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Nr. 2799

 

Zur letzten Grenze

 

Terraner im Arkonsystem – auf dem Weg in die Synchronie

 

Oliver Fröhlich

Christian Montillon

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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Seit die Menschheit ins All aufgebrochen ist, hat sie eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Längst sind die Terraner in ferne Sterneninseln vorgestoßen, wo sie auf raumfahrende Zivilisationen und auf die Spur kosmischer Mächte getroffen sind, die das Geschehen im Universum beeinflussen.

Mittlerweile schreiben wir das Jahr 1517 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Milchstraße steht weitgehend unter dem Einfluss des Atopischen Tribunals. Dessen Richter behaupten, nur sie könnten den Weltenbrand aufhalten, der sonst unweigerlich die Galaxis zerstören würde.

Doch wer sind diese äußerlich sehr unterschiedlichen Richter überhaupt, wovon leiten sie ihre Autorität zur Rechtsetzung ab, und woher stammen sie? Diesen Fragen geht Perry Rhodan nach, der von den Richtern als Kardinal-Fraktor – Hauptverantwortlicher – für den angeblich bevorstehenden Untergang der Milchstraße verurteilt wurde.

Aus der fernen Galaxis Larhatoon bringt Rhodan die Erkenntnis mit, dass sich die Basis der Richter in den Jenzeitigen Landen befindet. Der unsterbliche Terraner schafft es gemeinsam mit Atlan und dem Laren Avestry-Pasik, an Bord der CHUVANC zu gelangen und Richter Chuv unter ihre Kontrolle zu bringen: Nun ist Perry Rhodan der neue Kommandant des Schiffes. Die CHUVANC bricht sofort auf ZUR LETZTEN GRENZE ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Perry Rhodan – Ihm wird nur mittelmäßiges Schauspieltalent bescheinigt.

Atlan da Gonozal – Der Arkonide muss die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllen.

Gucky – Der Ilt wendet neue Kräfte an.

Gholdorodyn – Der Kelosker rechnet sich durch.

Chuv – Der Atopische Richter segelt über den Horizont.

Yuunüs Phörn – Ein Sekretär greift zu anderen Mitteln als der Feder.

Segeln

 

Die Sonne scheint.

Es ist dunkel.

Chuv segelt auf einem Schiff, doch das Steuerrad verweigert sich ihm.

Das Steuerrad?

Nein, es sind wahrhaftig seine Hände. Sie drehen das Rad in eine andere Richtung, als er es ihnen befiehlt. Oder befehlen will. Da ist etwas in seinem Kopf, in seinem Verstand, das ihn verwirrt. Er tut das Gegenteil von dem, was er eigentlich möchte.

Es ist keine Stimme, die ihm die verhängnisvollen Befehle gibt. Es ist Licht. Das einzige Licht in dieser allumfassenden, sonnenbeschienenen Dunkelheit.

»Wir schreiben den siebzehnten November 1517 NGZ, es ist 0.20 Uhr Terrania-Standardzeit. Ich übernehme das Kommando über die CHUVANC«, hat Perry Rhodan gesagt.

Eine hervorragende Idee. Ein Frevel. Brillant. Wahnsinn.

Chuv hat nur geantwortet: »Sehr gerne.«

Das ANC hat sich gewundert, o ja, wie sehr hat es sich gewundert, aber es akzeptiert. Denn es ist mit Chuv verbunden. Es gehört zu ihm. Es versteht ihn. Angeblich.

Chuv will sich wehren. Er begehrt auf. Fast gelingt es. Er muss nur die Finsternis der Lichtzeichen durchdringen. Er muss sie durchbrechen. Den fremden Befehl abwenden, der ihn bezwungen hat und immer wieder bezwingt. Bekämpfen, er muss ... bekämp...

Die Sonne scheint.

Es ist dunkel.

Chuv segelt auf einem Schiff. Es ist alles in Ordnung. Wie erhaben still das Meer vor ihm liegt. Das Meer der Sterne.

Es ist alles gut.

Ich darf nach Hause, denkt Chuv glücklich. In die Synchronie. In die Jenzeitigen Lande. Bald ist es so weit.

Endlich.

1.

Die Schlacht, die es nie gab

 

Perry Rhodan betrat die Zentrale der CHUVANC. Er hatte das Kommando über das Richterschiff erst vor einer Stunde übernommen.

In der Zentrale schwebte die Kommandosphäre, die fast den gesamten zylinderförmigen Raum einnahm: eine zwanzig Meter durchmessende Kugel, von der Rhodan nur die untere Wölbung sehen konnte.

Unterhalb der Kugel gab es im Boden der Zentrale eine sanft abfallende Mulde. Darin standen einige Pneumoliegen, gerade groß genug für einen Menschen – oder eben einen Onryonen, weil die Liegen eigentlich für Vertreter dieses Volkes gedacht waren, genauer: für die onryonischen Geniferen. Sie steuerten das Schiff üblicherweise, indem sie sich mit dem zentralen Rechner verbanden.

Vier Galaktiker waren dazu ausgebildet worden, die Rolle der Geniferen zu übernehmen. Drei von ihnen befanden sich an Bord. Rhodan warf ihnen nur einen kurzen Blick zu, wollte ihre Konzentration auf keinen Fall stören.

Für Avan Tacrol, als Haluter um einiges größer als ein Mensch, war die Pneumoliege im Grunde deutlich zu klein. Scheinbar hatte er eine Lage gefunden, in der er arbeiten konnte, wenn sie auch wenig bequem aussah. Er arbeitete ebenso mit Hochdruck daran, den Umgang mit dem Bordrechner zu erlernen wie Rhodans Enkelin Farye Sepheroa und der junge Terraner Samu Battashee – wenngleich davon äußerlich nichts zu erahnen war.

Die drei waren über einen Helm mit dem Rechner verbunden. Sie dachten sich in die Systeme des Richterschiffes, versuchten die Kontrolle zu erlangen, zu lernen, mit dem Schiff umzugehen. Rhodan beneidete sie nicht um ihre Aufgabe.

Seine eigene Rolle war dabei keineswegs einfacher. Er hatte zwar mittlerweile formal das Kommando über die CHUVANC übernommen – Richter Chuv hatte es ihm scheinbar freiwillig übergeben –, was das aber eigentlich alles umfasste, darüber musste er sich erst klar werden.

Rhodan trat in den Antigravstrahl, der ihn zur Kommandosphäre hob. Er schwebte zu der riesigen Kugel. Über ihm öffnete sich ein Durchlass, und er trat in die eigentliche Kommandosphäre.

Die Luft roch steril und trocken. Es erinnerte Rhodan unwillkürlich an ein Krankenhaus, wie er es aus seiner Kindheit kannte – eine seltsam unwirkliche Assoziation aus tiefer Vergangenheit.

Etwa sechs Meter über Rhodan begrenzte eine graue Zwischendecke diesen unteren Bereich der Kommandosphäre. In der Mitte lief durch eine kreisrunde Öffnung eine etwa einen Meter dicke metallische Säule. Diese Achse zog sich senkrecht durch die gesamte Sphäre und bot Zugang zu deren oberen Schichten, die bislang weder Rhodan noch der designierte Pilot Atlan betreten hatten.

Atlan stand einige Schritte vor der Achse und beobachtete in einem vor ihm schwebenden Holo eine Schlacht, die es nicht gab. Rhodan trat zu seinem alten Freund und schaute ebenfalls auf das Holo.

Eine Rettungskapsel trudelte darin durchs All. Ein Funke irrlichterte über das Metall, doch er erlosch nicht in der sauerstofflosen Kälte des Vakuums, sondern griff über. Einen Lidschlag lang züngelte ein flammender Blitz. Trümmer jagten davon: ein zerstörtes Fluchtfahrzeug. Acht oder zehn tote Onryonen.

»Ist das ...«, fragte Rhodan, doch Atlan hob nur die Hand: Warte ab!

Weitaus katastrophaler als die eine zerstörte Kapsel war das Gewirr der hundert, zweihundert anderen Rettungskapseln, die im freien Raum trieben. Ganz zu schweigen von den beschädigten Beibooten und den Wracks, in denen längst alles Leben vergangen sein musste.

Ein Flimmern, dann flackerte das Holo. Die Wirklichkeit verschob sich. Die Trümmer der ersten Rettungskapsel lösten sich auf und formten sich erneut. Sie kehrten ihre Bewegung um und fügten sich zu einer Einheit zusammen: Das Rettungsfahrzeug wurde neu geboren.

»Mist!«, entfuhr es Perry Rhodan.

Atlan fluchte weitaus deftiger, fing sich jedoch sofort wieder. »So geht das nicht. Die Simulation muss wasserdicht sein. Sonst glaubt uns das niemand!«

»Wir können sie optimieren, sobald wir besser mit der Bordpositronik umzugehen wissen. Wir müssen lernen, die CHUVANC zu beherrschen!«

Und das war alles andere als selbstverständlich. Das Schiff des Atopen Chuv war fremdartiger als die meisten Schiffe, die Rhodan im Lauf seiner langen Karriere kennengelernt hatte. Er konnte sich mit Fug und Recht als Profi im Umgang mit Fremdtechnologie bezeichnen, genau wie Atlan ... aber die CHUVANC erschloss sich ihnen nicht so, wie sie es gewöhnt waren. Ihre Intuition ließ sie im Stich, ihre Erfahrungen halfen nicht weiter.

Wenn sie eines wussten, dann das: Dieses Schiff war anders als alle, in denen Rhodan oder Atlan bislang das All erforscht hatten. Trotz aller Erfahrung mussten sowohl der Terraner als Kommandant als auch der Arkonide als Pilot erst lernen, mit dem Richterschiff umzugehen ... und das war bei dieser Hochtechnologie sehr viel schwieriger als erwartet. Ihm fehlte schlicht die Zeit für eine saubere Übernahme.

»Perry«, tönte plötzlich eine Stimme auf. Sie kam von überall und nirgends, und obwohl sie ... reifer klang als jemals zuvor, erkannte er sie sofort. Wie hätte er seine Enkelin nicht erkennen sollen? »Hörst du mich?«

Er versuchte es auf dem einfachen Weg. »Farye?«, fragte er in den Raum. Sie nahm offenbar von ihrer Geniferen-Mulde Kontakt zu ihm auf.

Ein zufriedenes Lachen antwortete ihm. »Wir bekommen immer besseren Zugriff auf die Systeme des Schiffes.«

»Das hören wir«, mischte sich Atlan ein. »Die beiden anderen kommen ebenfalls weiter?«

»Selbstverständlich!« Das war Samu Battashee, der während der Eroberung der CHUVANC an Faryes Seite gekämpft hatte.

»Zumindest die Kommunikation zwischen euch und uns in der Pilotengrube läuft hervorragend«, sagte Avan Tacrol, der Junghaluter. »Achtung, ich schalte die Kommandosphäre transparent.« Nach einer kaum merklichen Pause fuhr er mit veränderter Stimmlage fort: »ANC, du hast den Befehl gehört.«

Der Boden unter Rhodans und Atlans Füßen schien zu verschwinden – oder sich in klares Glas zu verwandeln.

Obwohl er nach wie vor auf festem Grund stand, vermittelten seine Augen Rhodan das Gefühl, zu schweben. Er sah einige Meter tiefer Farye, Samu und Avan Tacrol in ihren Pneumoliegen.

Farye schaute hoch. Die metallische Haube, die sie mit dem Schiffsrechner verband, ließ nur ihr Gesicht frei. Sie sah völlig zufrieden aus, was Rhodan im Innersten berührte. An diesem fremdartigen Ort hatte Farye das Glück gefunden, die Erfüllung ihrer Laufbahn als Pilotin, die ihr von ihrer Großmutter im wahrsten Sinn des Wortes in die Gene gelegt worden war.

Er riss sich los. So beruhigend solche Gedanken auch sein mochten, so viel Glück sie auch für ihn selbst bedeuteten, aktuell blieb nicht die Zeit dafür.

»Die Schiffspositronik gehorcht in weiten Teilen unseren Befehlen«, verkündete Samu Battashee. Seine Stimme klang selbstbewusst und fest; momentan erinnerte nichts mehr an den teilweise unsicheren oder geistesabwesenden Mann, der sich in der CHUVANC hatte vorankämpfen müssen.

»Wir koordinieren den kommenden Abtransport der Onryonen«, erklärte Avan Tacrol.

Wieder lachte Farye, und immer noch schaute sie durch die transparente Unterseite der Sphäre zu ihm hoch. »Das ist doch in deinem Sinne, Kommandant Rhodan? Wir bringen die alte Besatzung in ein Beiboot der CHUVANC, dessen Antriebe und Waffensysteme wir weitgehend zerstören. Und in das Funksystem bauen wir eine Sperre ein, damit die Onryonen es in frühestens vier Tagen wieder benutzen können. Wie sie natürlich erst bemerken werden, wenn wir sie abgesetzt haben. Sicher findet sie irgendjemand – aber bis dahin sollten wir längst ganz woanders sein.«

»Ein guter Plan«, sagte Rhodan. »Klappt alles reibungslos?«

»Vereinzelt sträuben sich die Onryonen. Da sie aber glauben, dass der Befehl direkt von Chuv kommt, erwarte ich keine Probleme. Sie mögen die Order nicht verstehen, sie vielleicht sogar hinterfragen, sind aber glücklicherweise gehorsam genug. Falls nötig muss der Richter persönlich die Anweisung noch einmal unterstreichen.«

»Das wird sich einrichten lassen«, sagte Rhodan. Sie kontrollierten Chuv mithilfe eines speziellen Virus – der Richter musste ihren Befehlen gehorchen, die sie ihm über gezielte Lichtimpulse suggerieren konnten. Seinen eigenen Willen hatte Chuv längst verloren. Deshalb hatte Chuv dem Terraner das Kommando über die CHUVANC übertragen, und das nach seinen eigenen Worten angeblich sogar sehr gerne.

»Wir arbeiten daran, das Beiboot in dem Moment auszuschleusen, in dem wir die RAS TSCHUBAI in die Synkavernen aufnehmen. Außerdem lernen wir, die CHUVANC zu steuern. Im Normalraum können wir bald gezielt manövrieren.«

»Sicher?«, fragte Rhodan.

Farye lachte. »So sicher, wie wir sein können, ohne es in der Praxis zu versuchen. Wir können jetzt einen Test starten.«

»Einverstanden«, sagte der Terraner.

»Noch eine Frage«, meldete sich Samu Battashee zu Wort. »Was soll mit den Tolocesten an Bord geschehen?«

»Sie bleiben an Bord«, entschied Atlan. »Zumindest einige von ihnen. Ihr technisches Verständnis ist ...« Er suchte nach dem richtigen Wort und grinste. »Sie sind Genies. Auf ihre Art. Vielleicht ist der Betrieb der CHUVANC ohne sie sogar unmöglich. Sie werden in ihrer Aufgabe auch weiterhin aufgehen. Ich glaube nicht, dass sie sich aktiv gegen uns wenden. Ich vermute, sie kennen keine Seiten, für die sie arbeiten.«

»Ebenso sollten zwei onryonische Geniferen an Bord bleiben«, sagte Rhodan. »Die Parapioniere Tropor Latta und Gillipor Latta. Wir müssen sie bewachen, aber vielleicht brauchen wir sie und ihre Fähigkeiten früher oder später.«

»Verstanden!« Farye senkte den Blick, und im selben Augenblick wanderten milchige Wolken durch das Glas unter den Füßen des Terraners. Der Boden wurde undurchsichtig wie zuvor.

Zurück blieben Rhodan und Atlan ... und ein ganzer Berg von Problemen, die es zu lösen galt.

 

*

 

Ein neues Holo entstand vor Atlan und Rhodan. Es zeigte eine schematische Karte ihrer Umgebung. Die CHUVANC hielt sich nach wie vor im Naatasystem auf – in der Holokarte wurde sie durch ein elliptisches Symbol dargestellt. Patronitrote Symbole zeigten die onryonischen Einheiten, die sich zwischen den Planeten verteilten und sich erst langsam wieder sammelten.

Dass die Schlacht dort zur Ruhe gekommen war, bedeutete nicht mehr als die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. Die Onryonen ahnten nicht, dass es den galaktischen Schiffen vor allem darum gegangen war, für Ablenkung zu sorgen ... Ablenkung, damit Rhodan und seine Begleiter die CHUVANC kapern konnten. Das war gelungen, ohne dass die Onryonen etwas davon ahnten.

Durch das Holo des Naatasystems schwebte die CHUVANC, gezielt gesteuert von den drei Pseudo-Geniferen. Sie flogen das Richterschiff mit Bravour. Dazu würden sie allerdings nur so lange in der Lage sein, wie sich die CHUVANC nicht durch die Synchronie bewegte.

In jenem geheimnisvollen Medium, dem einzigen Zugang zu den Jenzeitigen Landen, vermochte nur einer den Weg zu finden und als Pilot zu dienen: Atlan, der einzige bekannte Galaktiker, der jemals hinter den Materiequellen gewesen war.

Wieso nur dieser Besuch Personen zur Steuerung eines Richterschiffes legitimierte, wussten weder Rhodan noch Atlan. Dieses Rätsel würde sich hoffentlich lösen, sobald sie diesen unbegreiflichen Raum erreichten, diese künstliche Dimension der Zeit, von der sie bislang nur in Geschichten gehört hatten.

Dorthin mussten die neuen Herren der CHUVANC so rasch wie möglich vorstoßen: Die Passage begann im Arkonsystem, genauer in dem dort seit Jüngstem installierten Kosmoglobus. Nur durch ihn – soweit bekannt – vermochte selbst ein Richterschiff in die Synchronie einzufliegen.

Das Missionsziel war klar definiert: die Jenzeitigen Lande zu erreichen. Wo immer jene liegen, was immer sie darstellen mochten.

Weder Rhodan noch irgendeiner seiner Verbündeten konnten sich unter der vagen Bezeichnung etwas Konkretes vorstellen. Nur eines stand fest: Es handelte sich um eine besondere, losgelöste Region des Universums. Lag sie außerhalb von Raum und Zeit? Einiges sprach dafür.

Doch dies war nicht die Zeit, um zu theoretisieren. Vorher galt es, die RAS TSCHUBAI zu treffen und an Bord der CHUVANC zu nehmen. Genauer gesagt sollte das terranische Omniträger-Fernschiff in die Synkavernen einschleusen, einen geheimnisvollen, offenbar dimensional ausgelagerten Raum innerhalb der CHUVANC, dessen genaue Struktur sich den Galaktikern bislang nicht erschlossen hatte. Sie wussten nur, dass sich durch das gesamte Schiff hauchdünne, immaterielle Fäden zogen, und dass diese einen Zugang zu den Synkavernen boten – einen riesigen, sinnverwirrenden Bereich, in den zuletzt Yuunüs Phörn, der Sekretär des Richters Chuv, geflohen war.

Wie die Einschleusung der RAS TSCHUBAI in die Synkavernen gelingen sollte, wusste Rhodan noch nicht konkret. Er baute auf die erzwungene Hilfe des Richters, der so sehr mit seinem Schiff verbunden war, dass sein Name und der des Schiffes miteinander zu einem einzigen verschmolzen waren. Für ihn musste es ein Leichtes sein.

Der Richter stand derzeit etwa fünf Meter von der Achse entfernt und rührte sich nicht. Rhodan und Atlan hielten die Kontrolle mittels der beiden TARA-Roboter, die den Wünschen der Unsterblichen entsprechend kodierte Lichtbefehle erzeugten. Was für einen normalen Menschen keinerlei Wirkung gehabt hätte, hielt den infizierten Chuv in völliger Abhängigkeit.

Der Richter war nur ein Schatten seiner selbst, obwohl er rein körperlich ein Hüne war, der Rhodan und Atlan weit überragte. Bei einer gewaltigen Schulterbreite war Chuv fast zweieinhalb Meter groß. Die Haut, sonst blassblau, war nun fast weiß, durchzogen von Schlieren einer eher kränklichen, gespenstisch-fahlen Farbe. Sie pulsierten leicht; womöglich handelte es sich um eine Art Adergeflecht unter der Haut.

Chuvs humanoides Gesicht schien zu klein zu sein für den mächtigen, haarlosen Schädel. Wie immer wirkte er unwillkürlich gutmütig und freundlich, vor allem wegen der riesigen, babyblauen Augen ... die aktuell jedoch blutunterlaufen waren, ebenso wie der Ansatz des Rüssels, der unruhig über das Kinn rieb.

Die raffiniert gemusterte grelle Robe, die zuvor die Erhabenheit des Richters unterstrichen hatte, verkam an der reglosen, leer wirkenden Gestalt zu einem bedeutungslosen bunten Fetzen.

Kurz – der Atope sah aus, als müsste er jeden Augenblick zusammenbrechen. Oder als kämpfte er mit aller Kraft gegen etwas an, das ihn innerlich so verkrampfte, dass es ihn an den Rand des Todes brachte. Der Terraner befürchtete, dass genau das den Tatsachen entsprach.

»Er versucht, sich von der Fremdsteuerung durch die Lichtbefehle zu befreien«, sagte Atlan, der offenbar genauso empfand.

Rhodan nickte. »Wir programmieren die TARAS um. Sie müssen die Impulse in engeren Abständen abstrahlen.« Er gab einen Befehl weiter. Nur Sekunden später blinkte einer der beiden Kampfroboter rhythmisch auf; fast wie eine Morsebotschaft. Lang ... lang ... kurz-kurz-raschraschrasch ...

Chuvs Haltung entspannte sich. Die übergroßen Augen schlossen sich, blinzelten, und der Atope lächelte auf seltsam menschlich anmutende Art.

Es fiel Rhodan schwer, den Blick von dem absonderlichen Schauspiel loszureißen. Sie nahmen mithilfe der OptAGs ein fremdes Intelligenzwesen unter Fernsteuerung. Eine Methode, die sie nie zuvor erprobt hatten, und bei der sie ethische Grenzen überschritten. Hypnose und Suggestion hatte er bereits oft einsetzen lassen ... aber je älter er wurde, desto mehr belastete ihn ein solches Vorgehen. Wenn er jemals aufhörte, seine Befehle zu hinterfragen, würde er aufhören, ein Mensch zu sein. Zumindest jener Mensch, der für wert befunden worden war, die Unsterblichkeit zu empfangen.

Ihn plagten Skrupel, doch ihnen blieb keine andere Wahl. Es ging um alles oder nichts. Nur in den Jenzeitigen Landen gab es eine Chance, das Geheimnis des Atopischen Tribunals zu enthüllen. Und nur mit einem Richterschiff, das unter seinem Befehl stand, konnte er dorthin vordringen.

Doch eines nach dem anderen. Als Erstes mussten sie zur RAS TSCHUBAI gelangen, wobei die Onryonen und deren Verbündete nicht bemerken durften, was an Bord des Richterschiffes vorgefallen war.

Ihnen musste suggeriert werden, dass Richter Chuv sein Schiff weiterhin aus freiem Willen kommandierte. Nur dann bestand die Chance, auch das von den Onryonen und Richter Matan Addaru Jabarim perfekt abgeschirmte Arkonsystem und den dortigen Kosmoglobus zu erreichen.

Eine Zeit lang hatten sie befürchtet, Chuv hätte den Angriff auf sein Schiff nach außen weitergemeldet. Doch dem war offenbar nicht so. Es schien dem Selbstverständnis eines Richters zu widersprechen, niederes Fußvolk bei internen Problemen zu Hilfe zu rufen.

Also benötigten Rhodan und Atlan als ersten Schritt einen Vorwand, um die CHUVANC zu einem möglichen Rendezvouspunkt außerhalb des Naatasystems zu steuern. Genau diesen Vorwand sollte die vorbereitete Holosimulation bieten – eine Menge Onryonen, die in gefährdeten Fluchtkapseln die zurückliegende Schlacht überlebt hatten, aber vor einer Katastrophe standen.

»Wir müssen die Holosimulation perfektionieren«, sagte Rhodan. »Damit Chuv verkünden kann, dass er mit seinem Schiff loszieht, um die Überlebenden zu retten.« Tatsächlich wollte Rhodan die RAS TSCHUBAI dorthin befehlen und sie einschleusen. »Nur dann können wir die Onryonen wenigstens vorübergehend täuschen!«

»Du hast zwar recht, dass Bilder und gefälschte Ortungsdaten so fehlerfrei wie möglich sein müssen«, sagte Atlan, »aber wir dürfen keine Zeit verlieren! Irgendwelche Mängel müssen wir wohl oder übel riskieren, auch wenn es gefährlich ist.«

Rhodan ärgerte sich, dass sie keinen Zugriff auf die Positroniken der RAS TSCHUBAI oder gar auf ANANSIS hatten. Mit deren Unterstützung wäre es ein Leichtes gewesen, eine perfekte Simulation zu erstellen. In der CHUVANC sah das anders aus. Die theoretische Befehlsgewalt war eines ... sie praktisch umzusetzen, etwas anderes.