Martin Eichtinger

Steirische
Lausbuben
Geschichten

Erinnerungen

Für Christina und Thomas

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Einleitung (für ältere Leser)

Weitersfeld

Einleitung (für jüngere Leser)

Unsere Welt

Die handelnden Personen

Wir werden eine Viererbande

Die Rollfähre nach Jugoslawien

Das Hochwasser kommt!

Unsere Burg

Gummigewehr und Papier-U-Hakerln

Wagemut und Geisterstunde

Der Flieger

Stefflasphalt

Woazschöl’n

Fleischweihe

Der Uhu im Baumstrunk

Sommergewitter

Die Faszination des Fischens

Der Tiefstandshecht

Blinkern und Fliegenfischen

Flüchtlinge durchschwimmen die Mur

Preisfischen

Mit Karte und Kompass

Wir finden den Eisbachteich

Der Hahn im Mühlgang

Die alte Brücke

Die Freuden des Winters

Die Rauchkuchl

Nachts bei den Schmugglern

Mit dem Waschschaff auf der Schwarza

Mostpressen

Feiertage und lustige Bräuche

Kartoffelbraten auf der Schotterbank

Nach Mureck ins Bad

Die Insel im Tumpf

Der Negova-See und Marija Snežna

Alarm, die Hornisssen kommen

Woazbrat’n

Kanada

Schlussbemerkung

Weitere Bücher

Impressum

Einleitung
(fur ältere Leser)

Weitersfeld

Als ich auf die Welt kam, fanden meine Eltern, dass die Wohnung in Graz bei der Herz-Jesu-Kirche für zwei Kinder zu wenig Auslauf bieten würde. So kauften sie in dem kleinen südsteirischen Ort Weitersfeld, etwa fünf Kilometer von Mureck entfernt, ein Stück Grund und begannen ein kleines Wochenendhaus zu bauen.

Der Ortsteil Weitersfeld-Mur besteht nur aus zwei Bauernhöfen und einem Fährübergang über die Mur (damals nach Jugoslawien, heute nach Slowenien). Daneben gibt es Weitersfeld-Dorf und ganz draußen an der Bundesstraße, schon fast zwei Kilometer von unserem Haus entfernt, Weitersfeld-Straße.

Das kleine, fischerhüttenartige Häuschen mit Erdgeschoss und erstem Stock war 1962 bezugsfertig, und ab dann verbrachten wir jede freie Minute, Wochenenden, Feiertage und alle Ferien (als wir größer wurden mit Ausnahme von Urlaubsreisen) in Weitersfeld.

Weitersfeld war ein Kindertraum. Es war unberührte, wilde Auenlandschaft mit Tierreichtum, es war die für Stadtkinder faszinierende Welt der Bauern, es war Freiheit und Lebenserfahrung.

Es ist das Einssein mit dem Ort, das nicht neu Erfahren-Müssen, das Bescheid-Wissen. Der Ort atmet in einem. Jede kleine Veränderung in der Umgebung, im Geruch und in der Atmosphäre des Orts wird vom Körper wahrgenommen, gewogen, bewertet und zu den Erfahrungswerten eingereiht.

Glücklich, wer einen Ort hat, aus dem er entwachsen ist und mit dem er einen ewigen Faden der Zugehörigkeit gesponnen hat. Es ist Kraft, pures Lebenselixier, das ein solcher Ort ungefragt anbietet – injiziert.

Das Dort-Sein ist der Wert an sich, das Dort-Leben wird zum Ereignis.

Erst später lernte ich, dass dieses Land an der Mur auch eine sehr bewegte Geschichte hatte. Römer, Awaren, Slawen, Bayern, Ungarn, Türken kamen, siedelten und verließen das Land, nicht ohne Spuren zu hinterlassen. In Weitersfeld gab es ein Wasserschloss, das der Sage nach von einem grausamen Raubritter bewohnt wurde. Bis 1919 war die Auenlandschaft an der Mur kein Grenzgebiet. Die Katastrophen der beiden Weltkriege forderten von der Bevölkerung an der Mur große Opfer. Viele kehrten aus den Kriegen nicht mehr zurück. Noch heute gibt es keinen Ort entlang der Mur, der nicht auf einem Kriegerdenkmal die Namen der Gefallenen verzeichnen würde.

Eine besondere Gruppe unter den Einheimischen in Weitersfeld bildeten die in der ehemaligen Untersteiermark beheimateten deutschsprachigen Steirer, die nach dem Ersten oder nach dem Zweiten Weltkrieg das heutige Slowenien verlassen mussten und sich – möglichst nahe ihrer ursprünglichen Heimat – ansiedelten. Oftmals hörte ich als kleiner Bub die Geschichten von den blühenden Landwirtschaften, die sie jenseits der heutigen Grenze besessen hatten.

Durch große Regulierungsarbeiten an der Mur existieren viele der in diesem Buch beschriebenen Orte heute nicht mehr, Schlägerungen zur Vergrößerung der Ackerflächen haben das Gebiet weiter verändert. Viele der im Buch vorkommenden Personen leben heute nicht mehr. Noch immer gibt es, vor allem zwischen Lichendorf und Spielfeld, aber auch zwischen Gosdorf und Radkersburg dichte Auenlandschaften mit ihren natürlichen Schönheiten.

Auch das Jugendparadies der Viererbande gibt es nicht mehr. Es lebt aber im Herzen derer weiter, die diese Zeit erlebt haben. Das vorliegende Buch stellt den Versuch dar, die Erinnerungen an Kinder und Jugendliche weiterzugeben und ihre Abenteuerlust zu wecken.

Einleitung
(fur jüngere Leser)

Stell’ dir vor, du darfst alles, was du in deinen Kinderbüchern liest, auch wirklich selbst erleben. Das wäre sehr anstrengend, aber auch wunderschön. Manches, was in Kinderbüchern steht, gibt es gar nicht: wenn es um Besucher von anderen Planeten geht, oder wenn Menschen hexen oder zaubern können wie Harry Potter.

Anders ist es mit diesem Buch. Viele der Geschichten der Lausbuben kannst auch du erleben, wenn du neugierig bist und die Welt um dich herum entdecken magst. Das geht viel leichter, wenn du irgendwo am Land lebst. Dort kannst du Dinge tun, die in der Stadt einfach nicht möglich sind. Aber das Land ist nie weit von der Stadt entfernt, und wenn du lange genug bettelst, kannst du sicher mit den Eltern oder den Großeltern aufs Land fahren.

Schön ist es, wenn man irgendwo eine längere Zeit auf dem Land wohnen kann. Denn die lustigsten Ideen bekommt man, wenn man seine Umgebung wirklich gut kennt. Dann kann man die Menschen beobachten und lernt auch die Blumen und Tiere kennen, die dort leben.

Oft muss man sich auch sehr anstrengen, dass man die Menschen am Land versteht, wenn sie miteinander reden. Viele von ihnen sprechen einen Dialekt, das heißt sie verwenden Worte, die wir in der Stadt nicht kennen.

Das Leben am Land ist langsamer als in der Stadt. Die Jahreszeiten sind sehr wichtig. Zu jeder Jahreszeit, Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter, gibt es bestimmte Arbeiten, die erledigt werden müssen. Und auch die Natur verändert sich rund um das Jahr. Wenn man am Land wohnt, dann lebt man mit der Natur.

Lausbub sein ist nicht leicht. Ein echter Lausbub spielt Streiche, die lustig sind, aber niemandem wehtun. Wenn man nachdenkt, kommen einem immer Ideen, was man erforschen könnte. Für manche Streiche muss man mutig sein und darf keine Angst haben. In jedem Fall ist es viel lustiger, wenn man Lausbubenstreiche in einer Gruppe plant und zusammen mit anderen Kindern macht. Auch du kannst ein Lausbub sein!

Dieses Buch soll dir Ideen geben, was man alles so anstellen kann. Manche Streiche, die wir gemacht haben, sind nicht so toll gewesen und wir haben gelernt, dass man gut überlegen muss, bevor man etwas tut, was schlecht ausgehen könnte.

Jetzt wollen wir dich aber nicht mehr länger auf die Folter spannen. Ein bisschen musst du noch über uns und unsere Welt in Weitersfeld lesen, damit du dir vorstellen kannst, wie es dort aussieht. Aber dann geht es gleich los!

Unsere Welt

Weitersfeld an der Mur. Wie waren wir hierher gekommen? Vater begleitete unseren Opa in den Nachkriegsjahren auf Fischausflüge in die Südsteiermark, und der war wieder durch irgendeinen Zufall hierher gekommen.

Vater erzählte immer von den Zugfahrten von Graz und den Übernachtungen am Heuboden bei Bauern im Dorf. Noch vor dem Morgengrauen weckte sie meist die Kälte, sie standen auf und gingen an die Mur oder den Mühlgang fischen. Abends fuhren sie dann wieder mit der Bahn nach Graz.

Solange ich denken kann, gibt es unser kleines Häuschen. Es steht in einem kleinen Garten mit einer großen Forsythienhecke darum herum. Es hat zwei Stockwerke und keinen Keller. Im Erdgeschoss haben wir eine kleine Küche mit einer Sitzecke, ein Wohnzimmer und eine Toilette. Im Wohnzimmer gibt es einen Dauerbrandofen, der das ganze Haus heizen soll, es aber im Winter niemals ganz schafft.

Am Dachboden, auf den man über eine steile Holzstiege klettern muss, gibt es zwei Schlafzimmer mit je zwei Betten. Das Kinderzimmer im Süden und das Elternzimmer im Norden. Jedes hat ein Doppelfenster. Wenn wir aus dem Fenster schauen, sehen wir die Lichter der Papierfabrik im Ort Sladki Vrh in Jugoslawien.

Hinter unserem Haus beginnt gleich ein dichter Wald. Im Norden gibt es eine kleine Lichtung, über die ein Weg in den Wald führt. Im Süden führt eine Wiese bis zum Mühlgang. Vor unserem Haus läuft die Straße vorbei. Sie kommt aus dem Dorf und führt zur Überfuhr. Aber dazu später.

Die Straße aus dem Ort kommt kerzengerade auf unser Haus zu und überquert nur hundert Meter vor unserem Haus im Wald mit einer kleinen Holzbrücke den schmalen Schwarzabach. Sobald man an unserem Haus vorbeifährt, kommt man nach weiteren hundert Metern zum Mühlgang, der ein ganz ausgewachsener Bach ist. Über ihn führt eine Betonbrücke.

Unser Haus liegt also in einem Dreieck zwischen der Straße und den beiden Bächen, die ein Stück hinter unserem Haus im Wald zusammenfließen und sich gemeinsam auf den Weg zur Mur machen.

Vor unserem Haus liegen zwei Bauerngehöfte. Sie gehören zwei alten Bäuerinnen: Frau Sirf und Frau Počič. Beide sind seit langer Zeit verwitwet. Frau Sirf und Frau Počič haben Kühe und Schweine, Hühner, Katzen und besitzen viele Felder. Auf ihren Feldern wachsen Mais, Kürbisse und Kartoffel. Viele Felder sind aber auch ganz normale Wiesen voller Blumen und mit Gras, das als Futter für die Tiere verwendet wird.

Beide Bauernhöfe haben ein Haupthaus und Nebenhäuser. In den Nebenhäusern befinden sich die Ställe und die Heuböden, die bald unser Lieblingsaufenthaltsort werden sollten. Davon aber später.

Jeden Samstag nach der Schule fuhren wir nach Weitersfeld. Während der Volksschule und in den ersten Klassen meiner Mittelschulzeit fuhren wir mit dem Zug. Das war anstrengend, denn wir mussten alles, was wir in Weitersfeld haben wollten, tragen. In Spielfeld, an der Grenze zu Jugoslawien – heute Slowenien –, mussten wir in einen kleinen Bummelzug umsteigen, der von Spielfeld bis Bad Radkersburg fuhr. Weitersfeld lag etwa auf halbem Weg, kurz vor Mureck und nach Lichendorf. Eine kleine rote Diesellok zog drei oder vier ganz kleine Waggons.

Diese Fahrtstrecke, die etwa eine Viertelstunde dauerte, war sehr aufregend. Vater nahm uns Buben nämlich auf die Plattform im Freien mit. Dort standen wir zwischen den Waggons in der frischen Luft, die im Sommer voll Mücken war und in der es sich im Winter so herrlich frieren ließ. Bei jeder Straßenkreuzung, bei jedem Feldweg, der das Bahngleis querte, stieß die Lok einen lauten Pfiff aus. Und es roch nach verbranntem Diesel. In den vorbeihuschenden Wäldern sahen wir oft Rehe. Auf den Feldern arbeiteten die Bauern und winkten uns zu. Am Bahnhof Weitersfeld stand schon der Fahrdienstleiter und erwartete den Zug.

Die handelnden Personen

Frau Sirf

Unsere Nachbarin, deren familiäre Wurzeln in das Abstaller Becken im heutigen Slowenien zurückreichten, war eine stolze Großbäuerin. Das Schicksal hatte es mit ihr nicht sehr gut gemeint. Jung und kinderlos verwitwet bewirtschaftete sie mit nur einer Magd einen mittelgroßen Bauernhof, dessen Felder genug Ertrag für ein Dutzend Stück Großvieh, Schweine und reichlich Federvieh brachten. Schließlich adoptierte sie den unehelichen Sohn ihrer Magd in der Hoffnung, einen Erben für den Bauerhof gefunden zu haben. Diesen zog es aber in die weite Welt, und auch die Magd verließ den Hof. Frau Sirf verpachtete die meisten ihrer Felder und Wälder und schränkte ihren Viehbestand auf das ein, was sie selbst zu ihrem Leben brauchte.

Frau Počič

Auch unsere zweite Nachbarin war verwitwet. Doch hatte sie einen Sohn, der sich mit seiner Familie in Mureck niedergelassen hatte. Die beiden Enkelkinder waren in ihrer Jugend – sie waren etwas älter als wir – häufige Gäste bei der Großmutter und oft auch unsere Spielgefährten. Der Hof von Frau Počič hatte viel weniger Grund als jener von Frau Sirf. Solange ich mich zurückerinnern kann, lagen die beiden Bäuerinnen in einem freundschaftlich-rivalisierenden Wettstreit. Wer hatte den ersten Fernseher, wer das schönere Haus, wer das bessere Geselchte. An manchen Tagen wurde das Gartentor im Zaun, der die beiden Grundstücke und Bauernhöfe trennte, versperrt, weil man sich nicht ausstehen konnte, nur um dann bald darauf wieder in trauter Zweisamkeit mit den großen alten Puch-Fahrrädern nach Mureck in die Kirche zu fahren.

Frau Zwirnik

Es muss die harte Arbeit am Feld gewesen sein, für die es damals in den Sechziger- und Siebzigerjahren nur wenig maschinelle Unterstützung gab – schon ein Traktor war nur etwas für die größeren Bauernhöfe –, sicher auch ein Grund für den frühen Tod vieler Bauern. So war auch Frau Zwirnik Witwe. Sie bewohnte das kleine Bauernhaus am Ende der langen Geraden, die von unserem Haus nach Norden führte, und an dem vorbei man um eine scharfe Kurve fuhr, ehe – nach einer weiteren Kurve – die ersten Bauernhäuser von Weitersfeld-Dorf auftauchten. Von Frau Zwirnik, einer kleinen Person, die immer leicht nach vorne gebeugt in schnellen Trippelschritten an unserem Haus vorbei zu Besuch bei ihren zwei Freundinnen kam, ist mir seltsamerweise ihre Korbtasche in Erinnerung. Diese aus Stroh geflochtene Korbtasche mit Lederhenkeln konnte sie bei ihren Fahrten nach Mureck auch über die Lenkstange ihres Rades hängen. In diesem Falle war sie schon von weitem zu erkennen, wenn sie, mit Mantel und Kopftuch bekleidet – die Bäuerinnen in der Gegend waren selten ohne Kopftuch unterwegs –, die lange Gerade heruntergeradelt kam und beim Kreuz in die Straße nach Mureck einbog. Frau Zwirnik hatte eine finstere Stube, in die wir Kinder nicht sehr gerne gingen. Der benachbarte Wald, das Schneeglöckchen- und Krokusparadies von Weitersfeld, warf seinen Schatten auf ihren Hof. Sie nähte viel bei Tag ohne Licht, und ich wunderte mich stets, wie sie dies schaffte.

Stockerwirt

Am Dorfplatz gelegen, war dieses Dorfgasthaus die zentrale Umschlagstelle für den Tratsch des Dorfes. Anglerlatein, also die leichte bis schwere Übertreibung über die Größe der gefangenen Fische, war dort an der Tagesordnung, und mit jedem Bier wurden die Erzählungen fantastischer. Dabei wurde am Mühlgang und in der Mur von den Dorfbewohnern nur selten geangelt. Das war offensichtlich uns Städtern vorbehalten. Die Einheimischen waren mit dem Trauper unterwegs. Ein Trauper besteht aus einer vier bis fünf Meter langen Stange mit etwa fünf Zentimeter Durchmesser, an deren Ende ein Kreuz aus vier kurzen Metallröhren angebunden ist. In diese Röhren werden etwa eineinhalb Meter lange biegbare Eisenstangen gesteckt, die die vier Ecken eines quadratischen Fischnetzes auseinanderziehen. Der Trauperer legt mit der Stange das Netz in den Fluss und wartet eine Weile, bis die Fische wieder über die Stelle des Netzes schwimmen. Dann wird das Netz mit einem Ruck hochgehoben und nicht selten ist dann auch ein größerer Fisch mit drin. Von den Anglern, die mit Rute und Solin in waidmännischer Art Jagd auf Fische machten, wurden die Trauperer verächtlich als „Wasserseicher“ bezeichnet.

Herr Sturmmayer

Unweit des Stockerwirtes steht – mitten im Ort – ein großer Bauernhof, der größte des Ortes. Von ihm hatten meine Eltern das Grundstück für den Bau unseres Hauses gekauft, und er und seine Frau waren der Familie all die Jahre ganz besonders freundschaftlich verbunden. Beim Haus hieß es Fietsch, weshalb der Bauer, Josef mit Vornamen, oft auch Fietschn-Seppl genannt wurde. Der „Beim-Haus-Name“ oder Vulgo-Name war die Orientierungshilfe am Land schlechthin. Hatte ein Bauer eine Erbin eines Hofes geheiratet und sozusagen zugeheiratet, so war der Vulgo-Name des Hofes Garant dafür, dass jeder im Ort wusste, welches Gehöft gemeint war, auch wenn sich der Name des Eigentümers geändert hatte. Oft wurde die Geschichte des Bauernhofes in künstlerischer Ausgestaltung an der Hausmauer bis zum Namensgeber des Vulgo-Namens zurückverfolgt und stolz präsentiert. Dabei reichten die Namen mehrere Jahrhunderte zurück und zeigten die große geschichtliche Kontinuität der bäuerlichen Besiedlung in der Region.

Auf dem Hof des Sturmmayer-Seppl haben wir viel Zeit verbracht. Er hatte die schönsten Rinder weit und breit, einen sauberen Stall und war in der Rinder- und Schweinezucht sehr erfolgreich. Und er war der ungekrönte Schnapser-König des Dorfes. Dieses Kartenspiel konnten wir schon, bevor wir in die Schule kamen. Das entsprach dem viel erzählten Witz, dass die Kinder am Land vor Schulbeginn bis 66 zählen können, weil das die Grenze zum Gewinn der Schnapser-Partie ist. Seppl wusste beim Viererschnapsen nicht nur, wie viele Punkte jeder hatte, sondern auch bald, wer welche Karten in der Hand haben musste und welcher Weg zum Sieg führte, den man gegen ihn nur selten davontragen konnte. Gerne sind mein Vater, mein Bruder und ich, auch später noch in den Neunzigerjahren, bei Seppl zum Schnapsen eingekehrt.

Der General

Noch heute weiß ich seinen genauen Namen nicht. Er war überall der General. Seine großen Besitzungen schlossen westlich an die Felder von Frau Sirf an und reichten bis zur Ortsgrenze zwischen Weitersfeld und Lichendorf. Es waren kilometerlange Felder, die stets für Monokulturen, im Regelfall Mais, genutzt wurden. Für uns Kinder war es faszinierend, die unendliche Weite dieser Felder zu bestaunen. Dabei hatten wir auch eine Mutprobe der besonderen Art entwickelt: Mitten durch die Felder führte ein Feldweg (ein Roan), zwei stark verwachsene Fahrspuren mit einer hohen Mittelwölbung dazwischen, die es eigentlich nur Traktoren erlaubte, den Weg zu befahren. Von diesem Weg, den wir mit unseren Fahrrädern befuhren, schlugen wir uns durch das Maisfeld zum Mühlgang, wo wir gerne fischten und auch ein Haus gebaut hatten. Es ist gespenstisch, durch ein quadratkilometergroßes Maisfeld zu wandern, wenn der Mais übermenschengroß hochgeschossen ist. Leicht verliert man die Orientierung, auch wenn man in den Furchen zwischen den Maiszeilen geht. Und wenn man alleine unterwegs ist, dann befällt einen die Angst, aus dem Feld nie mehr herauszufinden.

Mitten in den Feldern – zu erreichen nur über den besagten Feldweg – stand das Haus des Generals, das er kaum je bewohnte. Angeblich war er viel auf Reisen in aller Welt unterwegs. Am westlichen Ende seiner Besitzungen hatte der General große Garagen und Geräteschuppen. Von alten Motorbooten über alte Autos bis zu ausrangierten landwirtschaftlichen Maschinen reichte das metallene Wirrwarr. Ein für Buben faszinierender Schrottplatz, aber auch ein Beweis für den Reichtum des Generals.

Wir werden eine Viererbande

Es hatte damit begonnen, dass unsere Mutter meinte, dass mein Bruder Wolfgang und ich Schulkollegen nach Weitersfeld mitbringen sollten, da es in der unmittelbaren Umgebung keine Spielkollegen gab. Wahrscheinlich hatte sie sich auch überlegt, dass wir zwei Brüder in der Anwesenheit von Freunden vielleicht nicht soviel streiten würden. Jedenfalls lud mein Bruder regelmäßig zwei Klassenkollegen ein, und bald war es selbstverständlich geworden, dass die beiden Freunde, Max und Georg, auch während der großen Ferien zu einem mehrwöchigen Aufenthalt nach Weitersfeld kommen würden. Das Haus war nicht groß, aber für uns Buben genügte doch ein Matratzenlager.

Das Jahr über verbrachten wir bereits mit Planungen, was wir im Sommer in Weitersfeld alles anstellen würden. Alle vier träumten wir davon, nach Kanada zu reisen. Kanada war für uns der Inbegriff der Freiheit, seine großen Weiten, seine grenzenlose Natur. Besonders beeindruckte uns, dass wir davon gehört hatten, dass in den Northwest Territories jeder Siedler einen Quadratkilometer Land sein Eigen nennen konnte, sobald er eine Behausung (Blockhütte) erbaute und diese mehr als die Hälfte des Jahres bewohnte.

Wir begannen mit dem Studium des Überlebenstrainings für die Wildnis Kanadas, und „Überlistete Wildnis“von Hans-Otto Meissner war unsere Lieblingslektüre.

In Weitersfeld konnten wir unseren Kanada-Traum mitten in Österreich leben, denn in den damals noch weitgehend unberührten Murauen zwischen Spielfeld und Mureck gab es keine Einschränkung für unsere Trapper-Abenteuer.

Wie könnte man als Sohn eines Fischers nicht vom Reiz des Fischens angesteckt werden? Fischen, Baum- und Erdhütten bauen, Lagerfeuer auf Schotterbänken, nächtliche Wanderungen, Radfahren, auf Bäumen über Bäche klettern, Woazbrat’n, Maronibraten, Eislaufen und Eishockeyspielen auf zugefrorenen Bächen, Bootfahren, Schwimmen, sich mit Karte und Kompass Orientieren: Weitersfeld bot dies alles und noch viel mehr. Langweilig wurde uns auch nach Wochen nicht. Der Katzenjammer vor dem September-Schulbeginn war immer groß.

Die Rollfähre nach Jugoslawien

Wenn man aus unserem Haus hinaustrat und nach links hundert Meter über die Mühlgangbrücke ging, stand man vor einer Weggabelung. Man musste sich entscheiden, ob man nach links Richtung Mureck und zur alten Überfuhr oder rechts zur Überfuhr, also zur Rollfähre über die Mur, ging.

Geradeaus konnte man durch die Bäume das andere Murufer erkennen. Über den Bäumen sah man die Schlote der Papierfabrik in Sladkih Vrh. Wendete man sich nach links, so fuhr oder ging man auf einem Feldweg neben einem langen Feld, das Frau Počič gehörte, ehe man wieder eine Weggabelung erreichte. Ein Weg führte hinaus an die Mur zur „Alten Überfuhr“. Hier hatte bis Anfang der Sechzigerjahre die Rollfähre über die Mur den Übergang nach Slowenien für die Bevölkerung von Weitersfeld sichergestellt. Neben einer zweiten Rollfähre weiter westlich zwischen Lichendorf und Ceršak gab es Murbrücken in Spielfeld (ungefähr 7 Kilometer westlich) und in Mureck (ungefähr 5 Kilometer östlich).

Die Landestelle war direkt neben den Fabriksgebäuden gewesen, doch wegen der Ausdehnung des Fabriksgeländes wurde die Fähre versetzt und die Fährstation einen Kilometer weiter flussaufwärts verlegt.

Bog man nicht nach rechts zur Mur ab, sondern fuhr geradeaus in den Wald, so gelangte man vorbei an einem Altwassersee zu einem Wehr des Mühlgangs und einem darunterliegenden Staubecken (dem „Tumpf“), dem Herzstück unseres Abenteuerreiches.

Folgte man nach der Mühlgangbrücke der Schotterstraße nach rechts, so gelangte man entlang des Mühlgangs, vorbei an einem Betonmäuerl und nach der Abzweigung zur Riesel, dem besten Fischplatz an der Mur, zur „Überfuhr“, der neuen Anlegestelle der Rollfähre nach Jugoslawien.

Schon damals faszinierte mich der Gedanke, dass auf der anderen Seite der Mur Ausland war. Die Erzählungen der Dorfbevölkerung über Slowenien waren stets kritisch, hatten doch viele Familien und Vorfahren die ehemalige Untersteiermark unter Zwang verlassen müssen und fast alles verloren. Wenige Bauern aus dem Dorf besaßen noch landwirtschaftliche Güter in Jugoslawien. Die Rollfähre, die entweder ein Auto, einen Traktor mit Anhänger oder ein Pferdefuhrwerk über die Mur bringen konnte, machte es möglich, diese verbliebenen Gründstücke zu bewirtschaften. Das war auch der eigentliche Zweck der Fähre. Der Grenzübergang war nur für Einheimische geöffnet und konnte nur mit einem speziellen Grenzübertrittsschein benützt werden. Dieses kleine graue Büchlein, in dem jeder Übertritt penibel vermerkt und abgestempelt wurde, erhielt man nur nach zehnjähriger Ortsansässigkeit. Wie stolz waren mein Bruder und ich, als wir unseren eigenen Grenzübertrittsschein erhielten, da wir seit der Geburt in Weitersfeld als Zweitwohnsitz gemeldet waren.

Die Rollfähre bestand aus zwei Eisenpontons, die mit einer floßartigen Holzplattform überbaut waren. Auf der Plattform gab es für die kurze Zeit der Überfahrt Sitzbänke. Flussaufwärts war die Fähre mit einem Stahlseil und einer Laufrolle an einem mehrere Meter über der Mur gespannten Führungsseil befestigt. Flussabwärts war am Ende eines langen Holzstammes ein Ruderblatt befestigt, welches der Flößer hin und her bewegte, um die Fähre in die Strömung zu drehen und am anderen Ufer anzulegen.

Der Betrieb der Fähre oblag den Jugoslawen. Der Fährmann war daher immer ein Jugoslawe, der aber natürlich Deutsch sprach. Er erhielt das Fährgeld und wahrscheinlich auch immer ein Trinkgeld.

Durch das wiederkehrende Hochwasser der Mur hat sich die Fähre oft losgerissen. Einmal trieb sie bis Bad Radkersburg, ein anderes Mal lief sie in Mureck auf Grund und die Eisenpontons mussten mit großer Mühe geborgen werden. Die Anlegestellen wurden mit einem mühselig zu bedienenden Kettensystem jeweils dem Wasserstand der Mur angepasst, damit man mit Fahrzeugen auf die Fähre fahren konnte.

All diese Mühe wurde aber von der lokalen Bevölkerung gerne in Kauf genommen, bildete doch die Fähre eine Lücke im Eisernen Vorhang, der zwischen dem sozialistischen Jugoslawien und dem neutralen Österreich seit dem Zweiten Weltkrieg bestand. Die stark bewachte Grenze bedeutete für den Süden der Steiermark, dass man wirtschaftlich und handelsmäßig am Ende einer Sackgasse und somit in einer toten Zone lebte.

Oberhalb der Überfuhr, an der Grenze zur Gemeinde Lichendorf, gab es in der Mur, die hier 100 bis 120 Meter breit war, ein Wehr, bei dem auf jugoslawischer Seite ein Mühlgang für die Papierfabrik abgezweigt wurde. Dieses Wehr spielt im nächsten Kapitel eine große Rolle.

Das Hochwasser kommt!

Ein fernes Donnern kündigte es an. Unsere große Wiese vor dem Haus, die der Seppl-Bauer im Dorf alle paar Jahre in einen Maisacker oder ein Kürbisfeld verwandelte, öffnete sich nach Westen. Im Sommer war es unser „Wettereck“, das heißt, dass Schlechtwetter immer von dort kam. Verfinsterte sich der Himmel „beim General“ – seine großen Besitzungen lagen in Richtung Lichendorf, dem nächsten Ort –, so konnte man sicher sein, dass das Gewitter, manches Mal auch ein Unwetter mit Hagel, zu uns kam.

Das Donnergrollen rührte von der Mur her: Am anderen Ufer der Mur, fast genau gegenüber von unserem Haus, lag die Papierfabrik Paloma in Sladki Vrh, oder wie es früher einmal geheißen hatte: Süßenberg. Die Maschinen der Fabrik erzeugten stets ein gleich bleibendes Rauschen, das man aber nach wenigen Stunden des Aufenthaltes in Weitersfeld an der Mur nicht mehr hörte. Nachts erhellten hunderte Lichter der Fabrik den Himmel. Nur zum Nationalfeiertag und zum Jahreswechsel gab es Tage, an denen in der Fabrik die Maschinen still standen, ansonsten liefen sie rund um die Uhr und verbreiteten ihr ständiges Geräusch.

Zur Fabrik gehörte weit flussaufwärts, an der Grenze zu Lichendorf, ein Wehr. Sein Betrieb war sogar schon im Vertrag von St. Germain im Jahre 1919, der nach dem Ersten Weltkrieg die Grenzen des heutigen Österreich bestimmte, festgeschrieben worden. Es diente dazu, aus den Fluten der Mur einen kleinen, bedächtig fließenden Mühlgang abzuzweigen, der aber kräftig genug war, die Turbinen für die Fabrik anzutreiben und damit die Stromversorgung des Werkes sicherzustellen.