Vorwort der Gesamtherausgeber

Das Enzyklopädische Handbuch der Behindertenpädagogik „Behinderung, Bildung, Partizipation“ ist ein Lexikon in Stichwörtern, die jedoch nicht alphabetisch, sondern thematisch in zehn Bänden strukturiert wurden. Insgesamt wurden ca. 20 Haupt-, 100 mittlere und 300 kleine Stichwörter erarbeitet. Sie suchen zum einen in ihrer Gesamtheit einen Zusammenhang des Fachwissens herzustellen, in dem jedes Stichwort und zugleich jeder Band verortet ist. Zum anderen aber bilden die Einzelbände aufeinander bezogene thematische Einheiten. Somit ist das Gesamtwerk in zwei Richtungen lesbar und muss zugleich auch so gelesen werden: als Bestand aufeinander verweisender zentraler Begriffe des Faches zum einen und als thematischer Zusammenhang in den Einzelbänden zum anderen, der aber jeweils auf die weiteren Bände verweist und mit ihnen in engstem Zusammenhang steht. Dementsprechend wurden Verweise sowohl innerhalb der Einzelbände als auch zwischen den Bänden vorgenommen, wobei einzelne Überschneidungen unvermeidbar waren.

Der Anspruch, das Gesamtgebiet der Behindertenpädagogik darzustellen, kann angesichts der Differenzierung und Spezialisierung der Einzelgebiete und ihrer schon je komplexen Wissensbestände nicht ohne Einschränkung eingelöst werden. So ging es uns nicht darum, diese Komplexität aller Theorien, Methoden, Handlungsansätze und Einzelprobleme in Theorie und Praxis einzufangen, sondern den Wirklichkeits- als Gegenstandsbereich der wissenschaftlichen Behindertenpädagogik hinsichtlich seiner konstitutiven Begriffe, Aufgaben und Problemstellungen zu erfassen. Dabei sollte der grundlegende, auf aktuellen Wissensbeständen beruhende und der zugleich erwartbar zukunftsträchtige nationale und internationale Forschungs- und Entwicklungsstand im Sinne einer synthetischen Human- und Sozialwissenschaft berücksichtigt werden. Reflexives Wissen bereit zu stellen ist also die wesentliche Intention. Dies gelingt nur, wenn aus anderen Wissenschaften resultierende Forschungsstände und Erkenntnisse möglichst breit und grundlegend verfügbar gemacht werden. Aufgrund der komplexen biopsychosozialen Zusammenhänge sowohl von Behinderung als auch von Persönlichkeitsentwicklung und Sozialisation müssen das gesamte humanwissenschaftliche Spektrum Berücksichtigung finden und insbesondere Philosophie, Psychologie und Soziologie, aber auch Medizin und Neurowissenschaften einbezogen werden. Gerade der neurowissenschaftliche Bezug, der selbstverständlich äußerst kritisch betrachtet wird, ist notwendig, um gegen neue Formen der Biologisierung die entsprechenden Argumente für Vielfalt und Differenz auf jeder Wissenschaftsebene, also auch auf der neurowissenschaftlichen, in die Debatte führen zu können. Vorrangig mit Blick auf die disziplinäre Verortung ist jedoch die Erziehungswissenschaft, Behindertenpädagogik ist eines ihrer Teilgebiete.

Für die Konzeption ist ein Bildungsverständnis tragend, das Bildung als Möglichkeit zur selbstbestimmten Lebensführung, zur umfassenden Persönlichkeitsentwicklung und gesellschaftlichen Teilhabe betrachtet; mit Wolfgang Klafki: Entwicklungen der Fähigkeiten zur Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität, entwicklungspsychologisch mit Wolfgang Stegemann als Entwicklung auf höheres und auf höherem Niveau. Die erziehungswissenschaftliche Begründung von Bildungs- und Erziehungszielen muss über gesellschaftliche Erwartungen, wie sie sich in Forderungen nach einem Wissenskanon als Zurüstung auf die berufliche Eingliederung niederschlagen können, notwendigerweise hinausreichen und die Lebensbewältigung insgesamt umfassen. Bildung und Erziehung eröffnen Optionen für die Lebensgestaltung, und das bedeutet, die eigene Identität nicht nur schicksalhaft oder einzig von außen determiniert zu erleben, sondern auch über Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und der Auswahl von Handlungsmöglichkeiten zu verfügen, Zwänge und Grenzen ebenso wie Handlungs- und Veränderungsmöglichkeiten erkennen und nutzen zu können. Nicht in jedem Fall, in dem diese Möglichkeiten nicht per se aufscheinen, ist diese Problematik begrifflich quasi automatisch mit Behinderung zu fassen. Umgekehrt heißt Bildung aber auch, solche Strukturen und Prozesse zu gestalten, die „Bildung für alle, im Medium des Allgemeinen“, unabhängig von Kriterien, ermöglichen. Behinderungen im pädagogischen Sinn liegen dort vor, wo die Teilhabe an Bildung und Erziehung gefährdet oder erschwert ist oder wo Ausgrenzungsprozesse drohen oder erfolgt sind, und zwar aufgrund eines Wechselspiels individueller, sozialer und ökonomischer Bedingungen. Hier tritt die Frage der Ermöglichung von Partizipation in den Vordergrund. „Wo Menschen aus ihren Lebenszusammenhängen herausgestoßen werden, da wird lernender und wissender Umgang mit bedrohter und gebrochener Identität zur Lebensfrage“ (Oskar Negt) und ebenso die Ermöglichung von Lebenschancen. Damit werden zugleich eine Abgrenzung zu sozial- oder bildungsrechtlichen Definitionen und eine weite Begriffsbestimmung von Behinderung vorgenommen, im Bewusstsein der Problematik, die diese mit sich bringt. Doch fasst auch der schulrechtliche Begriff des sonderpädagogischen Förderbedarfs, der wiederum nur partiell deckungsgleich mit dem sozialrechtlichen Behinderungsbegriff ist, äußerst heterogene, darunter auch rein sozial bedingte Benachteiligungsprozesse zusammen. Pädagogik heißt für uns somit auch nicht einseitige und ständige Förderung. Emil E. Kobi hat dies in der Gegenüberstellung einer ‚Pädagogik des Bewerkstelligens‘, der es immer um den Fortschritt geht, die sich nur auf den Defekt richtet und das So-Sein nicht anzuerkennen in der Lage ist, und einer ‚Pädagogik der Daseinsgestaltung‘ beschrieben, die anerkannte Lebensbedingungen zwischen gleichberechtigten und als gleichwertig anerkannten Subjekten und eine befriedigende Lebensführung auch bei fortbestehenden Beeinträchtigungen zu schaffen vermag. In diesem pädagogischen Verständnis von Behinderung liegt eine Begründung für die Beibehaltung des Begriffs der Behindertenpädagogik. Wir respektieren Benennungen wie Förder-, Rehabilitations-, Sonder-, Heil-, Integrations- und Inklusionspädagogik; der Begriff der Behinderung hebt jedoch wie kein anderer nicht nur die intransitive Sicht des behindert Seins, sondern auch die transitive Sicht des behindert Werdens hervor und lässt sich pädagogisch sinnvoll begründen. Ebenso entgeht er Verengungen mit Blick auf den Gegenstandsbereich; behindertenpädagogisches Handeln greift weit über den Bereich der institutionalisierten Erziehung und Bildung hinaus und findet lebensphasen- und lebensbereichübergreifend statt; auch innerhalb des schulischen Bereichs ist das Handeln weitaus vielfältiger als allein unterrichtsbezogene Tätigkeiten; gleichwohl bleiben diese prominente Aufgaben. Behindertenpädagogik, in diesem weiten Sinne intransitiv verstanden, ist zwar einerseits Teilgebiet der Erziehungswissenschaft, andererseits trägt sie in transitiver Hinsicht zu deren Grundlagen bei. Denn behindert werden und eingeschränkt zu sein sind alltäglich und schlagen sich keineswegs nur in der sozialen Zuschreibung von Behinderung nieder. Entgegen der noch vorfindbaren Gliederung nach Arten von Beeinträchtigungen bzw. schulischen Förderschwerpunkten und einer institutionellen Orientierung ist für uns ein an den Lebenslagen und an der Lebenswirklichkeit der Adressaten von Bildungs- und Erziehungsangeboten orientiertes Verständnis pädagogischen Handelns leitend. Diese Perspektive auf den individuellen Bedarf an Unterstützung für eine möglichst selbst bestimmte Lebensführung ist der Bezugspunkt der personalen Orientierung, aber dieser Bedarf impliziert immer auch den Bedarf an Überwindung der sozialen Folgen, also der behindernden Bedingungen des Umfelds. Traditionell wird der Lebenslauf- und Lebenslagenbezug der Pädagogik durch die Gegenstandsbezeichnungen der einzelnen Teildisziplinen angezeigt (Pädagogik, Andragogik, Geragogik einerseits; Sozial-, Berufs-, Freizeitpädagogik usw. andererseits). Hiermit können aber auch Abgrenzungen und Abschottungen einhergehen, so dass der Bezug zur Lebenslage als Ganzer und zum Lebenslauf in seiner biographischen Gewordenheit verloren geht. Lebenslagen- und Lebenslauforientierung stellen demgegenüber die notwendige Gesamtsicht her, die allerdings in ihrer Bezugnahme auf die Chancen und Grenzen selbstbestimmter Lebensführung einer Pädagogisierung im Sinne der andauernden intentionalen Erziehung entgehen muss. Sie hebt die spezifischen Gegenstandsbestimmungen und Handlungskonzepte der erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen nicht auf, sondern wird als konzeptionelle und methodische Leitperspektive tragend. Ebenso hat jedes Verständnis von individueller Teilhabe- und Bildungsplanung die Deutungshoheit der auf Unterstützung und pädagogisches Handeln angewiesenen Menschen zu respektieren und zentral von politischer Mitwirkung und der Gewährleistung der Menschen- und Bürgerrechte auszugehen. Dies verlangt die Demokratisierung und Humanisierung der Handlungsprozesse und Strukturen in Theorie und Praxis sowie die Auseinandersetzung mit Ethik, Moral und Professionalität.

Die aus diesem Verständnis von Bildung, Behinderung und Partizipation resultierenden Fragen lassen sich zusammenfassen in die nach dem Verhältnis von Ausschluss und Anerkennung, Vielfalt und Differenz, Individuum und Gesellschaft, Entwicklung und Sozialisation, System und Lebenswelt, Institution und Organisation, über die Lebensspanne hinweg und immer bezogen auf die Grundfrage nach Bildung und Partizipation angesichts behindernder Bedingungen.

Von diesen Grundgedanken ausgehend wurde die Konzeption und Anlage der Stichwörter von Iris Beck und Wolfgang Jantzen erarbeitet und dann durch das Team der Bandherausgeber kritisch überprüft und ergänzt. Es ergibt sich folgende Gesamtanlage: die Bände 1 und 2 dienen der wissenschaftlichen Konstitutionsproblematik mit Blick auf die wissenschaftstheoretische Begründung des Fachs einschließlich der erziehungswissenschaftlichen Verortung und dem Verhältnis von Behinderung und Anerkennung. Die Bände 3 bis 6 repräsentieren Aufgaben und Probleme der Bildung und Erziehung im Lebenslauf mit den Kernfragen nach Bildung, Erziehung, Didaktik und Unterricht zum einen, Lebensbewältigung und gleichberechtigter Teilhabe am Leben in der Gemeinde zum anderen. Die Bände 7 bis 10 behandeln Entwicklung und Lernen, Sprache und Kommunikation, Sinne, Körper und Bewegung sowie Emotion und Persönlichkeit. Sie stellen grundlegende pädagogische Auseinandersetzungen über Persönlichkeitsentwicklung und Sozialisation angesichts behindernder und benachteiligender Bedingungen dar, und zwar in übergreifender Sicht, die zugleich die notwendigen speziellen und spezifischen Aspekte zur Geltung bringt. Allgemeines und Besonderes sind insgesamt, über alle Bände hinweg, vielfach aufeinander bezogen und haben gleichsam ihre Bewegung aneinander. Dort, wo sich gemeinsame Probleme quer zu speziellen Gebieten stellen, sind diese auch allgemein und mit der Absicht der Grundlegung behandelt, auch um Red- undanzen zu vermeiden. Dort, wo ohne Spezifizierung zu grobe Verallgemeinerungen und damit unzulässige Reduktionen erfolgt wären, sind die Besonderheiten aufgenommen. Angesichts der zahlreichen Publikationen, die spezielle und spezifische Fragen en detail und mit Blick auf Einzelprobleme behandeln, ist diese Entscheidung auch vor dem Hintergrund einer ansonsten nicht zu gewährleistenden Systematik getroffen worden.

Wir sind uns bewusst, dass dieser Versuch der Systematik nicht ohne Lücken, Widersprüche und Redundanzen auskommt. Die allfällige Kritik hieran verstehen wir im Sinne des „Runden Tisches“, als den wir die Zusammenarbeit unter den Herausgebern und Autoren verstehen, als Motivation zu neuen Fragen und neuer Forschung.

Wir danken allen Bandherausgebern und Autoren für ihre konstruktive Arbeit, die in Zeiten der Arbeitsverdichtung und Effizienzsteigerung nicht mehr selbstverständlich erwartet werden kann.

Iris Beck

Georg Feuser

Wolfgang Jantzen

Peter Wachtel

Vorwort

Bildung und Erziehung in der modernen Gegenwartsgesellschaft sind einerseits in speziellen Bildungsinstitutionen angesiedelt wie z.B. Schule, Ausbildung und Hochschule, andererseits finden sie an non-formalen und an informellen Orten wie in Familien, Kindertages- und Jugendeinrichtungen, in Arbeit und Freizeit statt. Die Bedeutung der non-formalen und informellen Bildung im Kindes- und Jugendalter findet in besonderer Weise im Bericht „Konzeptionelle Grundlagen für einen Nationalen Bildungsbericht“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (2004) Beachtung. Auf dem Weg in die künftige Wissensgesellschaft nimmt die Bedeutung dieser Bildung im Rahmen einer zunehmenden Entgrenzung der Bildungsorte zu. Stattdessen vollziehen sich Bildungsprozesse häufig im sozialen Nahraum der Familie und Nachbarschaft, der Peergruppe, in der Medien- und Inventkultur, insbesondere über das Internet. Das in diesem Band zugrunde gelegte Bildungs- und Erziehungsverständnis ist daher weit gefasst und in den Konturen darauf angelegt, Bildbar- und Erziehbarkeit des Individuums im Sinne von Befähigung zur autonomen Handlungsfähigkeit in möglichst vielen Bereichen des Lebensalltags, zur individuellen und sozialen Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und zur sozialen Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Von diesem Bildungs- und Erziehungsverständnis ausgehend, wird zugleich die normative Dimension erkennbar, die sich in vielfältigen Formen der Bildungsförderung, aber auch der Bildungsbenachteiligung äußern kann. So verweist der Anspruch auf Bildungsgerechtigkeit bereits auf mögliche und real existierende Benachteiligungen bei Menschen mit Behinderungen. Die Ergebnisse aus der PISA-Studie (2001) und aus IGLU (2003) z.B. dokumentieren die Problematiksozialer Ungleichheit im deutschen Bildungssystem. Die Dimensionen von Bildungsbenachteiligungen umfassen nicht nur Behinderung, sondern auch weitere Bereiche wie Schichtzugehörigkeit, Geschlecht, Religionszugehörigkeit, Migrationshintergrund. Der Aspekt der Ungleichheit in Bildung und Gesellschaft bei Menschen mit Behinderung verweist u.a. auf Problembereiche wie Separation und Integration, Exklusion und Inklusion, auf benachteiligende Lebenslagen bei Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und Familien mit den negativen Auswirkungen auf Lebensqualität und Bildung. Bildung und Erziehung erweisen sich in diesem Kontext als gesellschaftliche und individuelle Aufgabe, die für eine gelingende Lebensgestaltung in sozialer Integration unentbehrlich sind.

Das Forum Bildung verweist auf die Notwendigkeit, den weit gefassten Bildungsbegriff in einer auf Pluralität und stetigen Wandel angelegten Gesellschaft zu konkretisieren und als Kompetenzerwerb im Einzelnen zu beschreiben. Als Zieldimensionen von Bildung und Qualifikation nennt das Bildungsforum „Entwicklung der Persönlichkeit“, „Teilhabe an der Gesellschaft“ und „Beschäftigungsfähigkeit“. Zu den Bildungskompetenzen zählen insbesondere Lernkompetenz, Transferkompetenz, methodisch-instrumentelle Kompetenzen (in den Bereichen Sprache, Medien, Naturwissenschaften), soziale Kompetenzen und Wertorientierungen.

Bildung und Erziehung sind in diesem Rahmen – als sich gegenseitig ergänzende Begrifflichkeiten – in ihrer auf das Gedankengut der Aufklärung zurückgehenden Zielbestimmung einer autonomiegeleiteten Handlungsfähigkeit gerichtet. Diese Zielsetzung gilt uneingeschränkt auch für Menschen mit Behinderung.

In diesem 3. Band des Enzyklopädischen Handbuchs der Behindertenpädagogik sind unter den beiden Hauptstichwörtern (HS) Grundlegungen zur Allgemeinen Pädagogik sowie zum prozessualen Charakter von Bildung und Erziehung reflektiert. Die Fragestellungen zur Allgemeinen Pädagogik verweisen u.a. auf Klärungen zu den Grundbegriffen Erziehung und Bildung, Entwicklung, Lernen, Sozialisation unter Einbeziehung der Dimensionen Generationenproblem, Wissens- und Kulturproblem, Entwicklungs- und Subjektivitätsproblem, Gesellschafts- und Anthropologieproblem. Im folgenden Beitrag ist Bildung als offener unabschließbarer Prozess zur Darstellung gebracht, in dem der Weg zur Zielerreichung einen zentralen Stellenwert einnimmt. Eine entwicklungsbegleitende Pädagogik vermag im Rahmen individueller und differenzierender Förderung dem Anspruch von Normalität in der Heterogenität gerecht zu werden.

Die mittleren Stichworte (MS) beinhalten thematische Schwerpunktsetzungen zu den Bereichen Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung unter Einbeziehung diagnostischer und interaktiver Förderprozesse bei erschwerten Bedingungen, die Bedeutung von Bildungspolitik für Erziehung und Bildung im Kontext individueller und institutioneller Förderung, Möglichkeiten und Schwierigkeiten im Prozess von Integration und Inklusion in Schule und Gesellschaft.

Die Kurzstichworte (KS) verdeutlichen das vielfältige Spektrum von Förderaufgaben und -möglichkeiten in Bildung und Erziehung vor dem Hintergrund erschwerter Lern- und Lebensbedingungen. In ihrer thematischen Ausrichtung umfassen sie Aspekte wie soziokulturelle Differenzlagen, Migration, Gender, Stigmatisierung. Des Weiteren finden Gesichtspunkte zur Begründung von Zielsetzungen, zur Förderung von Emotionalität, Selbstbestimmung und sozialer Kompetenzentwicklung ihre Erörterung. Spezielle Bereiche der Bildung bezogen auf Mobilität und Umwelt, ebenso in ästhetischer, technischer, gesellschaftlicher, naturwissenschaftlicher und interkultureller Ausrichtung konkretisieren Notwendigkeit und Vielfalt des Bildungsspektrums. Dies gilt ebenso für die Bewegungserziehung, die Gesundheits-, Sexualitäts-, Medien- und Freizeiterziehung.

Erziehung und Bildung besitzen grundlegende Bedeutung für alle Lebensphasen. Diese ist hier für das Säuglingsalter, die frühe Kindheit, die Frühförderung, die Elementarbildung, die berufliche Bildung und für das Alter thematisiert. Die institutionelle Komponente in diesem Zusammenhang bezieht sich auf Gegebenheiten, Fragen und Entwicklungen zur Professionalisierung und Kooperation von Verbänden, Institutionen und Personal, zur Elternqualifizierung und Familienbildung und auf die Evaluation von entsprechenden Bildungseinrichtungen.

Die in diesem Band veröffentlichten Beiträge tragen dem weiten Spektrum eines Bildungs- und Erziehungsdenkens Rechnung, das richtungweisend für Gegenwart und Zukunft Informationen vermitteln und zu innovativen Veränderungen und Weiterentwicklungen anregen soll.

Astrid Kaiser

Ditmar Schmetz

Peter Wachtel

Birgit Werner

Allgemeine Pädagogik

Norbert Ricken

Was unter Allgemeiner Pädagogik verstanden wird und verstanden werden kann, ist auch gegenwärtig umstritten und disziplinär uneinheitlich. Auch wenn der – zuletzt in den 1990er Jahren noch leidenschaftlich geführte – Streit um die Allgemeine Pädagogik längst wieder abgeflaut ist (vgl. insgesamt Krüger & Rauschenbach 1994; Brinkmann & Petersen 1998; Vogel 1998), haben sich nicht Klärung oder Konsens, sondern eher Ratlosigkeit und Verstummen in alten Positionen eingestellt: Während die einen an Allgemeiner Pädagogik als einer ebenso zentralen wie unverzichtbaren erziehungswissenschaftlichen Grundlagendisziplin festhalten (und damit bei den anderen den Verdacht nähren, unbelehrbar zu sein und die Erneuerung derselben als „Königsdisziplin“ (Winkler 1998, 61) der Pädagogik insgesamt anzustreben), bezweifeln und bestreiten die anderen mit Blick auf Theoriegestalt und Forschungsertrag nicht nur Sinn und Nutzen einer Allgemeinen Pädagogik für die Gesamtdisziplin, sondern deren grundsätzliche Möglichkeit überhaupt. So wird aus der Perspektive der erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen die Nichtanschlussfähigkeit allgemeinpädagogischer Theoriediskurse an Teile der etablierten Bildungsforschung diagnostiziert und damit der Ertrag allgemeinpädagogischer Arbeiten für die unterschiedlichen erziehungswissenschaftlichen Einzeldisziplinen bestritten (vgl. Oelkers 2006). Dies geht oft mit einer Zurückweisung des – vermeintlich traditionellen – Anspruchs der Allgemeinen Pädagogik als der einen – ebenso normierenden wie zensierenden – erziehungswissenschaftlichen Leitdisziplin einher (vgl. Lenzen 1998) und wird nicht nur mit der konsequenten Substitution der Allgemeinen Pädagogik durch eine subdisziplinär justierte Grundlagenreflexion beantwortet (vgl. exemplarisch Jantzen 2007), sondern auch durch die Umwidmung bzw. gar den Abbau bislang allgemeinpädagogisch ausgerichteter Hochschullehrer(innen)stellen disziplinpolitisch genutzt (vgl. Tillmann et al. 2008). Aber auch aus allgemeinpädagogischer Perspektive selbst wird entlang der Problematik des Allgemeinen die Möglichkeit einer Allgemeinen Pädagogik infrage gestellt (vgl. Winkler 1994; als Entgegnung Mollenhauer 1996) und ihr Anspruch, einen ebenso einheitlichen wie verbindlichen ‚pädagogischen Grundgedankengang‘ (W. Flitner) formulieren können zu müssen, abgewehrt (vgl. Wimmer 2002); gerade mit Verweis auf die Pluralität und Heterogenität der unterschiedlichen theoretischen Zugriffe und (pädagogischen) Wissensformen (vgl. Vogel 1997) rückt nun die Unmöglichkeit eines Gesamtüberblicks sowie der einen Systembildung (und damit von Systembildung überhaupt) in den Vordergrund (vgl. ausführlicher Ricken 2002, 152–157), sodass auf deren Rückseite diese – insbesondere als Widerstreit in und Paradoxie der pädagogischen Aufgabe (vgl. Wimmer 2006) – nun als umgekehrte Aufgabenbestimmung der Systemdekonstruktion aufgenommen wird.

Insgesamt ergibt sich ein ambivalentes Bild der gegenwärtigen Allgemeinen Pädagogik: Trotz ihres vielfach beklagten oder begrüßten Verfalls ist mit Blick auf die grundlagentheoretischen Diskurse in der Erziehungswissenschaft von einem ‚Ende der Allgemeinen Pädagogik‘ nicht ernsthaft zu sprechen; vielmehr wird im ausdrücklichen Bezug auf ihre vielfältigen Bestreitungen die Arbeit an einer allgemeinen pädagogischen Grundlegung wieder aufgegriffen: keinesfalls, um alte Hegemonieansprüche und Normierungspraktiken wieder zu beleben; auch nicht, um einen einzigen ‚pädagogischen Grundgedankengang‘ als ein für alle verbindlich erklärtes Fundament durchzusetzen; sondern vielmehr, um der grundbegrifflichen wie auch kategorialen Verwirrung entgegenzuwirken und den abgebrochenen Dialog innerhalb der Disziplin sowie grundlagentheoretische Reflexionen und Forschungen wieder aufzunehmen. Für Aufbrüche dieser Art aber scheint der Titel ‚Allgemeine Pädagogik‘ – auch und gerade wegen seiner Erblast – nicht mehr angemessen zu sein; die Aufgabe der ‚Allgemeinen Pädagogik‘ jedoch, eine ‚Landkarte‘ (Herbart) pädagogischer Problemstellungen zu skizzieren, derer der pädagogisch-reflexiv Tätige wie Forschende – wenn auch unterschiedlich – für sich bedarf, ist damit jedoch keineswegs abgegolten oder gar erledigt.

Diese Überlegungen zur Allgemeinen Pädagogik wollen auch in ihren rekonstruierenden und bündelnden Teilen keinen positions- und perspektivenübergreifenden, allgemeinen Geltungsanspruch reklamieren, sondern lassen sich als eine – unter anderen mögliche – Perspektive auf das Ganze der Pädagogik lesen. Nach kurzen Bemerkungen zum Begriff der Allgemeinen Pädagogik geht es zunächst um eine – hermeneutisch unabdingbare – Rekonstruktion der Geschichte und Gestalt derselben, aus der heraus sich dann Aufgaben und Funktionen einer Allgemeinen Pädagogik bestimmen lassen. Kern der allgemeinpädagogischen Arbeit ist aber die Auseinandersetzung mit und um einen ‚pädagogischen Grundgedankengang‘, die auch die Justierung der Grundbegriffe wie auch die Erläuterung der Formen pädagogischen Handelns bestimmt.

Zu Begriffsfragen

Mit Allgemeiner Pädagogik wird gemeinhin jener Teil der erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung bezeichnet, der sich zum einen mit den Grundlagen, Grundbegriffen und Grundformen pädagogischen Handelns in primär systematischer, dann notwendigerweise auch historischer Perspektive beschäftigt und zum anderen auf die Theoriearchitektur und den Wissenschaftscharakter der Disziplin, auf ihre Gestalt und Genese, ihre Logik und Funktion reflektiert. Auch wenn oft genug nicht zwischen ‚Allgemeiner Pädagogik‘ und ‚Allgemeiner Erziehungswissenschaft‘ unterschieden wird (und historisch diese aus jener hervorgegangen ist), ist es hilfreich, hier eine Differenz einzuführen: Während gegenwärtig mit Allgemeiner Erziehungswissenschaft eher eine subdisziplinäre Markierung vorgenommen wird, sodass mit ihr jener Teil der Disziplin ‚Erziehungswissenschaft‘ bezeichnet werden kann, der sich mit ebenso umfassenden bzw. generellen wie gemeinsamen bzw. querliegenden – sprich: allgemeinen – Fragestellungen befasst und sich nicht den anderen, jeweilig an pädagogischen Handlungsfeldern orientierten Teildisziplinen (wie Schulpädagogik, Erwachsenen- und Weiterbildung, Behindertenpädagogik etc.) zurechnen lässt (und insofern im Stellentableau einer erziehungswissenschaftlichen Fakultät notwendigerweise zu berücksichtigen ist), so ist es hilfreich, die Bezeichnung ‚Allgemeine Pädagogik‘ im Rückgriff auf die Traditionen derselben stärker inhaltlich (und insofern nicht disziplinär) auszulegen und vorrangig für theoretische wie metatheoretische Grundlagenarbeiten und Reflexionsperspektiven zu reservieren. Das würde es erlauben, unter ‚Allgemeiner Pädagogik‘ eine spezifische Art des grundlagentheoretischen und selbstreflexiven Zugriffs zu verstehen (und insofern mit ‚allgemeinpädagogisch‘ eine spezifische Perspektive zu kennzeichnen, die auch nicht in ‚Bildungstheorie‘ oder ‚Erziehungsphilosophie‘ aufgeht), und diese als inhaltlichen Teil der ‚Allgemeinen Erziehungswissenschaft‘ – neben (und in) explizit methodologischen, historischen und wissenschaftssoziologischen bzw. -historischen wie aber auch vergleichenden u.a. Arbeiten – auszuweisen. Kern einer solchen allgemeinpädagogischen Perspektive wäre aber die Auseinandersetzung mit und um einen pädagogischen Grundgedankengang.

Zu Gestalt und Geschichte der Allgemeinen Pädagogik

Wederdiegegenwärtige Aufgabenbestimmung und theoretische Gestalt der Allgemeinen Pädagogik noch die Heftigkeit der – inzwischen abgekühlten, aber vermutlich jederzeit wieder aktualisierbaren – Auseinandersetzungen um die Stellung der Allgemeinen Pädagogik im Gesamtgefüge der Erziehungswissenschaft lassen sich ohne das historische Verständnis derselben verstehen. Ohne die Geschichte der ‚Allgemeinen Pädagogik‘ im Kontext der Entwicklung der Pädagogik bzw. der Etablierung und Ausdifferenzierung der Erziehungswissenschaft seit dem 18. Jahrhundert detailliert nachzeichnen zu können (vgl. ausführlicher Tenorth 2004a und Ricken 2002), seien hier typologisch ausgewählte Fassungen Allgemeiner Pädagogiken vorgestellt:

Dass es zu jeder Zeit nicht nur praktische Handreichungen und Kompendien, sondern auch erfahrungsbezogene Reflexionen und explizit theoretische Abhandlungen zu pädagogischen Fragen gegeben hat, ist – mit Blick auf die anhaltende Auseinandersetzung mit pädagogischen Klassikern von Platon über Thomas von Aquin und Johann Amos Comenius bis hin zu John Locke und Jean-Jacques Rousseau – fester Bestandteil des disziplinären Gedächtnisses (vgl. Tenorth 2003 und Prange 2007); und doch lässt sich der Beginn von ausdrücklich allgemeinpädagogischen Studien als Reflexionen der jeweiligen Grundlagen und Geltungsansprüche von Erziehung erst mit der aufklärerischen Epochenschwelle im Übergang zum 19. Jahrhundert datieren. Primär bedingt durch die zunehmende gesellschaftliche Einrichtung von Schulen und insofern eng mit der Ausdifferenzierung eines pädagogischen Berufsstands verbunden, verdankt sich dieser Neueinsatz pädagogischer Reflexionen auch der Einsicht in die Notwendigkeit der (wissenschaftlichen und nicht mehr bekenntnisgebundenen) Theoriebildung als dem zentralen Medium der Bildung und Bearbeitung pädagogischer Vorstellungen. Was Immanuel Kant mit dem Hinweis auf die nur durch Wissenschaft mögliche Überwindung einer bloß mechanischen Erziehungskunst als „Entwurf zu einer Theorie der Erziehung“ (1964, A10/700; vgl. auch A17/704) noch im Rahmen seiner Vorlesungen zur praktischen Philosophie entwickelt hat, findet sich – erstmalig und in deutlichem Kontrast zu anderen aufklärungspädagogischen Schriften – in Ernst Christian Trapps ‚Versuch einer Pädagogik‘ (1780) als ein „richtiges und vollständiges System der Pädagogik“ (vgl. Trapp 1977a, 61/§ 26) auf der Basis von Grundsätzen, Beobachtungen und Erfahrungen ausgearbeitet. So enthält sein „Grundriss einer Erziehungswissenschaft“ (vgl. Pädagogische Unterhandlungen 1779, 171) neben einer theoretischen Begründung der Notwendigkeit und Möglichkeit von Erziehung sowie der Darlegung und Erörterung der dabei ohne (zumeist religiös motivierte) Zusatzannahmen begründbaren Zweckbestimmungen pädagogischen Handelns insbesondere eine ausführlich ausgearbeitete und methodologisch reflektierte Übersicht der „Erkenntnißquellen“ und der daraus resultierenden „Erziehungsregeln“ (ebd. 46) – mit der Absicht, den pädagogischen Vorstellungskreis angehender Schulmänner nicht auf „Gutdünken“ (Trapp 1977b, 11) aufzubauen, sondern durch methodische Reflexion zu schulen, und so die „Nothwendigkeit […], daß man Erziehung und Unterricht als eine eigne Kunst studiren müsse“ (ebd. 7), zu belegen.

Nur wenig später ist es insbesondere Johann Friedrich Herbart, der – erstmals unter dem Titel ‚Allgemeine Pädagogik‘ (1806) – eine wissenschaftlich justierte Theorie der Pädagogik vorgelegt hat, in der die Eigenlogik pädagogischer Reflexionen gegen dominierende Fremdblicke betont und so die Etablierung eines explizit pädagogischen „Forschungskreises“ (Herbart 1997a, 60) angebahnt wird. Während zeitgleich – bloß exemplarisch – bei Karl Heinrich Ludwig Pölitz in der Konstruktion eines „Systems der Erziehungswissenschaft“ (Pölitz 1806, VII) die Eigenständigkeit der Pädagogik als einer „eigentümliche[n] und isolirte[n] Wissenschaft“ (ebd. 8) zwar problematisiert, dann aber doch in einer Ableitungslogik zugunsten der „Unterordnung aller einzelnen Erziehungszwecke unter den Zweck der Sittlichkeit und […] die Zwecke des Staates“ (VI) – und damit zugunsten einer „Staatserziehungswissenschaft“(Teil A) –wieder aufgegeben wird, sucht Herbart dagegen durch die Konzentration auf „einheimische Begriffe“ der Pädagogik (Herbart 1997a, 60) – deren erster und zentraler „Grundbegriff“ der Begriff der „Bildsamkeit“ als der Bedingung der Möglichkeit von Erziehung ist (Herbart 1997b, 186) – eine ausdrücklich pädagogisch justierte „Landkarte“ (Herbart 1997a, 60) zu erarbeiten, die – „wie der Grundriß einer wohlgebauten Stadt, wo die ähnlichen Richtungen einander gleichförmig durchschneiden und wo das Auge sich auch ohne Vorübungen von selbst orientiert“ (ebd. 60) – die Bildung des „Gedankenkreises“ (ebd. 61) des Erziehers erlaubt und derer „der Erzieher für sich bedarf“ (ebd.), damit aus anderen „Gedanken“ auch andere „Empfindungen und daraus Grundsätze und Handlungsweisen“ (ebd.) werden können. Auch wenn Herbart in der Durchführung eher prinzipienorientiert argumentiert und allemal – trotz seines Hinweises auf deren Bedeutung (vgl. 60) – keine eigenen empirischen Studien durchführt, so ist doch mit seiner ‚Allgemeinen Pädagogik‘ eine Weiche zugunsten einer eigenständigen pädagogischen Wissenschaft gestellt, deren Mitte die Allgemeine Pädagogik besetzt: als überwiegend philosophisch-reflektierende Grundlagen- und Grundlegungstheorie, die in einer Systematik bzw. einem ‚System der Pädagogik‘ eine „Theorie in ihrer Allgemeinheit“ anbietet, die zwar von der „Kunst der Erziehung“ (Herbart 1997c, 43) deutlich unterschieden werden muss, gleichwohl durchgängig auf sie bezogen bleibt.

Was mit Herbart gewissermaßen ‚prädisziplinär‘ (vgl. Tenorth 2004a, 341 u.ö.) begonnen und in – allerdings höchst unterschiedlichen – Systementwürfen zur ‚Allgemeinen Pädagogik‘ vielfach Nachahmung gefunden hat (vgl. exemplarisch Waitz 1852 und Ziller 1856), wird mit Wilhelm Diltheys ‚Grundlinien eines Systems der Pädagogik‘ (1884/94) zum disziplinären Neubeginn, in dem – nach einer harschen Kritik an den bisherigen Pädagogiken und deren „misslingender Wissenschaftlichkeit“ (Dilthey 1986, 174) – erstmalig ein pädagogischer Gedankengang systematisch entwickelt wird, der nicht mehr eine bloß am Zweck der Erziehung ansetzende allgemeine „pädagogische Prinzipienlehre“ (ebd. 175), sondern eine historisch justierte und entlang der Dichotomie von Individualität als Selbstzweck (vgl. ebd. 191) und Gesellschaft als Funktionszusammenhang (vgl. ebd. 192ff., bes. 197f.) entfaltete Skizze des „pädagogischen Problems“ (ebd. 175) präsentiert. Der von Dilthey entwickelte und insbesondere durch seine Schüler Eduard Spranger und Herman Nohl etablierte spezifisch geisteswissenschaftliche Zuschnitt allgemeinpädagogischen Denkens prägt bis weit in die 1960er Jahre das pädagogische Reflexionsfeld und drängt neukantianische, i.e. streng prinzipien- und transzendentaltheoretisch argumentierende Entwürfe – wie die von Paul Natorp (vgl. 1905), Richard Hönigswald (vgl. 1913) und Alfred Petzelt (vgl. 1947) – eher zurück.

Die Vielzahl der seitdem veröffentlichten Allgemeinen Pädagogiken ist kaum übersehbar (vgl. exemplarisch Ballauff 1962; Röhrs 1969; Gamm 1979; Brezinka 1978; vgl. insgesamt Oelkers 1997) und reicht von explizit geisteswissenschaftlichen Erörterungen über praxeologische Entwürfe bis zu funktions- und evolutionstheoretisch argumentierenden Arbeiten. Auch wenn die Idee einer allgemeinen und allgemeinverbindlichen Grundlegung der Pädagogik bzw. der Erziehungswissenschaft durchaus pointiert wiederholt wird, drängt sich jedoch im Rück- wie Überblick der Eindruck auf, dass diese längst zugunsten der Pluralität jeweilig bloß partikularer Systementwürfe faktisch verabschiedet ist.

So begründet Wilhelm Flitner in seiner erstmals 1933 vorgelegten und dann vielfach aufgelegten und umgearbeiteten Allgemeinen Pädagogik (zuletzt 1997) mit Blick auf die „pädagogische Bildung“ des „Horizonts des Erziehers“ (ebd. 21 und 23) dezidiert die Notwendigkeit eines „pädagogischen Grundgedankengang[s]“ (ebd. 9), den er in vier historisch-hermeneutisch ausgerichteten Sichtweisen – der anthropobiologischen, der geschichtlich-gesellschaftlichen, der geistigen und der personalen Betrachtungsart (vgl. ebd. 25–66) – entwickelt und als einen letztlich existentiell justierten Reflexionsgang präsentiert. Gerade weil es Flitner aber in der hermeneutisch-pragmatischen Ausrichtung seines Denkens um „pädagogische Besinnung“ und „Verständigung“ (ebd. 166) geht, zielt seine „systematische Behandlung der pädagogischen Fragen“ (ebd. 10) nicht auf eine Rekonstruktion allgemeingültiger Prinzipien oder eine einheitliche Systembildung, sondern auf ein „dialogisches Philosophieren“, in dem es gilt, „den pädagogischen Grundgedankengang aus der Wahrheit heraus sich rein aussprechen zu lassen“ (ebd.). Kern der pädagogischen Aufgabe ist dabei die Darlegung, Erörterung und Plausibilisierung einer kulturell-historisch wie sozial-ethisch dimensionierten „Geistesbildung“ (ebd. 162), die den ‚Zögling‘ nicht nur in die „Lebensformen, die in einem historisch bestimmten Lebenskreis als gültig empfunden werden“ (ebd. 128), einführt, sondern ihm auch den Weg zur zwar eigenständigen, aber doch wahren „Lebensbemeisterung“(ebd. 129) aus dem „Verstehen der wahren Lebensaufgabe des Menschen“ bahnt (ebd. 163). Dieses ebenso kulturell umfassende wie existentielle Verständnis des Pädagogischen durch den Aufweis des „Phänomen[s] der Erziehung“ (ebd. 22) – im pädagogisch Tätigen – anzubahnen und durch die kategoriale Analyse des „Gefüge[s] der Grundbegriffe“ (ebd.) in selbstständige Reflexion zu überführen, ist Aufgabe und Sinn seiner ‚Allgemeinen Pädagogik‘; der von Flitner formulierte Grundgedankengang ist daher weder bloß ein Grundgedanke noch ein allgemeingültiger ‚Grundriss der allgemeinen Erziehungswissenschaft‘ (1933), sondern ein in seiner Systematik bloß möglicher und in sich bereits gebrochener, weil mehrperspektivisch angelegter Gedankengang (vgl. 1997, 23). Doch auch wenn Flitner um die historisch-kulturelle Bedingtheit seines Gedankengangs wie auch seine normative Bindung an ein christliches Personverständnis weiß, so liefert sein allgemeinpädagogischer Versuch, das „erzieherische Phänomen als solches“ (ebd.) zu Tage treten zu lassen, nicht nur eine – zudem überwiegend um den Begriff der ‚Bildung‘ justierte – spezifische Konstruktion des Pädagogischen, die nicht als Mantel eines vermeintlich wahren Kerns verstanden werden kann, sondern auch eine reflexive ‚Besinnung‘, die in ihren partikularen Prämissen doch weitgehend geteilt werden muss – oder sonst ihre bildende Aufgabe doch verfehlt.

Was bei Flitner aufgrund einer eher weiträumigen und an lebensweltlichen Verwendungsweisen orientierten Begrifflichkeit zu keiner präzisen ‚Landkarte‘ pädagogischer Problemstellungen führt (und auch nicht führen soll), macht aber die Stärke von Dietrich Benners praxeologischer Skizze der ‚Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns‘ (2005) aus: in seiner begrifflichsystematisch konsequenten und um den Leitgedanken der „Aufforderung zur Selbsttätigkeit“ (ebd. 80 u.ö.) gebauten Allgemeinen Pädagogik gelingt es ihm, „einen pädagogischen Grundgedanken“ (ebd. 9) zu entwickeln, der es – das Ineinander von Theorie und Praxis in allen pädagogischen Handlungsfeldern pointierend – erlaubt, mithilfe von vier Prinzipien pädagogischen Denkens und Handelns einen vom pädagogischen Alltagsbewusstsein deutlich unterschiedenen und ausdrücklich analytisch justierten Theorierahmen zu entwerfen. Ausgehend von einem – entlang des Fichte’schen Gedankens der ‚Bestimmung zur Selbstbestimmung‘ entwickelten – Begriff menschlicher Gesamtpraxis (vgl. ebd. 29ff.) wird pädagogisches Handeln als eine weder affirmative noch bloß negative, sondern nicht-affirmative und insofern in sich selbst paradoxe Praxis (vgl. ebd. 132ff.) begriffen und in ihrer nicht-subsumierbaren Eigenlogik gegen andere menschliche Praxen – wie Politik, Wirtschaft und Arbeit, aber auch Religion und Kunst – abgegrenzt. Dieser Zuschnitt aber ermöglicht es zunächst, pädagogische Problemstellungen auf ihre jeweiligen Implikationen und Verkürzungen zu analysieren, hinsichtlich ihrer – erziehungs-, bildungs- oder institutionentheoretischen – Perspektiven zu differenzieren sowie weniger räsonierend als vielmehr ausdrücklich argumentativ zu bearbeiten und auch programmatisch zu entwerfen; zugleich aber werden pädagogische und gesellschaftliche Fragen so aufeinander bezogen, dass sie nicht einander vor- oder nachgeordnet werden (dürfen), sondern mit Blick auf die „menschliche Gesamtpraxis“ (ebd. 295 u.ö.) als Momente individueller wie sozialer „Menschwerdung“ (ebd.) verstehbar und beantwortbar werden. Damit fungiert der von Benner entlang der konstitutiven wie regulativen Prinzipien (vgl. ebd. 128) entwickelte ‚pädagogische Grundgedanke‘ selbst als ein allgemeines, weil durchgängiges ‚Bauprinzip‘ pädagogischer Theoriebildung, das nicht nur über die Grenzen der jeweiligen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen hinausgreift und diese miteinander verbindet, sondern diese auch an die ‚Grundstruktur‘ des Pädagogischen zurückzubinden sucht. Das aber birgt die Gefahr, den Status des ‚Grundgedankens‘ – als eines möglichen, nicht aber beliebigen (vgl. ebd. 303) – in seiner wichtigen Funktion als gerade maßstabsgebundene ‚Landkarte‘ misszuverstehen und als neuen „alte[n] Ordnungsbegriff“ (Tenorth 2004a, 381) auszulegen; vielleicht auch, weil die Bennersche ‚Allgemeine Pädagogik‘ nicht als ‚Grundgedankengang‘, sondern als „ein pädagogischer Grundgedanke“ (Benner 2005, 9) entwickelt ist, erweist sie sich – insbesondere in ihrer spezifisch subjekt- bzw. handlungstheoretischen Fassung – dann auch als bisweilen starr gegenüber der Komplexität und Mehrdimensionalität historischer wie gegenwärtiger Problemstellungen.

Ungefähr zeitgleich veröffentlicht lässt sich in Alfred K. Tremls ‚Einführung in die Allgemeine Pädagogik‘ (1987) eine gänzlich anders ansetzende, aber ähnlich orientierende Skizze des pädagogischen Problems erkennen: Entlang eines evolutionstheoretisch ausgearbeiteten Verständnisses der Funktion von Erziehung für die (jeweilige) Gesellschaft gelingt es Treml, mit seiner ‚Allgemeinen Pädagogik‘ eine „Ordnung im Denken […] zum Zwecke der Orientierung“ (ebd. 11) zu entwerfen, die auf der Differenz von Theorie und Praxis und dem damit verbundenen Distanzgewinn aufbaut und gerade dadurch einen weiten Blick auf pädagogische Fragestellungen zu werfen erlaubt. So eignen sich seine Überlegungen zur „Erziehung in der sozio-kulturellen Evolution“ (ebd. 66–120) nicht nur als typologische Skizze einer kurzen Geschichte der Pädagogik, sondern eröffnen auch einen funktionstheoretischen Zugang zur pädagogischen Semantik. Auch wenn Treml diesen Faden in der ausgearbeiteten Fassung seiner Allgemeinen Pädagogik (2000) nicht wieder explizit aufgreift, sondern zugunsten eines erheblich abstrakteren Evolutionsverständnisses verschiebt (vgl. Treml 2004), so eröffnet doch der damalig justierte Fokus, in der und durch die Funktionsbestimmung die Form pädagogischen Handelns zu analysieren und als Zeigen zu bestimmen (vgl. Treml 2000, 86ff. und Treml 1996), einen nicht nur originellen und anregenden Zugang zu pädagogischen Fragestellungen, sondern darin auch den Abschied aus einer erziehungswissenschaftlich doch üblicherweise traditionell gehaltenen Semantik.

Gerade die – in ihrer Auswahl typologisch verstandenen – Ansätze zu einer Allgemeinen Pädagogik belegen aber in ihrer Unterschiedlichkeit die unübersehbaren Schwierigkeiten einer Allgemeinen Pädagogik: Auch wenn die Funktion einer Allgemeinen Pädagogik als Orientierungswissen und ‚Landkarte‘ weder im Anspruch bestritten noch gar in ihrer Durchführung widerlegt wird, so gelingt diese Leistung – in allen Entwürfen durchgängig – doch nur, wenn dem gewählten partikularen Zugriff in seinen theoretischen Weichenstellungen auch in der Lektüre mehr oder weniger gefolgt wird; weder Autor noch Rezipient scheinen in der Lage zu sein, die jeweilig gewählten theoretischen Kategorien in der Auseinandersetzung mit anders möglichen Perspektiven zu begründen bzw. aus der konkurrierenden Pluralität selbst argumentativ hervorzutreiben (vgl. Anhalt 2005). Das aber ergibt insgesamt ein Bild der gegenwärtigen Allgemeinen Pädagogik als einer ebenso partikularen wie auch prekären und wohl nur darin allgemeinen Grundlagentheorie (vgl. Ricken 2002): kaum verwunderlich ist dann, dass Gesamtentwürfe zugunsten unzähliger Einführungsschriften zurückgegangen sind – mit dem eigentümlichen Effekt, dass Orientierung und Überblick zwar immer noch geleistet werden, aber oft genug nun in doch eher konventioneller, weil traditioneller Gestalt; doch auch wenn gegenwärtig Grundlagenreflexionen vorgelegt werden, so unterscheiden sie sich in ihrer Gestalt doch erheblich von denen traditioneller Allgemeiner Pädagogiken. So skizziert Michael Winkler in seiner ‚Kritik der Pädagogik‘ (2006) einen grundständigen Gedanken zum „Sinn der Erziehung“ (ebd.) eher in der Form einer „Unschärfetheorie von Erziehung“ (ebd. 11), die in eher gelegentlichverstreuten, bisweilen fast beiläufigen, immer aber betont skeptischen Anmerkungen einer Theorie der Pädagogik „unter den Bedingungen von Unsicherheit“ (ebd. 12) zuzuarbeiten sucht; was aber systematisch nicht streng konsistent entwickelt ist, sondern notwendigerweise „unsauber“ (ebd.) bleiben muss, zeigt sich in seiner Erfahrungsnähe und seinem Erfahrungsreichtum – auch in der Darstellung – als Gewinn: dass auch Erziehung – wie jede andere Praxis – nicht nur „nicht theoriefrei zu haben“ (Treml 2000, 7) ist, sondern jenseits symbolischer Diskurse und der mit ihnen einhergehenden ‚symbolischen Gewalt‘ (Bourdieu) gar nicht existiert, sodass gerade nicht Einheitlichkeit, sondern Mehrperspektivität, nicht Stringenz, sondern Inkonsistenz und Widerspruch Bedingung der Möglichkeit eigenständiger pädagogischer Sinnbildung werden. Ähnlich, aber in Theoriezugriff und Methodologie doch gänzlich anders, sucht auch Alfred Schäfer in seiner ‚Einführungin die Erziehungsphilosophie‘ (2005) eine „allgemeine Bestimmung von Erziehung“ (ebd. 9) vorzulegen, die nicht nur der Konstituiertheit und Konstruiertheit der „Erziehungswirklichkeit“ (ebd. 17ff.) Rechnung trägt, sondern durch die dekonstruktive Bearbeitung leitender Paradigmen – Schäfer fokussiert dabei vorrangig die pädagogische Figur moderner Subjektivität als Gegensatz und Zusammenhang von Autonomie und Unterwerfung (vgl. ebd. 96ff. wie 198ff.) – die Möglichkeit kritischer Theoriebildung zuallererst eröffnen will. Gerade weil Erziehung als Wirklichkeit ohne Reflexion auf die „imaginären Bezugspunkte der jeweiligen symbolischen Ordnung“ (ebd. 202) nicht bestimmbar ist, ist nicht nur der „Streit zwischen den Paradigmen um deren Wirklichkeitskonstruktion“ (ebd. 21) sowohl historisch als auch systematisch zu rekonstruieren und – wenn auch mit „Skepsis gegenüber den eigenen Wirklichkeitsentwürfen“ (ebd. 202) – auszufechten, sondern auch die Kategorienanalyse bis zu dem Punkt voranzutreiben, an dem das „Andere der symbolischen Ordnung“ (ebd. 204) aufbricht. In dieser dekonstruktiven Ausrichtung aber verschiebt sich das, was unter ‚Allgemeiner Pädagogik‘ verstanden werden kann, von einer (vermeintlich) fundierenden Grundlagenreflexion zu einer problematisierenden Grenzreflexion (vgl. Fischer & Ruhloff 1993; Ruhloff 1996) und bietet in der Verknüpfung von strenger Theorie- und Begriffsarbeit mit der – gerade in Aporetik aufbrechenden – ‚pädagogischen Bildung des Horizonts des Erziehers‘ als Kritik eingewöhnter Haltungen eine neuerlich veränderte, wenn auch eingeschränkte ‚Topografie‘ pädagogischer Problemstellungen an.

Zu Funktion und Aufgabe der Allgemeinen Pädagogik

Vor diesem Hintergrund lassen sich – auch mit Blick auf die gegenwärtige Praxis allgemeinpädagogischer Arbeiten – dreierlei Funktionen und Aufgabenbereiche der Allgemeinen Pädagogik unterscheiden, die das traditionelle Selbstverständnis der Allgemeinen Pädagogik als einer ‚Landkarte‘ (Herbart), d.h. als einer Topografie pädagogischer Frage- und Problemstellungen zu Zwecken der ‚Bildung des Gesichtskreises der Erzieher‘, zu differenzieren und zu bearbeiten erlauben. Mit dieser Weichenstellung wird zugleich deutlich, dass (auch) Allgemeine Pädagogik sich nicht bloß – als letztlich doch unstrittige Teildisziplin der Erziehungswissenschaft – theoretisch und metatheoretisch auf erziehungswissenschaftliche Theoriebildungsfragen bzw. wissenschaftstheoretische und -methodologische Problemstellungen beziehen kann, sondern auch ihrerseits den Zusammenhang und Unterschied von Erziehungswissenschaft und Pädagogik, d.h. die Einverwicklung von theoretischer wie auch empirischer erziehungswissenschaftlicher Erforschung in pädagogisch-praktische Handlungszusammenhänge und umgekehrt, bedenken muss. So sehr die Unterscheidung von Pädagogik als eher praxisgebundener Reflexion und Erziehungswissenschaft als wissenschaftlich justierter Erforschung und Reflexion von pädagogischen Praktiken (und der in ihr enthaltenen symbolischen Konstruktionen) überzeugt und erforderlich ist, um Forschungsfragen nicht kurzschlüssig in Handlungsfragen umschlagen zu lassen (vgl. Tenorth 2004a, 374ff.), so sehr ist auch der Zusammenhang von Pädagogik und Erziehungswissenschaft nicht vorschnell zu überspielen: zum einen, weil die wissenschaftliche Erforschung pädagogischer Praktiken nicht ohne Berücksichtigung der pädagogischen Selbstverständnisse der Akteure (wie aber auch der Forscher selbst) gelingen kann, sodass die jeweiligen Pädagogiken immer auch impliziter, bisweilen gar expliziter Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Forschung sind (vgl. Kade & Seitter 2007); zum anderen, weil erziehungswissenschaftliche Konstruktionen in ihrer Begrifflichkeit wie Zugriffsweise selbst längst Bestandteil der praktisch relevanten Pädagogiken sind, sodass eine apodiktische, strikte Trennung beider die Vernachlässigung einer disziplinär erforderlichen Verwendungsforschung nach sich zöge (vgl. Wigger 1997).

Zur Theorie- und Reflexionsfunktion der Allgemeinen Pädagogik