Begründet von
Theo W. Herrmann (†)
Werner H. Tack
Frank E. Weinert (†)
Herausgegeben von
Marcus Hasselhorn
Herbert Heuer
Silvia Schneider
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1. Auflage 2014
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-022270-0
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-024994-3
epub: ISBN 978-3-17-024995-0
mobi: ISBN 978-3-17-024996-7
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Prof. Dr. Gisa Aschersleben
Universität des Saarlandes
Arbeitseinheit Entwicklungspsychologie
Campus A 1.3
66123 Saarbrücken
aschersleben@mx.uni-saarland.de
Prof. Dr. Moritz Daum
Universität Zürich
Psychologisches Institut
Entwicklungspsychologie
Binzmühlestraße 14, Box 21
CH-8050 Zürich
daum@psychologie.uzh.ch
Dr. Arvid Herwig
Universität Bielefeld
Fakultät für Psychologie und
Sportwissenschaft
Abteilung für Psychologie
Universitätsstraße 25
33615 Bielefeld
arvid.herwig@uni-bielefeld.de
Dr. Esther Kuehn
Max-Planck-Institut für Kognitionsund
Neurowissenschaften
Abteilung Neurologie
Stephanstraße 1a
04103 Leipzig
ekuehn@cbs.mpg.de
Prof. Dr. Wolfgang Prinz
Max-Planck-Institut für Kognitionsund
Neurowissenschaften
Stephanstraße 1 a
04103 Leipzig
prinz@cbs.mpg.de
Dr. Simone Schütz-Bosbach
Max-Planck-Institut für Kognitionsund
Neurowissenschaften
Max-Planck-Forschungsgruppe »Körperrepräsentation
und Selbstkonzept«
Stephanstraße 1 a
04103 Leipzig
bosbach@cbs.mpg.de
Box 1.1 | Empirische Psychologie des 18. Jahrhunderts: Wie die Seele auf den Körper wirkt | |
Box 1.2 | Experimentelle Willenspsychologie des frühen 20. Jahrhunderts: Die Determinationsexperimente von Narziß Ach | |
Box 1.3 | Was man alles gleichzeitig machen kann | |
Box 1.4 | Über Ziele und Zielbegriffe | |
Box 1.5 | Verantwortung, Autonomie, Willensfreiheit | |
Box 1.6 | Wie Regler Ziele erreichen | |
Box 1.7 | Handlungen erklären: Drei Konzepte im Vergleich | |
Box 2.1 | Welche Rolle spielen Intentionen beim Erwerb von Handlungswissen? | |
Box 2.2 | Zielabhängige Nutzung von Handlungswissen | |
Box 2.3 | Wessen Absichten steuern ideomotorische Handlungen? | |
Box 3.1 | Johanssons Point-light-Technik | |
Box 3.2 | Das menschliche Gehirn in Aktion – Methoden der Kognitiven Neurowissenschaften | |
Box 3.3 | Spiegelneuronen: Angeboren oder erworben? | |
Box 3.4 | Spiegelneuronen und Empathie | |
Box 3.5 | Die These der direkten sozialen Wahrnehmung | |
Box 3.6 | Das Libet-Experiment und die Willensfreiheit | |
Box 3.7 | Willensstörungen | |
Box 3.8 | Imitation versus Komplementarität | |
Box 4.1 | Maße für die frühkindliche Handlungswahrnehmung: Blickzeiten und antizipatorische Augenbewegungen | |
Box 4.2 | Still-Face-Paradigma | |
Box 4.3 | Theoretische Aspekte des Selbst | |
Box 4.4 | Selbsterkennen im Spiegel |
In diesem Buch geht es um Handlungen. Was heißt das? Was meinen wir, wenn wir von Handlungen sprechen? Was sind eigentlich Handlungen und wie kommen sie zustande? Auf Fragen, die so allgemein sind wie diese, gibt es meist mehrere richtige Antworten. Welche Antwort man gibt, hängt davon ab, aus welcher Perspektive man auf den in Frage stehenden Gegenstand blickt.
Die Perspektive, die wir hier einnehmen, ist die der experimentellen Kognitionspsychologie. Die Perspektive ist also – erstens – psychologisch, nicht philosophisch, historisch, ethnologisch, soziologisch, theologisch, historisch etc. Das bedeutet, dass wir Handlungen auf der Ebene des agierenden Individuums betrachten und die (natürlich ebenso legitimen) Ebenen der sozialen Systeme und der normativen Regularien, in die sie eingebettet sind, ausblenden. Die Perspektive ist – zweitens – kognitionspsychologisch, nicht motivations- oder sozialpsychologisch. Das bedeutet, dass wir uns auf die kognitiven Prozesse und Mechanismen konzentrieren, die Handlungen zugrunde liegen, und die (natürlich ebenso wichtigen) motivationalen und sozialen Bedingungen weitgehend ausklammern. Und schließlich ist die Perspektive – drittens – experimentalpsychologisch. Das bedeutet, dass wir die empirische Verankerung dieser theoretischen Vorstellungen in experimentellen Aufgaben und Versuchsanordnungen suchen.
Noch vor 20 Jahren hätte ein Buch, das sich diesem thematischen Zuschnitt verschreibt, kaum etwas zu berichten gehabt. In den letzten zwei Jahrzehnten ist aber zweierlei geschehen, das die Situation grundlegend verändert hat. Auf theoretischem Gebiet haben wir die Wiederbelebung und Weiterentwicklung von Konzepten und Ansätzen gesehen, die ein neues Verständnis der schwierigen Beziehung zwischen Kognition und Handlung begründen. Hierzu zählt vor allem der ideomotorische Ansatz, dessen Leitideen ein neues Forschungsprogramm inspiriert haben. Parallel dazu hat die Umsetzung dieses Programms auf methodischem Gebiet eine Reihe neuer experimenteller Paradigmen hervorgebracht, die diese Leitideen auf eine empirische Grundlage stellen.
Das Einleitungskapitel stellt diese neuen Entwicklungen vor. Vor allem versucht es, die historischen und systematischen Hintergründe verständlich zu machen, in die sie eingebettet sind. Bevor wir also die Leitideen der ideomotorischen Theorie und der experimentellen Handlungsforschung vorstellen ( Abschn. 1.3 und Abschn. 1.4), werfen wir einen Blick auf die historischen und systematischen Kontexte, aus denen diese Leitideen hervorgegangen sind. Zunächst fragen wir, was psychologische und speziell kognitionspsychologische Handlungsforschung ausmacht ( Abschn. 1.1). Anschließend untersuchen wir, was es überhaupt heißt, Handlungen zu verstehen ( Abschn. 1.2).
Im Verständnis des Laienpublikums beschäftigt sich Psychologie mit den Gedanken und Gefühlen, die Menschen durch den Kopf gehen. Wenn das so ist, ist klar, dass kognitive Prozesse zu den zentralen Gegenständen dieser Wissenschaft gehören. Psychologie soll klären, wie Gedanken entstehen und aufeinander folgen, wie Wissen und Erinnerung entstehen und wie wir unsere Umgebung wahrnehmen und verstehen.
Weniger im Fokus ist demgegenüber, was Menschen tun. Was sie tun, folgt zwar manchmal aus dem, was ihnen zuvor durch den Kopf gegangen ist, gehört aber selbst nicht zu dem, was ihnen durch den Kopf geht. Handlungen können nach diesem Verständnis das Ergebnis von kognitiven Prozessen sein, scheinen aber einen anderen Status zu haben als diese Prozesse selbst. Wenn z. B. jemand nachdenkt, was sie in einer bestimmten Situation tun soll, gelten die kognitiven Prozesse, die zur Handlungsentscheidung führen, als psychologisch interessant. Wenn sie dann aber tut, was sie sich überlegt hat, gilt die Handlung selbst nur noch als mehr oder weniger triviales Ergebnis dieser Prozesse. Wie es danach scheint, endet die Zuständigkeit der Psychologie, wenn die Handlung beginnt.
Dass Kognition und Handlung unterschiedliche Aufmerksamkeit und Wertschätzung erfahren, gilt aber nicht nur für die Laienperspektive, sondern auch für die Geschichte und Systematik der wissenschaftlichen Psychologie. Auch hier steht Kognitionsforschung im Vordergrund, während Handlungsforschung nur ein randständiges Dasein führt. Dass das so ist (und sich so schnell wohl auch kaum grundlegend ändern wird), hat historische und systematische Gründe, die sich gegenseitig verstärken.
Zu den historischen Gründen rechnet die Tatsache, dass die moderne Psychologie ihre Entstehung ganz wesentlich einer Verbindung von philosophischer Erkenntnistheorie und naturwissenschaftlicher Sinnesphysiologie verdankt. Diese Verbindung bahnte sich im 19. Jahrhundert an und wurde von Autoren wie Helmholtz, Weber, Fechner und Wundt gestiftet. Der Ursprung der modernen Psychologie lag ganz und gar auf der Seite von Empfindung und Wahrnehmung, der Inputseite des kognitiven Systems also. Fragen, die die Outputseite betrafen, spielten zunächst nur eine unter- und nachgeordnete Rolle. Wenn Handlungen überhaupt erwähnt wurden, traten sie überwiegend als Wirkungen von Empfindungs- und Wahrnehmungsprozessen in Erscheinung, nicht aber als Vorgänge, die aus eigenem Recht wissenschaftliches Interesse beanspruchen.
Die Handlungsblindheit der modernen Psychologie hat eine lange Vorgeschichte. So lässt sich z. B. die Doktrin, dass Handlungen als Wirkungen von Wahrnehmungsprozessen anzusehen sind, auf den französischen Aufklärungsphilosophen René Descartes zurückführen (Descartes, 1664/1969). Den Wahrnehmungsprozess stellte er sich so vor, dass Reize, die auf Sinnesorgane treffen, dort kleine Fäden in Bewegung versetzen, die zwischen den Sinnesorganen und dem Gehirn aufgespannt sind. Durch die Mechanik dieser Fäden werden die Sinnesreize an die Zirbeldrüse weitergegeben – denjenigen Ort im Gehirn, von dem Descartes annahm, dass dort der Übergang von Wahrnehmung zu Handlung erfolgt. Die Steuerung von Körperbewegungen stellte er sich dann so vor, dass die Zirbeldrüse aufgrund der von den Wahrnehmungen ausgehenden Reize in Bewegung gerät und dadurch Nervenflüssigkeit freisetzt, die dann über ein hydraulisches System die Muskulatur der Körperperipherie aktiviert.
Die Metaphorik, mit der Descartes die Tätigkeit des Gehirns beschreibt, hat in der Physiologie und Psychologie der nachfolgenden Jahrhunderte lange nachgewirkt. Eine der nicht besonders glücklichen Nachwirkungen betrifft die Implikationen seiner Lehre für das Verständnis von Bewegung und Handlung. Körperbewegungen kommen danach nämlich nur als Wirkungen von Wahrnehmungsprozessen zustande, d. h. sie werden eigentlich nur als Reaktionen auf die Wahrnehmung von äußeren Ereignissen in Gang gesetzt. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die Theorie keinen Raum bietet für Handlungen, die auf andere Weise entstehen und sich nicht als Reaktionen auf die Wahrnehmung von Ereignissen verstehen lassen.
Bis auf den heutigen Tag hat diese Vorstellung das Denken von Physiologie und Psychologie geprägt. In der Physiologie ist es auch heute noch weitgehend üblich, Bewegung und Handlung als die Endstrecke des sogenannten sensomotorischen Bogens zu betrachten – d. h. als das natürliche Schlussglied einer Kette von Ereignissen, die am Sinnesorgan beginnt und am Muskel endet. Ein Beispiel ist die von Donders (1868) vorgelegte Analyse von Reaktionszeiten, auf die die moderne Forschung sich gern als ihren methodischen und theoretischen Ausgangspunkt bezieht. Donders schlug vor, den gesamten Vorgang, der sich zwischen Reiz und Reaktion abspielt, in zwölf aufeinanderfolgende Teilprozesse zu zerlegen – derart, dass die ersten sechs Teilprozesse den afferenten und die übrigen sechs den efferenten Zweig des sensomotorischen Bogens bilden.
Die linearen Stufentheorien der Informationsverarbeitung, die die moderne Kognitionspsychologie in Anlehnung an Donders entwickelt hat, haben daran nichts Wesentliches geändert. Ihr Forschungsprogramm beruht auf dem Verständnis, dass die Analyse kognitiver Prozesse nur von der Reiz- und Wahrnehmungsseite her in Angriff genommen werden kann. So verkündete bereits Neisser (1967) in seinem programmatischen Manifest der damals neuen Kognitiven Psychologie, dass ihre zentrale Aufgabe darin besteht, zu untersuchen, wie das kognitive System die Information verarbeitet, die es in seiner Umgebung vorfindet. Von Handlungen war in diesem Ansatz nicht die Rede. Handlungen kamen allenfalls als Reaktionen vor – nämlich als messbare Indikatoren für die Informationsverarbeitungsprozesse, die selbst nicht messbar sind. Handlungen selbst waren ohne Interesse.
Hinzu kommen systematische Gründe, die die unterschiedliche wissenschaftliche Aufmerksamkeit für Kognition und Handlung verstärken. Sie ergeben sich aus der Logik der experimentellen Methode und den unterschiedlichen Voraussetzungen für ihren Einsatz im Bereich von Erkenntnis- und Handlungsfunktionen.
Im Bereich von Wahrnehmungs- und Erkenntnisfunktionen ist die methodische Situation relativ übersichtlich. Untersucht wird zum Beispiel, wie Wahrnehmungsleistungen oder Wahrnehmungsinhalte einer Versuchsperson von den Eigenschaften des Reizmaterials abhängen, die vom Versuchsleiter manipuliert werden. In dieser Situation besteht eine enge kausale Verknüpfung zwischen den unabhängigen Variablen, die der Experimentator kontrolliert, und den abhängigen Variablen, die auf Seite der teilnehmenden Probanden gemessen werden.
Anders liegen die Dinge dagegen, wenn es um Handlungen geht. Als abhängige Variablen werden hier Merkmale von Handlungen der Probanden registriert, und zwar gleichfalls in Abhängigkeit von Reiz- und Situationseigenschaften, die der Versuchsleiter kontrolliert. Allerdings besteht ein entscheidender Unterschied. Denn im Gegensatz zu Wahrnehmungs- und Erkenntnisleistungen, die durch die kontrollierten unabhängigen Variablen weitgehend determiniert sind, lassen sich die Eigenschaften von Handlungen durch diese Variablen nur zu einem kleinen Teil kontrollieren. Was eine Person in einer bestimmten Situation wahrnimmt, ist relativ weitgehend durch Merkmale der aktuellen Reizsituation bestimmt. Was sie dagegen tut, ist kaum jemals durch die aktuelle Reizsituation allein bestimmt.
Daraus folgt, dass das experimentelle Vorgehen auf der Handlungsseite komplexer sein muss als auf der Wahrnehmungsseite. Für die Untersuchung von Handlungen reicht es nicht aus, lediglich die aktuellen Reiz- und Situationseigenschaften zu kontrollieren. Daneben müssen auch die aktuellen Handlungsdispositionen der Person manipuliert oder zumindest kontrolliert werden, d. h. die Absichten und Ziele, die sie verfolgt und die sie durch ihre Handlungen realisieren will. In Handlungsexperimenten geschieht dies dadurch, dass den Versuchsteilnehmern Aufgaben gestellt werden, die festlegen, unter welchen Bedingungen welche Handlungen auszuführen sind. Deshalb spielen die Instruktionen, die diese Aufgaben beschreiben und spezifizieren, hier eine wesentlich wichtigere Rolle als in Experimenten zur Analyse von Erkenntnisfunktionen.
Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass wir es hier nicht nur mit einem methodischen Problem zu tun haben. Hinter dem methodischen steckt vielmehr ein theoretisches Problem, nämlich die Frage, wie Handlungsdispositionen (Pläne, Absichten, Ziele) repräsentiert sind und wie sie an der Steuerung von Handlungen mitwirken. Dass sie daran mitwirken, daran besteht kein Zweifel. Wie dies aber geschieht – das ist eine der zentralen Fragen, die eine Theorie der kognitiven Grundlagen von Handlungen beantworten muss.
Historische und systematische Gründe verstärken sich gegenseitig. Das Ergebnis ist eine einfache Diagnose: Psychologie weiß viel über Kognition, wenig über Handlung und noch weniger über den Zusammenhang zwischen Kognition und Handlung. Das ist die Diagnose, für die kognitionspsychologische Handlungsforschung die Therapie sein will.
Wie kommen Handlungen zustande? Wie kommt es, dass Menschen tun, was sie tun? Das sind Beispiele für Fragen, die psychologische Handlungsforschung beantworten muss. Handlungsbezogene Forschung gibt es seit jeher in verschiedenen Bereichen der Psychologie – trotz der historischen und systematischen Hypotheken, mit denen sie belastet sein mag. Einige Spielarten solcher Forschung sind jedenfalls schon seit langer Zeit erfolgreich etabliert. Kognitionspsychologische Handlungsforschung gehört allerdings nicht dazu. Sie ist eine neue Spielart, die sich erst kürzlich etabliert hat. Wir werfen einen Blick auf den systematischen Ort, den sie im Konzert ihrer Nachbarn einnimmt, und auf die historische Entwicklung, die dazu geführt hat, dass sie sich seit einiger Zeit an diesem Konzert beteiligt.
Wie kommen Handlungen zustande? Wie kommt es, dass Menschen tun, was sie tun? Wenn wir solche Fragen verfolgen, müssen wir uns zunächst vergegenwärtigen, in welchen Teilbereichen der Psychologie wir überhaupt Antworten suchen können. Auf den ersten Blick wird man an Bereiche wie Motivation, Volition und Motorik denken, weniger an Kognition. Das, was wir psychologische Handlungsforschung nennen, muss sich aus der Integration von Perspektiven dieser Bereiche ergeben. Wie können wir die Beiträge dieser Bereiche näher bestimmen – und welche Rolle fällt vor allem dem Bereich der Kognition zu, den wir in den Mittelpunkt stellen wollen?
Die allgemeine Leitfrage, wie es kommt, dass Menschen tun, was sie tun, schließt zwei unterschiedliche Arten von Einzelfragen ein: Was-Fragen und Wie-Fragen. Was-Fragen richten sich auf die inhaltliche Seite des Handelns: Wie kommt es, dass Menschen in gegebenen Situationen genau das tun, was sie tun (und nicht irgendetwas anderes)? Anders gefragt: Wie müssen wir die Prozesse verstehen, die darüber entscheiden, welche Handlungsziele Menschen überhaupt verfolgen und welche Handlungen sie ausführen? Wie-Fragen richten sich dagegen auf die prozedurale Seite des Handelns: Wie kommt es, dass Menschen das, was sie tun wollen, auch wirklich zur Ausführung bringen? Welche Mechanismen sind dafür verantwortlich, dass ausgewählte Ziele und Handlungen durch die Ausführung entsprechender Körperbewegungen realisiert werden?
Nach gängiger Lehrbuchsystematik gehören Was-Fragen in den Bereich der Motivationspsychologie (Heckhausen & Heckhausen, 2006). Motivationspsychologische Forschung untersucht, wie abstrakte Handlungsdispositionen unter aktuellen Situationsbedingungen in konkrete Handlungsziele umgesetzt werden und wie gegebene Ziele sich gegenüber konkurrierenden Zielen durchsetzen.
Wenn die Was-Frage entschieden ist, wird die Wie-Frage akut: Wie kommt die Realisierung von ausgewählten Handlungen zustande? Welche Beiträge liefern Volition, Kognition und Motorik? Zunächst steht fest, dass im Zuge der Realisierung Körperbewegungen zustande kommen, die ihrerseits wiederum eine Reihe von Effekten in der Umwelt erzeugen können: Jemand drückt auf einen Knopf, darauf ertönt eine Klingel, und eine Tür wird geöffnet. Jemand kauft ein Bahnticket und fährt damit von Berlin nach München, um dort seiner Erbtante eine Aufwartung zu machen. Jemand schreibt sich an der Sorbonne ein und nimmt ein Studium der Islamistik auf, das er Jahre später mit einer Promotion abschließt. Wie diese Beispiele deutlich machen, ist die motorische Komponente der Handlungsausführung ein unerlässliches Glied in der Kette von Ereignissen, die wir betrachten müssen, aber im Verhältnis zu dem, was die gesamte Handlung und ihre mentale Repräsentation ausmacht, ist sie oft nur ein verschwindend kleines und manchmal auch triviales Glied.
Nachdem wir Motivation und Motorik ihre Plätze am Anfang und am Ende der Prozesse zugewiesen haben, die eine Handlung ausmachen, ergibt sich der Ort von Kognition und Volition von selbst: in den vermittelnden Prozessen zwischen Auswahl und Ausführung, die sicherstellen, dass ausgewählte Handlungsziele in der je aktuellen Situation angemessen realisiert werden.
Wenn wir diese Prozesse charakterisieren wollen, ist es nützlich, zwischen ihrer Mechanik und Dynamik zu unterscheiden. Dabei steht Handlungsmechanik für die kognitive Seite der Realisierungsprozesse: für die ›kühle‹ Mechanik der repräsentationalen Prozesse, die zwischen Auswahl und Ausführung vermitteln. Demgegenüber steht Handlungsdynamik für die volitionale Seite dieser Prozesse: für die ›heiße‹ Dynamik des Kräftespiels, das an der Realisierung und Durchsetzung der Handlung beteiligt ist. In einer inzwischen fast ausgestorbenen Sprache könnte man auch von der Mechanik und Dynamik des Willens sprechen: Kognitive Mechanismen erklären die Mechanik von Willensprozessen, volitionale Mechanismen ihre Dynamik.
Nach diesem Verständnis beziehen sich jedenfalls ›Kognition‹ und ›Volition‹ nicht auf zwei getrennte Segmente der Handlungskette, sondern auf zwei unterschiedliche Aspekte eines gemeinsamen Segments: des Abschnitts der Handlungsrealisierung. Im Schwerpunkt unserer Untersuchung liegt im Folgenden die kognitive Mechanik der Prozesse, die die Realisierung ausgewählter Handlungen sicherstellen. Dazu nehmen wir an, dass der Realisierung von Handlungen ein motivationaler Auswahlprozess vorausgeht (den wir zwar voraussetzen, aber selbst nicht näher in Augenschein nehmen) und dass ihr ein motorischer Ausführungsprozess folgt (für den das Gleiche gilt).
Box 1.1 | Empirische Psychologie des 18. Jahrhunderts: Wie die Seele auf den Körper wirkt |
Abb. 1.1: Titelblatt der Anweisungen zum regelmäßigen Studium der Empirischen Psychologie für die Candidaten der Philosophie zu Münster (Ueberwasser, 1787)
Die Empirische Psychologie des 18. und 19. Jahrhunderts verstand sich als Erfahrungsseelenlehre. Sie sah ihre Aufgabe darin, das Leben der Seele zu beschreiben und inventarisieren und auf eine begrenzte Zahl von seelischen Grundvermögen zurückzuführen. So unterschied zum Beispiel der Münsteraner Philosophieprofessor Ferdinand Ueberwasser fünf Grundvermögen der Seele: Empfindungsvermögen, Einbildungskraft, Erinnerungsvermögen, Dichtungsvermögen und Mitgefühl (Ueberwasser, 1787).
Bei der Behandlung der Einbildungskraft und des Mitgefühls erörtert der Autor neben den betreffenden seelischen Vorgängen selbst auch die Wirkungen, die sie auf den Körper haben. Die Erörterung der körperlichen Wirkungen der Einbildungskraft findet sich in den §§ 162 und 163. Wie üblich beginnt sie mit der Aufzählung von (teilweise skurrilen und absonderlichen) Erfahrungen und endet mit der Formulierung eines theoretischen Prinzips. Entsprechendes gilt für das Mitgefühl (§§ 264, 279).
Ein Teil der Beispiele, die Ueberwasser ins Feld führt, lassen sich in der Rückschau als frühe Vorläufer der Idee lesen, dass Vorstellungen von Körperbewegungen und Handlungen dazu neigen, die betreffenden Bewegungen und Handlungen selbst hervorzurufen (Einbildungskraft), und dass die Beobachtung von Handlungen, die wir andere ausführen sehen, ähnliche Handlungen in uns selbst hervorrufen (Mitgefühl). Hier sind also Haupt- und Seitenlinie des modernen ideomotorischen Ansatzes bereits im Kern angelegt: die intraindividuelle Hauptlinie, die erklärt, wie handlungsbezogene Repräsentationen Handlungen hervorbringen, und die interindividuelle Seitenlinie, die erklärt, wie die Wahrnehmung fremder Handlungen eigene Handlungen induziert.
Abb. 1.2: Textausschnitt aus Ueberwasser (1787, §§ 162, 163, 264 und 279)
Die kognitionspsychologische Perspektive auf Handlungen blickt auf eine bemerkenswerte Geschichte zurück (Stock, 2004). Während sich erste Vorläufer der einschlägigen Ideen bereits in Lehrbüchern der Empirischen Psychologie des 18. Jahrhunderts finden ( Box 1.1), setzt eine systematische Diskussion erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Bemerkenswert ist die Geschichte dieser Diskussion nicht zuletzt deshalb, weil sie in zwei Wellen verlaufen ist, die durch eine Pause von nahezu 80 Jahren voneinander getrennt sind.
Die erste Welle fällt in die Gründerzeit der modernen Psychologie. Wie wir schon sahen, standen bei der Etablierung der neuen Wissenschaft, die sich im 19. Jahrhundert allmählich zwischen Philosophie und Sinnesphysiologie entwickelte, Wahrnehmungs- und Erkenntnisfunktionen im Mittelpunkt. Dementsprechend etablierte sich die experimentelle Forschung, die damals entstand, als empirische Psychophysik und subjektive Sinnesphysiologie.
Anders lagen die Dinge dagegen in der theoretischen Systematik und Programmatik. Hier gab es einflussreiche Autoren, die in ihren theoretischen Grundlagenwerken neben einer Wahrnehmungs- und Erkenntnislehre auch eine Willens- und Handlungslehre abhandelten. Nicht zuletzt war es Wilhelm Wundt, der Gründungsvater der modernen Psychologie, der dem Willen immer breiteren Raum in seinem Forschungsprogramm einräumte. Nachdem er sich zunächst fast ausschließlich auf Sinnes- und Erkenntnisfunktionen konzentriert hatte, behandelte er später den Willen immer ausführlicher – nicht nur in philosophischen Schriften, sondern auch in psychologischen Untersuchungen. Wundts Willenspsychologie war, wie wir heute sagen würden, durchaus schon kognitionspsychologisch unterlegt. Denn es waren im Prinzip die gleichen Assoziations-, Apperzeptions- und Assimilationsprozesse, die sowohl für das kognitive als auch für das volitionale Geschehen verantwortlich sein sollten (vgl. z. B. Wundt, 1903). Unter seinen unmittelbaren Schülern war es dann vor allem Hugo Münsterberg (1888), der die Willenspsychologie weiterentwickelte.
Allerdings gingen von diesen Ansätzen keine besonderen theoretischen Inspirationen aus, denen bleibender Wert beschieden sein sollte. Solche Inspirationen setzten andere: Rudolf Hermann Lotze (1852), William James (1890) und nicht zuletzt Narziß Kaspar Ach (1905). Besondere Berühmtheit hat James’ brillante Diskussion der kognitiven Grundlagen des Willens erlangt, die er im 26. Kapitel seiner Principles of Psychology vorgelegt hat (James, 1890). Ein entscheidender Vordenker der dort entwickelten Ideen war zuvor Lotze gewesen – von James beiläufig erwähnt, aber nicht als Quelle seiner Theorie kenntlich gemacht.
Kern der Lotze/James -Theorie der kognitiven Grundlagen von Willenserscheinungen ist das Ideomotorische Prinzip. Das Ideomotorische Prinzip behauptet, dass Wahrnehmungen oder Vorstellungen, die sich auf Ereignisse beziehen, von denen wir gelernt haben, dass wir sie durch eigene Handlungen hervorbringen oder verändern können, dazu tendieren, eben diese mit ihnen verbundenen Handlungen hervorzurufen. Die Lotze/James-Theorie, auf die wir noch ausführlich zurückkommen, war damals (und ist noch heute) ein Meilenstein auf dem Weg zur Entmystifizierung des Rätsels, wie Gedanken zu Handlungen führen können, d. h. wie es möglich ist, dass Psychisches Physisches hervorbringen kann.
Ach (1905) war es schließlich, der die Willenspsychologie von der theoretischen Kopflastigkeit befreite, die sie bis dahin auszeichnete, und sie auf solide experimentelle Füße stellte ( Box 1.2). Danach hätte die Forschung eigentlich richtig loslegen können, weil beides zur Verfügung stand: Bausteine für eine kognitive Handlungstheorie und experimentelle Methoden zu ihrer Untermauerung. Aber sonderbarerweise brach alles ab und es geschah nichts weiter. Zwar hat man sich noch über Generationen hinweg an Lotzes und vor allem an James’ Ausführungen über den Willen sprachästhetisch delektiert, und man hat Ach als Pionier gewürdigt, dem es erstmals gelungen ist, den schwierigen Willen experimentell zu bändigen. Aber für die Sache selbst hat sich niemand mehr interessiert. Wille war »out« und Handlung sowieso.
Wie kam das? Die Gründe lagen wohl darin, dass andere Strömungen und andere Themen tonangebend wurden – unterschiedlich zwar auf beiden Seiten des Atlantiks, aber doch vereint darin, dass sie mit dem willentlichen Handeln nichts mehr zu schaffen hatten und haben wollten. In Europa, besonders im deutschen Sprachraum,
Box 1.2 | Experimentelle Willenspsychologie des frühen 20. Jahrhunderts: Die Determinationsexperimente von Narziß Ach |
Abb. 1.3: Titelblatt Über die Willenstätigkeit und das Denken (Ach, 1905)
In seiner Monographie über die Willenstätigkeit und das Denken, die 1905 erschien, entwickelte Narziß Ach experimentelle Methoden, die es gestatten sollten, die Aufgabe, die der Proband zu lösen hat, und das Material, mit dem sie zu lösen ist, voneinander zu trennen. In der Theorie ging es ihm darum, nachzuweisen, dass der Verlauf der Vorstellungen nicht nur assoziativen und perseverierenden Reproduktionstendenzen folgt, sondern auch determinierenden Tendenzen, welche von der Aufgabe ausgehen, die der Proband zu bearbeiten hat, und der Zielvorstellung, die mit dieser Aufgabe verbunden ist.
In einigen besonders eleganten Experimenten wendete er einen speziellen methodischen Kniff an, der bis dahin unbekannt war: die zeitliche Trennung von Instruktion und Material. Besonders eindrucksvoll sind seine experimentellen Demonstrationen posthypnotischer Suggestionswirkung:
»Aus den im vorhergehenden Paragraphen dargestellten Untersuchungen ergibt sich nun, daß diesen assoziativen und perseverierenden Reproduktionstendenzen noch andere Faktoren an die Seite zu stellen sind, welche für den auftretenden Bewußtseinszustand von maßgebendem Einflusse sind, die determinierenden Tendenzen. Unter den determinierenden Tendenzen sind Wirkungen zu verstehen, welche von einem eigenartigen Vorstellungsinhalte der Zielvorstellung ausgehen und eine Determinierung im Sinne oder gemäß der Bedeutung dieser Zielvorstellung nach sich ziehen. Diese determinierenden Tendenzen bilden die Grundlage derjenigen psychischen Phänomene, welche in ihrem Ablauf unter den Begriff der Willensbetätigung von Alters her zusammengefaßt werden. In der auffallendsten Weise zeigt sich jedoch ihre Wirkung bei jenen seelischen Vorgängen, welche unter dem Einflusse der Suggestion in die Erscheinung treten. Die Suggestionen können sich bekanntlich in den sogenannten hypnotischen Zuständen realisieren oder als posthypnotische Suggestionswirkungen in einem der Hypnose folgenden Bewußtseinszustande, wo ein wacher oder unter Umständen auch hypnotischer Seelenzustand besteht, von Einfluß sein.
[…]
Der Versuchsperson G wurde in tiefer Hypnose folgende Suggestion gegeben: ›Es werden nachher zwei Karten mit 2 Ziffern gezeigt werden. Bei der ersten Karte werden Sie die Summe nennen, bei der zweiten Karte die Differenz. Sie werden die Karte sehen und sofort wird die richtige Ziffer ausgesprochen werden. Kaum sehen Sie die Karte, so erscheint das Resultat, und zwar werden Sie nicht daran denken, daß ich Ihnen das gesagt habe, sondern aus freiem Willen wird die richtige Zahl erscheinen.‹ Die Suggestion wurde noch einmal vorgesagt, worauf sie auf Wunsch von der Versuchsperson ihrem Inhalte nach wiederholt wurde. Kurz darauf wurde G aus der Hypnose aufgeweckt. Um die Handlungsweise möglichst als natürliche und nicht als suggerierte erscheinen zu lassen, hatte ich der Versuchsperson schon vor der Hypnose wie zufällig Karten gezeigt und ihr kurz auseinander gesetzt, wozu dieselben benützt werden. Wir gingen nach Beendigung der Hypnose in ein anderes Zimmer und nach einigen Minuten belangloser Unterhaltung hielt ich G in der Hand eine Karte mit den Ziffern 6/2 vor. Unmittelbar darauf sprach G 8 aus; als ihm eine weitere Karte 4/2 gezeigt wurde, wurde sofort 2 gesagt. Es hatte sich also die Suggestion in einer geradezu überraschenden Weise realisiert. Ich fragte hierauf G: ›Warum sagten Sie 8?‹, wobei ich die 1. Karte zeigte. ›Ich habe das ganz zufällig gesagt.‹ ›Haben Sie nicht in dem Moment gedacht, daß dies die Summe ist?‹ ›Nein, es ging mir durch den Kopf. Ich hatte das Bedürfnis, 8 zu sagen.‹ ›Und hier‹ (ich zeigte die 2. Karte). ›Das ist ebenso zufällig, daß ich »2« gesagt habe.‹ ›Dachten Sie nicht, daß 4 – 2 = 2 ist?‹ ›Nein.‹« (Ach, 1905, S. 187–189).
Nach Ach sind diese Beobachtungen nur verständlich, wenn man neben den reproduktiven Tendenzen, die vom Reizmaterial ausgehen, determinierende Tendenzen annimmt, die von der Zielvorstellung der Aufgabe ausgehen:
»Daß für den nach dem Erscheinen des Reizes gegebenen Bewußtseinsinhalt der Reiz nicht allein maßgebend ist, ergibt sich daraus, […] daß z. B. beim Erscheinen von 6/2 entweder 8, 4 oder 3 im Bewußtsein auftritt, je nachdem Addieren, Subtrahieren oder Dividieren vorgenommen wird. Durch den gleichen Reiz werden verschiedene Vorstellungen reproduziert und zwar wird im einzelnen Falle jene Vorstellung überwertig, welche dem Sinne der Absicht entspricht. Die determinierenden Tendenzen bewirken hier, daß unter den vielen durch die Wahrnehmung in Bereitschaft gesetzten Tendenzen diejenige zu einer überwertigen verstärkt wird, welche jener der gegebenen Absicht entsprechenden Vorstellung assoziativ zugeordnet ist. Hierdurch taucht die Vorstellung des Resultates häufig unmittelbar nach der Wahrnehmung auf.« (Ach, 1905, S. 193).
Anschließend fasst Ach die theoretischen Schlussfolgerungen aus seinen Beobachtungen wie folgt zusammen (S. 196):
» So sehen wir denn, daß durch die von den determinierenden Tendenzen ausgehenden Nachwirkungen der geordnete und zielbewußte Ablauf des geistigen Geschehens bestimmt wird. […]. Dabei geht diese Wirkung der determinierenden Tendenzen nicht blos von einer vorhandenen Absicht aus, sondern diese Tendenzen können auch durch suggestive Beeinflussung, durch Kommando oder durch Aufgabestellung gestiftet werden.«
zog sich die Psychologie wieder auf das zurück, was sie ihrem Ursprung nach immer schon gewesen war: Wahrnehmungs- und Erkenntnislehre, die sich für die Grundlagen des Handelns kaum interessierte. Katalysator hierfür war vor allem die gestalttheoretische Bewegung, in der das Handeln nur einen randständigen Platz einnahm und der Wille als gesonderte systematische Kategorie überhaupt nicht vorkam. Westlich des Atlantiks verschwand zwar nicht das Handeln selbst, aber das Interesse an seinen kognitiven Grundlagen. Man redete nicht mehr von Handlungen, sondern von Reaktionen. Handlungen wurden als Reaktionen verstanden, die durch Reize ausgelöst und kontrolliert werden – und sonst nichts. Katalysator war hier die behavioristische Bewegung, in deren Ansatz zwar Raum für die Analyse von Muskeltätigkeit und Körperbewegung und die Beziehung zwischen Reizen und Reaktionen war, nicht aber für die kognitiven Grundlagen dieser Vorgänge.
Mit anderen Worten: Die kognitionspsychologische Perspektive auf das Handeln verschwand für einige Zeit von der wissenschaftlichen Bildfläche. Wie wir bereits gesehen haben, hat auch die Entstehung der modernen Kognitionspsychologie an dieser Situation nichts Grundlegendes geändert. Für lange Zeit kam das Handeln in der neuen Kognitionspsychologie so gut wie überhaupt nicht vor.
Die zweite Welle kognitionspsychologisch fundierter Handlungsforschung ist in den letzten 20 Jahren entstanden und hat die Forschung hervorgebracht, die in den folgenden Kapiteln dokumentiert ist. Da diese Welle noch andauert, ist eine distanzierte historische Einordnung noch nicht möglich. Deshalb beschränken wir uns darauf, einige Ideen und Motive zu nennen, die an ihrer Entstehung beteiligt waren und ihre weitere Entwicklung getragen haben.
Evolutionspsychologie: Betrachtet man kognitive Systeme aus evolutionspsychologischer Perspektive, muss man sich eigentlich über die weitgehende Fokussierung auf Wahrnehmungs- und Erkenntnisfunktionen wundern, die für große Teile kognitionspsychologischer Forschung charakteristisch ist. Denn aus evolutionstheoretischer Sicht kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Selektionskriterien, die zur Ausbildung und Optimierung kognitiver Systeme führen, nicht an der Wahrheit der Erkenntnisse ansetzen, die diese Systeme ihren Trägern liefern, sondern an der Klugheit der Handlungen, die sie ihnen ermöglichen. Mit anderen Worten: Umgebungsgerechtes Handeln ist die entscheidende Leistung kognitiver Systeme, die die fitness ihrer Träger bestimmt. Deshalb haben wir allen Grund anzunehmen, dass kognitive Systeme für diese Leistung optimiert sind. Vor diesem Hintergrund ist es nicht nur angebracht, sondern geradezu notwendig, kognitive Prozesse unter dem Gesichtspunkt ihres Beitrags zur Steuerung von Handlungen zu untersuchen.
Neurophysiologie: Die neurophysiologische Forschung der letzten 20 Jahre hat die klassische Unterscheidung zwischen afferenten Prozessen (die Reizinformation verarbeiten) und efferenten Prozessen (die Bewegungen kontrollieren) zunehmend in Frage gestellt und sie durch Vorstellungen ersetzt, die gemeinsame neuronale Grundlagen für afferente und efferente Prozesse betonen (insbesondere sogenannte Spiegelneuronen und Spiegelsysteme; Rizzolatti & Sinigaglia, 2008). Parallel dazu haben zahlreiche Studien gezeigt, dass kognitive Prozesse oft mit latenten Handlungen verbunden sind, ebenso wie Handlungen oft mit latenten kognitiven Prozessen (Jeannerod, 1997, 2006; Kiefer & Barsalou, 2013; Viviani, 2002). Zusammengenommen weisen diese Forschungslinien darauf hin, dass die klassische Unterscheidung zwischen Wahrnehmung, Kognition und Handlung durch ein stärker integriertes Bild abgelöst werden muss.
Kognitionspsychologie : Mit der Wiederaufnahme des Ideomotorischen Prinzips hat die kognitionspsychologische Theoriebildung eine neue Grundlage für die funktionale Integration von Wahrnehmung, Kognition und Handlung geschaffen (Hommel, Müsseler, Aschersleben & Prinz, 2001). Zugleich hat die experimentelle Forschung der letzten 20 Jahre eine Vielzahl neuer Paradigmen hervorgebracht, die es erlauben, diese Vorstellungen näher zu konkretisieren. Von beidem – der Theorie und den von ihr inspirierten Experimenten – wird in diesem und den folgenden Kapiteln ausführlich die Rede sein.
Wie wir gesehen haben, ist die erste Welle kognitionspsychologischer Handlungsforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Bildfläche verschwunden. Das mag zum einen daran gelegen haben, dass sie von anderen theoretischen und methodischen Strömungen verdrängt wurde. Es gibt aber auch Gründe, die im Gegenstand dieser Forschung selbst liegen. Die Erforschung des Wollens und Handelns hat sich nämlich mit zwei unangenehmen theoretischen Fragen herumzuschlagen, für die es keine einfachen und offensichtlichen Antworten gibt. Solche Antworten gibt es jedenfalls dann nicht, wenn man, wie es damals üblich war, die kognitiven Grundlagen von Handlungen in den Bewusstseinsinhalten sucht, die Handlungen vorausgehen und sie begleiten. Die erste Frage richtet sich darauf, wie Ziele oder Zwecke überhaupt möglich sind; die zweite wundert sich über den Übergang vom Willen zur Tat.
Die erste Welle kognitionspsychologischer Handlungsforschung fällt in die Zeit des sogenannten Vitalismus-Streits. Ausgangspunkt der Debatte war die Faszination, die von der raffinierten Zweckmäßigkeit aller Lebenserscheinungen ausgeht – zum Beispiel der zweckmäßigen Einrichtung und Arbeitsteilung der Organe im Körper, der zweckmäßigen Anpassung der Lebewesen an ihre jeweilige Umgebung und nicht zuletzt auch den zielgerichteten Bewegungen, durch die sie in ihrer Umwelt navigieren und mit ihr interagieren. Für die Erklärung solch raffinierter Zweckmäßigkeit standen zwei Denkansätze bereit, die miteinander rivalisierten: Mechanismus und Vitalismus. Das mechanistische Lager glaubte und postulierte, dass zweckmäßige Anpassungserscheinungen durch Naturgesetze erklärt werden können, die dem Prinzip von Ursache und Wirkung gehorchen. Die zweckmäßigen Erscheinungen, die wir beobachten, werden als Ergebnis von Prozessen verstanden, in denen Zwecke und Ziele keine kausale Rolle spielen. Nach Auffassung des mechanistischen Lagers liefert die Evolutionsmechanik von Variation und Selektion, wie Darwin sie konzipiert hatte, die entscheidende Blaupause für die Erklärung der Zweckmäßigkeit der Naturerscheinungen.
Auf der Gegenseite standen Schöpfungslehre und Vitalismus. Die Schöpfungslehre postulierte – damals wie heute – die Tätigkeit eines göttlichen Schöpfers, der die Erscheinungen der Welt durch zielgerichtete Akte seines Willens hervorbringt. Der Schöpfer setzt Zwecke und Ziele, die er dann durch sein schöpferisches Handeln realisiert. Der Vitalismus war gleichsam eine wissenschaftliche – nämlich »gottlose« – Variante des Schöpferglaubens. An die Stelle des göttlichen Schöpfers setzte er verborgene Kräfte der Natur, die nicht nur kausal wirken sollen, sondern auch final – d. h. nicht nur vorwärtsgerichtet von Ursachen zu Wirkungen, sondern auch rückwärtsgerichtet von Zwecken zu Mitteln.
Der Streit zwischen Mechanisten und Vitalisten war ebenso tiefgehend wie hartnäckig. Vordergründig hatten Autoren wie Lotze, James und Ach mit diesem weltanschaulichen Streit überhaupt nichts zu schaffen. Wie wir noch sehen werden, plädierten die theoretischen Ideen, die sie propagierten, für eine kausale Mechanik von Willenshandlungen, die darin besteht, dass Zielvorstellungen vorwärts wirken – und keineswegs für eine finale Dynamik, die darin besteht, dass Ziele rückwärts wirken. Aber trotz dieser unübersehbaren Parteinahme für mechanistische Erklärungen galt die Beschäftigung mit Willenshandlungen als wissenschaftlich obsolet und stand unter Vitalismus-Verdacht. Denn wer von Willenshandlungen redet, kommt nicht daran vorbei, davon zu reden, wie Ziele und Zielvorstellungen auf die Auswahl der Mittel zu ihrer Realisierung einwirken. Das klingt so, als würden die Zwecke die Mittel herbeiführen.
Der vitalistische Beigeschmack, der dem Reden über Willenshandlungen anhaftet, mag einer der Gründe sein, warum vor hundert Jahren das willentliche Handeln von der Tagesordnung der psychologischen Forschung abgesetzt wurde. Natürlich dauert das tief verwurzelte Misstrauen, das Wissenschaften gegenüber finalen Erklärungen hegen, auch heute noch an, nachdem der Vitalismus-Streit längst vergessen ist. Rückwärtsgerichtete Wirkungserklärungen sind inakzeptabel. Wenn wir das Wollen und Handeln wissenschaftlich erklären wollen, müssen wir uns auf vorwärtsgerichtete Wirkungserklärungen beschränken – so wie Lotze, James und Ach es uns vorgemacht haben.
Eine andere unangenehme Frage betrifft die delikate Beziehung zwischen subjektivem Wollen und objektivem Tun. Kognitionspsychologische Forschung fragt danach, wie Handlungen zustande kommen und welche Faktoren sie bestimmen. Sobald wir dann versuchen, diese Faktoren näher zu bestimmen, stoßen wir auf das unangenehme Problem, dass es sich dabei nicht um objektiv messbare Größen handelt, sondern um subjektive Größen, die zunächst ausschließlich im Erleben der Akteure auftreten. Wenn wir nämlich davon reden, dass unser Handeln u. a. von Plänen, Absichten oder Zielen bestimmt wird, bringen wir die Überzeugung zum Ausdruck, dass unsere subjektiven Willenserscheinungen ursächlich für unser objektives Handeln sind oder – mit einer altmodischen Floskel gesagt – dass es der Wille ist, der die Tat hervorbringt. Diese Überzeugung ist ein selbstverständlicher und unverrückbarer Bestandteil der Alltagspsychologie, mit der wir unser tägliches Leben bestreiten. Aber wie können wir wissenschaftlich mit ihr umgehen?