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MINOS EFSTATHIADIS

BEDROHTE ART

HAMBURG–FRIEDRICHSTADT–KRIMI

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Efstathiadis, Minos: Bedrohte Art. Hamburg,
ACABUS Verlag 2014

Originalausgabe

Lektorat: Johanna Willrodt, ACABUS Verlag

Bibliografische Information der Deutschen

Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

© ACABUS Verlag, Hamburg 2014

Für Ioannis Antoniadis

Aus dem Griechischen übersetzt von
Kathrin Liegmann

Auf ihn wartete, in der Zukunft verborgen, eine hellsichtige Nacht aller Nächte: die Nacht, in der er endlich sein eigenes Gesicht erblickte, die Nacht, in der er endlich seinen eigenen Namen hörte. Richtig verstanden erschöpft diese Nacht seine Geschichte; besser gesagt, ein Moment dieser Nacht, eine Tat dieser Nacht, denn die Taten sind unser Symbol.

Jorge Luis Borges – Das Aleph

1

Konrad Hausmann hatten sie nicht einfach nur ermordet. Sie hatten ihn zerrissen; das ist das richtige Wort. Der Schnitt beginnt am unteren Teil des Bauches und führt weiter bis zur Brust. Er muss mit einem ausgezeichnet scharfen Gegenstand vollzogen worden sein, mit der Akribie und Stabilität eines chirurgischen Werkzeugs. Eine absolut gerade Linie. Die Hände, die dies ausgeführt haben, zitterten ganz sicher nicht.

Während ich die Leiche aus zwei, drei Metern Entfernung betrachte, hält mich etwas an der Stelle, wo ich stehe, gebannt, unfähig einen Schritt nach vorn zu machen. Es sieht nach einer Operation aus, die mit einem einzigen Ziel gestartet wurde : in der Mitte aufzuhören. Du kannst fast noch den Schmerz spüren, wie er Raum und Zeit durchquert, an dir hinaufklettert und sich langsam in deine Haut einkerbt.

Dicke Blutlachen und eine Menge anderer Flüssigkeiten rannen nach links und rechts und durchtränkten die Bettlaken, die Matratze, den Boden. Von Rot und Braun beherrscht, gibt es auch dünnes Grau und dreckiges Grün, durchsichtiges Weiß, alle über unregelmäßige Nebenflüsse in einem finsteren See versammelt. Konrad ruht völlig nackt und auf dem Rücken liegend in seinem Bett, die Beine geschlossen und seine Hände gestreckt. Unmöglich, die Ähnlichkeit mit einem Gekreuzigten nicht zu bemerken. Ihm fehlt natürlich das Kreuz, jedoch nicht der Pathos. Seine Augen starren an die Decke in einem unsagbaren, eisigen Schauder. Er hat seinen Mund, soweit es ihm möglich war, geöffnet, aber wahrscheinlich nicht einen Ton herausgebracht. Ein Apfel ist zwischen seinen bläulichen Lippen verkeilt, die Hälfte der Frucht steht hervor.

Seine Beine scheinen fast aneinandergeklebt, offenbar waren sie von Anfang an stramm zusammengebunden, so, wie sie sich jetzt befinden. Ungewiss wie, doch auf eine bestimmte Weise, blieben seine Arme in dieser vom Körper weit weg ausgestreckten Haltung. Professionelle Arbeit.

Es ist das trübe, unsichere Licht, das durch das einzige Fenster des Zimmers hereintritt, welches mich dazu zwingt, ständig mit den Lidern zu blinzeln. Oder eher das abscheuliche Spektakel der Kreuzigung? Ich trete näher an ihn heran, an seinen Handgelenken sind vier, fünf dicke Einschnitte an verschiedenen Stellen zu erkennen. Es scheint mir, dass sie ihn mit etwas Metallenem gefesselt haben, als sie ihn in zwei Stücke teilten. Zu dem Zeitpunkt war er noch lebendig und sie wollten ihn so lange wie möglich am Leben halten.

Auf seinen letzen Atemzug hat er lange warten müssen. Die gesamte Szene enthüllt die geplante Langsamkeit; dieser Chirurg hat dem Tod seinen eigenen Rhythmus auferlegt. Es ist nicht auszuschließen, dass Konrad verblutet ist, denn der Schnitt an seinem Körper zeigt, dass die inneren Organe nicht getroffen wurden. Wahrscheinlich blieb ihm die Zeit, viel zu denken und zu fühlen, bevor er aus seinem Leben, aus diesem Albtraum fliehen konnte.

Jetzt ist es hier drinnen genauso kalt wie draußen. Die Temperatur dringt beständig und beharrlich herein, auch in meine Gedanken. Ich sehe mich noch einmal um. Das Zimmer, weiß und sauber, nichts weist auf einen Kampf hin. Drei Paar Stiefel in der einen Ecke, ein alter Kassettenrekorder neben zwei Kartons voller Kassetten in der anderen, keine Kleider außer einem Ledermantel, der hinter die Tür gehängt ist. Noch nicht einmal Staub liegt auf den Gegenständen. Als wäre eine pedantische Putzfrau zeitgleich mit dem Tod vorbeigekommen.

Ich höre nicht den kleinsten Laut aus dem restlichen Teil des Hauses und diese hypnotische Stille erinnert mich daran, dass es Zeit ist, das Schlafzimmer zu verlassen. Außerdem verfüge ich nicht über das nötige Fachwissen, um tiefere Nachforschungen zu betreiben. Bevor ich hinausgehe, mache ich mit meinem Handy fünf Fotos von der Leiche und drei von dem Zimmer. Der Rest ist Aufgabe des Gerichtsmediziners und der Spurensicherung.

Ich gehe ins Wohnzimmer und Angelika sieht mich an, immer noch reglos. Sie steht mit dem Rücken an der Wand neben dem Kamin, der voller Asche und angebranntem Holz ist. Ich kam vor etwa einer Viertelstunde hier an und fand sie in genau der gleichen Position. Als ich sie dort sah, dachte ich sofort, dass sie sich wahrscheinlich seit ihrem Anruf nicht vom Fleck bewegt hat, vor fast drei Stunden. Eine gläserne Statue, starr und gleichzeitig zerbrechlich. Ihr Körper scheint unterkühlt, genauso wie dieses Haus, und doch versucht sie ruhig zu bleiben, um nicht eine unsichtbare, doch bestimmte Grenze zu überschreiten. Jetzt senkt sie leicht den Kopf und statt mir einen Haufen Fragen zu stellen, sendet sie eine stille Ratlosigkeit zu mir herüber.

Ich gehe zu ihr und biete ihr meine Zigaretten an. Sie lehnt ab, also raucht sie nicht. So langsam werde ich mir bewusst, dass auch ich nicht rauchen sollte. Bevor die Polizei kommt, sollten wir nichts verändern, auch Rauch kann eine Aussage darüber machen, wer in den vergangenen Stunden in diesem Raum gewesen ist.

Ich will Angelika mit nach draußen nehmen, nicht nur, weil ich rauchen möchte. Das Gefühl, dass wir frische Luft brauchen, wird immer stärker. Doch irgendetwas versteckt sich hinter ihrer versteinerten Haltung, ihrer Unbeweglichkeit. Der Verdacht, dass sie beim ersten Schritt zusammenbrechen wird.

„Angelika, erinnern Sie sich vielleicht, um welche Uhrzeit Sie heute Morgen hier angekommen sind?“

Sie braucht eine Weile, bis sie mir antwortet, denn zuerst fragt sie ihre Armbanduhr mit einem verlorenen Blick um Rat. Sie versucht zu rechnen, die Zeit in eine Ordnung zu bringen. Ihre Stimme flüstert.

„Ich glaube … so um zehn Uhr.“

„Haben Sie vorher mit Konrad telefoniert?“

„Nein. Ich bin daran gewöhnt, herzukommen, wann immer ich möchte, darüber hinaus hat er kein Telefon. Kon lebt allein … er hat mir ein Paar Schlüssel gegeben … schon vor Jahren.“

„Können Sie mir beschreiben, was Sie genau gemacht haben, nachdem Sie aus Ihrem Auto gestiegen sind?“

In langsamen Bewegungen fährt sich Angelika mit der rechten Hand durch ihre blonden Haare, immer wieder, während sie beharrlich zum Kamin schaut. Sie scheint von der Gegenwart getrennt zu sein, als könne sie sich nicht genau daran erinnern, auf was ich mich beziehe, als wäre all das gelöscht und in eine dunkle Ecke ihres Gehirns geworfen.

„Wenn es geht, dann möchte ich gern, dass Sie mir alles von Anfang an erzählen, der Reihe nach. Keine Eile.“

„Ich hielt hier draußen, wo ich gewöhnlich parke. Als ich an der Tür ankam, klopfte ich ein, zwei Mal. Kon machte nicht auf und antwortete mir auch nicht. Das passiert manchmal, wenn er den Fernseher auf volle Lautstärke gestellt hat oder er sich zufällig hinten im Schuppen aufhält. Die Tür lässt er aber immer aufgeschlossen. Ich öffnete sie und ging hinein … rief wiederholt nach ihm, ohne Ergebnis. Im Wohnzimmer war niemand, auch in der Küche nicht. Als ich im Schlafzimmer angelangt war … sah ich ihn so … dort …“

Angelika verstummt eine Weile, nur ihre Hand drängt sich ununterbrochen in ihr Haar. Ich erwarte nicht, ihre Stimme noch einmal zu hören, doch sie spricht weiter, etwas lauter nun.

„Kon sah permanent an die Decke und war … geöffnet. Es gab nichts, was ich machen oder sagen konnte. Ich ging hierher zurück und verbrachte … einige Zeit … bis ich Sie anrief.“

„Wieso haben Sie zuerst mich angerufen und nicht die Polizei?“

„Keine Ahnung … in jenem Moment hatte ich solche Angst. Ich wollte zuerst … jemanden, der weiß, was zu tun ist.“

„Und wie sind Sie an meine Nummer gekommen?“

„Von meinem Handy aus habe ich die Auskunft angerufen und nach einem Detektiv in Hamburg gefragt. Husum ist zwar näher, aber ich dachte mir, dass es lieber jemand aus einer größeren Stadt übernehmen sollte. Die Dame von der Auskunft sagte mir, dass ich zwischen mehreren aussuchen könne. Ich bestand darauf, dass sie mir irgendeinen Namen gibt. Doch in jenem Moment war das Wichtigste die Zeit … irgendetwas musste passieren.“

Ihre Beschreibung, in immer ängstlicherem Ton und einer Kurzatmigkeit, reichte mir, um eine erste Schlussfolgerung zu ziehen. Angelika stattete ihrem Liebhaber einen morgendlichen Besuch ab und anstatt ihn bei der Gartenarbeit oder beim Maronenrösten im Kamin zu sehen, findet sie ihn in zwei Stücke geteilt in seinem Schlafzimmer vor. In ihrer Verwirrung suchte sie nach jemandem, der ihr helfen sollte. Es stimmt, dass die Polizei in solchen Fällen nicht den besten Ruf hat.

Auf die Frage, wieso die Auskunft ihr ausgerechnet meine Nummer gegeben hat, gibt es eine einfache Antwort. Weder war es Zufall, noch direkt ausgewählt. Wenn die Angestellten der Auskunft die Seite jeder Berufskategorie öffnen, erscheinen verschiedene Kriterien, durch die sie ihre Suche spezialisieren können. Das erste Kriterium ist der Preis. Wenn der Kunde nicht nach etwas anderem, Speziellerem fragt, dann nehmen sie den Günstigsten. Hier erscheint der Name Chris Papas als Erstes, weil ich der günstigste Detektiv Hamburgs bin.

Ich berühre Angelika leicht am Arm. Ohne etwas zu sagen, lässt sie es zu, dass ich sie nach draußen führe. Ich öffne die Tür und alles um uns herum erscheint in Grau getaucht. Ein kalter Wind pfeift verschwörerisch in den Bäumen. Sie atmet tief ein, sieht in den Himmel, dorthin, wo die dichte Bewölkung uns nicht eine einzige Lücke lässt.

Das Haus befindet sich hier seit vielen, sehr vielen Jahren, diese dicken Wände versuchen nicht ihr Alter zu verstecken. Das Grundstück, etwas größer als einen Hektar, kreist uns mit einem unvollkommenen Holzzaun ein. Einige Bäume, nicht mehr als ein Dutzend, breiten sich weit auseinanderstehend aus und beobachten uns aus der Ferne. Und danach nichts. Dieser Ort hier lässt sich nur mit absoluter Subtraktion und zweifelhafter, poetischer Akribie beschreiben. Er befindet sich buchstäblich inmitten des Nichts. Über die Felder hinweg, bedeckt von der Kruste des winterlichen Eises, verliert sich der Blick ungestört, frei in alle vier Himmelsrichtungen. Die Aussicht überträgt eine unterirdische Kraft, am Anfang glaubst du, dass du dich verirrt hast, doch wenn du weiter hineinsinkst, dann spürst du, dass du nicht mehr nach dem Rückweg suchen musst. An diesem Ort kämpfen zwei Gefühle miteinander um die Vorherrschaft : die Ekstase und die Isolation.

Angelika und ich bleiben reglose, stumme Beobachter des Nichts. Unsere Zeit aber ist zu Ende und es nähert sich der Moment für wichtige Entscheidungen. Die Polizei muss benachrichtigt werden. Bevor ich jedoch etwas mache oder sage, beschließe ich, noch einmal zurückzugehen und mich im übrigen Haus umzusehen. Angelika möchte lieber draußen bleiben.

Durch die Küche schweift der frische, chemische Geruch eines Putzmittels. Ein einziger Kochtopf und wenige Teller sind vorsichtig neben der Spüle aufgestellt. Dieses sterile Gefühl überall erinnert an ein altes Haus, fertig zur Vermietung. Der Kamin, das klobige Sofa, die drei Holzstühle, der nackte Tisch und der alte, viereckige Fernseher, alles, was sich im Wohnzimmer befindet, vervollständigt dasselbe Bild. Sie befinden sich schon seit Jahrzehnten hier, ohne Veränderung.

Am Ende des engen Korridors taucht das zweite Schlafzimmer auf, fast leer. Das alte Doppelbett, bezogen mit weißen Laken, steht in der Mitte, wie ein Augenzeuge der Verlassenheit. Genau daneben führt die letzte Tür zum Bad. Ein enger Raum mit außergewöhnlich sauberer Dusche und glänzender Kloschüssel.

Nur Konrads Zimmer scheint lebendig zu sein, sozusagen natürlich. Doch auch hier herrscht der Eindruck, dass jemand erst kürzlich aufgeräumt hat. Außer dem Bett natürlich.

Ich gehe wieder hinaus; Angelika lehnt immer noch an derselben Stelle, zwei, drei Meter weiter weg.

„Gibt es noch einen anderen Raum hier in der Nähe? Ich meine, außer diesem Haus.“

„Den Schuppen”, antwortet sie mir.

Sie führt mich schweigend dorthin. Er befindet sich im hinteren Teil des Hofes. Eine rechteckige Baracke, gebaut aus dickem Holz. Ich bitte sie als Erste hineinzugehen und für einen Moment reagiert sie unsicher, unentschlossen. Angelika greift endlich an die Klinke und öffnet die Tür. Sie macht den ersten Schritt ins Innere des Schuppens und genau in jenem Moment zerreißt ein schrecklicher Schrei die Luft. Es ist nicht nur die unglaubliche Lautstärke, sondern hauptsächlich die Tonhöhe. Ein Klang, der tief aus der Hölle entspringt.

2

Das Blut gefriert mir in den Adern. Noch nie, nirgendwo, habe ich jemals etwas Ähnliches gehört. Ich bleibe geschockt draußen vor dem Schuppen stehen, während Angelika dagegen langsam und ruhig vorangeht, als wäre absolut nichts passiert. Ich verfolge sie mit meinem Blick, ohne mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Die völlige Ruhe, die sich um uns ausbreitet, lässt die Erinnerung an dieses Geräusch unpassend, unheimlich erscheinen.

„Haben Sie keine Angst. Das ist Syd“, sagt mir Angelika einige Sekunden später mit entwaffnender Einfachheit.

Im Schuppen hinter einer provisorischen Holzkonstruktion läuft Syd aufgebracht hin und her, immer wieder aufgrunzend, nun etwas leiser. Angelika stellt ihn mir als das männliche Schwein vor, das Konrad Hausmann seit ein paar Jahren in Futter genommen hat. Ich kenne mich nicht mit Schweinen aus, doch dieses hier scheint mir sehr aufgeregt zu sein.

„Ist das normal, dass er sich so benimmt?“

„Meistens ist er ganz ruhig. Keine Ahnung, was heute mit ihm ist. Wahrscheinlich wühlt ihn Ihre Anwesenheit auf. Er ist sehr sensibel und hat Sie ja noch nie gesehen.“

„Lebt er ganz allein hier? Gibt es keine weiteren Schweine oder andere Tiere hier?“

„Er ist allein. Syd gehört einer Rasse an, die es nur noch sehr selten gibt. Der offizielle Name ist Husumer Protestschwein. Die Viehzucht meidet sie, weil sie eine geschützte Art ist, ohne kommerziellen Wert.“

„Die Enterbten der Natur. Weder zu kaufen noch zu verkaufen. Keine Zukunft.“

„Kon hat ihn zu sich genommen, weil er so eine kleine monatliche Zulage von dem Verein für diese seltene Tierrasse sicherstellen konnte. Es gibt den hiesigen Verein, der sich um alle verfahrenstechnischen Dinge kümmert.“

„Vielleicht hat er Hunger?“

„Er hat immer Hunger. Doch deshalb verhält er sich nicht so.“

Syd hat einen großen Körper und einen hängenden Bauch, auf den auch der fanatischste Biertrinker neidisch sein kann. Die rötliche Farbe seiner Borsten, psychedelisch kombiniert mit einem dünnen, grauen Streifen, der seine Schultern umwickelt wie ein Ring. Inzwischen hat er sich etwas beruhigt, geht in seiner Box auf und ab, und hin und wieder kommt es mir vor, als sehe er mir direkt in die Augen. Ich gebe mir Mühe, ihn zu berühren, doch jedes Mal, wenn sich meine ausgestreckte Hand nur wenige Zentimeter seiner Schnauze nähert, zieht er sich leicht zurück. Am Ende dreht er mir seine Seite zurückhaltend zu und lässt mich für zwei, drei Sekunden seinen harten, drahtbürstenartigen Rücken streicheln. Er zieht sich schnell zurück, unsicher über mich und meine Absichten.

Der Schuppen ist sonst von keinem besonderen Interesse. Elektrische Lampen gibt es nicht, deshalb erreicht uns nur das spärliche Licht von der Tür, die wir hinter uns offen gelassen haben. Verschiedene, verrostete Werkzeuge sind chaotisch auf die Erde geworfen, die so viele Male zertreten wurde, bis sie sich in einen harten Boden verwandelt hat. Die Feuchtigkeit, eine Plastiktüte mit verschimmelten Kartoffeln und Syd haben alles dafür getan, dass der Ort hier unerträglich stinkt.

Als wir zurück zum Haus gehen, läuft Angelika zwei, drei Schritte hinter mir. Sie bleibt plötzlich an ihrem Auto stehen und sieht nach Norden. Ich frage, ob sie heute Morgen irgendetwas Merkwürdiges beobachtet habe, etwas, das sie zuvor noch nie gesehen habe. Angelika schüttelt den Kopf, doch fügt nach einigen Sekunden hinzu, dass nur eine Sache anders war als sonst. „Auf Kons Bett ist alles verändert“, scheint sie sich selbst zu sagen. Wir stehen für eine Weile an derselben Stelle, müde von den Worten und der Wirklichkeit. Der Himmel, der Wind, der Horizont, sie scheinen alle aus derselben Substanz gemacht zu sein. Für einen Moment stelle ich mir vor, dass, wenn ich nach Jahren wieder hierher zurückkommen würde, ich genau dieses unveränderte Bild sehen würde.

Ich betrachte vorsichtig meine Kundin. Eine große, dürre Frau mit blonden langen Haaren, zu einem Zopf gebunden und besonders blasser Haut. In ihrer Stimme und ihrer Art nistet sich das Gefühl einer Distanz ein, die man niemals einholen kann. Als würde sie nicht mehr hier vor mir stehen. Sie hat sich bereits in ihr eigenes Zimmer zurückgezogen, diesen inneren Raum, für den es keine Tür gibt. Jeder reagiert anders auf die Gewalt des Todes. Angelika ist immer noch hier, und doch weg.

Ich frage nach ihrer Meinung, ob Konrad Feinde hatte, ob sie sich vorstellen könne, dass jemand ihm etwas Schlechtes wollte. Sie hört sich vollkommen sicher an. Nein, nein. Kon lebte allein in diesem Haus, seit seine Eltern vor einigen Jahren gestorben waren. Niemanden hat er gestört, niemand hat ihm etwas getan. War er vielleicht reich? Gab es irgendwelche finanziellen Interessen in Verbindung mit seinem Namen? Soweit sie weiß, nein, nichts. Sein einziges Vermögen war dieser Ort hier und ein Acker um die drei Hektar, die er einem hiesigen Bauern verpachtet hat. Er lebte hauptsächlich von dieser Pacht, von einem sporadischen Tagelohn und von der Zulage für Syd.

In der kurzen Zeit, in der ich hier bin, habe ich eine Menge Informationen gesammelt, doch was habe ich herausgefunden? Außer der offensichtlichen Klischees, fast nichts. Das Zeitfenster wird enger, ich werde nicht mehr von Angelika erfahren. Ich entschließe mich, ihr keine der selbstverständlichen, aber notwendigen Fragen über ihre persönliche Beziehung zu Konrad zu stellen. Diese Dinge benötigen einen anderen Ort und eine andere Zeit. Druck ist wahrscheinlich nicht sehr hilfreich, um der Wahrheit näher zu kommen, stattdessen verdrehen wir sie nur. Darüber hinaus werden die Bullen ganz sicher nicht davor zurückschrecken; in Kürze wird sie gezwungen sein, denen einen Haufen Dinge zu erklären.

Ich stelle meine letzte Frage so vorsichtig wie möglich. Wie möchte sie das Ganze von hier an nun handhaben? Ihr ratloser Blick richtet sich plötzlich auf mich. Sie versteht wahrscheinlich nicht, was ich meine. Ich erkläre ihr, dass es unterschiedliche Möglichkeiten gibt. Sie könnte selbst die Polizei benachrichtigen oder wir könnten auch …

Sie unterbricht mich. Die Wahrheit, die Wahrheit, betont sie scharf mit einer metallisch fernen Stimme. Schließlich erledige ich den Anruf.

Der Polizeiinspektor der örtlichen Wache stellt sich mir sofort als Georg Weber vor. Dann schweigt er. Es beeindruckt mich, wie geduldig er ist, bis ich fertig bin. Vielleicht vermeide ich deshalb die meisten Beschreibungen. Wir warten hier auf ihn, damit er sich selbst ein Bild davon machen kann. „Wir kommen“, antwortet er mir.

Angelika steht an die Außenwand des Hauses gelehnt, während ihre Augen beständig am Horizont herumreisen.

„Von all dem … was Sie gesehen haben … hat Sie was am meisten beeindruckt, Herr Papas?“

Eine unerwartete Frage. Ich denke eine Weile nach. Am Ende hebe ich scheinbar gleichgültig meine Schultern und sage kein Wort. Doch höre ich immer noch das Schreien von Syd, wiederholt aus einem kaputten Lautsprecher in den Tiefen meines Kopfes.

3

Die zwei Streifenwagen der Polizei kommen zwölf Minuten nach dem Anruf an. Ich berechne ihre Zeit, um herauszufinden, ob es einen anderen, kürzeren Weg von der Stadt bis hierher gibt. Wahrscheinlich nicht. Sie tauchen von dort auf, von wo auch ich gekommen bin, offenbar haben sie denselben Wirtschaftsweg genommen. Er beginnt an der südlichen Seite von Friedrichstadt, geht schmal mit einigen leichten Kurven weiter und endet in ein langsames, doch entwaffnendes Versinken in die leere Landschaft. Wenn man diesen Weg noch nicht kennt, ist es fast unmöglich ihn ohne Navigationsgerät zu finden. Von seinem Anfang am Rande der Stadt bis zu Hausmann gibt es kein einziges Schild. Es könnte der perfekte Weg zu einem Ort sein, der sich versteckt, ohne eine Einzeichnung auf der Landkarte zu hinterlassen.

Obwohl es unendlich viel Platz zum Parken gibt, hält die Polizei direkt neben meinem Wagen und nicht neben Angelikas altem weißen Golf. Wir beide rühren uns nicht von der Stelle, neben der Wand, genau vor der Haustür. Georg Weber ist ein großer Mann mit dünnen Beinen und vorgestrecktem Bauch, der ihm gegen seinen Willen angeklebt zu sein scheint. Er kommt mit schnellen Schritten auf uns zu, begrüßt erst Angelika mit einem eiligen Händedruck und danach mich. Seine Hände, dick und kalt, das Gesicht ausdruckslos.

Während ein uniformierter Polizist damit beginnt, das gesamte Gebäude mit einem rot-weißen Band zu umwickeln, befragt uns der Polizeihauptmeister nacheinander. Zuerst Angelika und dann mich. Er käut die Formalitäten wieder. Ob wir etwas berührt hätten, zu welcher Uhrzeit wir angekommen seien, in welchem Zustand wir sein Zimmer vorgefunden hätten. Angelika ist sich sicher, dass man ihre Fingerabdrücke finden wird. Sie hat alles mehrere Male berührt, da sie fast jeden Tag hierher kam.

Herr Weber macht auf mich denselben Eindruck wie schon bei unserem Telefonat vor ein paar Minuten. Er vermeidet es, auch nur den geringsten Kommentar von sich zu geben, achtet permanent auf seinen Gesprächspartner, während ihn selbst ein angeborener Zweifel jagt. Am Ende murmelt er eine Entschuldigung und lässt uns stehen, um ins Haus zu gehen.

Inzwischen wird es draußen immer kälter, meine eingeschlafenen Füße verwandeln sich so langsam in zerbrechliche Eissäulen. Angelika befindet sich immer noch in strammer Haltung, den Blick auf die graue Landschaft genagelt. Auch ich sehe in die Richtung, um herauszufinden, was den Blick meiner Kundin so magnetisch anzieht. An einer Stelle vereinen sich Himmel und Erde zu einer unauflöslichen Masse; wenn man sie umdrehen würde, könnte man zwischen ihnen keinen Unterschied sehen. Es sieht aus wie eine provisorische Skizze, die die Relativität zwischen richtig und falsch, existent und imaginär neu ausdrückt.

Der Polizeihauptmeister kommt nach zwanzig Minuten wieder heraus. Heute berechne ich immer wieder die Zeit. Sein Gesichtsausdruck ist ernst, undurchdringlich. Er zündet sich auch eine Zigarette an. Zum ersten Mal wiederholt er eine Frage, die er schon einmal gestellt hat.

„Haben Sie ihn an demselben Platz gefunden, an dem er sich jetzt befindet?“

Angelika nickt, beim ersten Mal hatte sie dieselbe Antwort gegeben. Mit zwei Schritten steht Weber direkt vor ihr.

„Angelika, wieso hast du nicht als erstes die Polizei benachrichtigt? So viele Jahre lebst du in Friedrichstadt und anstatt uns … rufst du sofort irgendeinen Detektiv aus Hamburg an?“

Sie zögert etwas, hinter ihrem Schweigen scheint sich Erschöpfung oder Sinnesabwesenheit zu verstecken. „Eine Entscheidung des Moments“, sagt sie ihm und sieht ihn dabei an. Der Polizeihauptmeister akzeptiert ihre Antwort. Am Ende bittet er uns, ihm auf die Wache zu folgen.

Denselben Weg zurück in die Stadt, ohne Schilder, dieses Mal ohne Navigationsgerät. Ich folge Angelikas Auto und sie Webers Streifenwagen. Der zweite Streifenwagen ist am Tatort zurückgeblieben, wahrscheinlich warten sie auf den Gerichtsmediziner.

Bis heute wusste ich nicht einmal von der Existenz Friedrichstadts, den unbekannten Namen hörte ich von Angelika. Als ich heute Morgen Richtung Hausmann fuhr, musste ich nicht direkt in die Stadt fahren, denn ich nahm die Umgehungsstraße, die mir meine Kundin beschrieb. Ich fahre durch die Straßen in einem einschläfernden, gleichmäßigen Rhythmus, den die beiden Vorausfahrenden adoptiert haben. Beim ersten Eindruck ähnelt Friedrichstadt überhaupt nicht einer deutschen Stadt, eher einer holländischen. Enge Grachten breiten sich der Länge nach aus und schneiden die ebene Erde quer in Scheiben. Die Boote und kleinen Schiffchen neben den Strassen, die Architektur, die lebendigen Farben der alten Häuser, all das erinnert an eine provinzielle Verkleinerung Amsterdams.

Wir halten vor der Polizeiwache. Es ist ein zweistöckiges, reizloses Gebäude, welches es in jeder beliebigen Stadt des Landes gibt. Nebenan die Feuerwehr, drei ihrer Löschfahrzeuge in einer Reihe. Mittag ist fast vorüber, der Verkehr ist spärlich und um die zahlreichen Häuserecken verrichtet der eisige Wind seine Arbeit.

Der Polizeihauptmeister steigt als erster aus dem Streifenwagen und zeigt uns, wo wir parken sollen. Zwei Minuten später sitzen wir in einem Warteraum auf unbequemen Plastikstühlen, umgeben von völlig leeren, gelben Wänden, die Bürokratie ausstrahlen. Herr Weber bietet uns Kaffee an, ich nehme gern einen, Angelika nicht. Ohne Zeit zu verlieren, bittet er sie in sein Büro. Die Tür schließt sich hinter ihnen, während ein Telefon im Hintergrund klingelt.

Kurz darauf bringt mir ein gut rasierter, junger Polizeibeamter einen Kaffee in einem Pappbecher. Er murmelt unschlüssig ein „Bitte“, gibt ihn mir, um sofort wieder hinter irgendeiner anderen Tür zu verschwinden. Später erfahre ich, dass nur vier Beamte auf dieser Wache beschäftigt sind. Die anderen zwei sind jene, die bei Hausmann geblieben sind und auf den Gerichtsmediziner warten.

Die Zeit vergeht, die Tür des Hauptmeisters bleibt geschlossen und ich frage mich verschiedene Dinge, hauptsächlich über die seltsamen Umstände, die mich hierher geführt haben. Ich sage seltsam, weil ich keinesfalls zu der kleinen Kategorie meiner Kollegen gehöre, die sich mit Mord und ähnlich ernsten Fällen beschäftigt. Wenn du dich dazu entscheidest, der Günstigste auf dem Markt zu sein, dann solltest du dich auf dem Boden der Tatsachen befinden. Nächtliche Hafenstraßen, verlassene Parkplätze und billige Hotels, an solchen Orten übe ich für gewöhnlich meinen Beruf aus. Damenparfum, Autoreifen und frische Präservative, dies sind meine gewohnten Gerüche. Muss ich noch erklären, dass ich mich fast ausschließlich mit der Beobachtung untreuer Ehepaare beschäftige? Was gibt es sonst dort draußen für den günstigsten Detektiv Hamburgs?