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Gespräche mit Töchtern und Söhnen lesbischer und schwuler Eltern

Website zum Buch: www.undwassagendiekinderdazu.de

Erste Auflage der Printausgabe August 2005

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung von Fotos der InterviewpartnerInnen.

ISBN 978-3-89656-575-4

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis an:

Querverlag GmbH

Akazienstraße 25, 10823 Berlin

www.querverlag.de

Für unsere Töchter

Hanna Streib und Clara Gerlach-Stenzel

Vorwort

Wowereit.tif

Kinder brauchen Eltern, die ihr Kind achten und beachten, die es behüten, die einfach da sind, die ihnen Wärme geben und Geborgenheit. Für ein Kind, das viel Liebe erfährt, mag es daher zunächst gewiss unerheblich sein, ob die Eltern nun heterosexuell sind oder ob es etwa mit zwei Müttern aufwächst.

Leider sieht das manch Außenstehender auch heute noch anders. Schwul-lesbisches Leben ist zwar weitaus selbstverständlicher geworden als noch vor wenigen Jahren, aber über gleichgeschlechtliche Partnerschaften mit Kind gehen die Meinungen nach wie vor weit auseinander. Da werden Vorbehalte laut, da sorgt sich manch einer um die Entwicklung des Kindes, da trauen andere zum Beispiel zwei Vätern die Elternrolle nicht zu.

Wie aber gehen Kinder mit solchen Vorurteilen um? Müssen sie im Alltag Spott und Hänseleien ertragen, nur weil ihre Eltern homosexuell sind? Welche Unterstützung erhoffen sie sich von ihren Eltern? Diesen und ähnlichen Fragen geht dieses Buch nach. Hier kommen Kinder aus Regenbogenfamilien selbst zu Wort. Sie erzählen von ihren Erfahrungen, von ihren Erwartungen an Elternhaus, Schule und das gesamte Umfeld, von ihren Hoffnungen, Träumen und Wünschen. Aufklärung und ein offensiverer Umgang mit dem Thema Homosexualität steht dabei für viele ganz oben auf der Wunschliste.

Deshalb verstehe ich dieses Buch auch als Aufruf an uns alle, für noch mehr Gleichberechtigung, Toleranz und auch Offenheit in unserer Gesellschaft zu sorgen. Ich wünsche mir ein Klima, in dem sich Kinder – egal, aus welchem Elternhaus sie nun kommen – jederzeit wohl und respektiert fühlen können und in dem es keine Rolle spielt, ob jemand schwul oder heterosexuell, katholisch oder jüdisch, türkischer oder deutscher Herkunft ist.

In diesem Sinne wünsche ich diesem Buch sehr viele Leserinnen und Leser.

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Klaus Wowereit

Der regierende Bürgermeister von Berlin

Einleitung

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„Wie kommt eigentlich deine Tochter damit zurecht, dass du mit einer Frau zusammenlebst?“ „Vermissen denn Ihre beiden Kinder nicht ihre Mutter, wenn sie von zwei Vätern erzogen werden?“ Fragen wie diese kennen sicher alle schwul oder lesbisch lebenden Eltern. Die mit Neugier, Interesse und zuweilen auch spürbarer Skepsis gestellten Fragen kommen sowohl von Lesben und Schwulen als auch von heterosexuellen Männern und Frauen, ob sie nun Kinder haben oder nicht.

Das Thema schlägt immer noch hohe Wellen. Im Zusammenhang mit der Novellierung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und der Diskussion um die Möglichkeit der Stiefkindadoption war dies besonders deutlich zu spüren. Es gibt sowohl politische als auch kirchliche Kräfte, die sich vehement dafür einsetzen, lesbische und schwule Familien weiterhin zu benachteiligen.

Ganz konventionell wird hier die heterosexuelle Familie zum alleinigen Maßstab erhoben und verteidigt. Unübersehbar, dass hier ein erbitterter Kampf um den Erhalt von Werten und heterosexueller Normierung tobt, wenn pauschal resümiert wird: „Kinder wollen und brauchen einen Vater und eine Mutter“1.

Wir finden, dass es höchste Zeit ist, die Kinder, die mit lesbischen Müttern oder schwulen Vätern aufwachsen, selbst einmal zu Wort kommen zu lassen, ihnen eine Stimme zu geben und die Diskussion zum Thema lesbisch-schwule Lebensweisen um die Perspektiven der Kinder zu erweitern.

Wir waren neugierig darauf zu hören, was die Kinder dazu sagen, dass sie in einer Familie aufwachsen, die nicht dem traditionellen heterosexuellen Familienmodell entspricht. Wir wollten wissen, welche Bedeutung es für sie hat, dass ihre Mutter Frauen liebt oder ihr Vater einen Mann geheiratet hat. Wir interessierten uns dafür, was sie kritisieren, was sie gerne an ihren Eltern ändern würden und was sie an ihnen schätzen. Und wir haben sie gefragt, was das ganz Besondere für sie an ihrer Familie ist. Von Jugendlichen, die verletzende und zurückweisende Reaktionen erlebt haben, war es uns wichtig zu erfahren, wie sie mit schwierigen Situationen umgegangen sind, welche Strategien sie entwickelt haben, von wem sie Unterstützung erfahren haben bzw. von wem sie sich Unterstützung gewünscht hätten.

Wir fanden es spannend zu hören, mit welchem Blick sie auf ihr eigenes Leben schauen, und begleiteten sie bei einem Zeitsprung in die Zukunft zu ihren Träumen und Visionen.

Insgesamt haben wir 36 Kinder, Jugendliche und Erwachsene zwischen sechs und 31 Jahren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz interviewt. Bei der Auswahl der InterviewpartnerInnen war es uns wichtig, möglichst viele unterschiedliche Kinder und Jugendliche zu Wort kommen zu lassen – wir wünschten uns Vielfalt im Hinblick auf Familienkonstellation, Alter, geographische, soziale und kulturelle Herkunft. Die Kontakte zu den InterviewpartnerInnen entstanden durch Annoncen und Artikel in Zeitungen, durch Aufrufe im Internet, durch Hinweise auf Veranstaltungen, durch Bekanntgabe in einschlägigen Netzwerken, sowie über persönliche Vermittlung. Besonders gefreut hat uns, wenn sich Kinder und Jugendliche selbst bei uns gemeldet haben und uns mitteilten: „Ich finde es klasse, dass Sie die Kinder fragen, ich würde zu diesem Thema gerne etwas sagen.“ Andere reagierten eher skeptisch: „Weshalb soll es denn so wichtig sein, dass meine Mutter lesbisch ist, dass Sie darüber ein ganzes Buch machen wollen?“

Durchgeführt haben wir die Gespräche meistens bei den Kindern und Jugendlichen zu Hause, in dem Wissen, dass das Erzählen der eigenen, zuweilen sehr persönlichen Geschichte in einem vertrauten Rahmen eine größere Offenheit zulässt. Dazu gehörte auch, dass die Gespräche alleine mit den Kindern geführt wurden, wobei wir hier Wünsche unserer GastgeberInnen oder auch räumliche Gegebenheiten berücksichtigten.

Bei der Durchführung der Interviews haben wir uns – auch wenn das vorliegende Buch nicht den Anspruch erhebt, Ergebnis einer wissenschaftlichen Untersuchung zu sein – an der Methode des Offenen Interviews orientiert, das auf Leitfadenfragen basiert, aber so wenig wie möglich vorstrukturiert und lenkt. Damit hatten unsere GesprächspartnerInnen Raum, die für sie wichtigen und bedeutsamen Themen anzusprechen.

Die meisten unserer InterviewpartnerInnen haben sich entschieden, dass ihre Geschichte unter ihrem realen Namen erscheinen soll. Einige jedoch hatten nachvollziehbare Gründe, dies nicht zu tun. Marie wollte nicht ohne Einverständnis ihres Vaters seine und ihre Geschichte in einem Buch öffentlich machen; seine Zustimmung konnte sie jedoch nicht mehr erfragen, weil er verstorben ist. Ahmed möchte aufgrund der schwierigen Situation seiner Familie, deren Antrag auf Asyl abgelehnt wurde, seine Identität geheim halten. David und Esther haben ihre Geschichte unter anderen Namen erzählt, weil sie mit ihrem Vater nicht offen über die lesbische Beziehung ihrer Mutter sprechen. Die Mutter von Anna und Matthias braucht aus beruflichen Gründen den Schutz der Anonymität.

Je nach Alter bzw. verbaler Ausdrucksfähigkeit der InterviewpartnerInnen und je nachdem, wie es uns als Interviewerinnen im Kontakt mit unseren GesprächspartnerInnen gelang, eine vertrauensvolle und offene Gesprächsatmosphäre herzustellen, hatten die Gespräche eine Länge von 30 bis 120 Minuten. Die Interviews wurden auf Tonträger aufgezeichnet und anschließend transkribiert. Aus dieser Fülle von Informationen haben wir die zentralen Themen herausgefiltert und einen Text verfasst, der die jeweilige Person porträtiert und ihre Anliegen zum Ausdruck bringt. Unsere Fragen waren ein Angebot für die GesprächspartnerInnen, über einen wichtigen Aspekt ihres Lebens, nämlich ihr Aufwachsen in einer Regenbogenfamilie, zu reflektieren. Dieses Angebot haben sie angenommen und uns an ihrem oft sehr intensiven Prozess teilhaben lassen. Sie haben uns ihre Geschichte erzählt – oder vielmehr die vielen verschiedenen großen bedeutsamen und die eher nebensächlich scheinenden Geschichten, aus denen sich ihr Leben zusammensetzt. Wobei immer wieder spürbar war, dass sich Bedeutungen und Bewertungen verändern, unmerklich, „einfach so“ oder als bewusst inszenierter Prozess.

Wir gehen von der systemisch-konstruktivistischen Denkweise aus, die annimmt, dass die Welt nicht als objektiv gegebene existiert, sondern, dass wir sie durch die Art und Weise, wie wir über sie sprechen, entstehen lassen. Das heißt natürlich auch, dass wir in der Rolle der Fragenden die verschiedenen Geschichten mit unseren Bewertungen versehen und diese in jedes der Porträts „eingeschrieben“ haben. „Ein Dialog kann, ebenso wie ein Gedicht, vielfach interpretierbar sein“ (Gunnar Grieger). Die Begegnung mit unseren GesprächspartnerInnen haben wir als einen Dialog im Prozess erlebt: Auf unsere Fragen folgten ihre Erzählungen, die wir miteinander verwoben und zusammengefasst haben, um sie dann den jeweiligen ErzählerInnen noch einmal vorzulegen. Denn uns lag am Herzen, dass sich alle, die uns ihre Geschichte mitgeteilt haben, in „ihren“ – von uns verfassten – Texten wiederfinden.

Mit der Veröffentlichung der Texte geben wir diese Geschichten nun an Sie, die Leserinnen und Leser, weiter. Damit möchten wir Sie einladen, in die Geschichten einzutauchen und dabei Ihre eigenen Bedeutungen hineinzulesen. Freuen Sie sich auf spannende Begegnungen!

Stephanie Gerlach, München

Uli Streib-Brzicˇ, Berlin

im Juni 2005

Felix (12) und Antonia (10)

„Ich hab es den Erzieherinnen erzählt, noch bevor Mama das denen gesagt hat.“

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„Also anders, als wie es jetzt ist, könnte ich es mir gar nicht mehr vorstellen“ und dass es jetzt besser ist als vorher, da sind sich Antonia und Felix beide ganz sicher. „Eigentlich ist es ja so, als ob Sabine der Papa wär, nur dass es halt so geworden ist, dass wir jetzt zwei Mütter haben.“ Antonia ist jetzt zehn Jahre alt, Felix zwölf.

Seit fünf Jahren leben sie hier in dem kleinen Städtchen Betzdorf, in dem Haus am Hang mit einem weiten Blick ins Tal, wo sich die Sieg entlang schlängelt, zusammen mit ihren beiden Müttern Anne und Sabine, dem Hund Tilly, der schreckliche Angst vor Silvesterraketen hat, der kleinen verspielten Katze Emma und Helmut, dem Kater.

Eingezogen in dieses Haus sind sie kurz nach Antonias viertem Geburtstag zusammen mit ihrem Papa und ihrer Mama Anne, aber da gab es zuletzt hauptsächlich Streit.

Dann ist Papa ausgezogen. Wenn sie jetzt zum Papa gehen, so berichten die beiden, „dann finden wir das toll, weil wir dann immer etwas unternehmen. Gestern zum Beispiel haben wir eine Radtour gemacht“, erzählt Antonia. „Und“, ergänzt Felix und grinst verschmitzt, „ich bin dann den beiden immer davon gerast, weil ich es toll finde, so schnell zu fahren, wie ich kann, und war genervt, dass ich immer wieder ewig auf Antonia und Papa warten musste.“ Er verdreht die Augen. „Wieso musst du denn auch immer so weit voraus fahren“, ärgert sich Antonia. Über so was, so erklären die beiden, bekämen sie immer wieder aufs neue Streit. Und die Fernbedienung, die sei auch jeden Tag ein Thema. Die Einigung, die sie getroffen haben, klappt nämlich meistens, aber nicht immer, denn zwar haben sie vereinbart, dass Antonia sie bekommt, wenn sie zu Hause, und Felix, wenn sie beim Papa sind, aber an den Tagen, an denen sie morgens in dem einen Zuhause und nachmittags in dem anderen sind, gerät die Regel jedes Mal aus den Fugen.

„Aber meistens verstehen wir uns ganz gut“, sagt Felix. „Ja, oft ist er eigentlich ganz nett“, ergänzt Antonia.

Für Antonia und Felix ist ganz klar, dass sie was besonderes sind, hier in der Kleinstadt. Die meisten Kinder leben mit Vater und Mutter zusammen, sie aber haben nicht nur zwei Eltern, sondern drei, und zwar zwei Mütter und einen Vater. Eigentlich klar, dass sich die anderen wundern, wenn sie das erste Mal hören, dass Felix und Antonia zwei Mütter haben. „Manche glauben das erst mal nicht und sagen: ‚Echt, das glaub ich nicht‘“, erzählt Felix. „Doch“, antwortet Felix dann, „das stimmt und wenn dann mein Freund, der Robert, dazu kommt, sagt der dann auch: ‚Doch es stimmt schon.‘“ Nach diesen klaren Ansagen wissen die anderen Bescheid und die meisten nehmen es „so wie es ist“, berichtet Felix.

Antonia hat bisher auch nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ihre Mama eine Frau liebt und nun mit einer Frau verheiratet ist. „Schon im Kindergarten war ich so ein Plappermäulchen“, lacht sie, „da hab ich das den Erzieherinnen erzählt, noch bevor Mama das denen gesagt hat.“ Anne ging dann kurz darauf persönlich zu den Erzieherinnen, mit einer Flasche Sekt, denn die freudige Nachricht, dass sie sich neu verliebt hatte, war ja durchaus was zum Feiern.

„Seitdem sind sie Freundinnen“, erzählen Felix und Antonia, „sie waren dann auch bei der Hochzeit dabei.“ Auch dieses Ereignis war etwas Außergewöhnliches. Denn als Anne und Sabine heiraten, sind sie das erste Frauenpaar im Landkreis, das im Rathaus in einer feierlichen Zeremonie eine Lebenspartnerschaft begründete. Und natürlich war das eine Sensation im Ort. „Das war sogar in der Zeitung“, erzählt Felix und holt das Album mit den Fotos aus dem Schrank, „obwohl die Mama und die Sabine das gar nicht wollten.“ Und Felix und Antonia wissen auch, „dass die in der Zeitung Sachen geschrieben haben, die gar nicht stimmen.“ Antonia liest vor: „Also hier steht, ‚die beiden Frauen, die sich offiziell zum Paar erklären‘ – also das stimmt jetzt schon mal“ sagt Antonia und lacht. „Jedenfalls hat meine Lehrerin den Artikel ausgeschnitten und überall im Lehrerzimmer rumgezeigt, für die war das schon was Besonderes, weil sie uns ja kannte.“

Sie sind also eine Familie, die anders ist als die meisten Familien in der Kleinstadt, und für viele ist das kein Grund zum Komisch-Gucken oder Komisch-darüber-Reden, für einige wenige aber doch. Und Felix und Antonia finden, dass die ganz schön nerven.

„Ein Junge aus meiner Schule zum Beispiel“, erzählt Felix „den haben wir getroffen, das war im Winter, als ich mit Anne und Sabine an der Schlittenbahn vorbeigelaufen bin, und wir haben ihn gegrüßt und dann hat er uns hinterhergerufen: ‚Lesben, Lesben!‘. Also eigentlich finde ich den auch ziemlich doof und Mama und Sabine haben auch nichts zurückgesagt.“

„Na ja“, mischt sich Antonia ein, „außerdem stimmt es ja, was er gesagt hat, oder etwa nicht?“

Sie hat festgestellt, dass die, die blöde Sachen sagen, irgendwann damit aufhören, wenn man sich nicht darüber ärgert oder zumindest nicht zeigt, dass man sich ärgert. In ihrer Grundschulklasse da war anfangs ein Junge, der über Antonia und ihre Mütter gelacht und gelästert hat. „Ich hab dann mit meiner Freundin darüber geredet und die hat dann gesagt: ‚Hör nicht darauf, lass ihn doch einfach dumm stehen und dumm schwätzen‘, ja, und dann hab ich das gemacht und dann hat es aufgehört. Aber es ist natürlich kein so tolles Gefühl, wenn einer über deine Eltern lästert.“ Und wirkungsvoll war auch, als sie auf einen der Jungs, den vorlautesten ihrer Realschulklasse, zugeht und ihn an der Jacke festhält: „Da hab ich ihn gefragt, ob er eigentlich weiß, was er da redet, ob er denn weiß, was das ist, schwul, oder ob er das nur so als Ausdruck nimmt. Ja, und dann hat er gesagt: ‚Ej, lass mich los, lass mich in Ruhe!‘, der wollte gar nicht darüber sprechen, ich glaube, der wusste gar nicht, was er sagen sollte.“

Felix ärgert sich über einen Jungen, der, wenn sie so im Spaß miteinander kabbeln, kämpfen oder boxen, oder wenn aus Spaß schon ein bisschen Ernst wird und sie sich kneifen oder schubsen: „Ej, du Schwuli!“ ruft. „Manchmal sag ich das dann auch zurück, obwohl ich das gar nicht so meine“, erzählt Felix und schüttelt den Kopf. Dann sagt er nach kurzem Nachdenken: „Aber eigentlich finde ich, der ist viel mehr schwul als ich, weil der mich ja viel mehr kratzt.“ Aber nicht nur Felix ist von diesem Jungen genervt, auch seine Freunde finden, dass man diesem Jungen eigentlich mal grundsätzlich die Meinung sagen müsste.

Und, ergänzt Antonia, denen, die dicke Kinder hänseln oder blöde Kommentare zu den türkischen Mädchen sagen, ebenfalls.

Antonia und Felix sind schon länger aktiv beim Kinderzirkus im Ort, fahren im Sommer regelmäßig zu einem Zirkuscamp für Kinder und sind auch schon mehrmals mit Zirkusnummern aufgetreten. Jong­lieren, Trampolinspringen, Tellerdrehen, Devilsticks oder Diabolos blitzschnell hin- und her balancieren lassen, Akrobatik auf dem Einrad – eigentlich finden Felix und Antonia alles toll, vielleicht am allerbesten aber gefällt ihnen das Jonglieren und sie zeigen mir auch, wie gut sie das schon beherrschen. Hochkonzentriert die Blicke, die Wangen gerötet sehen sie schon ziemlich professionell aus, wie sie die bunten Bälle in ihren Lieblingsfarben – orange und hellgrün, gelb und blau – elegant auffangen, energisch wieder hochwerfen, sie erwischen, und schon wirbeln die Bälle wieder bunt durch die Luft. Bis einer fällt und das ganze Spiel von Neuem beginnt.

Felix ist sich sicher, dass das einmal sein Beruf wird. Er möchte gern Artist werden und Akrobatik studieren, am liebsten irgendwo im Ausland, in Straßburg vielleicht, wie Sabine, die ebenfalls dort studiert hat. Antonia dagegen hat vor – wie ihre Mütter, die Ärztin und Hebamme sind – heilend tätig zu sein, sie möchte Medizin studieren und Tierärztin werden. Ihr Traum ist es, auf dem Land zu leben, in einem richtigen Bauernhaus, die Felder und Wiesen direkt vor der Tür, dort, so träumt sie, wohnt sie mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern. Vielleicht will sie auch mal nur ein Kind, „weil ich will ihm das nicht antun mit einem Geschwister, mit dem es sich andauernd zankt“, sagt sie mit einem Seitenblick auf Felix, „oder eben Zwillinge.“

Die kleine Katze Emma ist übrigens auch schon in die Kunst der Akrobatik einbezogen und balanciert Felix galant und erhaben über Schultern und Nacken die Arme entlang.

Dann springt sie auf den Boden und miaut.

Georg (17)

„Die hätten ja mal fragen können.“

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„Morgen ziehe ich aus!“, verkündet Georg, als er mich zwischen den Umzugskartons, die sich im Flur stapeln, ins Wohnzimmer führt.

Kurz vor seinem 18. Geburtstag, findet er, wird es höchste Zeit, dass sein Vater Geerd und er sich räumlich voneinander trennen. Wenn auch nicht allzu weit – im gleichen Haus im Berliner Bezirk Charlottenburg werden sie weiterhin wohnen, Georg im vierten Stock, Geerd im dritten: „Dann kann ich ihm auf dem Kopf rumtanzen“, sagt er mit einem Augenzwinkern.

Die erste eigene Wohnung. Georg freut sich: „Endlich keine Verhandlungen mehr darüber, wer wann mit Staubsaugen dran ist und wer die Spülmaschine ausräumt“ und keine Diskussion mehr darüber, ob sein Zimmer ordentlich oder unordentlich sei. „Meine Unordnung ist meine Ordnung“, sagt er entschieden. Schließlich sei es ja wichtig, „dass ich alles finde, was ich suche, und nicht er.“

Auf eigenen Füßen stehen lernen und für sich selbst verantwortlich sein, das steht jetzt an.

Georg wohnt, seitdem er elf ist und seine Mutter und Geerd sich getrennt haben, mit Geerd zusammen. Meistens zu zweit, immer wieder einmal auch zu dritt, wenn einer der Freunde des Vaters einzog und sie als Familie zusammenlebten. Manche blieben zu kurz, als dass sie wirklich Co-Vater für ihn waren, „aber einer war wirklich wie ein Vater für mich da, hat viel mit mir unternommen, ist mit uns verreist, hat gekocht und hatte wirklich ganz viel Zeit für mich.“ Wenn Georg von seinem Vater spricht, sind die Wertschätzung und Verbundenheit, die er ihm gegenüber empfindet, zu spüren. Seine Entscheidung, mit Männern zu leben, kam ihm als „was ganz Natürliches vor.“ Schließlich, so erzählt er, „hatte mein Vater immer schon Beziehungen mit Männern – auch bevor er meine Mutter geheiratet hat – nur irgendwann war’s eben für ihn klar, dass er sich mehr zu Männern hingezogen fühlt.“

Aber dennoch weiß Georg, dass Geerd es ablehnt, in eine Schublade gesteckt zu werden: „Er sagt immer, es könnte ihm ja schließlich auch mal ’ne Frau begegnen, in die er sich verlieben würde.“

Diese Offenheit gefällt Georg, und die hat er ebenfalls als Lebensmotto für sich übernommen, nur eben umgekehrt: Seit eineinhalb Jahren unsterblich-unglücklich in seine Tanzpartnerin verliebt, schaut er durchaus auch Männern hinterher – oder in die Augen. „Mein Tanzlehrer zum Beispiel – der strahlt so eine Erotik aus“, schwärmt Georg.

Er grinst. Wie er sich definiere? „Oh, ich hatte eine so schöne Bezeichnung gefunden, ‚Tunte mit heterosexueller Orientierung‘“, sagt er und erzählt amüsiert, wie er auf dem letzten Christopher-Street-Day in langem pinkfarbenem Kleid und Highheels stolzierte, auf dem Rücken gut sichtbar ein Schild, das warnte: ‚Ich bin hetero‘ und an seiner Seite Geerd und Geerds bester Freund „als Bodyguards“.

Mittlerweile hat er genügend Selbstbewusstsein für Provokationen dieser Art und einen spielerischen Umgang mit seiner sexuellen Identität. Etwas, das er sich hart erkämpft hat. „Erst in der Berufsschule und im Tanzkurs habe ich geschafft, mehr aus mir herauszugehen, und dort habe ich dann auch meine besten Freunde kennen gelernt.“

Früher, in der Schule, stand Georg eher außerhalb der Jungscliquen, fühlte sich nicht zugehörig und ärgerte sich maßlos, wenn dieselben Jungs, die sich nachmittags bei Georg zu Hause mit seinem Vater prächtig verstanden und Georg um diesen „echt coolen Vater“ beneideten, in der Schule in der Gruppe zusammenstanden und mit künstlich hoher Stimme „haititaiti“ riefen, wenn Georg vorbeikam. Georg war nicht schlagfertig genug, um zu kontern oder sich mit ihnen zu streiten: „Aggressiv werden, das lag mir noch nie.“ Stattdessen zog Georg sich zurück, distanzierte sich, fühlte sich einsam, litt. Und war froh, als er nach der zehnten Klasse abging, um seine Ausbildung zu beginnen.

Heute, aus der Distanz heraus betrachtet, glaubt er, „dass es ihnen anscheinend nur darum ging, dazu zu gehören – obwohl sie Schwule eigentlich gar nicht so blöd fanden, wie sie taten.“

Georg hat erst in den letzten Jahren gelernt, anderen seine Meinung ins Gesicht zu sagen. Mit seiner Power, die er heute besitzt, sagt er, würde er „die ansprechen und fragen: ‚Ej, wieso machst du das eigentlich?‘“ und sich nicht mit einer läppischen Antwort zufrieden geben.

Zeitweilig war sich Georg überhaupt nicht so sicher, ob das so gut war, dass in der Schule alle Bescheid wussten, dass sein Vater schwul ist. Zwar sind die Lehrer „eigentlich gar nicht anders“ mit ihm umgegangen, nachdem sie wussten, dass Georgs Vater Beziehungen mit Männern hat. Georg hatte eher den Eindruck, dass „sie auf mich ein Auge mehr geworfen“ haben, und im Blick hatten, dass Georg, einer der Stillen der Klasse, Unterstützung brauchte.

Dennoch hätte er sich von den Lehrern gewünscht, dass sie sich eindeutiger positionierten, entschiedener Vorurteilen entgegen gesteuert hätten, „wenn sie zum Beispiel gefragt hätten: ‚Was gibt’s denn da zu lachen?‘“, sobald die Jungs, die sich in der Gruppe immer so cool gaben, lauthals über Schwule lästerten und Witze rissen. Aber stattdessen haben die Lehrer und Lehrerinnen lieber schnell das Thema gewechselt. Auch der Religionslehrer, selbst schwul, kapitulierte angesichts der Unruhe, die die Diskussion über Homosexualität in der Klasse auslöste. „Danach war dann das Thema Vampire dran.“ Georg zuckt mit den Achseln. „Aber sonst fand ich die Themen in Religion immer ganz okay.“

Wichtig in dieser Zeit war für Georg, dass er sich der Unterstützung durch die Oma, die immer ein offenes Ohr für ihn hatte, eine Frau, die selbst viele Schwule und Lesben im Freundes- und Bekanntenkreis versammelte, immer sicher sein konnte. Und natürlich die von Geerd. Nicht dass er Geerds Exaltierheit niemals peinlich gefunden hätte, wenn Geerd zum Beispiel – so wie neulich – als Drag Queen Geburtstag feiert „und alle Gäste sich erst mal wundern und fragen: ‚Huch, wo ist denn das Geburtstagskind?‘, aber dann finden es doch alle ganz witzig.“

Auch Geerds unverblümte Art hätte Georg zuweilen lieber mal leiser gedreht. Denn damals, als er beim Elternabend auf die Wahlliste der Elternvertreter gesetzt wurde, sagte Geerd ganz direkt: „Ihr könnt mich gerne wählen, aber vorher möchte ich, dass ihr wisst, dass ich homosexuell bin!“ Er wurde Elternsprecher. Georg lächelt.

Und da ist ja auch noch der Beruf, der beide verbindet. „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“, sagt Georg belustigt. Ja, Friseur das sei er „aus Überzeugung“ – und das glaube ich ihm sofort, denn seine Begeisterung, wenn er davon erzählt, wie er seine Kunden berät, welche Frisur er empfiehlt und welche Farbe er auswählt, ist zu spüren. Am allermeisten reizt ihn selbstverständlich das Extravagante: „Es macht natürlich mehr Spaß, wenn man mit Farbe spielen kann und irgendwas schneidet, wie es einem gerade so aus der Seele rauskommt.“

Er weiß auch durchaus, was einen guten Friseur außer handwerklichem Können auszeichnet: „Als Friseur bist du eben auch ein Stück weit Therapeut, wenn die Leute kommen, unglücklich, weil die Haare nicht sitzen, und sie überhaupt ihr ganzes Leben Scheiße finden und ich ihnen dann eine neue Frisur verpasse und sie gehen mit einem Lächeln raus – das find ich klasse.“

Im nächsten Jahr erhält Georg seinen Gesellenbrief und er hat ehrgeizige Pläne für seine berufliche Zukunft: „Starfriseur will ich vielleicht nicht gerade werden“ – aber warum eigentlich nicht? Er sprüht vor Ideen, seinen Beruf mit Events zu koppeln und etwas Extraordinäres und Besonderes zu entwickeln. Dennoch: Zeit für seine neue Leidenschaft muss es auf jeden Fall auch noch geben.

Georg ist begeisterter Standard- und Latein-Tänzer – das passt gut zu seiner quecksilbrigen Lebendigkeit und seinem offensichtlichen Spaß, sich mit seinem Körper auszudrücken. Ich kann mir gut vorstellen, wie er und seine Tanzpartnerin beim Tango oder Paso Doble durch den Raum wirbeln. Auch hier hat Georg durchaus Ambitionen: „Auf jeden Fall wollen wir auf Turniertanz hinaus.“

In seiner Stimme eine Entschiedenheit, die keinen Zweifel zulässt.

Im letzten Herbst hat Georg im Garten einen Mammutbaum gepflanzt. Erst 80 Zentimeter hoch ist das Sequoia-Bäumchen, und es wird eine Weile dauern, bis ein richtig groß gewachsener Baum aus ihm geworden ist. Georg weiß, dass man warten können muss. Darauf und auch bis die große Liebe vorbeischaut – auch wenn es einen von den Haar- bis zu den Zehenspitzen vor Ungeduld kribbelt.

Melanie (19)

„Lesbischsein ist doch keine ansteckende Krankheit!“

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„Meine Mama hat es wirklich nicht leicht mit mir gehabt“, seufzt Melanie und dreht eine Haarsträhne ihrer schwarzgefärbten Mähne zwischen den Fingern. Haare und Frisuren sind ein wichtiges Thema für sie. Melanie ist Friseurin und war mit 18 die jüngste Gesellin ihres Jahrgangs, wie sie stolz betont. Der Beruf macht ihr Spaß, auch wenn der Verdienst eher bescheiden ist.

Die 19-Jährige lebt zur Zeit bei ihren Großeltern, „weil ich da die beste Verbindung habe, um zur Arbeit zu kommen“, aber eigentlich ist sie fast nur bei ihrem Freund, mit dem sie gerne im kommenden Jahr zusammenziehen würde.

Melanies Eltern trennen sich, als sie ungefähr sieben ist. Die kleine Familie – Melanie ist Einzelkind – lebt in einem Dorf im Saarland. „Also am Anfang, da war das schon schlimm. Der Papa war einfach nicht mehr da. Aber danach habe ich ihn immer gesehen, wenn ich wollte, und dann war das ganz normal. Ich habe es ja nicht anders gekannt.“

Melanie ist neun, als ihre Mutter die erste „richtige“ Freundin hat. Melanies Mutter redet mit ihrer Tochter von Anfang an Klartext. Sie erklärt ihr, dass sie jetzt lesbisch sei und dass Melanie alles fragen könne. Melanie weiß nicht so recht, was sie mit dieser Information anfangen soll. Diese neue Frau ist jetzt da und damit muss sie sich arrangieren. Das ist schwierig genug. „Am Anfang bin ich gut mit ihr klar gekommen, wir hatten auch viel Spaß. Aber dann wollte sie mir immer vorschreiben, was ich tun sollte oder wann ich lernen muss. Ich habe dann immer gesagt: ‚Du bist nicht meine Mama.‘ Zu dieser Zeit hatten meine Mutter und ich fast nur Streit, auch wenn ich sagen muss, dass sie eigentlich fast immer zu mir gehalten hat. Aber ich war einfach stur und konnte nicht anders.“

Als Melanie auf die Gesamtschule kommt und zum ersten Mal „Scheißschwuler“ und „blöde Lesbe“ auf dem Schulhof hört, da dämmmert ihr, dass diese Worte etwas mit ihrem eigenen Leben zu tun haben. „Und da habe ich erst irgendwie verstanden, dass meine Mama jetzt wirklich mit einer Frau zusammen ist.“

Als es in der Schule rauskommt, wird Melanie gefragt, ob sie jetzt auch lesbisch wird. Sie regt sich auf: „So eine blöde Frage war das, Lesbischsein ist doch keine ansteckende Krankheit.“

Aber darüber reden will Melanie in dieser Zeit nicht. In der Schule nicht und zu Hause auch nicht. Mit niemandem. Und das Leben auf dem Dorf hat seine eigenen Gesetze. Immer wenn wieder jemand fragt: „Und – hast du schon einen neuen Papa?“, sagt Melanie: „Nein, lass mich in Ruhe.“ Melanie will nicht, dass „es“ rauskommt, weil sie nicht weiß, wie die Leute darauf reagieren. Sie steht deshalb so sehr unter Druck, dass sie anfängt, alles in sich reinzufressen. „Ich glaube, ich musste erst mal selber realisieren, was lesbisch und schwul ist. Dass das nichts Schlimmes ist. Das hat sehr lange gedauert.“

Die große Wende in Melanies Leben tritt ein, als sie 13 oder 14 Jahre alt ist. Sie lernt ihren besten Freund kennen. Und der ist schwul. Nachdem die beiden kurz ein Paar waren, outet er sich. Melanies Mutter hatte dies von Anfang an geahnt; für Melanie ist es eine Überraschung. „Ich war ja verliebt bis über beide Ohren. Als er es dann gesagt hat, war’s aber okay für mich.“ Die beiden fangen an, regelmäßig in schwul-lesbische Kneipen zu gehen, ab und zu auch mit Melanies Mutter und deren Freundin. Zum ersten Mal spricht Melanie mit jemandem über die Tatsache, eine lesbische Mutter zu haben. Endlich muss sie sich nicht mehr vor ablehnenden Reaktionen fürchten. Da war einer, der weiß, worum es geht. Melanie kennt zu dieser Zeit außer ihrer Mutter und ihrem besten Freund keine anderen Lesben und Schwulen und steckt voller Vorurteile. „Bis wir dann in die Kneipen gegangen sind und ich gemerkt habe: Das sind ja ganz normale Leute.“ Melanie geht es zunehmend besser, die Beziehung zur Mutter entspannt sich.

Kurz darauf trennen sich Melanies Mutter und ihre Freundin. Melanies Mutter ist in dieser Zeit sehr unglücklich und für ihre Tochter nicht mehr in dem Maß zugänglich, wie es Melanie gebraucht hätte. „Sie war total fertig und für mich nicht mehr so da wie früher. Aus lauter Trotz bin ich dann Hals über Kopf ausgezogen, ohne irgendetwas zu sagen. Da war ich dann bei meinem Vater und habe alles bekommen, was ich wollte. Fast ein ganzes Jahr hatten meine Mutter und ich so gut wie keinen Kontakt mehr. Aber dann habe ich gemerkt, dass ich meine Mama vermisse, und wir haben uns ausgesprochen.“

Heute ist das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter sehr gut, die beiden sehen sich zwei- bis dreimal in der Woche. Sie treffen sich in der Stadt oder Melanie fährt zur Mutter.