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Für Emma und Clara –
ihr wisst warum

Blattlausalarm und ein wichtiger Brief

Diese Geschichte beginnt mit Sonnenschein an einem warmen Julimorgen und endet in einer lauen Augustnacht bei Vollmond. Dazwischen geschieht viel Schreckliches und Schönes, von dem an diesem Morgen noch keiner etwas ahnt, und das ist auch gut so.

Der junge Mann, der gerade mit einer Gießkanne zwischen den Rosenbeeten herumläuft, singt vergnügt vor sich hin.

»Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht. Pflücke die Rose, eh’ sie verblüht …«

»Du Wahnsinniger, du!« Über einer Weißdornhecke taucht ein zornrotes Gesicht auf.

Der junge Mann lässt vor Schreck die Gießkanne fallen, das Wasser schwappt über seine Füße.

»Ich meine … also, ich habe … das war nicht so gemeint, das ist nur ein Lied, ich will Ihre Rosen nicht pflücken …«

»Lied? Pflücken? Was faselst du da?« Zu dem zornroten Gesicht gehört ein ziemlich langer, ziemlich hagerer Körper, und zu dem Körper gehört ein ziemlich langer, ziemlich blumiger Name.

Baron Leopold Oleander von Pelargonien stürzt jetzt hinter der Hecke hervor und packt den jungen Mann, der übrigens völlig unblumig Justus heißt, am Kragen.

»Was hast du mit der Königin von Dänemark gemacht, will ich wissen!«

»Königin von Dänemark?«, fragt Justus begriffsstutzig.

»O du heilige Einfalt! Diese Rose hier …«

Der Baron lässt den Jungen los und zeigt mit dem Finger auf eine hellrosa Rose.

»Und was soll mit der sein? Sieht doch gut aus.«

»Gut, sagst du? Unter gut verstehe ich etwas anderes.« Der Baron zieht ein abgegriffenes Büchlein aus der Tasche seines Jacketts. »Königin von Dänemark, Alba-Hybride, Duft: leicht, Farbe: fleischrosa. Na also!« Er steckt das Buch wieder ein, holt stattdessen eine Lupe heraus und beugt sich über eine voll erblühte Rose. »Ist das fleischrosa? Ja oder nein?«

Der Gärtner zuckt mit den Schultern. »Wie ein halb durchgebratenes Steak sieht sie nicht gerade aus.«

Der Baron schnellt hoch. »Fleischrosa ist eine Farbe zwischen porzellanrosa und apricotrosa, so wie … wie …«

»So wie meine Haut, Papa?« Wieder taucht über der Hecke ein Gesicht auf. Aber ein kleineres, feineres, mit Wangen, die nicht vom Zorn gerötet sind, sondern von etwas anderem …

»Jasmina?«

Das Mädchen schüttelt den Kopf.

»Gerania?«, schlägt der Baron vor.

Wieder Kopfschütteln, heftiger diesmal.

»Primula? Camilla? Auch nicht? Wer bleibt denn dann noch übrig?«

»Hortensia«, wirft Justus schüchtern ein.

»Ach ja, natürlich.« Der Baron beugt sich wieder über die Rose. »Komm her, mein Kind, und sag mir, welche Farbe die Rosenblätter haben.«

Hortensia zwinkert Justus zu, der zwinkert zurück. Sie zupft ein Blütenblatt ab und hält es sich an die rosige Wange. »Na, sieht man einen Unterschied?«

Der Baron hält die Lupe vors Auge. »Sieht man nicht, in der Tat.«

»Was hab ich dann falsch gemacht?«, fragt der Gärtner keck.

»Du, du …«, der Baron zerkrümelt die Erde zwischen den Fingern, »du hast die Königin von Dänemark fast ertränkt.«

»Das ist nur passiert, weil mir die Gießkanne aus der Hand gefallen ist. Und aus der Hand gefallen ist sie mir, weil Sie …«

»Schon gut, schon gut, kümmere dich jetzt gefälligst um die Kletterrosen, ich mache hier selbst weiter.«

Justus wendet sich erleichtert zum Gehen, da donnert es: »Halt!«

Der Baron inspiziert ein Blatt. »Das kann doch wohl nicht wahr sein!«

»Was ist denn, Papa?«, fragt Hortensia.

»Das kann ich dir sagen! Eine Laus, eine Blattlaus auf meiner Königin von Dänemark!«

Hortensia und der Gärtner beugen sich über den Rosenstock, aber so ungeschickt, dass sie mit den Köpfen zusammenstoßen.

»Wo denn? Ich sehe nichts«, sagt Hortensia.

»Ich auch nicht«, sagt der Gärtner.

»Natürlich seht ihr nichts, sie hat sich aus dem Staub gemacht, die fiese kleine Laus. Aber nicht mit mir!«

Der Baron richtet sich zu seiner ganzen Größe auf.

»Die kriegen wir!«

Hortensia und Justus schauen sich tief in die Augen und seufzen.

»Nicht schon wieder, Papa«, sagt Hortensia.

»Doch«, sagt der Baron, setzt die kleine silberne Trillerpfeife, die um seinen Hals hängt, an die Lippen und bläst hinein.

»Blattlausalarm«, sagt der Gärtner.

»Blattlausalarm«, sagt Hortensia und verdreht die Augen.

Aus jeder der vier Ecken des Gartens eilt nun ein Mädchen herbei. Die vier stellen sich nebeneinander auf.

»Ihr wisst, was ihr zu tun habt«, sagt der Baron.

»Ja, Papa«, sagt Primula, die Jüngste.

»Ja, Papa«, sagt Gerania, die Zweitjüngste.

»Ja, Papa«, sagt Jasmina, die Mittlere.

»Nein, Papa«, sagt Camilla, die Zweitälteste.

»Ja, Papa«, sagt Hortensia, die Älteste.

»Wie bitte?«, bellt der Baron. »Hab ich da ein Nein gehört?«

»Das war ich«, sagt Camilla. »Wir haben doch gestern schon den ganzen Tag sämtliche Rosen nach Blattläusen abgesucht und keine gefunden.«

»Hier war aber eine, ich habe sie mit meinen eigenen Augen gesehen!«

»Die ist vor Schreck wahrscheinlich tot umgefallen«, sagt Camilla ungerührt. »Ich suche jedenfalls nicht mit, ich habe das Mittagessen auf dem Herd.«

»Und ich war gerade beim Fensterputzen«, sagt Jasmina und schwenkt einen Lappen.

»Und ich habe das Silber poliert«, sagt Gerania.

»Du lügst ja«, zischt Primula. »Wir haben doch gar kein Silber mehr.« Laut sagt sie: »Und ich muss Klavier üben.«

Der Baron rauft sich die paar Haare, die er noch hat.

»Das sollen meine Töchter sein? Diese undankbare Brut?«

»Ich helfe dir«, sagt Hortensia. »Justus und ich suchen gemeinsam.« Und schon wieder stecken die beiden die Köpfe zusammen.

»Und ihr kommt mit ins Haus«, sagt Camilla und geht den anderen drei Schwestern voran zu einem ziemlich großen, ziemlich verfallenen Haus mit einem Türmchen in der Mitte, auf dem eine rostige Wetterfahne sich leise quietschend im Wind dreht.

Primula setzt sich an den verstimmten Flügel, Gerania trocknet Besteck ab, Jasmina putzt die Fenster in der Halle, wobei das völlig sinnlos ist, da die meisten Scheiben blind sind.

Camilla palt Erbsen und schneidet Karotten in kleine Würfel.

Da klopft es an die Tür.

»Die Post ist da!«, erschallt es von draußen.

»O nein«, sagt Camilla.

»Vielleicht ist es ja mal was Nettes«, sagt Gerania und schwenkt ein Messer.

»Es war noch nie etwas Nettes, nicht seit ich denken kann«, sagt Camilla und geht durch die Halle.

»Schönen guten Morgen, Baroness«, sagt der Briefträger freundlich.

»Das Übliche?«, fragt Camilla nur.

Der Briefträger drückt ihr einen Stapel Briefe in die Hand. »Ich fürchte ja.«

Camilla überfliegt seufzend die Absender.

»Aber hier ist noch etwas, das sieht nicht nach Rechnung aus.« Er zieht einen dicken Brief aus der Tasche.

»Hagelschlag, Schauer und Söhne, Rechtsanwälte«, liest Camilla. »Die Söhne heißen wahrscheinlich Donner und Blitz und alle zusammen drohen uns mit Gericht oder Guillotine oder noch Schlimmerem.«

»Wird schon werden«, sagt der Briefträger. »Ich muss weiter.«

Camilla schließt die Tür. Nachdenklich dreht sie den Brief hin und her. Dann legt sie ihn zusammen mit den anderen auf die wuchtige Kommode in der Halle, die als einziges antikes Stück noch nicht verkauft worden ist, denn ihr fehlt einer der gedrechselten Füße. Camilla hat ihn durch einen Ziegelstein ersetzt.

Jetzt ruft sie zum Mittagessen, das die Familie in der Küche einnimmt, denn auch die große Tafel aus der Halle, an der vor langer, langer Zeit einmal zwanzig Personen Platz hatten, ist längst beim Trödler gelandet.

Und doch sieht Baron Leopold Oleander von Pelargonien sehr würdevoll aus, wie er da kerzengerade am Kopf des Küchentisches sitzt und mit einem Brotmesser die Briefe aufschlitzt. Kopfschüttelnd überfliegt er die Seiten.

»Hab ich wirklich fünf Dutzend Gloria Dei bestellt?«, murmelt er. »Was? So teuer war das Rankgerüst? Und der Ballen Torf kostete letztes Jahr auch nur die Hälfte.«

Camilla schöpft Gemüsesuppe in die Teller.

»Papa, du musst endlich damit aufhören, ständig Sachen für den Garten zu bestellen. Wir sind pleite!«

»Nicht dieses Wort!«, schimpft der Baron. »Und vor allem nicht bei Tisch!«

»Nenn es, wie du willst: bankrott, zahlungsunfähig, arm wie die Kirchenmäuse. Wir sind verloren!«

Mit gerunzelter Stirn öffnet der Baron den letzten Brief und sofort erhellt sich sein Gesicht. »Wir sind gerettet!«

Gerania reißt den Mund auf, Jasmina lässt den Löffel fallen, Hortensia verschluckt sich, Camilla hustet und Primula fragt: »Haben wir im Lotto gewonnen, Papa?«

»Dummes Zeug«, sagt der Baron. »Seit wann spielen wir Lotto?«

»Papa wirft auch so das Geld zum Fenster raus«, sagt Camilla.

»Ruhe jetzt, ich verlese den Brief!«

Der Baron räuspert sich und beginnt: »Sehr geehrter Baron, in unserer Verwahrung befindet sich die Nachlassverfügung des Fürsten Horatio von Schnurrn und Schnacksis, die durch das Vorversterben des Erblassers am 15ten dieses Monats in Kraft tritt …«

»Ich verstehe kein Wort!«, jammert Gerania.

»Wer ist erblasst?«, fragt Hortensia.

»Ruhe!«, ruft Camilla. »Wir erben! Wie viel?«

»Die gesamte Erbmasse beträgt 100000 Goldstücke«, sagt der Baron. »Herr im Himmel, was kann ich davon nicht alles für den Garten kaufen!«

»Erst einmal bezahlen wir die Schulden«, sagt Camilla entschieden. »Und außerdem haben wir das Geld noch gar nicht.«

»Aber bald«, sagt ihr Vater. »Am Montag pünktlich um elf soll ich mich in Schnackenberg beim Anwalt einfinden, dann wird das Testament verlesen.«

»Wer war denn dieser schnurrige Schnacks? Kennen wir den?«, fragt Primula.

»Wo ist der Stammbaum?«, ruft der Baron.

Camilla steht auf und kramt in einer Küchenschublade herum. Mit einer Papierrolle kehrt sie zurück.

Baron Leopold entrollt sie feierlich.

»Hier ist meine Tante Adelgunde, da mein Vetter Willibald, nein, das ist bloß ein Fettfleck, aber hier …« Er zeigt auf einen Namen. »Da ist er ja: Horatio Harald, jüngster Sohn des Fürsten von Schnurrn und Schnacksis, einem Großonkel meiner Mutter. Hab ihn persönlich nie kennen gelernt.«

»Gibt es noch andere Verwandte?«, fragt Camilla.

Der Baron studiert den Stammbaum. »Meines Wissens nicht, sind alle längst tot, bis auf …«, er wird blass, »… bis auf Apollonia von Dünkelstein!«

Apollonia Gräfin Dünkelstein ist eine beeindruckende Erscheinung. Gerade rauscht sie in einem taubenblauen Seidenkleid in den Salon, wo ihr Sohn Karl-Wilhelm über dem dicken Haushaltsbuch sitzt und rechnet.

»Viehier und neun mahacht zehn und eiheins im Sinn …«

Der Bleistift ist schon ganz durchgekaut. »Ihimmer kommt etwas ahanderes heraus, Mama«, jammert er.

»Du bist und bleibst ein Trottel, mein Junge«, sagt die Gräfin. »Ach, wenn ich nur an meinen geliebten Franz-August denke, der konnte fünfstellige Wurzeln im Kopf ziehen!«

»Wuhurzeln ziehen kann ihich auch«, sagt Karl-Wilhelm gekränkt.

»Schon gut, von Gartenarbeit verstehst du wirklich was. Aber lass jetzt, ich habe etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.« Sie schwenkt einen Brief. »Der kam mit der ersten Post.«

Karl-Wilhelm wird kreideweiß. »Eihein Erpresserbrief? Ich meiheine, will jemand Geheld?«

»Wie kommst du denn darauf? Nein, ganz im Gegenteil. Wir sollen welches bekommen.«

Karl-Wilhelm atmet auf.

Die Gräfin hält sich ein Lorgnon vors Auge und überfliegt das Schreiben. »100000 Goldstücke, um genau zu sein.«

»Dahas ist sehr vihiel«, sagt Karl-Wilhelm.

»Es ist ja nicht so, dass wir es bräuchten«, sagt die Gräfin stolz und fährt sich über das tadellos frisierte Haar. »Unsere Rosenzucht blüht und gedeiht. Heute Morgen kam schon wieder eine Bestellung für fünf Dutzend Stöcke, und das aus Amerika.«

»Uhund wer schenkt uhuns so viel Geheld?«

»Mein Großcousin Horatio Harald von Schnurrn und Schnacksis ist leider verschieden und wir sind die nächsten Angehörigen«, sagt die Gräfin. »Dabei habe ich ihn kaum gekannt. Aber Hauptsache, das Geld bleibt in der Familie …«

Bei dem Stichwort »Familie« runzelt sie die Stirn.

»Warte mal, wenn Horatio Harald mein Großcousin war, der Sohn meiner Großtante Adelgunde, dann bedeutet das … o nein!«

»Wahas hast du dehenn, Mama?«

»Baron Leopold Oleander von Pelargonien ist ebenfalls mit ihm verwandt!«

»Dahann teilt ihr eheben das Geld«, sagt Karl-Wilhelm.

»Das wäre ja nicht weiter schlimm, im Gegensatz zu ihm bin ich auf das Geld nicht angewiesen, aber womöglich erscheint er auch am Montag in Schnackenberg beim Anwalt, und ich hatte mir geschworen, nie wieder ein Wort mit ihm zu sprechen!«

»Waharum?«

»Ja, erinnerst du dich denn nicht mehr? Wie er mich vor fünf Jahren beim Grand Prix de la noblesse des roses beleidigt hat?«

Erregt fährt sich die Gräfin mit allen zehn Fingern durchs Haar und die sorgfältig ondulierten Wellen sind hin.

»Mehltau!«, spuckt sie. »Er hat doch die Frechheit besessen zu behaupten, die Blätter meiner Neuzüchtung Floribunda Pollonia hätten Mehltau, dabei war das nur der typische samtige Flor, der gerade diese Rose …«

»Ahaber du hast dohoch trotzdem gewonnen«, unterbricht sie Karl-Wilhelm. »Dahas tust du ihimmer.«

»Allerdings«, sagt die Gräfin. »Und ich gedenke auch in diesem Jahr den ersten Preis zu bekommen. Aber diese Unverschämtheit, bedenke doch! Dabei kann dieser Hobbygärtner froh sein, wenn er mit seinen Rosenkrüppeln überhaupt zugelassen wird.«

»Lehetztes Jahr hat Leheopold den dritten Plahatz gemacht«, sagt Karl-Wilhelm.

Die Gräfin winkt ab. »Das war reines Mitleid, schließlich weiß jeder, dass er sich für seine Rosenzucht bis über beide Ohren verschuldet. Die armen Kinder tun mir Leid. Haben keine Mutter mehr und müssen bei Wasser und trocken Brot darben, nur weil der Vater so ein teures Steckenpferd hat.«

»Wihir könnten ihnen jaha mal was schihicken«, schlägt Karl-Wilhelm vor. »Eiheinen von Gerlindes göhöttlichen Gugelhupfen.«