Josef Taus • Oliver Tanzer

Cover

Titel

Vorwort: Die Krise – ein Symptom

TEIL I
Die Geschichte der Umverteilung und ihr modernes Erbe

Es begann mit einem göttlichen Fluch

1. Kapitel: Die griechische Idee

Die Erfindung des gerechten Staates

2. Kapitel: Das christliche Fundament

Das römische Verteilungssystem und der Aufstieg des christlichen Gesellschaftsmodells

3. Kapitel: Von Mammon und Hölle

Thomas von Aquin und seine Schüler suchen nach einer Synthese von Wirtschaft und Gerechtigkeit

4. Kapitel: Ein Utopia gegen die Wirklichkeit

Mit der Renaissance erhält die Welt ein neues Ziel: den Idealstaat

5. Kapitel: Fortschritt und Elend

Die Erben von Thomas Morus: Karl Marx und die französischen Sozialisten und Utopisten

6. Kapitel: Die Schöpfung des Kapitalismus

Adam Smith und die Entstehung des liberalen Kapitalismus

7. Kapitel: Von Arbeit und Konsum

Wie Arbeit und Eigentum die Verteilung der Güter prägen

8. Kapitel: Die Vergessenen der Globalisierung

Warum die Suche nach globaler Verteilungsgerechtigkeit einen falschen Weg geht

9. Kapitel: Der ewige Streit um den Staat

Die Auseinandersetzung um die Rolle des Staates in der Wirtschaft verläuft entlang 200 Jahre alter ideologischer Bruchlinien

10. Kapitel: Chancen der Synthese

Plädoyer für eine neue Sicht der Ökonomie

TEIL II
Ideen für die Zukunft des Finanzsystems

Großer Fortschritt braucht kleine Schritte

11. Kapitel: Was bleibt vom Neoliberalismus?

Gibt es einen neuen Neo-Keynesianismus oder herrscht Pragmatismus?

12. Kapitel: Die gegenwärtige Krise

Eine von vielen – ist sie bewältigt?

13. Kapitel: Das Finanzsystem

Seine Funktion und seine Schwächen

14. Kapitel: Hüter der Realwirtschaft

Das Finanzsystem hilft Unternehmen – kann sie aber auch gefährden

15. Kapitel: Wie geht es weiter mit dem Finanzsystem?

Möglichkeiten einer grundlegenden Reform

16. Kapitel: Währungspolitik

Instrumente der Geldpolitik

17. Kapitel: Der Überlebenskampf des Euro

Kann die gemeinsame Währung bestehen?

18. Kapitel: Und alles trägt der Mittelstand

Die unbedankte Funktion der echten Wertschöpfer

19. Kapitel: Eine neue Vermögenspolitik für Bürgerinnen und Bürger

So funktioniert ein Stabilitätspakt für Sparer und Wirtschaft

20. Kapitel: Ein Weg für Österreich

Möglichkeiten für eine Sozialbindung des Eigentums

21. Kapitel: Resümee

Die verbindende Moral

Anhang

Expertise der RA-Kanzlei Wildmoser/Koch & Partner zu Basel III

Literatur

Endnoten

Glossar

Register

Weitere Bücher

Impressum

Fußnote

Vorwort

Die Krise – ein Symptom

„Die Krise ist überstanden“, so schallt es allenthalben aus den Medien und freudig aus dem Mund manches Politikers. Die Krise ist überstanden? Ja, wenn man damit meint, dass es der Konjunktur wieder besser geht. Aber wie aussagekräftig sind Konjunkturdaten und Börsenentwicklungen, wenn es um das Große und Ganze unserer Wirtschaft und Gesellschaft geht? Wenn es um Griechenland, Portugal und Irland geht? Oder wenn man auf Spanien blickt, das mit chinesischen Staatsfonds seine Sparkassen stützt?

Wer jemals Zeuge von Vorträgen und Diskussionsveranstaltungen zum Thema Finanz- und Wirtschaftskrise war, weiß um den Verlauf solcher Debatten. Sie beginnen bei den Problemen der Finanzwirtschaft und enden in Besorgnis über unser wirtschaftlichdemokratisches System als Gesamtes.

Es offenbart sich da eine tiefe Ahnung, dass etwas nicht stimmt in unserem Zusammenleben und dass die Krise der Finanzmärkte letztlich nur das Symptom einer schweren Krankheit ist, die unser Gemeinwesen erfasst hat. Dann wird vom Prinzip des Egoismus und von der Gier gesprochen, von der ungleichen Vermögenszuteilung, von der Bereicherung der Eliten und vom bedauernswerten Zustand des Staates und der Politik, die beide, so die gängige Analyse, ihren Verpflichtungen nicht mehr nachkommen.

Diese Pflichten bestünden darin, die Kohäsion, den Zusammenhalt der Gesellschaft, zu fördern, indem alle Bürgerinnen und Bürger – gleich welcher Herkunft – mit Chancen ausgestattet werden, sich in dieser Gemeinschaft zu verwirklichen. Es geht aber auch um die Verteilung der gemeinsamen Güter unter der Bedachtnahme, dass nicht der eine viel zu viel, der andere aber trotz Arbeit gar nichts habe – weder Vermögen noch Rechte.

Wir sind nicht die erste Generation, die sich in einer existenziellen und moralischen Krise wähnt. Die abendländische Geschichte ist voll von solchen Krisen – aber auch von Konzepten und Ideen zu ihrer Beseitigung. Sie haben ihre Wurzeln teilweise im antiken Griechenland und sind bis heute wirksam. Wir wollen die bedeutendsten von ihnen im ersten Teil des Buches vorstellen.

Platon und Aristoteles bilden den Ausgangspunkt. Ihr Einfluss reicht weit über das Mittelalter hinaus: bis zu den ersten Kapitalisten und – auf der anderen Seite – bis zu den utopischen Sozialisten und Karl Marx. Der Leser wird entdecken, dass einige der bekanntesten ökonomischen Schriften vorsätzlich missverstanden, sinnentstellend interpretiert oder ganz einfach verdrängt wurden – zumeist aus ideologischen Gründen. Er wird aber auch entdecken können, dass viele dieser Ideen heute aktueller wären denn je.

So wie wir in den vergangenen Jahrhunderten die Frage der Gerechtigkeit und der Verteilung innerhalb eines Staates diskutierten, so müssen wir heute auch die Globalisierung und ihre Wirkung auf die weltweite Verteilung der Güter betrachten. Denn das Ungleichgewicht, das von jeher zwischen Entwicklungsländern und Industrienationen besteht, vergrößert sich tendenziell, anstatt sich zu vermindern. Wir haben es also mit einem doppelten Verteilungsdrama zu tun: einem nationalen und einem globalen.

Diese Kapitel werden Basis und Anregung bieten für eine Auseinandersetzung mit Politik und Finanzwirtschaft der Moderne, die den zweiten Teil des Buches bildet. Welche Änderungen in Staat und Wirtschaft sind notwendig, um die Zukunft zu meistern? Welche Reformen braucht das System, um seine Ziele der gesellschaftlichen Kohäsion wieder erfüllen zu können? Wie können vor allem jene wieder gefördert und gestärkt werden, die den Löwenanteil zum Reichtum durch ihre tägliche Arbeit beitragen: die Unternehmer sowie die Arbeiter und Angestellten der Realwirtschaft? Wie kann dieser Mittelstand gefördert und vergrößert werden? Was kann die Finanzwirtschaft zu einer gerechten Verteilung von Chancen und Gütern beitragen? Die im zweiten Teil enthaltenen Antworten auf diese Fragen und konkrete Vorschläge sollen Anhaltspunkte für ein Gemeinwesen des 21. Jahrhunderts bilden. Denn wir wollen nicht den Pessimismus zum Leitmotiv unserer Überlegungen machen. Für Österreich lässt sich doch sagen, dass wir – ökonomisch – noch nie in einer so guten Situation waren. Leider halten viele die gegenwärtigen Zeiten für schlechte. Was wir aber wollen, ist einige Ideen vorstellen, die für manche der offenen Fragen Lösungsansätze bieten. Wir betreiben also vorsichtigen Optimismus – auch wenn’s manchmal nicht ganz leicht ist.

Oliver Tanzer
Josef Taus

Wien, Mai 2011

Es begann mit einem göttlichen Fluch

Plutos, der Gott des Reichtums, wurde geboren aus Wollust und Mord. Die Göttin der Fruchtbarkeit, Demeter, verfiel während eines Festes der Himmlischen dem Charme und der Schönheit des Titanen Iasion. Ein frisch gepflügtes Feld war das Bett, auf dem die beiden Plutos zeugten. Die Erde an ihrem Rücken aber verriet Demeter, als sie in den Kreis der Götter zurückkehrte. Zeus entdeckte das Verhältnis und tötete Iasion mit einem Blitz. Das Kind der Demeter aber blendete er. So klammert sich der kleine Plutos an sein Füllhorn, randvoll mit den Reichtümern der Erde. Und er verschüttet sie blind und ohne Ansehen der Verdienste über einzelne Menschen.

Der Autor, der vor gut 2600 Jahren diese Sage erfand, hatte einen tiefen poetischen Sinn für verborgene Schatten der Psyche und gleichzeitig die hellste Klarsicht über die ehernen Gesetze gesellschaftlicher Realität: die Sucht und das Verlangen, aus denen Reichtum entsteht, die natürlichen Ressourcen der Erde, aus denen er sich speist, die Willkür, mit der er sich fortpflanzt.

Aus diesen Komponenten werden wir im Folgenden das Problem der Verteilung herausschälen. Dies und die Frage, welche Rolle dabei das Gemeinwesen einzunehmen hat, sind die Kernfragen der menschlichen Gesellschaft. An ihr entzünden sich seit mehr als 2000 Jahren Intrigen, Aufstände, Kriege und Revolutionen.

Lange schien das Problem nicht aktuell zu sein – zumindest nicht für die reichen Teile der Menschheit. In einer Gesellschaft des überbordenden Konsums und des scheinbar unbegrenzten Wachstums hatte ein jeder sein Auskommen – und sehr viele hatten sehr viel mehr als das. Nun aber fallen die Schatten der Globalisierung und der Wirtschaftskrise auf uns. Das ändert das Bild. Brüche werden sichtbar und Sprünge klaffen in der scheinbar heilen kapitalistischen Fassade.

Die Sicherheit als Grundpfeiler, der allgemeine Reichtum als Substanz, das solide Sozialgefüge als Polster der Gesellschaft scheinen verloren zu gehen. Warum ist das so? Gibt es Lehren und Modelle, die zu einem gerechteren Miteinander führen würden, die gleichsam Plutos die Augen öffnen könnten?

Auf den folgenden Seiten werden wir einige von ihnen vorstellen. Platon und Aristoteles suchen wir im antiken Athen auf, Thomas von Aquin im mittelalterlichen Paris, Adam Smith im schottischen Glasgow des 18. Jahrhunderts – um nur einige zu nennen. Die Werke der großen Wirtschaftsdenker sollen auf die Themen Arbeit, Zins, Geldwirtschaft und Gerechtigkeit hin durchforstet werden.

In diesem Sinne begeben wir uns auf eine Reise durch die Geschichte der Verteilung von Gütern und Chancen, die im Zentrum der abendländischen Welt um 500 v. Chr. beginnt: in Griechenland – nur einen historischen Wimpernschlag nach dem Sündenfall Demeters und Iasions. Dort öffnet sich ein Kosmos des politischen Denkens, der die schönsten, manchmal seltsamsten und bizarrsten Blüten treibt, welche – ehe sie zugrunde gehen – ihre Samenkörner über das gesamte Abendland ausstreuen.

Speckbrei und Hunger

In Athen, dem Mittelpunkt der griechischen Antike, heißt es nun Anker werfen. Als Berater und Führer durch diese Zeit wird uns Diogenes zur Seite stehen, landläufig bekannt als schrulliger Mann, der aus einem Fass heraus Alexander den Großen anschnauzte, ihm gefälligst aus der Sonne zu gehen. Was ihn für unsere Zwecke besonders geeignet macht, ist, dass er auch selbst einiges von Wirtschaft verstand. Er war der Spross eines Finanzbevollmächtigten und Bankiers in Sinope am Schwarzen Meer. Vater und Sohn waren aber auch mit der künstlichen Vermehrung von Geld beschäftigt – sie wurden jedenfalls wegen Falschmünzerei angeklagt und aus der Stadt gejagt. Diogenes hat daraus die Konsequenz gezogen, fortan arm zu bleiben. Geldgier, so meint er, ist „die Metropole aller Übel“.1

Mit krummem Rücken schreitet er uns nun voran, alles und jedes kritisierend, mit allem und jedem seinen Spott treibend. Das Erste, wovor er uns warnt, ist, sich unter den alten Griechen eine Ansammlung hoch kultivierter Damen und Herren in blütenweißen Togen am azurblauen Meer vorzustellen. In Wahrheit seien sie verrottet, eitel und verroht, wie die Tiere, meint Diogenes. Zur Unterstreichung dieses Urteils geht er an manch sonnigem Tag mit einer entzündeten Öllampe über den dicht belebten Marktplatz von Athen. Sobald jemand an ihn herantritt und fragt, was er denn da treibe mit seinem Licht, antwortet er: „Ich suche Menschen.“2 Alles Tiere also? Diogenes übertreibt und karikiert, doch der wirtschaftliche Zustand dieser ersten Demokratie ist tatsächlich alles andere als erhaben. Extreme Güterknappheit prägt die Ökonomie. Wer gut bürgerlich wohnt, tut das in primitiven, fensterlosen Häusern, gebaut aus Holzrahmen und Lehmziegeln, mit einem von Säulen umrahmten Vorhof. Im Haus ist auch das Vieh – zumeist Rinder und Schweine – untergebracht. Die öffentlichen Bäder der Zeit gleichen eher Kaltwasser-Kneippanstalten als Warmwasser-Thermen und scheinen in einem teilweise erbärmlichen sanitären Zustand zu sein. „Wo säubern die sich, die sich hier säubern?“, fragt Diogenes.3

So karg die Häuser und Wascheinrichtungen sind, so dürftig ist es auch um die lebensnotwendigen Güter bestellt. Mangel ist ein ungebetener Dauergast in den städtischen Kornkammern. Per Gesetz ist deshalb für alle Athener die Ausfuhr von Getreide verboten, und ein ganzer Beamtenapparat überwacht Qualität, Menge und Preis des Mehls. Jedes Handelsschiff, das Piräus mit den üblichen athenischen Exportgütern (Textilien, Eisenwaren, Waffen, Handwerkszeug, Kunstgegenstände) verlässt, ist angehalten, mit Korn beladen wiederzukehren. Der Mangel macht das tägliche Brot auch extrem anfällig für Inflation und Spekulation: Jedes Gerücht von einem ausgefallenen oder verunglückten Transport lässt die Brotpreise oft um bis zu 30 Prozent pro Tag ansteigen.

An einer Vielzahl historischer Quellen lässt sich ablesen, wie sparsam die Athener leben mussten. Eine einzige Mahlzeit pro Tag dürfte die Regel gewesen sein. Bezeichnend deshalb auch die bescheidenen Wunschvorstellungen der Bürger: In dem von den Dichtern der Zeit entworfenen „Schlaraffenland“ altgriechischer Prägung fliegen keine luxuriösen Bratgänse durch die Luft. Der Komödiendichter Pherekrates kann seine Landsleute noch mit der Vorstellung eines „nie verebbenden Stromes von Brühe und Speckbrei“ begeistern, den er durch die Straßen wallen lässt.4

Wo die Bedürfnisse oft schon am Lebensnotwendigen scheitern, dort wird umso auffälliger, wer sich viel mehr als das Notwendigste leisten kann. Athen ist nicht nur voll von Bettlern, auch „Hunde“ genannt, sondern auch Wirkungsstätte zwar weniger, dafür umso reicherer Menschen. Die Konzentration von Grund und Vermögen in der Hand weniger führt immer wieder zu Revolten. Schuldknechtschaft und Kredite, mit Zinsen jenseits der zwölf Prozent, scheinen schon seit dem Beginn des hellenischen Geldwesens5 eines der drückendsten gesellschaftlichen Probleme gewesen zu sein. Der Schweizer Historiker Jacob Christoph Burckhardt (1818– 1897) berichtet von den „Pyramiden aus Schuldsteinen“, die sich auf den Feldern erhoben, zum Zeichen der Hypotheken, welche auf den Grundstücken lasteten. Wer kein Land mehr zu beleihen hat, verpfändet den eigenen Körper, was zu einem tausendfachen Aderlass führt, da Schuldknechte wie Tiere gehandelt und als Zwangsarbeiter ins Ausland verkauft werden.

Schon der erste Verfechter wirtschaftlicher Rechtschaffenheit und Arbeit, Hesiod, beklagt in seinem Lehrstück Werke und Tage um 700 v. Chr. die Verworfenheit des Menschengeschlechts und sieht für die Zukunft tiefschwarz, nachdem Pandora, so Hesiod, von Zeus gesandt, ihre Büchse geöffnet und alle Übel über die Menschheit ausgegossen hat: „Das Recht liegt in den Fäusten. Der Schurke schädigt den Ehrenmann mit krummen Worten und schwört Meineid, Neid wird alle Menschen begleiten, lärmend, hämisch, Hass im Blick. Da nun verlassen Anstand und Ehrgefühl die Menschheit und gehen beide von der Erde zum Olymp. Übrig bleiben den sterblichen Menschen nur bittere Schmerzen und nirgends ist Abwehr des Unheils […] Davor nehmt euch in Acht ihr Könige und Gabenfresser!“6

Immerhin könne sich die Menschheit aus eigener Kraft vor dem moralischen Niedergang retten: durch Arbeit, Rechtschaffenheit und Fleiß. „Vor das Gedeihen haben die Götter den Schweiß gesetzt“, warnt der Dichter, „dem aber zürnen die Götter, der faul dahinlebt, nach Art der stachellosen Drohnen, die faule Prasser sind und den mühsam geernteten Honig verfressen.“7

Diese gut gemeinten Ratschläge scheinen kaum Auswirkungen auf das reale Leben gehabt zu haben. Etwa einhundert Jahre nach Hesiod deklamiert der Dichter Theognis von Megara: „Der Pöbel verführt das Volk, gewährt das Recht den Ungerechten, sei’s um den eigenen Gewinn, sei’s um den Genuss der Gewalt.“8 Selbst der Kriegerstaat Sparta scheint seiner sprichwörtlichen Zucht abhold und dem Mammon verfallen zu sein. Tyrtaios, ein spartanischer Staatspoet, klagt bitter: „Geldgier ist’s, die Sparta zerstört, nichts anderes weiter.“

Verfassung gegen Ungerechtigkeit

Aus der gesellschaftlichen Schieflage scheint zumindest in Athen die Erkenntnis zu wachsen, dass es einer grundlegenden Änderung bedürfe: Im Jahr 594 v. Chr. entsteht die erste Verfassung mit dem Ziel der „Eunomia“, der Wohlgesetzlichkeit. Ihr Verfasser ist Poet und nüchterner Staatslenker in einer Person. Die Athener nennen ihn auch den „Versöhner“: Solon9, der Sohn des Exeketides aus Salamis. Seine Rechtsvorlesungen sind Lehrgedichte, so wie das folgende über die triste soziale Lage:

Die Bürger selbst in Unverständnis zerstören

Unsere herrliche Stadt, schnorriger Habsucht voll.

Ungerecht ist der Sinn der Bürger und ihrer Führer

Die, in Sünden verstrickt, leichtsinnig Drangsal erleiden.

Und Solon zur notwendigen Reform:

Solches gebeut mir der Geist, dem athenischen Volke

zu lehren,

wie viel Leiden dem Staat schlimme Verfassung aufzwingt.

Eunomia jedoch bringt gefügte Ordnung zum Lichte,

Fesseln legt sie auf, denen, die Unrecht bejah’n,

ebnet, was rau, und bannt in Schranken

schändlichen Hochmut.

Unheilsblüten jedoch machet sie sprossend schon welk,

hämmert gerad das verbogene Recht und beseitigt

den Ingrimm,

der aus innerm Zwist unter Bürgern entstand,

so entsprießt ihr dann verständige Eintracht der Menschen.

Man möchte nicht glauben, wie groß die praktischen Auswirkungen sind, die diese blumigen Worte haben: Solon kassiert alle Schuldforderungen und befreit die Schuldner von der Knechtschaft. Alle Zwangsarbeiter, die ins Ausland verkauft worden waren, werden auf Staatskosten zurückverhandelt.10

Ferner verbietet er den Kredit mit Leibesbesicherung und führt eine Höchstgrenze für Grundbesitz ein, dazu noch das Erbrecht auf Basis des freien Testaments. Geschworenengerichte sprechen nun Recht, die Bürgerversammlung wird geschaffen, das spätere Zentralorgan der Demokratie.

Bei allem Fortschritt ist Solon skeptisch, was die gesetzliche Verordnung des Guten bewirken mag. Denn wirklich zwingend sei die Ordnung nur für die Armen. Reiche und Mächtige könnten das Recht leicht in ihrem Sinne verdrehen. „Gesetze sind gleich Spinnweben. Sie halten etwas Leichtes und Schwaches fest, während etwas Größeres sie durchschlägt und davonkommt.“ Gegen dieses Größere arbeitet er über zwanzig Jahre lang mit aller Kraft und muss schließlich nach Kilikien emigrieren, als der Tyrann Peisistratos in Athen die Macht ergreift.

So durchdacht Solons Reformen im Bereich der Justiz auch erscheinen, sie berühren jenen Teil der gesellschaftlichen Ordnung kaum, der den eigentlichen Grund für die Missstände bildet: die Erwerbstätigkeit und den Handel mit Gütern.

Hesiods Bild von Arbeit, Schweiß und göttlichem Lohn war weder bei den Staatslenkern noch bei Privatpersonen gefragt. Als „Banausen“ verspotten die Griechen jene Menschen, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen. Sie lassen vielmehr Sklaven arbeiten.

Die Staatseinnahmen werden aus den Erträgen der staatlichen Silbergruben von Laurion lukriert und zum Teil auch durch fragwürdige Privatisierungen. So verkauft die Polis ihre Wegerechte und Zölle an Unternehmer zu einem festgesetzten Betrag. Die wiederum vergeben Lizenzen teurer an Subunternehmer, welche nichts Besseres zu tun haben, als den Wegzoll kräftig in die Höhe zu schrauben, um selbst auch noch zu verdienen. So kam es, dass der Zöllner bald so beliebt war wie ein Straßenräuber – vermöge ähnlicher Tätigkeit – und diesen Ruf bis ins Spätmittelalter behalten hat.

Die von Perikles (500  429 v. Chr.) eingeführte Bezahlung von Theatergeld und Sold für die Teilnahme an Gerichtsverhandlungen festigt zwar die Beständigkeit der Demokratie, plündert aber die Staatskassen. Aus dem chronischen Geldmangel entstehen fragwürdige Formen der Haushaltsfinanzierung: Reichen Bürgern wird unter dem Vorwurf des „Müßiggangs“ das Vermögen entzogen – und zwar per Volksentscheid durch das berüchtigte Scherbengericht (Ostrakismos). So öffnet die Gerichtsbarkeit in Händen einer von Demagogen geleiteten Plebs dem als Volksjustiz getarnten Faustrecht Tür und Tor. Aristophanes nennt das Volk einen „Wespenschwarm“, eine „Menge von ungezügelter Gier“. In der Endausbaustufe dieses korrupten Systems im 5. Jahrhundert halten sich Reiche zum eigenen Schutz bezahlte „Gegendenunzianten“, die im Fall des Falles den gierigen Angreifer selbst zum Objekt des Volkszorns machen sollen.

Dabei suchen einige Athener sehr wohl nach Finanzierungsalternativen für die öffentlichen Aufgaben. Der Politiker und Feldherr Xenophon11 erfindet staatliche Anteilscheine – und damit die schuldenfinanzierte Budgetpolitik: Mit den Erlösen einer Investitionsanleihe, so Xenophon, könne die Infrastruktur Athens ausgebaut werden. Weiters könnten 6.000 Staatssklaven gekauft werden, die man danach vermieten könne. Der Erlös aus diesem Sklavenleasing würde nach Xenophons Berechnung ausreichen, um jedem Vollbürger das Existenzminimum zu sichern.

Die Arithmetik der Gerechtigkeit

Nicht viele Athener können sich mit solchen praktischen, kapitalorientierten Vorschlägen anfreunden. Die Philosophen suchen vielmehr nach dem ewig gültigen Maß, dem Prinzip einer göttlichen Ordnung auf Erden. Sie wollen den „großen politischen Wurf“ – und landen deshalb nicht bei Xenophons regionalen Initiativen, sondern beim universalen Weltprojekt des Philosophen Pythagoras12 (um 570 – nach 510 v. Chr.). Der ist ein sagenumwobener Mann. Die Legende will es, dass er mit Bären und Adlern sprechen konnte und die himmlischen Sphären habe klingen hören. Historisch verbürgt ist nur sein Wirken in Kroton in Süditalien. Dort lebten er und seine Jünger nach strengen Regeln eines Ordens, der auch die Geschicke des zugehörigen Stadtstaates bestimmte. Die etwa dreihundert Erwählten unterzogen sich täglichen Exerzitien, übten sich in Ehelosigkeit, strenger Diät und mehrjährigem Schweigen als Initiationsritus.

Seine Philosophie entwirft Pythagoras aus der Ansicht, dass die Welt einem ewigen Widerstreit der Dinge unterworfen sei. Nur die Mathematik sei von diesem Wechselspiel von Sünde und Vergeltung ausgenommen. Die Zahl ist demnach die Konstante des Universums. Daraus konstruierten die Pythagoräer eine „optimale“ Gesellschaftsordnung, die sich an der mathematischen Ordnung orientiert. Die Zahl 10 ist demnach der höchste Punkt einer Entwicklung, sie symbolisiert den perfekten Staat. Die Zahlen 9 und 4 als Quadratzahlen der niedrigsten potenzierbaren Zahlen 3 und 2 galten als der Gerechtigkeit am nächsten. Aus der Funktion der Zahl 3 und ihrem Ziel, der Gerechtigkeit, ermittelten sie nun die drei wichtigsten Staatsfunktionen: Gesetzgebung, Exekutive und Judikatur. Die Herrschaft über das System hat nach Pythagoras immer ein König inne. Demokratie verachtet er.

So stehen einander schließlich mathematische Mystik und Demokratie gegenüber, wobei Letztere die eindeutig schlechtere Position innehat. Einer ihrer wenigen Verteidiger war Demokrit von Abdera13. In seinen Fragmenten zur Ethik finden wir die ersten Anklänge des kategorischen Imperativs. Die Gemeinschaft beruht nach seinem Dafürhalten auf der Erfahrung des Nutzens, Gesetze in Überfülle seien ebenso schädlich wie das Fehlen von Gesetzen: „Die Gesetze würden nichts dagegen haben, dass ein jeder nach seinem Belieben lebte, wenn nicht der eine den anderen schädigte.“ Dem entsprechend ist das Austarieren von Eigennutz und Gemeinnutz die eigentliche Staatsfunktion: „Die Pflichten der Polis soll man unter allen für die größten halten, auf dass diese gut verwaltet werde, denn eine wohlverwaltete Polis ist die größte Stütze. Ist sie gesund, so bleibt alles gesund, geht sie zugrunde, geht alles zugrunde.“

Die Ideen von Pythagoras und Demokrit werden prägend sein für die beiden Basismodelle von einer gerechten Gesellschaft und der Verteilung der Güter, zu denen wir nun kommen. Entlang diesen beiden Extremen – dem Maß und Zahl gewordenen Idealbild eines Staates einerseits und dem Primat des nutzenorientierten praktischen Verstandes andererseits – entwerfen die Hauptvertreter der griechischen Philosophie, Platon und Aristoteles, ihre Theorien. Der Idealist steht erstmals gegen den Realisten.

Platons Wächterstaat

Reich an Gütern starb im Jahre 348 v. Chr. der Philosoph Aristokles, aufgrund seiner Physiognomie auch „der Breitstirnige“ – Platon – genannt. Dieser Spross eines athenischen Aristokratengeschlechts steht an der Wiege des philosophischen Idealismus. Er war es, der in seinen maßgeblich von Pythagoras beeinflussten Werken Der Staat und Die Gesetze die Utopie eines Gemeinwesens und einer Ökonomie entwarf, die als erste philosophische Spielart des Kommunismus in die Geschichte einging.

Die attische Demokratie hielt Platon für minderwertig, was nicht heißen will, dass er einen Hang zur Diktatur gehabt hätte. Die bereits geschilderte Herrschaft des korrumpierten Pöbels dürfte einen großen Anteil daran gehabt haben, dass Platon sich nach anderen Staatsmodellen umsah. Unter den Zelebritäten eben jener Volksherrschaft in Athen war er jedenfalls nicht sehr beliebt. Aristipp, Molon und Xenophon schmähten den Mann in ihren Werken aufs Äußerste. Und auch unser Begleiter Diogenes macht sich einen Schalk daraus, Platons Vorlesungen zu stören. Als sich dieser bei seinen Studenten Applaus verschafft mit der Bemerkung, der Mensch sei ein federloses Wesen auf zwei Beinen, stürmt Diogenes Platons nächste Vorlesung mit einem gerupften Hahn und schreit: „Seht her, Platons Mensch!“14

Platon unterscheidet sich von seinen philosophischen Vorgängern zunächst dadurch, dass er ein begnadeter Schriftsteller ist. „Was er schrieb, war lieblich, wie der Zikaden Gezirp vom Hain des Hekademos“, schreibt sein Schüler Timon. Die Themen Religion, Moral, Logik, Philosophie, Staat und Recht behandelt Platon in Form von Dialogen, deren Hauptheld Platons Lehrmeister Sokrates ist.

Ob diese Gespräche Sokrates authentisch wiedergeben, darf bezweifelt werden. Der Meister selbst soll einmal gesagt haben: „Beim Herakles, wie viel hat der Junge bloß über mich zusammengelogen.“15 Doch das schmälert die platonische Kunst und den sokratischen Ruhm keineswegs. Denn wie kein anderer vermag Platon, dieses Gemisch aus Wahrheit und Erfundenem zu einem Gedankengebäude zu fügen, bis es solide wie aus Stein gemeißelt vor uns steht. Platon wird so Sokrates – und Sokrates Platon –, eine seit zwei Jahrtausenden erfolgreiche Legierung.

Der Philosoph landet in seinem beständigen Suchen immer wieder bei der Frage nach dem Sein an sich – und bei der pythagoräischen Transzendenz der Dinge. Wenn beispielsweise ein Mensch ein in den Sand gezeichnetes Quadrat betrachtet, sieht er eine geometrische Figur, deren Geraden in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen. Die Zeichnung selbst kann vom Wind leicht verweht werden. Das Quadrat als mathematisches Verhältnis aber ist unveränderlich und ewig. Die Realität kann demnach immer nur ein vergängliches Abbild einer Idee sein. Platons Schlussfolgerung: Wenn es eine reale Polis gibt, dann gibt es auch ein ewig gültiges Urbild dazu, das Ideal des perfekten, gerechten Staates.

Was aber zeichnet diesen besten aller Stadtstaaten aus? Ein Staat, meint Platon, ist ein Zusammenschluss von Menschen zu ihrem eigenen Vorteil. Ein jeder habe in diesem Gemeinwesen seine bestimmte Funktion. Der Baumeister kümmert sich um die Errichtung der Häuser, der Schuster um die Schuhe, der Bauer um die Produktion der Nahrungsmittel und so fort. Die Spezialisierung führt zu besserer Qualität und zu höherem Ertrag.

Weil nun ein jeder ein wertvoller Teil des Systems sei, gebiete es die Gerechtigkeit, dass niemand sich auf Kosten des anderen bereichere. Die Folgen: Keiner der Bürger darf mehr als das Vierfache eines anderen besitzen, Zinsnahme ist streng verboten: „Reichtum verdirbt die Seele des Menschen durch Genusssucht, die Armut wird durch ihren Jammer in das Gebaren selbst hineingetrieben.“16 Beides ist Platon zutiefst zuwider: Er will das Eindringen von Reichtum und Armut in die Polis „auf jede Weise verhüten“: „Denn jene erzeugt Üppigkeit, Faulheit und Neuerungssucht, diese außer Neuerungssucht auch niedrige Sinnesart und minderwertige Arbeitsleistung.“17

Die durch möglichen Güteraustausch und fremde Kaufleute hereingetragene „Reichtums-Versuchung“ wäre also eine viel zu große Gefahr für die Moral der Bewohner. Also wird für die ideale Polis auch ein Ort ohne Meereszugang gewählt, um den Seehandel fernzuhalten: „Denn indes die Meeresnähe dem Großhandel wie dem Kleinhandel Tür und Tor öffnet, erzeugt sie in den Seelen ein wetterwendisches und untreues Wesen und lässt in der Bürgerschaft den Geist der Treue und der Freundschaft gegen sich und die übrigen Menschen schwinden.“18

Ebenso gefährlich wie der Handel ist das Wachstum der Bevölkerung. Denn Wachstum bedeutet auch Drang nach einem größeren Territorium, das Nachbarn oder Feinden mit Gewalt abgerungen werden muss: „So haben wir also die Entstehung des Krieges gefunden“19, sagt Sokrates nachdenklich. Die Gewalttätigkeit des Wachstums erfordert also eine Kriegerkaste: die Wächter.

Dem pythagoräischen Vorbild folgend ist diese Elite eine Art strenge Ordensgemeinschaft. Wächter haben keinerlei Einkünfte, Eigentum ist ihnen verboten: „Was aber Gold und Silber anlangt, so muss man ihnen sagen, dass sie es von den Göttern als göttliches Gold in ihrer Seele haben und keines menschlichen außerdem bedürfen.“ Wächter unterhalten weder Ehe noch Familie und leben in gemeinsamen Unterkünften. Zudem gibt es eine „Weiber- und Kindergemeinschaft“, auf dass „Freunden alles gemein sein werde“. Dieses Bild entwirft Platon nicht aus „Lustgreiserei“, sondern zu Elitezuchtzwecken – es ist Rassenhygiene, die er anpreist.

In Platons Staat rekrutieren sich aus den Reihen der Wächter auch die Lenker des Staates. Gut ausgebildete, dem Gemeinwesen verpflichtete Philosophen sollten es sein. Auch sie bleiben ohne Eigentum, „denn sonst gibt es keine Erholung von dem Übel für die Staaten und auch nicht für das menschliche Geschlecht“20. Wieder zeigt sich Platons Ziel, jedes Erwerbsstreben von politischen Ämtern fernzuhalten. Doch auch die Vermögen der einfachen Bürger unterliegen im „Staat“ behördlicher Kontrolle und müssen ab einer bestimmten Höhe umverteilt werden. Auf geheimes Horten von Gütern steht strenge Strafe.

Diese Eigentumskontrolle und Beschränkung entspringt nicht irgendeiner Willkür des Philosophen. Sie beruht auf tief greifenden Überlegungen zur Freiheit menschlichen Handelns: Eine Gesellschaft, die den Egoismus über alles andere stelle, bringe das Gemeinwesen zu Fall und ende zwangsweise in der Diktatur: „Es schwindet jede Achtung vor den Gesetzen, gleich ob geschrieben oder ungeschrieben, um ja keinen Gebieter, welcher es auch sei, über sich zu haben.“ Wo keine Gesetze gelten, gilt bald das Recht des Stärkeren: „Das also ist der schöne und herrliche Anfang, aus dem die Tyrannis herauswächst, wie ich glaube.“21

Aristoteles: Harmonie gegen Untergang

Wir wollen uns an dieser Stelle noch einmal das Bild der griechischen Gesellschaft in Erinnerung rufen. Dieses Gewimmel von hochintelligenten, künstlerisch über die Maßen begabten, streit-, spiel- und kriegslustigen Menschen, die zur Zeit der dionysischen Mysterienspiele auch in kollektive Raserei verfallen konnten; deren wichtigstes bürgerliches Kleinod die Redekunst und das Theater waren (und die für den Theaterbesuch auch noch vom Staat bezahlt wurden); Menschen, welche die Arbeit tendenziell als Strafe der Götter ansahen, und deren Götter ja auch nur dann selbst an die Werkbank traten, wenn es darum ging, einem Kollegen unter den Olympischen eins auszuwischen.

Ein solcher Staat konnte zumindest für seine Elite nur auf Basis der Ausbeutung anderer funktionieren. Im Falle Athens und Spartas waren das Sklaven. Menschlichkeit wurde den Unterdrückten nur zum Teil zugestanden: Man nannte sie je nachdem „männlicher“ oder „weiblicher Körper“ – oder schlicht „Menschenfüße“. Arbeit und Wirtschaft blieben großteils auf den Landbesitzer, den Sklaven und den Nichtbürger, den Metöken, beschränkt.

Diese überall mitschwingende Verachtung jeder Erwerbstätigkeit mag mit ein Grund sein, weshalb nur wenige der griechischen Philosophen wirtschaftliche Überlegungen hinterlassen haben. Man braucht schon einen Gelehrten, der sich über wirklich alles Gedanken macht, um Ausführliches zum Thema zu finden. Einen solchen universellen Geist finden wir in Aristoteles.

Aristoteles (384  322 v. Chr.) stammt aus Stagira, zwischen Thrakien und Makedonien gelegen. Sein Vater war der Hofarzt des Königs Nikomachos von Makedonien. Im Alter von 18 Jahren tritt Aristoteles in die Akademie Platons ein und bleibt dort zwanzig Jahre. Das ist insoferne erstaunlich, als die beiden Charaktere und ihr Denken nicht unähnlicher hätten sein können.

Aristoteles stülpt der Welt kein Ideal über. Er studiert sie zunächst im Kleinen, beobachtet akribisch den Kreislauf von Werden und Vergehen, die Mechanik der Kräfte, und erst aus diesen tausenden Observationen leitet er das Wirken eines Prinzips ab: das des „ersten Bewegers“. Die Ordnung der Natur winde sich gleichsam eine Treppe der Entwicklung hinauf, von den Pflanzen, die noch in der Erde wurzeln, über die Tiere, die der festen Verbindung zum Boden nicht mehr bedürfen, hin zum Menschen und danach zu Geist und Seele. Es ist eine Ordnung in Richtung Vollkommenheit, die ein jeder – bewusst oder unbewusst – beschreitet.

Ganz ähnlich sind auch seine Betrachtungen zur Politik aufgebaut. Unten, am Fundament der menschlichen Gesellschaft steht nicht irgendein hehres Ziel, ein Ideal, dem alle folgen, sondern schlicht der Eigennutz: Die Bedürfnisse verbinden die Menschen miteinander, wäre dies nicht der Fall, „so würde überhaupt kein Verkehr unter den Menschen statthaben. So aber sind sie aufeinander angewiesen“.22

Seine ökonomischen Überlegungen beginnt Aristoteles bei der kleinsten Wirtschaftseinheit: dem Oikos – dem Haus und seinen Gesetzmäßigkeiten und Bedürfnissen. Er beschreibt die Arbeitsteilung zwischen Hausherrn, Familienmitgliedern, Sklaven und Haustieren. Es bedarf noch keines Tausches von Gütern. Der Oikos genügt sich selbst. In seiner Urform ist der Haushalt auf den Erwerb von Nahrungsmitteln ausgerichtet. Viehzucht, Jagd und Ackerbau sind nach Aristoteles die klassischen Instrumente der Nahrungsgewinnung – aber auch die Räuberei.

Die nächsthöhere ökonomische Stufe ist der Tausch von Waren. Der Tausch dient dem Erwerb von Wertgegenständen. Die Bedürfnisse führen die Menschen dazu zusammen. Der Wert der getauschten Gegenstände ist nicht absolut, sondern wird vom Menschen subjektiv verliehen. Aristoteles nennt dabei zunächst den Nutzen, der dem Gegenstand beigegeben wird, und schließlich auch die Arbeit: „Gut ist, wofür viel gearbeitet und aufgewendet wird; denn schon deswegen erscheint etwas gut und wird als ein Ziel betrachtet.“23

Er hat damit einen Mechanismus erkannt, den man später als „Mehrwert“ bezeichnet hat: die Veredelung, welche ein Gegenstand durch Arbeit erfährt. Aber Aristoteles geht weit darüber hinaus: Er erfasst den Mechanismus von Angebot und Nachfrage und eine primitive Form des Gleichgewichtspreises, mit dem er später die Ideen von Thomas von Aquin bis Adam Smith beeinflussen sollte. Kurz fasst er es so: „Es ist der Bedarf, der alles zusammenhält“, und „alles muss geschätzt werden“. Der Schuhmacher, der für Schuhe Getreide eintauschen will, vergleicht vor dem Tausch den Wert seiner Ware mit dem Angebotenen, und nur wenn er eine Gleichheit feststellt, kommt es zum Tausch, vorausgesetzt, dass auch die Gegenseite so urteilt. Aristoteles nennt dies „Angemessenheit“, bei der sich „das Ganze zum Ganzen wie das Glied zum Glied verhält“.24

Auf dieser Basis errichtet Aristoteles nun sein System der Verteilung der Güter und des Reichtums. Zunächst warnt er davor, dass der Tausch um des Tausches willen als „künstliche“ Form des Erwerbs „kein Ende und keine Schranken mehr kennt“.25 Das gilt vor allem für das Medium, das den Handel um des Handels willen erst ermöglicht: Geld. Für Aristoteles ist es zunächst ein Wertmaß, eine gesellschaftliche Übereinkunft. Zum Zwecke des Tausches verwendet, ist Geld durchaus von Nutzen. Es besticht vor allem in seiner Eigenschaft, den Wert nicht nur zu symbolisieren, sondern auch zu halten. Der Geldwert konserviert also den Gegenwert eines Tauschgeschäfts und kann zu einem beliebigen späteren Zeitpunkt die Tauschkette fortsetzen.26 Er ermöglicht demnach „den Vergleich zwischen gegenwärtigen und künftigen Leistungen“.27

Dagegen hätte Aristoteles nichts einzuwenden, gäbe es da nicht den Zins. – Wir erinnern uns an die Schuldsteinpyramiden auf den Feldern Athens und die tausenden wegen Kreditschuld in Knechtschaft geratenen Bürger. Aristoteles wettert: „Es ist ein Missbrauch des Geldes, es nicht als Hilfsmittel des gesellschaftlichen Verkehrs, sondern zum Selbstzweck zu verwenden und so zum Vater anderen Geldes zu machen.“28

Für Aristoteles ist das „Chrematistik“, die „widernatürliche Erwerbskunst“. „Denn das Geld ist um des Tausches willen erfunden worden, durch den Zins vermehrt es sich aber durch sich selbst. Das Geborene ist gleicher Art wie das Gebärende und durch den Zins entsteht Geld aus Geld. Diese Art des Gelderwerbs ist also am meisten gegen die Natur.“29 Zur Erläuterung der Folgen der Geldgier führt Aristoteles seinen Schülern das sagenhafte Schicksal des König Midas vor Augen, der sich wünschte, alles von ihm Berührte in Gold zu verwandeln, und dabei übersah, dass er ja auch sein Essen berühren musste, und so vor goldenen Schüsseln verhungerte.

Die für Aristoteles ungewöhnliche Schärfe der Kritik entspringt vermutlich seiner Überzeugung, dass es vor allem die Chrematistik sei, welche die von ihm geforderte Gerechtigkeit im Staate gefährde. Solchen Missbrauch, „Wucher“, sagt Aristoteles dazu, müsse der Staat bestrafen. Um allen moralischen Defekten vorzubeugen, sollten wichtige Berufsgruppen wie Soldaten und Ärzte gänzlich vom unnatürlichen Gelderwerb ausgeschlossen sein: „Die Tapferkeit soll nicht Geld verdienen, sondern Mut erzeugen, und auch die Feldherrenkunst und die Medizin sollen dies nicht, sondern Sieg und Gesundheit verschaffen.“30

Der Staat solle darüber hinaus die Verteilung von Gütern, die Einhebung von Steuern, die Verteilung von „Ämtern und anderen Dingen“ überwachen.31 Und zwar nicht in der Form, dass alle Menschen gleich viel haben sollten, sondern, dass jeder das Seine erhalte, sodass die „Proportion“ des gesellschaftlichen Ranges und Verdienstes der Bürger gewahrt bleibe. Das ist der entscheidende Kontrapunkt zum kollektivistischen Modell Platons. Gemeineigentum ist Unsinn, meint Aristoteles: „Wenn jeder für das Seinige sorgt, werden keine Anklagen gegeneinander erhoben werden, und man wird mehr vorankommen, da jeder am Eigenen arbeitet.“32

Und doch gibt es einen Ausgleich. Der Reiche erhält zwar mehr an Ehren als der Arme. Aber wer mehr Geld und Ruhm hat, zahlt auch mehr: „Es widerspricht daher auch nicht der Gerechtigkeit, wenn der Reiche hohe, der Arme niedrige Steuern zahle.“33 Aristoteles nennt das die „austeilende Gerechtigkeit“.

Die gesellschaftliche Harmonie über den Staat herzustellen, ist für den Philosophen übrigens Grundvoraussetzung dafür, dass die Gemeinschaft funktioniert. Es ist eine immerwährende Verpflichtung, soll die Gemeinschaft nicht untergehen. Nicht der Tyrann, sondern der vollkommene Egoist ist für Aristoteles dabei der wahre Feind der Gesellschaft: „Der von Natur aus unstaatliche Mensch ist entweder ein Untermensch oder ein Übermensch“34 – und beide taugen nicht zum Gemeinwesen.

Daraus folgt das letzte warnende Credo: „Von Natur aus ist in allen Menschen der Trieb zur staatlichen Gemeinschaft der Urheber der größten Güter. Denn wie der Mensch in seiner Vollendung das vornehmste Geschöpf ist, so ist er auch bar der Gesetze und des Rechtes das schlechteste von allen. Deshalb ist er ohne Tugend das ruchloseste und roheste und bezüglich der Liebe und Gaumenlust das gemeinste Geschöpf. Denn die Gerechtigkeit ist staatlich.“35

Aristoteles erging es wie so vielen athenischen Größen. Nachdem er die Stadt mit seiner peripatetischen Schule zur Metropole des Geistes gemacht hatte, wollten ihm einige Bürger 323 v. Chr. wegen Religionsfrevel den Prozess machen. Aristoteles floh nach Chalkis. Ein Jahr später im Alter von 63 Jahren starb er, angeblich Sokrates nachahmend, durch den Schierlingsbecher.

Die Gedanken von Platon und Aristoteles über Wirtschaft und Gesellschaft werden Philosophen und Gelehrte der kommenden Jahrhunderte maßgeblich beeinflussen: Thomas von Aquin, Karl Marx und Adam Smith, um nur einige wenige zu nennen. Während Aristoteles das Mittelalter prägt, ist Platon der Philosoph von Reformation und Renaissance. In beiden Lehren wurzeln die heute geübten Staats- und Wirtschaftsformen: Kapitalismus, Sozialismus und die soziale Marktwirtschaft.

Damit verlassen wir Griechenland und wenden uns der römischen und frühchristlichen Zeit zu. Wir lassen auch Diogenes zurück, der uns mit einer seiner ätzenden Sentenzen verabschiedet: Weshalb Gold eine so blasse Farbe habe, will er wissen. Und als wir bloß die Achseln zucken, antwortet er grinsend: „Weil es die vielen fürchtet, die hinter ihm her sind.“36

Die Eroberung

193 v. Chr. fallen mit der Eroberung Korinths Griechenlands Herz, seine Kultur, sein Erbe an ein Volk, das sich aus einer Gesellschaft von Schweine- und Rinderhütern binnen weniger hundert Jahre zur Weltherrschaft aufgeschwungen hat: an die Römer. Die Schlachten und Armeetaktiken, welche die Römer zur Herrschaft führten, werden seit Generationen im Geschichtsunterricht gelehrt und müssen hier nicht wiederholt werden. Für unsere Überlegungen ist eine Darstellung der gesellschaftsprägenden Gedanken dafür umso wichtiger.

Die zentrale Lehre der römischen Philosophie basiert auf der griechischen Stoa, deren Hauptvertreter Zenon von Kition (333  264 v. Chr) war. Der Staat ist demnach – so wie das übrige Weltall – eine Einheit, die von göttlicher Vernunft durchwaltet wird. Menschen seien einander in Liebe verbunden und allein dadurch schon soziale Wesen. Sittliches Verhalten bedeute nichts anderes als die Einordnung des Menschen in den Logos und in den Staat. Recht und Vernunft seien dem Menschen angeboren. Diese natürliche Vernunft soll nun nicht nur wie von unsichtbarer Hand die Gesellschaft, sondern auch die Wirtschaft leiten.

Römischer Realismus

Der Römer ist diesen Grundsätzen entsprechend kein philosophischer Mensch, der eine Theorie für sein Handeln suchen würde. Es reicht ihm, die Realität mit Gesetzen und Richtersprüchen zum Wohle des Ganzen regeln zu können. Er schafft Recht, so wie es ihm die Notwendigkeit aufträgt, von Fall zu Fall. Diese Herangehensweise gilt auch für die Wirtschaft. Für den täglichen geschäftlichen Umgang miteinander ist das wohl ein taugliches Modell, aber es führt immer dann zu Schwierigkeiten, wenn sich ökonomische Probleme ergeben, die das gesamte Reich betreffen und deren Bekämpfung eine tief greifende Analyse voraussetzen würde, wie das etwa bei inflationären Preisentwicklungen der Fall ist. Deshalb hatten die Kaiser bis herauf zu Diokletian, also bis zur Wende vom 3. zum 4. Jh. n. Chr., solchen Ereignissen oft nicht viel mehr entgegenzusetzen als untaugliche Höchstpreisedikte.

Aus heutigem Blickwinkel betrachtet war das Römische Reich eine gigantische Verteilungs- und Umverteilungsmaschinerie: eine globalisierte Ökonomie, freilich nicht in dem Sinne, dass die Warenströme frei gewesen wären, sondern dass sie von der Peripherie zum Herzen des Reiches flossen, nach Rom und in die anderen Metropolen des Reiches.

Rom ist das Zentrum von Handel und Finanzen. Auf dem Forum Romanum gibt es schon im 4. Jh. v. Chr. einen eigenen Gebäudekomplex für die Geldwechsler und Verleiher (faeneratores). In diesem macellum besorgen sich vor allem Händler Geld für ihre Geschäfte und zahlen dabei je nach Risiko einen Zinssatz von bis zu 33 Prozent. Der Zins auf reine Konsumkredite ist zu dieser Zeit gesetzlich mit 12,5 Prozent gedeckelt. Der Bankier, der argentarius, ist schon ab dem 2. Jh. v. Chr. nicht nur ein Wechsler, sondern auch ein Depositenhändler.

Das Geld schmiert den Welthandel. Ostia, der größte Hafen der Antike, kann 200 Schiffen gleichzeitig als Umschlagplatz für die geladenen Reichtümer aus aller Welt dienen. Ein tausende Kilometer umfassendes Straßennetz verbindet die Provinzen mit den großen Hafenstädten. Die Flüsse Europas werden intensiv als Verkehrswege benutzt, und zwar vom Nil im Osten bis zum Quadalquivir in Hispanien im Westen. Bis nach Indien und China reichen die römischen Handelsbeziehungen zu Wasser und zu Land. Das Bruttonationalprodukt des Römischen Reiches ist von zahlreichen Historikern unterschiedlich berechnet worden. Die jüngsten Studien dazu stammen aus dem Jahr 2009 und ergeben für das Jahr 14 n. Chr. bei 60 Millionen Einwohnern ein Einkommen (Äquivalent 1990) von 620 US-Dollar pro Kopf und Jahr.37

Dieser Betrag entspricht nach heutigem Äquivalent also weniger als zwei US-Dollar pro Tag. So wenig erwirtschaften aktuell nur die Bewohner der ärmsten Staaten der Welt (Eritrea, Mosambik etc.).

Sogar das reiche Zentrum des Imperiums bietet zur Kaiserzeit ein Bild des Elends: Von den 7,5 Millionen Einwohnern der italischen Provinzen dürften drei Millionen recht- und eigentumslose Sklaven gewesen sein und über vier Millionen der armutsgefährdeten Plebs angehört haben. Lediglich die 200 bis 1.000 Senatoren (je nach Kaiser variierte ihre Zahl), die 20.000 Ritter und einige tausend Dekurionen dürften nach heutigen Maßstäben als „reich“ gelten, mit einem Vermögen jenseits der 100.000 Sesterzen (nach heutigem Äquivalent 600.000 Euro). Der reichste Senator der Kaiserzeit, Cornelius Lentulus, besaß 400  dignitas,