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Theologische Wissenschaft

Sammelwerk für Studium und Beruf

 

 

Herausgegeben von

 

Traugott Jähnichen

Adolf Martin Ritter

Udo Rüterswörden

Ulrich Schwab

 

Band 1

Walter Dietrich
Hans-Peter Mathys
Thomas Römer
Rudolf Smend

Die Entstehung des Alten Testaments

Neuausgabe

Verlag W. Kohlhammer

1. Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Reproduktionsvorlage: Andrea Siebert, Neuendettelsau

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-020354-9

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-025340-7

epub:     ISBN 978-3-17-025341-4

mobi:     ISBN 978-3-17-025342-1

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Inhalt

  1. Vorwort
  2. A.    Das Alte Testament
  3. I.      Die hebräische Bibel
  4. 1.      Der Kanon
  5. a)         Die frühesten Zeugnisse
  6. b)         Zahl und Anordnung der Bücher
  7. c)         Die Entstehung des Kanons
  8. 2.      Der Text
  9. a)         Das Nebeneinander von Textformen
  10. b)         Die Fixierung des Textes
  11. c)         Handschriften, Druckausgaben, Textkritik
  12. II.     Die alten Übersetzungen
  13. 1.      Die Septuaginta
  14. a)         Entstehungsgeschichte und Eigenart
  15. b)         Umfang und Anordnung
  16. c)         Der Gebrauch im Judentum und im Christentum
  17. 2.      Andere Übersetzungen
  18. a)         Die Targume
  19. b)         Die Peschitta
  20. c)         Vetus Latina und Vulgata
  21. III.      Die deuterokanonischen Schriften („Apokryphen“)
  22. 1.      3Esra
  23. 2.      Zusätze zu Ester
  24. 3.      Judit
  25. 4.      Tobit
  26. 5.      1Makkabäer
  27. 6.      2Makkabäer
  28. 7.      3Makkabäer
  29. 8.      Gebet des Manasse
  30. 9.      Weisheit Salomos
  31. 10.      Jesus Sirach
  32. 11.      Baruch
  33. 12.      Brief Jeremias
  34. 13.      Zusätze zu Daniel
  35. B.    Der Pentateuch
  36. I.      Der Pentateuch als ganzer
  37. 1.      Die Geschichte der Erforschung des Pentateuchs
  38. a)         Die traditionelle Zuschreibung des Pentateuchs an Mose und deren erste Infragestellungen. Von den Rabbinern bis zu Spinoza
  39. b)         Die Anfänge der historisch-kritischen Fragestellung: Astruc, Witter, de Wette
  40. c)         Die verschiedenen Erklärungsmodelle im 19. Jahrhundert und der Siegeszug der Quellentheorie
  41. d)         Das System Wellhausens
  42. e)         Die Weiterentwicklung des Systems (Gunkel, Noth, von Rad)
  43. f)         Erste Kritiken
  44. g)         Die Infragestellung der klassischen Quellentheorie um 1975
  45. h)         Erste Ausarbeitung von Alternativmodellen
  46. i)         Die aktuelle Diskussion
  47. j)         Zusammenfassung
  48. 2.      Die letzten Redaktionen des Pentateuchs
  49. a)         Das Problem einer „Endredaktion“
  50. b)         Die Pentateuchredaktion
  51. c)         Die sogenannte „Heiligkeitsschule“
  52. 3.      Die priesterliche Schicht des Pentateuchs
  53. a)         Inhalt und theologische Intention
  54. b)         Der historische Kontext von P
  55. II.     Das Buch Genesis
  56. 1.      Aufbau und Inhalt
  57. 2.      Die letzten Redaktionen
  58. a)         Pentateuch- und Hexateuchredaktionen
  59. b)         Die Frage einer Toledot-Redaktion
  60. c)         Weitere nach-priesterliche Texte
  61. 3.      Das Problem der zeitlichen und theologischen Einordnung der Josefsgeschichte
  62. 4.      Die priesterlichen Texte in der Genesis
  63. 5.      Die vorpriesterlichen Erzählzyklen der Genesis
  64. a)         Die Urgeschichte
  65. b)         Die Abraham- (und Isaak-) Erzählungen
  66. c)         Die Jakobtraditionen
  67. III.    Das Buch Exodus
  68. 1.      Aufbau und Inhalt
  69. 2.      Theorien zur Entstehung des Exodusbuches
  70. 3.      Die letzten Redaktionen
  71. a)         Pentateuch- und Hexateuch-Redaktionen
  72. b)         Weitere nach-priesterliche Texte
  73. 4.      Die priesterlichen Texte
  74. 5.      Die dtr Version der Mose-Exoduserzählung
  75. 6.      Eine ältere Mose-Exoduserzählung
  76. 7.      Die Ursprünge der Exodustradition und die Frage ihrer Historizität
  77. IV.    Das Buch Levitikus
  78. 1.      Aufbau und Inhalt
  79. 2.      Theorien zur Entstehung des Buches Levitikus
  80. 3.      Die letzten Redaktionen im Buch Levitikus
  81. a)         Pentateuch- bzw. letzte Redaktionen
  82. b)         Heiligkeitsredaktion und Heiligkeitsgesetz
  83. 4.      Die Priesterschrift in Lev 1–16
  84. V.    Das Buch Numeri
  85. 1.      Aufbau und Inhalt
  86. 2.      Theorien zur Entstehung des Buches Numeri
  87. 3.      Theokratische Bearbeitungen, Penta- und Hexateuchredaktionen
  88. a)         Theokratische Bearbeitungen in Num 1–10; 15; 18–19 und 25–36
  89. b)         Num 11–25
  90. 4.      Der literarische Ursprung des Numeribuches
  91. 5.      Ältere Traditionen im Numeribuch
  92. a)         Bileam
  93. b)         Baal Peor
  94. c)         Die Eroberung des Ostjordanlandes
  95. d)         Der priesterliche Segen
  96. VI.    Das Buch Deuteronomium
  97. 1.      Aufbau und Inhalt
  98. 2.      Theorien zur Entstehung des Buches Deuteronomium
  99. a)         Ursprung und Diachronie
  100. b)         Das Deuteronomium und die Vasallenverträge
  101. c)         Die Entstehung des deuteronomischen Gesetzes
  102. d)         Ursprung und Trägergruppen des Dtn
  103. 3.      Die letzten Redaktionen des Dtn
  104. a)         Penta- und Hexateuchredaktionen
  105. b)         Weitere nach-deuteronomistische Überarbeitungen
  106. 4.      Die letzten dtr Redaktionen des Dtn im Rahmen des DtrG
  107. 5.      Die „exilische“ Bearbeitung des Dtn
  108. 6.      Das „Urdeuteronomium“
  109. C.    Die Vorderen Propheten
  110. I.      Die Hypothese vom deuteronomistischen Geschichtswerk
  111. 1.      Entfaltung
  112. 2.      Bestreitung
  113. 3.      Differenzierung
  114. a)         Das sog. „Blockmodell“
  115. b)         Das sog. „Schichtmodell“
  116. c)         Kompromissmodelle
  117. 4.      Schlusserwägungen
  118. II.     Das Josuabuch
  119. 1.      Redaktion
  120. a)         Die priesterliche Bearbeitung
  121. b)         Der deuteronomistische Diskurs über Israels Land
  122. 2.      Quellen
  123. a)         Die Landnahme-Erzählungen
  124. b)         Die Landbesitz-Listen
  125. c)         Zur Gestalt Josuas
  126. III.    Das Richterbuch
  127. 1.      Redaktion
  128. a)         Der Diskurs über das Verhältnis Jhwh-Israel
  129. b)         Der Diskurs über Richtertum und Königtum
  130. 2.      Quellen
  131. a)         Die Retter-Erzählungen (Ri *3–12)
  132. b)         Die Liste der „Kleinen Richter“ (Ri 10,1–5; 12,8–15)
  133. c)         Das Deboralied (Ri 5)
  134. d)         Die Simson-Erzählungen (Ri 13–16)
  135. e)         Die Erzählungen im sog. Anhang (Ri 17–21)
  136. IV.    Die Samuelbücher
  137. 1.      Text
  138. 2.      Redaktion
  139. a)         Der deuteronomistische Diskurs über Staat und Dynastie
  140. b)         Der vordeuteronomistische Diskurs über gutes Königtum
  141. 3.      Quellen
  142. a)         Überlieferungen um Samuel und Saul
  143. b)         Überlieferungen um die Lade
  144. c)         Überlieferungen um David
  145. V.    Die Königsbücher
  146. 1.      Redaktion
  147. a)         Der Diskurs über die Staaten Israel und Juda
  148. b)         Der Diskurs über die geschichtliche Rolle der Prophetie
  149. 2.      Quellen
  150. a)         Das „Buch der Salomogeschichte“ (1Kön 3–11)
  151. b)         Die „Tagebücher der Könige“ von Israel und Juda
  152. c)         Elija, Elischa, Jehu – oder das Prophetische Erzählwerk über den Kampf Jhwhs gegen Baal
  153. d)         Kleinere Quellen
  154. D.    Die Hinteren Propheten
  155. I.      Das Phänomen der alttestamentlichen Prophetie
  156. 1.      Der Prophetenkanon
  157. 2.      Zur Wahrnehmung der Prophetie in neuerer Zeit
  158. 3.      Die Prophetenbücher
  159. 4.      Die Propheten
  160. II.     Das Jesajabuch
  161. 1.      Gesamtkomposition (Jes 1–66)
  162. a)         Struktur, Inhalte und „Sitz im Leben“ des Jesajabuchs
  163. b)         Die Entstehung des Großjesajabuchs
  164. 2.      Tritojesaja (Jes 56–66)
  165. a)         Die Gesamtanlage
  166. b)         Der Entstehungsprozess
  167. 3.      Deuterojesaja (Jes 40–55)
  168. a)         Der Aufbau und die Elemente
  169. b)         Die Entstehung
  170. c)         Der Prophet „Deuterojesaja“
  171. 4.      Protojesaja (Jes 1–39)
  172. a)         Komposition und Buchteile
  173. b)         Die Wachstumsstufen
  174. c)         Der Prophet Jesaja
  175. III.    Das Jeremiabuch
  176. 1.      Hebräische und griechische Version
  177. 2.      Gesamtkomposition
  178. a)         Das Redaktionsmodell
  179. b)         Das Fortschreibungsmodell
  180. 3.      Buchelemente
  181. a)         Die Gedichtsammlungen
  182. b) Die Gebete oder Konfessionen
  183. c)         Die Erzählungen
  184. d)         Die Fremdvölkerorakel
  185. e)         Das sog. Trostbüchlein
  186. 4.      Jeremia: Das Buch und der Prophet
  187. a)         Die Redaktionen und die Quellen
  188. b)         Der Prophet Jeremia
  189. IV.    Das Ezechielbuch
  190. 1.      Formen und Strukturen
  191. 2.      Themen und Farben
  192. 3.      Entstehung
  193. 4.      Verfassung des Gottesvolks (Ez 40–48)
  194. 5.      Der Prophet Ezechiel
  195. V.    Das Zwölfprophetenbuch
  196. 1.      Synchrone Betrachtung, oder: Das Dodekapropheton als Buch
  197. a)         Das System der Überschriften
  198. b)         Verbindende Themen
  199. c)         Sprachliche Verknüpfungen
  200. 2.      Diachrone Betrachtung, oder: Das Werden des Dodekapropheton
  201. a)         Ein vorexilisches Zweiprophetenbuch (Hos-Am)
  202. b)         Ein exilszeitliches Vierprophetenbuch (Hos-Am-Mi-Zef)
  203. c)         Ein exilszeitliches Zweiprophetenbuch (Nah-Hab)
  204. d)         Ein frühnachexilisches Zweiprophetenbuch (Hag-PrSach)
  205. e)         Die Prophetenanthologie in der persischen Ära
  206. f)         Der Abschluss des Zwölfprophetenbuchs in hellenistischer Zeit
  207. 3.      Hosea
  208. a)         Der Aufbau der Schrift
  209. b)         Die Entstehung der Schrift
  210. c)         Der Prophet
  211. 4.      Joël
  212. a)         Der Aufbau der Schrift
  213. b)         Die Entstehung der Schrift
  214. c)         Der Prophet
  215. 5.      Amos
  216. a)         Der Aufbau der Schrift
  217. b)         Die Entstehung der Schrift
  218. c)         Der Prophet
  219. 6.      Obadja
  220. a)         Der Aufbau der Schrift
  221. b)         Die Entstehung der Schrift
  222. c)         Der Prophet
  223. 7. Jona
  224. a)         Der Aufbau der Schrift
  225. b)         Die Entstehung der Schrift
  226. c)         Der Prophet
  227. 8.      Micha
  228. a)         Der Aufbau der Schrift
  229. b)         Die Entstehung der Schrift
  230. c)         Der Prophet
  231. 9.      Nahum
  232. a)         Der Aufbau der Schrift
  233. b)         Die Entstehung der Schrift
  234. c)         Der Prophet
  235. 10.      Habakuk
  236. a)         Der Aufbau der Schrift
  237. b)         Die Entstehung der Schrift
  238. c)         Der Prophet
  239. 11.      Zefanja
  240. a)         Der Aufbau der Schrift
  241. b)         Die Entstehung der Schrift
  242. c)         Der Prophet
  243. 12.      Haggai
  244. a)         Der Aufbau der Schrift
  245. b)         Die Entstehung der Schrift
  246. c)         Der Prophet
  247. 13.      Sacharja
  248. a)         Der Aufbau der Schrift
  249. b)         Die Entstehung der Schrift
  250. c)         Der Prophet
  251. 14.      Maleachi
  252. a)         Der Aufbau der Schrift
  253. b)         Die Entstehung der Schrift
  254. c)         Der Prophet
  255. E.    Die Ketubim
  256. I.      Einführung
  257. Die poetischen Texte des Alten Testaments
  258. II.     Der Psalter
  259. 1.      Der Psalter als Buch
  260. 2.      Alter und Verfasserschaft der Psalmen
  261. 3.      Zur Formgeschichte der Psalmen
  262. a)         Klage- und Bittpsalmen des Einzelnen
  263. b)         Dankpsalmen des Einzelnen
  264. c)         Klagelied Israels
  265. d)         Hymnen
  266. e)         Weitere (kleinere) „Gattungen“
  267. III.    Hiob
  268. 1.      Text
  269. 2.      Inhalt
  270. 3.      Aufbau
  271. 4.      Außerisraelitische „Hiobdichtungen“
  272. 5.      Besonderheiten des Buches
  273. 6.      Die Entstehung des Buches
  274. 7.      Literargeschichtliche Differenzierungen innerhalb des Dialogteils
  275. 8.      Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund der Reden
  276. 9.      Hiob 28: Das Weisheitskapitel
  277. 10.      Die Elihureden (Hi 32–37)
  278. 11.      Die Gottesreden
  279. 12.      Zeitliche Ansetzung; „Autor“
  280. IV.    Sprüche
  281. 1.      Allgemeine Einführung in die Weisheitsliteratur
  282. 2.      Altorientalische Parallelen
  283. 3.      Zu den Trägern der Weisheitstexte
  284. 4.      Die „Autorschaft“
  285. 5.      Aufbau
  286. 6.      Die LXX-Wiedergabe
  287. 7.      Entstehung des Buches
  288. 8.      Die „salomonische Autorschaft“
  289. 9.      Inhalte
  290. 10.      Formgeschichte
  291. V.    Rut
  292. 1.      Inhalt
  293. 2.      Formgeschichtliches
  294. 3.      Themen
  295. 4.      Schriftverwendung
  296. 5.      Datierung; literarische Integrität
  297. 6.      Theologische Akzente
  298. VI.    Das Hohelied
  299. 1.      Das Hohelied: Aneinanderreihung von Einzelliedern oder planvoll konzipierte Sammlung?
  300. 2.      Bild-, Vorstellungs- und Rollenrepertoire des Hoheliedes
  301. 3.      Die Gattung(en) des Hoheliedes
  302. 4.      Spätere Interpretationen
  303. 5.      Was ist das Hohelied? / Was sind die in ihm enthaltenen Lieder? Neuere Interpretationen
  304. 6.      Datierung
  305. VII.     Kohelet
  306. 1.      Text
  307. 2.      Aufbau (Form)
  308. 3.      Verfasser
  309. 4.      Sprache
  310. 5.      Literarische Integrität
  311. 6.      Datierung
  312. 7.      „Widersprüche“ im Buch
  313. 8.      Der Schluss / Das Nachwort; Die beiden Epiloge (12,9–14)
  314. VIII.    Klagelieder
  315. 1.      Inhalt
  316. 2.      Name
  317. 3.      Form
  318. 4.      Entstehung, Alter
  319. IX.    Ester
  320. 1.      Inhalt
  321. 2.      Text
  322. 3.      Sprache, Gestaltung, literarische Anklänge
  323. 4.      Datierung
  324. 5.      Gattung
  325. 6.      Purim
  326. X.    Daniel
  327. 1.      Inhalt
  328. 2.      Text
  329. 3.      Entstehung des Buches / zeitgeschichtlicher Hintergrund
  330. 4.      Die Widerspiegelung der Makkabäerzeit im Danielbuch – formal und inhaltlich
  331. XI.    Esra und Nehemia
  332. 1.      Allgemeines
  333. 2.      Text
  334. 3.      Aufbau und Inhalt
  335. 4.      Die Quellen
  336. 5.      Entstehung von Esra / Nehemia
  337. XII.    Chronik
  338. 1.      Ein chronistisches Geschichtswerk?
  339. 2.      Name
  340. 4.      Literarischer Charakter
  341. 5.      Entstehung
  342. 6.      Zentrale Inhalte
  343. 7.      Literarischer Charakter

Vorwort

Im Jahr 1978 hat Rudolf Smend die Erstausgabe des Lehr- und Studienbuchs vorgelegt, dessen Titel auch die hier vorliegende Neuausgabe trägt. Zwischen der 1989 erschienenen letzten, vierten Auflage der Erstausgabe und der jetzigen Neuausgabe liegt ein Vierteljahrhundert. Das ist in der Forschung, auch der alttestamentlichen, eine lange Zeitspanne, in der sich vieles ereignet und manches verändert. Davon geben die Unterschiede zwischen den beiden Ausgaben der „Entstehung des Alten Testaments“ einen Eindruck. Am augenfälligsten ist: Aus einem Autor sind vier geworden, die Last der Erarbeitung lag nicht mehr auf zwei, sondern auf acht Schultern.

Der Erstautor zog sich bescheiden auf einen, freilich den grundlegenden Teil des Werkes zurück. Darin präsentiert er die Entstehungsgeschichte des alttestamentlichen Kanons, und zwar nicht nur des hebräischen, sondern auch des griechischen (wobei die heute so wichtig gewordene Übersetzung der Septuaginta – neben anderen antiken Übersetzungen – eine wichtige Rolle spielt). Neu werden jetzt auch die sog. Apokryphen behandelt, d. h. diejenigen Bücher, die nicht in der hebräischen, wohl aber in der umfangreicheren griechischen (und christlichen) Bibel enthalten sind. Von daher rechtfertigt sich der Titel „Entstehung des Alten Testaments“ (und nicht nur der Hebräischen Bibel) noch einmal besonders. Die drei hinzugekommenen Autoren behandeln sodann die drei großen Teile des hebräischen (bzw. jüdischen) Kanons: Pentateuch, Propheten und Schriften (hebräisch: tôrā, nebi’îm und ketûbîm). Jeder Hauptabschnitt – bei Aufteilung der nebi’îm in Vordere und Hintere Propheten sind es vier – beginnt mit einer generellen Einführung in den betreffenden Sektor des Kanons. Danach folgt die Behandlung der einzelnen biblischen Bücher, oftmals wieder unterteilt in einzelne Abschnitte.

Das Hauptmerkmal der Erstausgabe der „Entstehung des Alten Testaments“ wurde in der jetzigen Fassung beibehalten, teilweise sogar noch konsequenter durchgehalten: Anders als in „Einleitungen ins Alte Testament“ üblich, wird hier nicht die Entstehungsgeschichte der Texte von möglichen mündlichen Vorstufen über hypothetische Urschriften oder „Quellen“ und deren verschiedene Bearbeitungsstufen bis hin zum vorliegenden hebräischen Text verfolgt. Stattdessen wird immer beim Endtext eingesetzt: der Gestalt der biblischen Bücher also, die als einzige zweifelsfrei vorgegeben ist. Dadurch steht das, was in der neueren Forschung etwas plakativ als „synchrone“ (gegenüber der „diachronen“) Fragestellung bezeichnet wird, jeweils dezidiert am Anfang. Jedes biblische Buch wird zu Beginn so beschrieben, wie es sich als Teil des hebräischen Kanons darbietet. Von da aus arbeitet sich die Darstellung dann schrittweise über die späteren und früheren Vorstufen eines Textes zurück bis zu möglichen Urstufen, bei den Hinteren Propheten auch bis zu den zumeist am Anfang der Überlieferung stehenden individuellen Prophetengestalten. (Manche Bücher freilich weisen kaum Anzeichen einer diachronen Entstehung auf; hier kann es im Wesentlichen bei der Analyse des Endtextes bleiben.)

Der Umfang der Neuausgabe ist gegenüber der Erstausgabe um mehr als das Doppelte angewachsen. So wurde es möglich, eine Vielzahl zusätzlicher Informationen einzubringen: nicht zuletzt über den Fortgang der Forschung in den letzten 25 Jahren und den derzeitigen Forschungsstand – wobei aber grundlegende Forschungen früherer Zeiten nicht vergessen werden. In diesem Sinne führen die Bibliographien von frühen Titeln bis zu solchen der Gegenwart und werden in den Textteilen nicht nur Sachfragen und Sachverhalte dargestellt, sondern auch wichtige Forschungspositionen referiert und diskutiert: im Prinzip unabhängig davon, ob und wieweit der jeweilige Autor ihnen zustimmt. Dessen Meinung wird freilich der aufmerksamen Leserschaft nicht verborgen bleiben. Diese soll indes von den Gegenständen kein ungebührlich vereinfachtes, sondern ein angemessen differenziertes Bild erhalten. Darum erfährt sie nicht immer sofort, wie es ist (bzw. gewesen sein soll), sondern auch und zuerst, wie es gesehen wird (oder gesehen werden kann), was zu eigenem Nachvollziehen und Miterwägen anregen mag. Dafür, dass dies sachgerecht geschehen kann, will dieses Buch die nötigen Informationen bieten.

Wir danken dem Verlag – namentlich Herrn Lektor Jürgen Schneider und der Setzerin Frau Andrea Siebert – für die geduldige, sachkundige und sorgfältige Begleitung der Entstehung dieser „Entstehung des Alten Testaments“.

Im Frühsommer 2014

Die Verfasser

A.       Das Alte Testament

(Rudolf Smend)

I.        Die hebräische Bibel

F. Buhl, Kanon und Text des Alten Testaments, Leipzig 1891. – P. R. Ackroyd / C. F. Evans / S. L. Greenslach / G. W. H. Lampe (eds.), The Cambridge History of the Bible I–III, Cambridge 1963–1970. – M. J. Mulder (ed.), Mikra. Text, Translation, Reading and Interpretation of the Hebrew Bible in Ancient Judaism and Early Christianity, 1988 (CRI I). – M. SÆbØ (ed.), Hebrew Bible / Old Testament. The History of Its Interpretation I/1 Antiquity, Göttingen 1996. – N. Davíd et al. (eds.), The Hebrew Bible in Light of the Dead Sea Scrolls, 2012 (FRLANT 239).

1.         Der Kanon

 

J. Fürst, Der Kanon des Alten Testaments nach den Überlieferungen in Talmud und Midrasch, Leipzig 1868. – T. Zahn, Die Geschichte des neutestamentlichen Kanons II,1, Erlangen / Leipzig 1890. – A. Kuenen, Über die Männer der großen Synagoge (1876): Ges. Abh. zur bibl. Wissenschaft, Freiburg / Leipzig 1894, 125–160. – J. A. Sanders, Torah and Canon, Philadelphia 1972. – S. Z. Leiman (ed.), The Canon and Masorah of the Hebrew Bible. An Introductory Reader, New York 1974. – S. Z. Leiman, The Canonization of Hebrew Scripture. The Talmudic and Midrashic Evidence, Hamden, Conn. 1976. – J. Blenkinsopp, Prophecy and Canon, Notre Dame u. a. 1977. – J.-D. Kaestli / O. Wermelinger (éds.), Le Canon de l’Ancient Testament. Sa formation et son histoire, Genf 1984. – R. Beckwith, The Old Testament Canon of the New Testament Church, London 1985. – H. Gese, Die dreifache Gestaltwerdung des Alten Testaments (1985), in: Ders., Alttestamentliche Studien, Tübingen 1991, 1–28. – G. Stemberger, Jabne und der Kanon: JBTh 3 (1988), 163–174. – A. van der Kooij, De canonvorming van de Hebreewse bijbel, het Oude Testament: NedThT 49 (1995), 42–65. – J. M. Auwers / H. J. de Jonge (eds.), The Biblical Canons, 2003 (BEThL 163). – L. M. McDonald / J. A. Sanders (eds.), The Canon Debate, Peabody, Mass. 2004. – R. Achenbach, Die Tora und die Propheten im 5. und 4. Jh. v. Chr., in: R. Achenbach / M. Arneth / E. Otto, Tora in der Hebräischen Bibel. Studien zur Redaktionsgeschichte und synchroner Logik diachronen Transformationen, 2007 (BZAR 7), 26–71. – P. S. Alexander / J.-D. Kaestli, The Canon of Scripture in Jewish and Christian Tradition. Le canon des écritures dans les traditions juives et chrétiennes, Lausanne 2007. – L. Zaman, Bible and Canon. A Modern Historical Inquiry, Leiden 2008. – M. Becker / J. Frey (Hg.), Qumran und der biblische Kanon, 2009 (BThSt 92). – G. Steins / J. Taschner (Hg.), Kanonisierung – die hebräische Bibel im Werden, 2010 (BThSt 110). – M. Witte, Der ‚Kanon‘ heiliger Schriften des antiken Judentums im Spiegel des Buches Ben Sira / Jesus Sirach, in: E.-M. Becker / S. Scholz (Hg.), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion, Berlin u. a. 2012, 229–255.

Die hebräische Bibel ist, wie man gern gesagt hat, eine kleine Bibliothek (vgl. B. Duhm, Die Entstehung des Alten Testaments, Tübingen 21909). Sie enthält die folgenden Bücher:

Gen Ex Lev Num Dtn

Jos Ri 1Sam 2Sam 1Kön 2Kön

Jes Jer Ez Hos Joel Am Obd Jon Mi Nah Hab Zef Hag Sach Mal

Ps Hi Spr Rut Hld Koh Klgl Est Dan Esr Neh 1Chr 2Chr

Wir fragen nach dem Zustandekommen dieser Bibliothek.

a)         Die frühesten Zeugnisse

Um das Jahr 95 n. Chr. schreibt der jüdische Schriftsteller Josephus in seinem apologetischen Werk Contra Apionem (I,7f., 38–41), die Juden besäßen seit langem eine Anzahl von Büchern, denen sie nichts hinzuzufügen, von denen sie nichts wegzunehmen und an denen sie nichts zu ändern wagten. Es sei ihnen allen von Kind auf selbstverständlich, in diesen Büchern Gottes Anordnungen (ϑεοῦ δóγματα) zu finden und darum an ihnen festzuhalten, ja, wenn es sein müsse, freudig für sie zu sterben. Weil bei den Juden nicht jeder habe Geschichte schreiben dürfen, sondern nur die Propheten, die die Vergangenheit gemäß der ihnen zuteil gewordenen göttlichen Inspiration (ϰατὰ τὴν ἐπιπνοίαν τὴν ἐπὸ τοῦ ϑεοῦ) und die Gegenwart aus genauer eigener Kenntnis beschrieben hätten, gebe es hier nicht, wie bei anderen Völkern, zahllose einander widersprechende Bücher, sondern nur wenige, und diese seien völlig zuverlässig. Es handle sich um 22: zunächst 5 von Mose, die die Gesetze und die Überlieferung von der Entstehung des Menschen bis zum Tode des Mose umfassten; dann 13 mit der Geschichte vom Tode des Mose bis zu Artaxerxes, dem Perserkönig nach Xerxes, geschrieben von den Propheten dieser Zeit; schließlich 4 Bücher mit Hymnen auf Gott und Lebensregeln für die Menschen. Auch die Geschichte seit Artaxerxes sei aufgezeichnet, aber diese Schriften besäßen nicht dieselbe Glaubwürdigkeit wie die älteren, weil für diese Zeit die wahre Nachfolge der Propheten gefehlt habe.

Ungefähr gleichzeitig mit dem Zeugnis des Josephus ist das des Schlusskapitels (14) der Apokalypse 4Esr, die aus dem babylonischen Exil zu stammen behauptet, tatsächlich aber nicht die Lage nach 587 v. Chr., sondern die nach der erneuten Zerstörung Jerusalems durch die Römer 70 n. Chr. reflektiert und offenbar auch schon die Regierung des Kaisers Domitian (81–96) voraussetzt. Der angebliche Verfasser Esra fragt im Gebet vor seiner Entrückung, wer in Zukunft das Volk unterweisen solle; Gottes Gesetz sei ja verbrannt, so dass niemand die Taten kenne, die Gott getan habe und die er noch tun wolle. Auf seine Bitte bekommt Esra, indem er einen Becher mit feuerartigem Wasser trinkt, den Heiligen Geist verliehen und diktiert gemäß göttlichem Befehl fünf Männern vierzig Tage lang 94 Bücher. Die ersten 24 von ihnen werden für den allgemeinen Gebrauch veröffentlicht, die übrigen 70 dagegen (die Apokalypsen) den Weisen vorbehalten.

b)         Zahl und Anordnung der Bücher

Die 24 Bücher von 4Esr sind sehr wahrscheinlich ebenso wie die 22 des Josephus mit denen identisch, die wir als das AT kennen. Dieses war demnach am Ende des 1. Jh.s n. Chr. bereits in seinem heutigen Umfang vorhanden.

Der Unterschied in der Zahl der Bücher braucht nicht zu irritieren. Nach unserer heutigen Zählung hat das AT 39 Bücher. In alter Zeit werden Sam, Kön, die 12 Propheten, Esr/Neh und Chr als je ein Buch gezählt. Daher die Gesamtzahl 24, die bei den jüdischen Autoren außer Josephus üblich ist. Die Zahl 22 des Josephus kommt wohl dadurch zustande, dass Rut in Ri und Klgl in Jer einbegriffen werden, was, da beide von Hause aus selbständige Schriften und in einem anderen Kanonteil geläufig sind, ein auf geschichtlicher Überlegung beruhender sekundärer Akt sein dürfte. Die Zahl 22 ist also als die jüngere zu betrachten. Sie ist außer bei Josephus bei einer Reihe von Kirchenvätern bezeugt, die die jüdische Ordnung beschreiben (Melito von Sardes, Origenes, Euseb von Caesarea, Cyrill von Jerusalem, Athanasius, Epiphanius, Hieronymus – der auch die 24 kennt –, Augustin); dabei erscheint durch Zerlegung von Sam, Kön, Chr, Esr/Neh und Ri/Rut oder Jer/Klgl in je zwei Bücher als Alternative die Zahl 27 (Epiphanius, Hieronymus). Beide Zahlen werden mit dem hebräischen Alphabet in Zusammenhang gebracht: es hat 22 Buchstaben, dagegen 27 unter Einrechnung der abweichenden Form, die fünf von ihnen am Ende des Wortes haben (litterae finales). Auch die 24 ist keine gleichgültige Zahl (2 mal 12), ebenso wie die 70 der geheim zu haltenden Bücher im 4Esr. Um bloße Spielereien handelt es sich bei alledem nicht; die Zahlen bezeichnen eine Vollständigkeit und Abgeschlossenheit der Schriftensammlung, die keine Änderung zulässt. „Wer mehr als die 24 Bücher in sein Haus bringt, bringt Verwirrung in sein Haus“, sagt ein rabbinischer Text (Midrasch Kohelet 12,12).

Josephus kennt bereits die Dreiteilung der atl. Bücher, die in der Folgezeit immer festgestanden hat. Die erste Benennung der drei Teile als Gesetz, Propheten und Schriften (tôrāh, neḇî’îm, keṯûḇîm, νóμος, προφῆται, ἁγιόγϱαφα) wird dem Rabban Gamaliel II. (um 90 n. Chr.) zugeschrieben; nach den hebräischen Anfangsbuchstaben heißt das AT bei den Juden TeNaK. Die Dreiteilung als solche ist älter als Josephus und Gamaliel II.; sie lässt sich bis ins 2. Jh. v. Chr. zurückverfolgen.

Im Lukasevangelium (24,44) sagt der Auferstandene, es habe alles erfüllt werden müssen, was „im Gesetz des Mose und den Propheten und den Psalmen“ über ihn geschrieben stehe. Ob die Pss hier stellvertretend für alle „Schriften“ genannt sind, bleibt unsicher (Bekanntschaft mit der Chr als letztem Buch des AT wird für das NT manchmal aus der sehr zweifelhaften Beziehung von Mt 23,35; Lk 11,51 auf 2Chr 24,20f. erschlossen). Etwas älter ist das Zeugnis des Philo von Alexandria, die Therapeuten, eine jüdische Asketengemeinschaft, nähmen zur Lektüre „Gesetze und durch Propheten geweissagte Worte und Hymnen und die anderen Schriften, durch die Erkenntnis und Frömmigkeit vermehrt und vervollkommnet werden“ (De vita contemplativa 3,25). Am weitesten zurück führt der Prolog der griechischen Übersetzung der Weisheit des Jesus Sirach, der mit den Worten beginnt: „Weil uns Vieles und Großes durch das Gesetz und die Propheten und die, die auf sie folgten, gegeben ist, wofür Israel das Lob der Gesittung und Weisheit verdient …“ Der Übersetzer (nach 132 v. Chr.) sagt dann von seinem Großvater, dem Verfasser des Buches (um 190 v. Chr.), er habe „das Gesetz und die Propheten und die anderen von den Vätern überkommenen Bücher“ studiert. Zur Entschuldigung von Abweichungen seiner Übersetzung vom Original weist er darauf hin, dass „auch sogar das Gesetz und die Propheten und die übrigen Bücher in ihrer ursprünglichen (hebräischen) Fassung nicht wenig verschieden“ (von ihrer Übersetzung) seien. Die Dreiteilung ist hier ganz offensichtlich schon vorhanden, für den dritten Teil ist aber noch kein fester Begriff geprägt.

Während die Dreiteilung feststeht, variiert innerhalb dieses Rahmens die Anordnung der einzelnen Bücher. Das gilt natürlich nicht vom Gesetz, das immer mit den „fünf Büchern Mose“ identisch ist, und auch kaum von der ersten der beiden Abteilungen, in die man etwa seit dem 8. Jh. n. Chr. die Propheten zu gliedern pflegt, den Prophetae priores (n ḇî’îm ri’šônîm) im Unterschied zu den Prophetae posteriores (neḇî’îm’aḥarônîm); die „vorderen“ (oder „früheren“) Propheten umfassen stets die Bücher Jos, Ri (allenfalls mit Rut), Sam und Kön. Dagegen gibt es bei den „hinteren“ (oder „späteren“) Propheten und vollends bei den „Schriften“ weit weniger zwingende Gründe für eine bestimmte Reihenfolge; als äußerer Umstand kommt hinzu, dass in der Regel jeweils ein Buch auf einer Rolle (aus Papyrus, Leder oder Pergament) steht und die Rollen verschieden hintereinander geordnet werden können (der Kodex kommt erst im 2. Jh. n. Chr. in Gebrauch). So begegnen wir in diesem Bereich einer großen, ja verwirrenden Vielfalt.

Ein Blick auf die eingangs angeführten Zahlen des Josephus zeigt, dass die Ordnung der Bücher bei ihm sogar sehr anders ausgesehen haben muss als in der uns geläufigen Bibel. Sein dritter Teil umfasst nur vier Bücher, vermutlich Ps, Spr, Hld und Koh, also die David und Salomo zugeschriebenen Bücher; die übrigen „Schriften“ stehen im prophetischen Teil. Nun ist Josephus ein Sonderfall. In den detaillierten Aufzählungen, die wir aus alter Zeit besitzen – von der LXX, deren Einflussbereich sich freilich nicht genau eingrenzen lässt, ist hier noch nicht zu reden –, ist der Umfang der drei großen Teile allgemein schon der uns heute geläufige; dagegen wechselt die Reihenfolge der einzelnen Bücher. Die wichtigste Aufzählung enthält der babylonische Talmud im Traktat Baba batra („letzte Pforte“) (14b). Dort ist als Reihenfolge der Propheten (nach Jos Ri Sam Kön) angegeben: Jer Ez Jes Zwölfprophetenbuch. Diese Reihenfolge wird mit einer eigenen Art von Scharfsinn so begründet: Hos ist, obwohl er eigentlich am Anfang stehen müsste, mit Hag, Sach und Mal zusammengestellt worden, weil seine Prophetie zusammen mit der dieser späteren Propheten aufgeschrieben wurde und weil sie wegen ihrer Kürze als einzelnes Buch leicht verlorengegangen wäre; und Jer ist, obwohl mit Ez jünger als Jes, an die Spitze gekommen, weil er wie das Ende der Königsbücher von Zerstörung handelt, während Ez mit Zerstörung beginnt und mit Tröstung endet und Jes ganz Tröstung ist, so dass nun Zerstörung bei Zerstörung und Tröstung bei Tröstung steht. Die Reihenfolge des dritten Teils ist in der Talmudstelle: Rut Ps Hi Spr Koh Hld Klgl Dan Est Esr (einschl. Neh) Chr. Dazu wieder die Begründung: eigentlich hätte Hiob, der zur Zeit des Mose lebte, an den Anfang gehört, aber mit einem Strafgericht beginnt man nicht; auch das Buch Rut enthält ein Strafgericht, aber sein Ausgang ist glücklich, und Rut ist die Ahnin Davids, des Verfassers der nun folgenden Pss. Eine andere Reihenfolge gibt Hieronymus (im sog. Prologus galeatus zu den Königsbüchern in der Vulgata) als die jüdische seiner Zeit an: die Prophetenbücher wie bei uns geläufig, außer dass Rut hinter Ri steht und Klgl in Jer eingeschlossen sind, im dritten Teil Hi Ps Spr Koh Hld Dan Chr Esr Est. In den hebräischen Bibelhandschriften haben die großenteils landschaftlich-schulmäßig bedingten Unterschiede in der Reihenfolge nie ganz aufgehört. Als Beispiel sei genannt, dass in einer der berühmtesten masoretischen Handschriften, dem Codex Leningradensis/Petersburgensis (L), und anderwärts Chr an der Spitze der „Schriften“ steht, vermutlich um, wie nach der talmudischen Ordnung das Buch Rut, eine Art historische Einleitung zum Psalter zu bilden.

Aber gewisse, einigermaßen feste Ordnungen haben sich allmählich doch weithin durchgesetzt: bei den „späteren Propheten“ die Reihenfolge Jes Jer Ez Zwölfprophetenbuch, bei den „Schriften“ eine dreifache Gruppierung in

a)    die am Anfang stehende Dreizahl Ps Spr Hi (bei Spr und Hi oft, z. B. auch im Codex L, die umgekehrte Reihenfolge),

b)    in der Mitte die Fünfzahl Hld Rut Klgl Koh Est, seit dem 6. Jh. in wechselnder Reihenfolge zu den „fünf Rollen“ (Megillot) zusammengefasst, seit dem 12. Jh. in der angegebenen Reihenfolge fest im liturgischen Gebrauch bei den fünf wichtigsten Jahresfesten,

c)    am Schluss Dan Esr/Neh Chr.

Die Kanonizität hat verschiedene Bezeichnungen und Bestimmungen. Das griechische Wort Kanon (Maßstab) wird erst im 4. Jh. in der christlichen Kirche auf die biblische Schriftensammlung angewandt (Athanasius). Das NT spricht von den „(heiligen) Schriften“ (Lk 24,27.32.45; Röm 1,2; 2Tim 3,15 u. ö.) und „der Schrift“ (Joh 2,22; Gal 3,8.22 u. ö.). Dem liegt jüdischer Sprachgebrauch zugrunde (Philo, Josephus, Mischna). Eine eigentümliche Definition der Kanonizität ist bei den Rabbinen die, dass das betreffende Buch „die Hände verunreinige“ (bes. Jadajim 3,5); die Heiligkeit hat hier geradezu dinglich-sakramentalen Charakter. Auf der gleichen Linie liegt das Verbot, unbrauchbar gewordene kanonische Schriften gewaltsam zu vernichten; sie sind vielmehr in einem Raum bei der Synagoge, der sog. Geniza, zu „verbergen“ (aram. gnz) und später zu vergraben. Es ist selbstverständlich, dass an Bestand und Wortlaut solcher Bücher nichts geändert werden darf. Sie können auch nicht mehr fortgesetzt, sondern nur noch ausgelegt werden; dies freilich ist ständige Pflicht. Sie sind in allen Fragen gültige Norm. Aus ihnen wird zitiert mit der Formel „es steht geschrieben“ oder „wie geschrieben steht“, die uns das NT, auch hier jüdischem Brauch folgend, reichlich belegt (γέγϱαπται bzw. ϰαϑὼς γέγϱαπται Mt 4,4.6.7.10; Röm 1,17; 2,24 usw.). Dahinter steht als Motiv und eigentliches Kriterium der Kanonizität die Anschauung vom göttlichen Ursprung dieser Schriften, hauptsächlich in Form der Lehre von der Inspiration, die in mancherlei Varianten Gemeingut der damaligen jüdischen Theologie war. Dabei hat das Gesetz noch einen Vorrang vor den übrigen Schriften: es ist bereits im Himmel vorhanden gewesen und dem Mose von Gott selbst zur Gänze mündlich mitgeteilt oder schriftlich übergeben oder in die Feder diktiert worden.

c)         Die Entstehung des Kanons

Im Zusammenhang damit ist die Tradition von der Entstehung des Kanons zu sehen. Sie hat die schon in späteren Ausläufern des biblischen Schrifttums (vgl. Ps 74,9; Dan 3,38 LXX; 1Makk 4,46; 9,27; 14,41) belegte Vorstellung zur Grundlage, dass der Inspirationsgeist zu einem bestimmten Zeitpunkt erloschen ist und dass es seitdem keine Prophetie, mindestens nicht mehr die „wahre Nachfolge“ der Propheten gibt, von der Josephus an der eingangs zitierten Stelle spricht. Wenn Josephus diesen Zeitpunkt unter dem Perserkönig Artaxerxes I. (464–424) ansetzt, dann sieht er in Esra (vgl. Esr 7,1) den letzten Propheten und gleichzeitig den letzten unter den Autoren des Kanons, deren erster Mose war.

Der babylonische Talmud (Baba batra 14b.15a) verteilt in diesem Sinn die atl. Bücher so auf die Autoren: Mose schrieb „sein Buch“ und Hi, Josua schrieb „sein Buch“ und Dtn 34,5–12, Samuel „sein Buch“ (die Zeit nach seinem Tode fügten Gad und Natan hinzu, vgl. 1Chr 29,29f.), Ri und Rut, David (unter Verwendung von Älterem) die Pss, Jeremia „sein Buch“, Kön und Klgl, Hiskija und sein Kollegium schrieben Jes, Spr, Hld und Koh, die „Männer der großen Synagoge“ schrieben Ez, das Zwölfprophetenbuch, Dan und Est, Esra schrieb „sein Buch“ und die Genealogien der Chr bis auf seine eigene, die Nehemia dann ergänzte. Ob exakt Esra oder Nehemia am Ende steht, macht wenig aus; denn Nehemia wird in 2Makk 2,13 nachgesagt, er habe eine umfassende Sammlung kanonischer Bücher angelegt.

Noch größer ist die Rolle des Esra in der ihm zugeschriebenen Apokalypse, wo er alle 24 Bücher des Kanons (und bei weitem nicht nur sie) diktiert, freilich zum Ersatz für die verlorengegangenen Schriften. Etwa in dieser Weise hat man sich bis ins 16. Jh. allgemein die Entstehung des Kanons vorgestellt. Eine für lange Zeit maßgebliche Modifikation brachte 1538 der jüdische Gelehrte Elias Levita in seinem Buch Massoreth hammassoreth: Esra „und seine Genossen“ haben die bis dahin noch getrennt vorhandenen 24 Bücher vereinigt, in drei Teile geteilt und geordnet (Propheten und Hagiographen allerdings noch nicht in der im Talmud angegebenen Reihenfolge). Mit „Esras Genossen“ sind die „Männer der großen Synagoge“ des Talmuds gemeint, eine nach Kuenen unhistorische, nachträglich aus Neh 8–10 herausgesponnene Institution. Aber auch abgesehen davon hat diese Theorie, obwohl auch von protestantischen Gelehrten, darunter dem Basler J. Buxtorf d. Ä. (Tiberias, 1620), aufgegriffen und ausgebaut, der Kritik nicht standgehalten. Sie scheitert schon daran, dass mehrere kanonische Bücher nachweislich in der Zeit nach Esra entstanden sind. Außerdem lässt sich die Dreiteilung des Kanons, wie sie uns vorliegt, unmöglich einfach aus einem einmaligen Akt begreifen; in ihr spiegelt sich vielmehr deutlich eine längere Entwicklung.

Diese Entwicklung und also den geschichtlichen Vorgang der Kanonbildung in den Einzelheiten zu rekonstruieren, fehlen uns die Mittel. Immerhin besitzen wir in den Zeugnissen des Josephus und von 4Esr einen sicheren Ausgangspunkt: Der Kanon war am Ende des 1. Jh.s n. Chr. in seinem jetzigen Umfang vorhanden. Es gibt allgemeine Gründe für die Annahme, dass sein Abschluss den beiden Zeugnissen nicht weit vorausliegt. Das Judentum musste gerade zu dieser Zeit um eine klare Definition des Bestandes seiner heiligen Schriften besorgt sein. Die Zerstörung Jerusalems i. J. 70 und das endgültige Erlöschen des Tempelkultes gaben diesen Schriften und ihrer Auslegung eine neue, dem bisherigen Zustand gegenüber noch wesentlich gesteigerte grundlegende Bedeutung für das Leben der Juden; die Worte von 4Esr sind gerade in ihrer Indirektheit ein eindrucksvoller Beleg dafür. Dazu kam die Nötigung zur Abgrenzung nach zwei Seiten hin: einmal gegen das werdende Christentum, das die israelitisch-jüdische Tradition wie selbstverständlich und mit dem Bewusstsein vollen Rechtes für sich in Anspruch nahm, außerdem, und für den tatsächlichen Umfang des Kanons folgenreicher, gegen die drohende Überwucherung der alten maßgebenden und im Gebrauch bewährten Schriften durch eine Unmenge neuer, dem Herkommen theologisch nicht immer ungefährlicher Literatur, namentlich die Apokalypsen; das Zahlenverhältnis von 24 : 70, das 4Esr angibt, wird, wie übertrieben auch immer, doch nicht völlig aus der Luft gegriffen sein. So wahrscheinlich danach irgendein formeller Abschluss des Kanons gegen Ende des 1. Jh.s n. Chr. anzunehmen ist, so wenig besitzen wir doch sichere Nachrichten über einen solchen Vorgang. Man pflegt dafür seit H. Graetz (Kohelet, Leipzig 1871) eine „Synode“ namhaft zu machen, die in Jamnia (Jabne) stattgefunden haben soll, einem Ort in der palästinischen Küstenebene, der zwischen 70 und 135 n. Chr. Sitz des Hohen Rates und Zentrum der Rabbinen war. Aber mit dieser Synode verhält es sich fast so wie mit jener „großen Versammlung“: Sie ist in den Quellen nicht recht greifbar. Wir erfahren aus dem Talmud (Jadajim 3,5) nur von einer Szene um das Jahr 100, wo „die 72 Ältesten“ die damals umstrittenen Bücher Hld und Koh für „die Hände verunreinigend“, also kanonisch erklärt haben sollen. Das dürfte immerhin ein für den Abschluss des Kanons charakteristischer Vorgang sein: Es geht in diesem Stadium nur noch um die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit gewisser Schriften zum dritten Kanonteil, den Hagiographen; die beiden ersten Teile, Gesetz und Propheten, stehen fest, und das nicht erst seit gestern. Neben den beiden genannten Schriften werden Est und Spr gelegentlich ohne Erfolg angefochten; dass es auch Angriffe gegen den Propheten Ez gibt, ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Auf der anderen Seite bedeutet der Abschluss des Kanons den Ausschluss einer größeren Anzahl von Büchern aus dem tatsächlichen oder möglichen Kreis der heiligen Schriften. Eine Reihe dieser Bücher, bei uns herkömmlich als Apokryphen und Pseudepigraphen zusammengefasst, gewann und behielt, wenngleich nicht immer im Rang voller Kanonizität, Geltung in verschiedenen Bereichen der christlichen Kirche und ist uns dadurch in Übersetzungen erhalten geblieben. Unsere Kenntnis dieser und verwandter Literatur ist in neuerer Zeit durch glückliche Handschriftenfunde, vor allem die in Chirbet Qumran am Toten Meer seit 1947, sehr erweitert worden. Die Grenzen zwischen dem dritten Kanonteil und dieser Literatur, die natürlich ihrerseits alles andere als eine einheitliche Größe gewesen ist, dürften bis zum Zeitpunkt des Abschlusses des Kanons, aber auch noch darüber hinaus manchmal fließend gewesen sein. Von den Einzelheiten und im Grunde auch vom Gesamtvorgang wissen wir fast nichts. Die Beobachtungen, die man anzuführen pflegt, wie die Zitierung nichtkanonischer Literatur im NT und bei Josephus, bleiben mehrdeutig. Dass man, wie talmudische Stellen nahelegen, Sir nur gegen Widerstände aus dem Kanon ausgeschlossen hat, ist verständlich und wahrscheinlich; aber dieses Buch hatte eindeutig einen nachprophetischen Verfasser und war darum nicht kanonfähig wie etwa der theologisch viel umstrittenere Koh, den man dem Salomo zuschrieb, oder Dan, den man ins babylonische Exil versetzte.

Dass Dan dagegen nicht mehr unter die Prophetenbücher gelangte, wie es doch nahegelegen hätte und wie es in der LXX tatsächlich geschehen ist, spricht dafür, dass zur Zeit seiner Entstehung (nach 167 v. Chr.) dieser Kanonteil bereits abgeschlossen war. Als positives Zeugnis dafür gilt das „Lob der Väter“ des Sirach (um 190 v. Chr.), in dem nach den Hauptgestalten der alten Zeit Jes, Jer, Ez und die Zwölf Propheten aufgezählt sind (Sir 44–49). Eine Zäsur, die sich dem späteren Abschluss des Gesamtkanons vergleichen ließe, liegt dem allerdings nicht voraus. Nicht nur dass ja noch ein ganzer umfangreicher Kanonteil hinzutreten konnte; auch die vorhandenen Prophetenbücher waren, wie etwa der Vergleich zwischen dem masoretischen Text und denen der LXX und der Qumran-Handschriften zeigt, noch mancher Änderung fähig. Bei Sir selbst fehlt das Bewusstsein einer starren Grenze deutlich genug; er mischt einzelne Namen und Sachverhalte aus den Hagiographen unter diejenigen aus den Prophetenbüchern, ja er kann umgekehrt seine eigene Lehre mit der Prophetie vergleichen (24,33), was seinem Buch freilich angesichts der später maßgeblichen Kanontheorie nichts genützt hat. Die Versuche, das Hinzutreten neuer Literatur zur prophetischen theologisch und literarisch zu bewältigen, zeigen gerade in ihrer Verschiedenheit, wie wichtig die Prophetie als Motiv und Kriterium genommen wurde. Und das geschah mit tiefem Recht. Jedes Prophetenwort enthält von vornherein einen Geltungsanspruch, der es auf Kanonizität hin angelegt sein lässt, mag diese im präzisen Sinn auch nie anders als auf dem langen und unübersichtlichen Weg über die kleineren und größeren Sammlungen, die schriftliche Fixierung und alle damit und mit den wechselnden Deutungen und Aktualisierungen gegebenen, manchmal geradezu bis zur Entstellung der ursprünglichen Gestalt führenden Modifikationen erreicht werden. So ist die Gesamtgeschichte der prophetischen Überlieferung auch Vorgeschichte des Kanons.

Aber nicht nur sie; mutatis mutandis gilt Entsprechendes mehr oder weniger für alle Bereiche der atl. Überlieferung. Am meisten gilt es für den Bereich, der im Kanon unter dem Begriff Gesetz zusammengefasst ist. Das Gesetz ist den Propheten in den entscheidenden Stadien des Weges auf die Kanonizität hin vorangegangen. Von daher völlig sachgemäß gebraucht das NT für das AT die formelhafte Gesamtbezeichnung „Gesetz und Propheten“ (Mt 5,17; 7,12; 22,40; Lk 16,16; Joh 1,45; Röm 3,21) oder „Mose und die Propheten“ (Lk 16,29.31). Aus diesen beiden Kanonteilen wird im Gottesdienst der Synagoge vorgelesen (Apg 13,15, vgl. Lk 4,17), wofür aus dem dritten Teil nur die fünf Megillot und diese auch nur im Zusammenhang mit den fünf Festen und selbst das überwiegend erst in späterer Zeit verwendet werden. Aber auch zwischen dem Gesetz und den Propheten gibt es in diesem Punkt Rangunterschiede; die Prophetenlesung (hapṭārāh „Entlassung“) steht eindeutig hinter der des Gesetzes zurück (vgl. Apg 15,21). Das ist kein Zufall. Sowenig bei der Kanonbildung eine der beiden Größen gegen die andere ausgespielt und sosehr das prophetische Element und Prinzip gerade hier zur Geltung gebracht wird, so unzweifelhaft ist doch die grundlegende und maßgebende Stellung des Gesetzes. Außer der drei- und der zweigliedrigen Gesamtbeziehung für das AT gibt es mit Grund die eingliedrige: das Gesetz.

So heißt 4Esr 14,21 die Größe, die bei der Zerstörung Jerusalems verbrannt ist und dann durch das Diktat der 24 Bücher wiederhergestellt wird. Im NT können Propheten (1Kor 14,21) und Pss (Joh 10,34; 12,34; 15,25) als „das Gesetz“ zitiert werden (vgl. auch Röm 3,19). Ganz ebenso wird in zahlreichen rabbinischen Texten das ganze AT Gesetz genannt. Kaum weniger eindrucksvoll kommt die Prävalenz des Gesetzes in der rabbinischen Zweiteilung des AT in Gesetz und Überlieferung zum Ausdruck; mit Überlieferung (qabbālāh) sind der zweite und der dritte Kanonteil gemeint.

Das entspricht nicht nur dem Schriftverständnis des beim Abschluss des Kanons maßgebenden pharisäisch-rabbinischen Judentums, es scheint auch im geschichtlichen Hergang begründet zu sein. Wir haben Anhaltspunkte dafür, dass es ein Stadium gegeben hat, in dem allein das Gesetz den Kanon bildete – wenn man den Ausdruck Kanon hier schon gebrauchen will. Als bei den alexandrinischen Juden von der Mitte des 3. Jh.s v. Chr. an die heiligen Schriften ins Griechische übersetzt wurden, betraf diese Übersetzung zunächst nur den Pentateuch, und als im gleichen Zeitraum die Samaritaner sich von der Kultgemeinde in Jerusalem trennten, übernahmen sie als Heilige Schrift ebenfalls nur den Pentateuch, der bis heute bei ihnen in dieser Rolle geblieben ist. Was die davorliegende Zeit betrifft, weiß die biblische Überlieferung von einer Versammlung zu berichten, in der Esra das „Gesetzbuch des Mose“ verlas und das Volk sich darauf verpflichtete (Neh 8–10). Nicht nur der Umfang dieses Gesetzbuchs, sondern die Historizität des Vorgangs überhaupt ist in der Wissenschaft heftig umstritten. Sollte ein historischer Kern anzunehmen sein, wäre die spätere Tradition mit der Zurückführung des Kanons auf Esra nicht gänzlich im Unrecht; aber Esra gehörte, anders als sie meint, nicht an das Ende, sondern an den Anfang des Prozesses. Natürlich hätte auch dieser Anfang, und gerade er, eine längere Vorgeschichte und womöglich sogar, in der Einführung des dtn Gesetzes durch König Joschija (622), ein Vorbild gehabt; aber das liegt der eigentlichen Kanongeschichte weit voraus.