dem Brunnen thronte. Zwischen Historischem Museum und Haus Wertheim würde sie zum Main fahren, das Rad die Stufen zum Eisernen Steg emportragen, und, am Schaumainkai angekommen, ihren Weg zum Goetheturm finden. Der Goetheturm, knapp über vierzig Meter hoch, am Rande des Stadtwalds gelegen, ganz aus Holz gebaut, erinnerte Alice mit seinen Verstrebungen an fernöstliche Pagoden, und hätte sie erst einmal die zahllosen Stufen erklommen und die Aussichtsplattform mit ihrer niedrigen Brüstung erreicht, wäre es ihr ein Leichtes, sich nach einem Blick über die Stadt in das Grün der Bäume zu stürzen. Ein todsicherer Ort für Selbstmörder. Wer diesen Weg wählte, hatte keine Sorgen mehr. Zugegeben, mit dieser Möglichkeit liebäugelte sie. Aber was vor Jahren bitterer Ernst war, war längst Gedankenspiel geworden.

Sie stellte die Leiter an die Mauer, kletterte hinauf, riss wucherndes Grün heraus, Vogelmiere und Löwenzahn, und warf es auf den Boden. Eigentlich war sie froh über diese einfachen Tätigkeiten. Nur keine Verantwortung, sagte sie sich, brav auf Anweisung arbeiten und ruhig schlafen. Mehr wollte sie nicht. Wieder wanderten ihre Gedanken zurück. Nach fast zwei Jahren Arbeitslosigkeit, in denen sie sich mühsam über Wasser gehalten hatte, trat sie mit Ende zwanzig die erste Stelle an, die ihrer Ausbildung entsprach. Man erwartete viel von ihr, und sie bemühte sich, diesen Erwartungen gerecht zu werden. Vor lauter Übereifer wurde sie krank – und ihr wurde gekündigt. Inzwischen kannte sie das Arbeitsleben, hatte in den Büroalltag hineingeschnuppert, bewarb sich aufs Neue, und siehe da, es gelang ihr nicht nur, einen Job in einer großen Künstleragentur zu ergattern. Sie lernte auch Verantwortung zu übernehmen, ohne sich zu überlasten und stieg in der Hierarchie unablässig auf, bis sie an den Intrigen ihrer Gegner scheiterte.

Obwohl das schon viele Jahre zurücklag, ließen die Gespenster der Vergangenheit sie nicht los. Ob sie abends aus dem Dachfenster ihrer Mansarde auf die Kuppel der Synagoge blickte, allmählich vergilbende Fotos betrachtete oder ihr Adressbuch durchblätterte, vieles erinnerte sie an die Zeit, als sie nahe daran gewesen war, vom Goetheturm zu springen.

Mal war es Angst, die sie überfiel, ein inneres Zittern, das sie nur bewältigen konnte, indem sie sich zwang, Erlebtes zu verdrängen, mal die Furcht vor dem, was die Zukunft bringen würde. Tagsüber hatte sie Ruhe und fühlte sich durch den Rhythmus des Harkens und Jätens, durch die Betreuung der Wege und Wiesen zwischen den Gräbern geschützt. Diese Gräber erinnerten sie daran, dass ihr Leben endlich war. Und die Trauernden, die täglich von der Hauptkapelle aus in langen Zügen hinter den Sargträgern hergingen, stimmten Alice nachdenklich. Die Verlegenheit der meist dunkel, selten tiefschwarz Gekleideten, war rührend. Kaum jemand weinte. Sie trugen ernste Mienen zur Schau und übten sich im Schreiten. Leute, die gewohnt waren, jede Distanz im Eiltempo zu bewältigen, mussten langsam gehen; ältere Männer und nicht mehr ganz junge Frauen, die somit den ganzen Tag plauderten, mussten schweigen und wussten nicht, wohin mit ihren Gedanken, wenn sie dem Sarg folgten. Manchmal waren auch Greise dabei, die daran denken mochten, dass auch ihre letzte Stunde bald schlagen würde. Fast täglich beobachtete Alice diese Trauerzüge und trat scheu zur Seite, um sich ihrer nächsten Aufgabe zu widmen.

Abends aber hatte sie Schwierigkeiten, einzuschlafen, und wenn es ihr nach ein, zwei Stunden endlich gelang, wurde sie von Albträumen gequält. Unter einem wolkenverhangenen Himmel wanderte sie im Traum über Geröllhalden. Weit und breit kein Baum. Kein Grün, kein Gras spross aus dem steinigen Boden. Ihre Füße schmerzten, und sie wusste nicht, wohin sie ging. Aber sie wanderte weiter, stolperte, fing sich im Fallen auf, setzte ihren Weg über eine unübersehbare Menge von Steinen und Felsbrocken fort, eine Masse, die sich bis zum Horizont und darüber hinaus erstreckte; nirgendwo war eine Grenzlinie zu erkennen, nirgendwo ein Baum. Kein Busch, keine Sträucher, kein Blatt. Und sie wanderte auf ein Ziel zu, das sie nicht kannte. Wenn sie schweißgebadet in ihrer Dachwohnung, die aus einem Zimmer, einer Kochnische und einer Duschecke bestand, erwachte, überlegte sie, wer ihr das letzte Geleit geben würde, wenn sie eines Tages im Sarg läge. Außer den Kollegen auf dem Friedhof fiel ihr niemand ein.

Alice kletterte von der Leiter, harkte das ausgerissene Grün zusammen und stopfte es in den Jutesack. Sie rückte die Leiter ein paar Meter weiter, kletterte wieder hinauf und arbeitete weiter. Durch das Leben in der Natur hatte sie mit der Zeit neuen Lebensmut gefunden.

Vor vielen Jahren war sie in diese Stadt gekommen, allein, hatte ein paar Leute kennen gelernt, hatte sich mal diesem, mal jenem Kreis angeschlossen, hatte gearbeitet und Geld verdient und wieder ihre Stelle verloren. Sie war der Verantwortung nicht gewachsen. Das war das Härteste. Das hatte sie bis heute nicht verwunden. Ausstellungen hatte sie konzipiert, Vernissagen und Finissagen organisiert, hatte eine glückliche Hand bewiesen, als sie Dichter und Musiker aus vielen Ländern einlud, hatte ein Netz von Kontakten geknüpft und sich in diesem Kommunikationstrubel pudelwohl gefühlt – bis ihr von höherer Stelle gesagt wurde, die Abrechnungen seien nichtstimmig, der Verdacht der Untreue liege vor, und man müsse sich von ihr trennen, da sie eine Gefährdung für den Betrieb darstelle. Verantwortungslos habe sie gehandelt, und Künstler, die ihr besonders nahe standen, begünstigt.

Um nicht auf staatliche Unterstützung angewiesen zu sein, hatte sie damals beschlossen, sich als Hilfsarbeiterin zu verdingen. Und so wurde sie auf dem Hauptfriedhof eine der eifrigsten, aus lauter Furcht, man könne ihr eines Tages wieder sagen: »Frau Dessau, wir haben uns in Ihnen getäuscht«, oder: »Frau Dessau, am besten schauen Sie sich nach etwas anderem um. Wir geben Ihnen noch drei Monate.«

Seit Alice auf dem Friedhof arbeitete, hatte sie ein anderes Zeitverständnis. »Noch drei Monate«, wie drohend das damals geklungen hatte. Noch ein Vierteljahr lang wurde ihr erlaubt, im Untergeschoss des Hotels Intercontinental Berge von Bett-, Bad- und Tischwäsche auszusortieren, in Waschmaschinen zu stopfen, die nassen Laken, Bezüge, Bade- und Tischtücher, Servietten und was dergleichen mehr war, in den Trommeln trocknen zu lassen und die Trommeln rechtzeitig zu leeren, um die Wäsche dann den Plätterinnen zu übergeben, die ihrerseits an Maschinen arbeiteten. Sie erinnerte sich nicht mehr an den Anlass für die Kündigung; man hielt sie wohl für tollpatschig und verträumt. Vielleicht hatte jemand sie im Personalbüro angeschwärzt, weil sie meist vor einer der Waschmaschinen unter dem Neonlicht saß und las. Es war so langweilig, und die Wasch- und Trommelvorgänge waren so lang, dass Alice sich irgendwie beschäftigen musste, um die Öde zwischen dem grauen Kellerwänden auszuhalten.

Hier, zwischen Bäumen, Büschen und Gräbern, inmitten des Vogelgezwitschers, schaute sie nicht auf die Uhr. In der Nähe des Todes gab es weder Hektik noch Termindruck, auch wenn zwei oder drei der jungen Meister bei den monatlichen Besprechungen anfingen, von Leistung und Effizienz zu sprechen, Worte, die Alice aus früheren Zeiten kannte. Die Alten bremsten die jungen Brauseköpfe. »Hier gilt ein anderer Rhythmus«, sagten sie, und die Jungen zogen die Köpfe ein. Die Jahreszeiten bestimmten den Takt, und die Bestattungen, jeden Vormittag. Die Damen und Herren in den Büros am Haupteingang legten die Zeiten fest. Seit Jahrzehnten keine Seuchen, kein Massensterben, keine Selbstmordserien; nur vormittags wurde bestattet, und Platz gab es genug. Alice bewunderte das Organisationstalent der Angestellten, die prompt reagierten, wenn die Anrufe der Beerdigungsunternehmen kamen. Sie staunte über die Ruhe, mit der sie die Daten der Verblichenen telefonisch entgegennahmen, in den Computer eingaben und mit einem Mausklick die passende Grabstätte fanden.

Und wieder kletterte sie von der Leiter, harkte das überflüssige Grün, Brennnesseln, Löwenzahn und Vogelmiere, zusammen, stopfte es in den Sack und rückte die Leiter ein Stück weiter.

Als sie seinerzeit im Keller des riesigen Hotels, den Waschmittelgeruch in der Nase, unablässig auf den Schaum in den runden Fenstern der Maschinen gestarrt hatte, war ihr das Gefühl für den Sinn dieser Arbeit verloren gegangen. Wenn sie allerdings wie die Zimmermädchen ständig mit den Putz- und Wäschewagen von Zimmer zu Zimmer gesaust wäre und die Laken gewechselt hätte, wäre sie noch rascher entlassen worden. Sie konnte keine Betten machen, und das Putzen war ihr fremd. Wenn sie jetzt Huflattich und Vogelknöterich aus den Mauerritzen riss und sich nicht scheute, mit bloßen Händen in die Brennnesseln zu greifen, war ihr zwar klar, dass die Kräuter wieder und wieder nachwachsen und das Gestein überwuchern würden, aber dieses Immerwiederkehrende war etwas anderes als makellose Laken, auf denen frisch geduschte Geschäftsleute eine einzige Nacht verbracht hatten, in Waschmaschinen zu stopfen.

Der Kreislauf der Reste von Natur und Grün und Landschaft in dieser Großstadt war Alice lieber als die mechanischen Abläufe im grauen Untergeschoss eines Hochhauses am Main. Eine Ausbildung als Gärtnerin hatte sie nicht, als ungelernte Arbeiterin wurde sie auf der Lohnliste des Friedhofsamts geführt, und ihr war es recht so. Sie hatte den Tod gesucht und sich dann entschieden, ihrem Leben noch eine Chance zu geben.

Ackerschachtelhalm, Flohkraut und Disteln konnte sie ohne weiteres von den Efeuarten unterscheiden. Wenn sie die Schmarotzer herausriss, achtete sie darauf, nicht das Wurzelwerk des Gloire de Marengo, des weißbunten Efeus, zu verletzen, das die Jahre überdauerte, eine Zierde der Mauer an der Eckenheimer Landstraße. Fast wusste sie sich mit sich selbst eins, wenn sie in ihrer grünen Kittelschürze auf der obersten Sprosse der Leiter stand. Mühelos hielt sie das Gleichgewicht und nahm das Vorüberdonnern der Lastwagen, das Scheppern der Straßenbahnen und das Hupen der Autofahrer jenseits der Mauer kaum mehr wahr.

Immer noch hatte sie Phasen, in denen das Grauen sie überfiel, das Entsetzen und der Schrecken der Ereignisse, die sie vor Jahren überrollt hatten, aber nach und nach hatte sie gelernt, die Stetigkeit der Beschäftigung dagegen zu setzen, hier mit Pflanzen und Dornen. Zu Hause aber las sie, strickte oder legte Patiencen.

»Wir haben uns in Ihnen getäuscht« – dergleichen musste sie auf dem Hauptfriedhof nie hören, ganz abgesehen davon, dass man sich hier allgemein duzte; nur zu den Damen in den weißen Blusen und den Herren im grauen Sakko, die in den Büros am Alten Portal oder in der Villa am Haupteingang saßen, hielt man den konventionellen Abstand des Siezens. Die Meister schätzten Alice und lobten ihre Einsatzbereitschaft. Wenn einer von ihnen sich je missbilligend über sie geäußert hätte, hätte sie das erfahren. Krank hatte sie sich noch nie gemeldet, trat ihren Dienst selbst mit Schnupfen oder Halsweh an und kurierte sich an den Wochenenden aus. Seit fünf Jahren arbeitete sie jetzt hier und bereute keinen Tag.

Niemand kannte ihre Vorgeschichte, und sie hätte sich eher die Zunge verbrannt, als auch nur ein Sterbenswörtchen zu sagen. Sie wirkte freundlich und ausgeglichen, murrte oder beschwerte sich nie und war eine der wenigen, die nichts dagegen hatten, als Springer eingesetzt zu werden. Gingen morgens die Krankmeldungen im Büro ein, kam es oft vor, dass man sie bat, hier oder dort auszuhelfen. So lernte sie das ganze Gelände des Friedhofs kennen, prägte sich Namen und Daten auf den Grabsteinen ein und lachte, wenn man sie damit aufzog.

Neulich erst, in der Frühstückspause, fragte einer der Meister: »Alice, wann ist der alte Beil gestorben?«

»1852«, antwortete sie, wie aus der Pistole geschossen.

»Und wo liegt er begraben?«, zog Camillo sie auf.

»Gewann C, No. 7«, erwiderte Alice und biss in ihr Brot.

»Und Miquel, der von der Miquelallee?«, erkundigte sich Yusuf.

»1901«, meinte Alice seelenruhig.

»Das müssen wir unbedingt beim nächsten Betriebsausflug vorführen. Mensch, Alice, du bist ja Spitze!« Anerkennend klopfte ihr Yusuf auf die Schulter.

Jetzt war sie mal Camillos Team zugeordnet, mal harkte sie mit Abdul die Wege oder ratterte mit Yusuf auf dem Pritschenwagen übers Gelände. Camillo, der Sizilianer, war ein Hüne von einem Mann; Yusuf, zwei Köpfe kleiner als Camillo, kam aus der Türkei und hatte einen relativ verantwortungsvollen Posten. Abdul aus Marokko war wie Alice als Hilfsarbeiter eingestellt. Zu allen Dreien hatte sie Vertrauen; das waren die Kollegen, mit denen sie meist zusammenarbeitete.

Wenn Yusuf sie im Gewann D absetzte, in der Nähe von Gutzkows Grabstein, oder an der Hauptmauer, dort, wo Alexander von Gleichen-Rußwurm seinen Platz hatte, war sie froh, weil sie viele Stunden dort verbringen konnte, und als Camillo ihr einmal, halb entschuldigend, die Sense in die Hand drückte, um eine Wiese in der Nähe von Cäcilie Mendelssohn-Bartholdys Grab zu mähen, lehnte sie das nicht ab.

Wieder stieg sie von der Leiter, harkte Löwenzahn, Disteln und Flöhkraut zusammen, packte das Grün in den Jutesack und trug die Leiter zum nächsten Mauerabschnitt. Nach Jahren der vergleichsweise gemächlichen Arbeit im Freien hatte sie ihre Energie wiedergewonnen. Während sie weiter Unkraut aus den Mauerritzen zupfte, sann sie darüber nach, warum sie sich auf Friedhöfen so wohl fühlte und ihr die Toten keinen Schrecken einjagten. Sie hatte hier Zeit zum Nachdenken, Zeit auch, das eigene Sterben näher ins Auge zu fassen – eine langjährige Kur gegen den Selbstmord, die sie sich verordnet hatte. Aber das allein war es nicht.

Alice war Ende vierzig. Da sie schlank war, schätzten Abdul und Yusuf sie auf Ende dreißig, nur Camillo hatte ihr auf den Kopf zugesagt, sie müsse achtundvierzig sein. »Du hast mit den Miezen im Büro geflirtet und in meine Personalakte geguckt«, meinte Alice nur und nahm es gelassen. Sie hatte eine robuste Gesundheit und solange sie nicht von einem Sportwagen, der mit überhöhter Geschwindigkeit durchs Westend fuhr, überrollt würde, stand ihr noch ein langes Lebens bevor. Was sollte sie nur mit all den Jahren anfangen?

Ihre Liebe zu Friedhöfen musste etwas mit Lommi zu tun haben, ihrer Großmutter. Auf allen ihren Wegen und Besorgungen in der Theaterstadt Meiningen, hatte Lommi die Abkürzung über den Friedhof gewählt und Alice die Blumen auf den Gräbern erklärt, Goldlack und Akelei, Himmelschlüssel und Jelängerjelieber, Rosen und Winden. Ein Friedhof ist ein großer, stiller Garten, in dem wir eines Tages alle ruhen, hatte Lommi gesagt, und Alice hatte genickt.

Weder Hast noch Hektik und kein Termindruck; was man nicht schaffte, ließ man eine Woche, einen Monat lang liegen, und keiner störte sich daran. Personal war knapp, aber niemand hetzte sie. Niemand fragte sie hier, woher sie kam und was sie früher getan hatte, und Alice hatte schweigen gelernt.

ECKENHEIMER LANDSTRASSE
BRENNNESSEL

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