Einleitung

Ethische Fragen sind seit jeher Teil des alltäglichen Umgangs mit Patienten im Krankenhaus und Bewohnern in der stationären Altenpflege. Die ethischen Probleme und Dilemmata machen die Tätigkeit im Krankenhaus und in der stationären Altenpflege einerseits kompliziert und belastend, sie bieten andererseits aber auch eine lohnende persönliche Herausforderung für die in einer Einrichtung Tätigen. Neu ist, dass in den letzten Jahren Fragen nach dem Umgang mit Werten in Krankenhaus und stationärer Altenpflege zunehmend in systematischer Form bearbeitet werden.

1997 veröffentlichten die konfessionellen Krankenhausverbände eine Stellungnahme, in der sie dazu aufriefen, Klinische Ethikkomitees einzurichten. Sie begründeten dies damit, dass solche Komitees in einer immer komplexer werdenden beruflichen Alltagswirklichkeit geschützte Räume für offene Gespräche über Wertfragen bieten könnten. Parallel dazu wurde eine strukturierte Ethikberatung bei den Kriterien für die Krankenhauszertifizierung (z. B. KTQ und proCumCert) als Qualitätsmerkmal positiv berücksichtigt. Diese Initiativen – verbunden mit gesellschaftlichen Entwicklungen hin zu mehr Pluralismus – führten zur Einrichtung Klinischer Ethikkomitees an immer mehr Krankenhäusern. Neben diesen »klassischen« Ethikkomitees wurde eine Vielzahl anderer, teilweise offenerer Formen (z. B. Ethikforen) oder interdisziplinärer Arbeitsgruppen gegründet.

Die vielfältigen Initiativen in den Krankenhäusern unterschiedlicher Trägerschaft wiesen schnell einen großen Bedarf an qualifizierter Fortbildung auf. Nach ersten Workshops wurde von einer Arbeitsgruppe der Akademie für Ethik in der Medizin ein Curriculum entwickelt mit dem Ziel, Menschen mit unterschiedlichem Erfahrungshintergrund (Medizin, Pflege, Seelsorge, Sozialdienst, Recht, Patientenvertretung) zu selbstständigen, verantwortungsvollen und kompetenten Ethikberatern auszubilden. Sie sollten in der Lage sein, ein ethisches Problem zu erkennen und zu reflektieren, den Prozess der ethischen Entscheidungsfindung zu moderieren und praktische Hilfestellung bei der Lösung eines ethischen Problems zu leisten. Ferner sollten sie befähigt werden, den Bedarf und die Bedeutung von Ethikberatung für die eigene Organisation zu erkennen und zu reflektieren sowie am Aufbau und der Weiterentwicklung geeigneter Strukturen mitzuwirken.

Dieses Curriculum wird seit 2003 im Qualifizierungsprogramm »Ethikberatung im Krankenhaus« in Kooperation zwischen der Akademie für Ethik in der Medizin, dem Zentrum für Gesundheitsethik, der Medizinischen Hochschule Hannover und der Ruhr-Universität Bochum unter Einbeziehung weiterer Referenten umgesetzt. Das Programm ist praxisorientiert und soll die Teilnehmenden befähigen, den jeweiligen Gegebenheiten und Bedürfnissen entsprechend, das für die eigene Einrichtung angemessene Modell von Ethikberatung zu entwickeln und umzusetzen. Die Kurse bestehen aus grundlegenden, methodischen und thematischen Modulen. Mittlerweile haben mehrere hundert Teilnehmer aus dem ganzen Bundesgebiet die interdisziplinären Kurse besucht. Sie kamen vorwiegend aus der Ärzteschaft, der Pflege und der Seelsorge.

Das vorliegende Buch beruht auf den Inhalten und Erfahrungen dieses Qualifizierungsprogramms sowie eines ersten Kurses zur Ethikberatung in der stationären Altenpflege (September 2009). Sein Ziel ist eine praxisrelevante Einführung in die Klinische Ethikberatung. So wird einerseits über die unterschiedlichen Strategien und Modelle berichtet, aber auch über Schwierigkeiten und Widerstände. Die individuelle Ebene der Beziehung zwischen Arzt und Patient bzw. zwischen Pflege und Patient sowie innerhalb des Behandlungsteams wird ebenso behandelt wie organisationsethische Aspekte. Der Leser soll Einblick in die vielfältigen Aufgaben und Formen der Klinischen Ethikberatung gewinnen, um diese in seinem Krankenhaus umsetzen zu können. Dabei sind wesentliche Elemente auch auf andere Einrichtungen im Gesundheitswesen, insbesondere auf Alten- und Pflegeeinrichtungen, übertragbar.

Das vorliegende Buch stellt bewusst verschiedene Modelle Klinischer Ethikberatung und unterschiedliche Herangehensweisen vor. Die Herausgeber haben über mehrere Jahren in den verschiedenen Kursen und in der vielfältigen Beratungspraxis in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen die Erfahrung gemacht, dass jede Einrichtung ihre eigenen Bedürfnisse hat und ihr eigenes Profil ausbilden muss. Das Buch ist mit Autoren aus Medizin, Medizinethik, Philosophie, Theologie, Organisationsethik und Recht bewusst interdisziplinär angelegt.

In diesem Buch wird »Klinische Ethikberatung« als Oberbegriff für einen strukturierten Umgang mit ethischen Fragen im Krankenhaus verstanden; dies wurde auch in der nunmehr erweiterten 2. Auflage beibehalten. Er beinhaltet damit sowohl die individuellen ethischen Fallbesprechungen als auch die Entwicklung von Ethikleitlinien und Fortbildung zu ethischen Themen. Die Begriffe »ethische Fallbesprechung« und »ethische Falldiskussion« werden synonym verwendet. In der Schreibweise wird zur besseren Lesbarkeit und – soweit dies nicht sinnentstellend ist – die männliche Form verwendet; die weibliche Form ist als explizit darin eingeschlossen zu betrachten.

Das Buch beginnt mit einer allgemeinen Einführung über ethische Fragen im Krankenhaus. Daran schließt sich Kapitel 2 mit theoretischen Grundlagen zu medizinethischen und theologischen Aspekten an. Im dritten Kapitel werden unterschiedliche Strukturen und Modelle von Ethikberatung vorgestellt. Kapitel 4 beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Methoden der ethischen Falldiskussion und enthält praxisnahe Beispiele. Das fünfte Kapitel widmet sich dem Implementierungsprozess von Klinischer Ethikberatung. Organsationsethische Fragen werden in Kapitel 6 behandelt. Kapitel 7 nimmt Fragen der Evaluation und Qualitätssicherung auf. Im achten Kapitel wird über Rechtsfragen berichtet. Kapitel 9 beschäftigt sich mit den spezifischen Aspekten der Ethik und Ethikberatung in der stationären Altenpflege. Im Anhang sind exemplarisch Satzungen einiger Ethikkomitees sowie Internetadressen und ergänzende Fachartikel aufgenommen.

Das Buch soll Hinweise und Anregungen geben, mit ethischen Konflikten im Krankenhaus und in Einrichtungen der (Alten-)Pflege konstruktiv und interdisziplinär umzugehen. Die Herausgeber würden sich freuen, wenn das Buch für den Leser aus der Praxis eine Hilfestellung für die Entwicklung Klinischer Ethikberatung in seiner jeweiligen Einrichtung bieten kann. Dazu wünschen sie dem Leser ein erfolgreiches Gelingen. Erfahrungsgemäß ist mit einem kontinuierlichen Einsatz, Engagement und Zeit viel erreichbar, aber zur Etablierung einer Klinischen Ethikberatung werden gleichermaßen auch Durchhaltevermögen und ein realistischer Blick für das Machbare benötigt.

Der große Erfolg der ersten Auflage machte innerhalb kurzer Zeit eine zweite Auflage erforderlich. Die Herausgeber haben sich zu einigen wesentlichen Ergänzungen entschlossen: Neben einer redaktionellen Überarbeitung aller Kapitel wurde für den Bereich der Ethikberatung in der stationären Altenpflege das Kapitel 9 hinzugefügt.

Die Herausgeber danken Herrn Dr. Ruprecht Poensgen, Frau Dagmar Kühnle und Herrn Tillmann Bub vom Kohlhammer-Verlag für die gute und unkomplizierte Zusammenarbeit.

Andrea Dörries, Gerald Neitzke, Alfred Simon, Jochen Vollmann

1 Ethik im Krankenhaus

Andrea Dörries

1.1 Einleitung

Die derzeit schwierige Situation der Krankenhäuser ist durch drei parallel verlaufende gesellschaftliche Entwicklungen charakterisiert.

Erstens: Die Gesellschaft ist pluralistischer geworden, Behandlungsentscheidungen werden von den Patienten individuell nach den eigenen Wertmaßstäben getroffen; es gibt divergierende Lebensentwürfe.

Zweitens: Zu diesen gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen kommt eine Reihe neuer medizinisch-technischer Möglichkeiten. Es ist fast schon Routine geworden, eine Niere zu transplantieren; Frühgeborene unter 1.000 g können mit teilweise sehr guten Entwicklungsmöglichkeiten überleben; der Tod und das langandauernde Leiden vieler Schwerverletzter und Schwerkranker können aufgrund einer guten Intensivbehandlung vermindert oder gar vermieden werden. Die Anwendung dieser Behandlungstechniken greift jedoch tief in das überlieferte Verständnis vom Umgang mit Leiden und Sterben ein. Dies kann zu ethischen Konflikten führen.

Drittens: Seit einigen Jahren besteht verstärkt das Problem begrenzter finanzieller Mittel im Gesundheitssystem. Krankenhäuser werden geschlossen, zusammengelegt oder umstrukturiert; sie treten in Konkurrenz zueinander. Es ist damit ein erheblicher Umstrukturierungsprozess in Gang gesetzt worden. Das löst Unruhe unter den Mitarbeitern aus.

Durch die erwähnten Entwicklungen geraten tradierte Muster der Kommunikation und des Umgangs miteinander in der Organisation Krankenhaus in Bewegung. Die bisherigen Lösungsstrategien im beruflichen Miteinander scheinen nicht mehr auszureichen. Das schafft Unruhe, Unbehagen und Unzufriedenheit, führt – wie immer wieder berichtet wird – zum Burn-out-Effekt und bringt damit die Leitungsorgane in Schwierigkeiten. Natürlich ist durch diese Schwierigkeiten auch der Patient direkt oder indirekt betroffen. Er wird jede Unstimmigkeit innerhalb des Personals sehr genau registrieren und unter Umständen verunsichert werden. Er erwartet bei seiner Betreuung und bei der Beratung über seine Behandlung eine einheitliche Strategie und klare, angemessene Informationen.

1.2 Das Krankenhaus als Organisation

Krankenhäuser sind komplexe und komplizierte Organisationen, in denen kranke Menschen behandelt, gepflegt und beraten werden. In Krankenhäusern arbeiten sehr unterschiedliche Berufsgruppen, wie z. B. Ärzte, Pflegende, Verwaltungsangestellte, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Laboranten, Sozialarbeiter und Seelsorger. Man wird in jedem Krankenhaus jeder Trägerschaft von mehreren Dutzend Berufen und Funktionsbezeichnungen ausgehen müssen.

Jede der erwähnten Berufsgruppen vertritt dabei mehr oder weniger das eigene berufliche Selbstverständnis, was im Arbeitsablauf zu Konflikten mit den Patienten, aber auch der Mitarbeiter untereinander führen kann. Sowohl Ärzte als auch Pflegende haben ein festes professionsspezifisches Selbstverständnis entwickelt. Typisch für Ärzte ist das traditionelle Arzt-Patient-Verhältnis, das den Anspruch auf die persönliche Zweierbeziehung ausdrückt, wobei bei der Behandlung eines Patienten die ärztliche Berufsethik und ärztliche Tugenden eine Rolle spielen. Die Pflege bezieht ihr Selbstverständnis traditionell aus der Zuwendung zum Kranken, dessen persönlicher Pflege und Versorgung. Sie befindet sich mittlerweile in einem Akademisierungs- und Professionalisierungsprozess, der neue Elemente in das traditionelle hierarchische Gefüge der Krankenhäuser einbringt.

Neben dem jeweiligen Professionsverständnis finden sich unter den Mitarbeitern Personen verschiedener Religionen und Glaubensrichtungen sowie unterschiedlicher kultureller Herkunft. Zusätzlich bringt jeder Mitarbeiter individuelle Wertvorstellungen ein, die in klinischen Entscheidungssituationen, bei denen es häufig um existentielle Fragen geht, zum Tragen kommen. Dies trifft sowohl für die Krankenhausmitarbeiter als auch für den Patienten und sein familiäres Umfeld zu. Die individuellen Wertvorstellungen beruhen auf privaten und beruflichen Erfahrungen sowie der Biographie und Persönlichkeit des Einzelnen.

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass im Krankenhaus häufig Konflikte auftreten. Es gibt wie in anderen Betrieben Konflikte um Arbeitszeiten, um Dienstpläne und Nachtdienste; es gibt Konflikte um berufliche Förderung, um Freistellung zur Weiterbildung und Kostenübernahme; es gibt Konflikte zwischen den einzelnen Stationen über die Aufnahme von Patienten, innerhalb der Stationen über Arbeitsverteilungen; es gibt Konflikte um die finanzielle Ausstattung der einzelnen Abteilungen und etliche weitere. In der hohen Konfliktdichte innerhalb der Organisation Krankenhaus treffen damit berufsspezifische, kulturelle und individuelle Wertmaßstäbe aufeinander – und die Betroffenen müssen miteinander kommunizieren und kooperieren.

In den letzten Jahren sind die ethischen Konflikte zunehmend in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt. Obwohl wertgebundene Entscheidungen im Krankenhaus schon immer und häufig getroffen worden sind, besteht seit einiger Zeit zunehmend das Bedürfnis und die Notwendigkeit, ethische Fragestellungen zu diskutieren. Dies erfordert ein großes Maß an Verständnisfähigkeit, Gesprächsbereitschaft, Frustrationstoleranz, Organisationstalent sowie an Fachkenntnissen, u. a. über ethische Urteilsbildung. Hierzu gibt es jedoch kaum Elemente in der Aus-, Fort- und Weiterbildung. Eine systematische ethische Reflexion im Krankenhaus ist unüblich.

Unter den heutigen Bedingungen wird aber neben guter Kommunikation eine strukturierte Reflexion benötigt.

1.3 Die Gesundheitsberufe und der Patient

Krankenhäuser ähneln anderen Organisationen in vielen Aspekten: bürokratische Arbeiten müssen erledigt werden, Schriftverkehr muss erfolgen, Bestellungen müssen aufgeben, Waren einsortiert werden; es gibt Auseinandersetzungen zwischen Abteilungen und Probleme der Mitarbeiter untereinander. Aber in einem bedeutsamen Aspekt unterscheidet sich das Krankenhaus grundsätzlich von anderen Organisationen: In Krankenhäusern leiden und sterben Menschen. Mit diesem Leiden und Sterben umzugehen ist der entscheidende Aspekt für diejenigen, die im Krankenhaus tätig sind.

Für Patienten ist das Krankenhaus häufig eine ausgesprochen fremde Umgebung, die die normalen Regeln des gesellschaftlichen Miteinanders entscheidend verändert. Der Patient wird nach Symptomen befragt, die er im Alltag nicht ohne weiteres gegenüber Fremden preisgeben würde; er wird von Fremden körperlich untersucht; er wird – häufig mehrfach täglich – von Fremden für Blutentnahmen, subkutane Injektionen, Infusionen oder andere Untersuchungen gestochen; er sieht Bilder, die seinen Körper in einer Form darstellen, die er nicht gewohnt ist. Die Welt eines Krankenhauses ist für die meisten Patienten fremd, erschreckend und stellt eine radikale Veränderung ihres Alltagslebens dar.

Für die Ärzte, Pflegenden und anderen Mitarbeiter des Krankenhauses ist all dies Alltagsroutine, die sie professionell erledigen und bei der es notwendig ist, eine gewisse Distanz zu dem Leiden, das täglich gesehen und erlebt wird, zu wahren. Die Patienten aber befinden sich – zumindest teilweise – in einer existentiellen Extremsituation, in der sie auf sich selbst zurückgeworfen und überaus verletzlich sind. Diese medizinisch-professionelle und die Perspektive des Patienten treffen im Krankenhaus aufeinander und können Ursache für eine Vielzahl wertgebundener Fragen bei Behandlungsmaßnahmen sein.

Der Soziologe David Chambliss hat dies folgendermaßen dargestellt: »The moral system of the [...] hospital is quite different from that of the lay world. In the hospital it is the good people, not the bad, who take knives and cut people open; here the good stick others with needles [...]; here the good, doing good, peel dead skin from the screaming burn victim’s body and tell strangers to take off their clothes« (Chambliss 1996, 12). Er fasste zusammen, dass die moralische Ambivalenz dieser Handlungen nur durch Routine und damit Professionalität handhabbar wird. Infolgedessen werden nur wenige Konflikte, die dann meistens außerhalb des routinemäßigen Ablaufs liegen, von Ärzten und Pflegenden als ethisch problematisch wahrgenommen.

Was hat sich im Umgang mit dem Patienten in den letzten Jahren verändert? Bisher blieb die direkte individuelle Versorgung des Patienten der Krankenhausleitung oder den Kostenträgern weitgehend verschlossen. Hier deuten sich derzeit neue Steuerungseingriffe an: Die Verwaltungen der Krankenhäuser und die Krankenkassen, vertreten durch ihren Medizinischen Dienst, versuchen zunehmend Einblick in ärztliches und pflegerisches Handeln zu gewinnen und Einfluss darauf zu nehmen. Der entschiedene Protest der Ärzte gegen Eingriffe in die Therapiefreiheit seitens der Krankenkassen oder gegen die Weitergabe von Patientendaten kann verstanden werden als die Furcht vor einem Einbruch in diesen bisher bestehenden Schutzraum.

Weiterhin ändert sich bei einem Teil der Patienten das Verhalten bei der Inanspruchnahme des Gesundheitswesens. Gefördert wahrscheinlich durch die Budgetierung im Gesundheitswesen und durch die schleichende Veränderung gesellschaftlicher Vorstellungen von Krankheit (Stichwort: Lifestyle-Medizin) entwickelt sich derzeit bei einem Teil der Patienten eine Tendenz, bei bestimmten gewünschten Therapieverfahren, die nicht im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung enthalten sind, die Kostenübernahme durch die Solidargemeinschaft – notfalls auch gerichtlich – durchzusetzen. Informationsbedürfnisse und Misstrauen gegenüber Ärzten und Krankenkassen sowie Kunstfehlerprozesse führten dazu, dass u. a. unabhängige Patientenberatungsstellen an den Verbraucherzentralen eingerichtet wurden. Durch diese Entwicklungen wird der Patient – teilweise – zum Kunden, wodurch sein Verhältnis zu Ärzten und Pflegenden weniger durch gegenseitiges Vertrauen als vielmehr durch Anspruch und Forderung einerseits und qualitätsgerechte Auftragserfüllung andererseits gekennzeichnet ist. Dieses neue Verhältnis zum Patienten erfordert Qualifikationen und Kenntnisse in Beratungs- und Kommunikationstechniken, auf die die Ärzteschaft und Pflege häufig nur unzureichend vorbereitet ist.

Als weiterer bedeutsamer Wandel im Krankenhaus ist die zunehmende Teamarbeit und abteilungsübergreifende Arbeit anzusehen. Chronisch kranke oder auch palliativmedizinisch betreute Menschen werden überwiegend von Teams, in denen unterschiedliche Berufsgruppen tätig sind, behandelt. Eine umfassende Betreuung von Kranken mit Diabetes mellitus oder Cystischer Fibrose erfordert neben der ärztlichen Beurteilung die Einschätzung und Betreuung von Pflegekräften, Diätassistenten, Physiotherapeuten und bedarfsweise auch Sozialarbeitern, Psychologen und Seelsorgern. Tendenziell werden daher Entscheidungen nicht mehr allein zwischen Arzt und Patient, sondern im Team getroffen. Damit sind die Teammitglieder gefordert, ethische Normen zu kennen, diese im Krankenhausalltag anzuwenden sowie moralische Beurteilungen zu kommunizieren, zu begründen und eine einheitliche Zielsetzung zu erarbeiten.

1.4 Ethische Konflikte im Krankenhaus

Am häufigsten treten moralische Konflikte bei Fragen der Therapiebegrenzung auf: Soll die Therapie bei einem Patienten mit einer onkologischen Erkrankung fortgeführt werden oder nicht? Soll ein Patient im sog. Wachkoma bei der nächsten Pneumonie mit Antibiotika behandelt werden? Ist die Pilzsepsis bei einem immunsupprimierten bewusstlosen Patienten noch in den Griff zu bekommen und was würde der Patient wollen? Als weitere Konflikte werden der Umgang mit Spätabbrüchen, mit Pränataldiagnostik oder mit extrem unreifen Frühgeborenen genannt. Auch die Anwendung der Patientenverfügung oder das Legen von PEG-Sonden werden angesprochen. Es sind diese Fragestellungen, die in ethischen Fallbesprechungen am häufigsten diskutiert werden.

In der Klinischen Ethikberatung müssen ethische Fragestellungen von anderen Fragestellungen unterschieden werden. Bei letzteren kann es sich um organisatorische, finanzielle, rechtliche, psychologische oder kommunikative Fragen handeln. Diese sind nicht Bestandteil einer Klinischen Ethikberatung oder gar einer ethischen Fallbesprechung, sondern müssen durch andere Institutionen im Krankenhaus geklärt werden.

Beispiel: Organisatorische Probleme
Fehlen beispielsweise auf einer Erwachsenenstation spezielle Kanülen für die Blutentnahme von Kindern, so handelt es sich hier, falls einem Kind Blut abgenommen werden soll, in der Regel um ein Organisationsproblem. Werden jedoch regelmäßig Kinder aufgenommen und das Problem besteht weiter oder wird gar weiter bewusst aufrechterhalten, weil man auf der Station meint, dass Kinder nicht auf diese Station aufgenommen werden sollten, dann kann sich dahinter durchaus ein ethisches Problem verbergen und nicht allein eine unzureichende Organisation.

Beispiel: Finanzielle Probleme
Welches Antibiotikum bei einer Pneumonie gegeben wird, hängt von der Grunderkrankung, dem Alter des Patienten und natürlich der Sensitivität des krankheitsverursachenden Erregers ab. Dies ist eine evidenzbasierte sowie Erfahrungstatsache. Es wird aber eine ethische Entscheidung, wenn keine ausreichenden finanziellen Mittel vorhanden sind, um das angemessene Antibiotikum zu verabreichen oder wenn nicht mehr alle Patienten, bei denen die medizinische Indikation besteht, mit diesem Antibiotikum behandelt werden können.

Beispiel: Rechtliche Probleme
Es gibt eine Fülle von Vorschriften im Krankenhaus, die primär nichts mit ethischen Fragen zu tun haben. Aus rechtlichen Gründen muss beispielsweise bei nicht einwilligungsfähigen Patienten ohne Bevollmächtigten eine Betreuung eingeleitet werden. Eine andere Regelung besagt, dass Ärzte für ihr Handeln rechtlich haften und sie deshalb die letztendliche Entscheidung für eine Therapiebegrenzung tragen und vertreten müssen. In einer ethischen Fallbesprechung können deshalb rechtlich bindende Entscheidungen nicht durch eine Gruppe getroffen werden, eine Fallbesprechung kann aber beratend und unterstützend für das Team und den behandelnden Arzt wirken.

Beispiel: Beziehungsprobleme
Wird während einer ethischen Fallbesprechung ein schwerwiegender Beziehungskonflikt zwischen einer Pflegekraft und einem Arzt deutlich, der die Konsensfindung entscheidend stört, kann dieser in der Regel nicht in einer ethischen Fallbesprechung geklärt werden. Die Bereitschaft der Beteiligten vorausgesetzt, kann dagegen möglicherweise eine gemeinsame Supervision sinnvoll sein.

Beispiel: Kommunikationsprobleme
Bei einer ethischen Fallbesprechung kann sich herausstellen, dass Arzt und Pflegekraft einen unterschiedlichen Informationsstand hinsichtlich eines Patienten haben. So kann es beispielsweise vorkommen, dass ein Patient einem Arzt gegenüber einer weiterführenden, belastenden Therapie zugestimmt hat, die zuständige Pflegekraft darüber aber nicht informiert wurde. Diese Pflegekraft hält möglicherweise die Therapie für eine nicht zumutbare Belastung des ihrer Meinung nach nicht informierten Patienten. Sind alle Beteiligten auf dem gleichen Informationsstand, kann sich das vermeintlich ethische Problem als ein reines Kommunikationsproblem darstellen.

1.5 Entscheidungsfindung bei ethischen Konflikten

Ethische Konflikte werden häufig informell, z. B. im Rahmen der täglichen Visite besprochen. Solche Gespräche verlaufen dann meistens fragmentarisch mit vielen Unterbrechungen durch andere Fragestellungen und durch Alarmmeldungen der verschiedenen Geräte im Raum. Das heißt, die ethischen Fragestellungen werden im Krankenhaus zwar in der Regel verantwortungsvoll behandelt, aber kaum systematisch; mehr intuitiv und individuell als nach bewusst reflektierten Wertmaßstäben und nach weitgehend ungeklärten ethischen Kriterien und Regeln für die Beteiligten. Diesen Prozess bewusster und auch transparenter zu gestalten, darum geht es bei der ethischen Fallbesprechung – und im weiteren Sinn bei den verschiedenen Modellen Klinischer Ethikberatung.

Klinische Ethikkomitees als eine Form der Klinischen Ethikberatung sind nicht zu verwechseln mit gesetzlich vorgeschriebenen Ethikkommissionen, die klinische Forschung am Menschen beurteilen. Klinische Ethikkomitees sind nicht gesetzlich vorgeschrieben, sie werden jedoch bei der freiwilligen Zertifizierung der Krankenhäuser positiv berücksichtigt. So wird bei der Zertifizierung der Krankenhäuser nach KTQ oder Procum-Cert der strukturierte Umgang mit ethischen Fragestellungen als Qualitätskriterium angeführt.

Welches Modell der Ethikberatung auch gewählt wird (Klinisches Ethikkomitee, Ethikforum, Ethikkonsiliar, Mobile Ethikberatung), neben den ethischen Fallbesprechungen ist die Entwicklung von krankenhausinternen Leitlinien (häufig auch als Empfehlungen oder Vorgehensweisen bezeichnet) und die regelmäßige Fortbildungsorganisation Teil ihrer Aufgaben. Für jede Institution benötigt man ein eigens entwickeltes Modell, um die drei Aufgaben zu erfüllen. Dies gilt auch für die sich neu bildenden Holdings oder Krankenhausverbünde, in denen sich – häufig in konfessioneller Trägerschaft – Krankenhäuser, Rehabilitationseinrichtungen und Pflegeeinrichtungen zusammenschließen.

Die Implementierung Klinischer Ethikberatung stößt im Krankenhaus nicht nur auf Zustimmung (s. Kap. 5.1). Häufig kommen Einwände gegen Klinische Ethikberatung von Seiten der Ärzte, die einen Eingriff in ihre Therapieentscheidung befürchten. Ärzte sind nicht nur ethisch, sondern auch rechtlich für ihr Handeln verantwortlich und müssen gegebenenfalls die haftungsrechtlichen Konsequenzen tragen. Daraus folgt konsequenterweise die Argumentation, dass letztendlich niemand den Ärzten die klinische Entscheidung im Konfliktfall abnehmen kann und sie lernen müssen, diese zu tragen. Dem kann man entgegnen, dass dies z. B. bei einer ethischen Fallbesprechung nicht in Frage gestellt wird. Bei einer Fallbesprechung sollen Wertfragen zur Sprache kommen und die unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten in den Entscheidungsprozess einbezogen werden. Beispiele dafür sind erfolgreiche Gesprächsstrukturen zwischen Arzt und Pflege, z. B. auf Intensivstationen oder onkologischen Stationen. Nicht ohne Grund existieren diese Gesprächsforen meistens an besonderen Brennpunkten der Patientenversorgung. Häufig haben sie sich aus den üblichen klinischen Fallbesprechungen entwickelt, bei denen moralische Probleme fast regelmäßig auftauchen. Ethische Argumentationen wurden deshalb formell oder informell in die Besprechungen aufgenommen, um Erfahrungen auszutauschen und gemeinsame Handlungsweisen zu entwickeln.

1.6 Klinische Ethikberatung in Deutschland

In einer ersten bundesweiten Umfrage bei allen deutschen Krankenhäusern aus dem Jahr 2005 gaben 235 Krankenhäuser eine existierende und 77 Krankenhäuser eine im Aufbau befindliche Klinische Ethikberatung an, davon hatten 149 Krankenhäuser ein Klinisches Ethikkomitee eingerichtet (Abb. 1.1). Dies entspricht einem Anteil von 10,6 % aller Krankenhäuser in Deutschland (Dörries und Hespe-Jungesblut 2007). Es fanden sich in der Umfrage klassische Klinische Ethikkomitees, offene Strukturen (z. B. Runde Tische, Ethikforen), Ethikkonsiliare und verschiedene andere Formen (z. B. Arbeitsgruppen).

img

Abbildung 1.1 Formen der Klinischen Ethikberatung (n = 483)

Es sind überwiegend die mittelgroßen bis größeren Krankenhäuser, die sich für die Einrichtung einer Klinischen Ethikberatung entschieden haben. Für den verhältnismäßig größeren Anteil der konfessionellen Krankenhäuser waren u. a. die Aktivitäten der konfessionellen Krankenhausverbände entscheidend. Der wesentlichste Anlass für die Einrichtung Klinischer Ethikberatung war aber die anstehende Zertifizierung des Krankenhauses (Abb. 1.2). Im Weiteren ergibt sich ein sehr vielfältiges Bild von Bottom-up- und Top-down-Ansätzen sowie interessierten Einzelpersonen und Gruppenaktivitäten. Nicht selten werden auch konkret erlebte Konflikte genannt, die zu der Idee einer Klinischen Ethikberatung führen. Hatten Krankenhäuser keine Pläne für eine Klinische Ethikberatung, handelte es sich in der Mehrzahl nur um einen mittelfristigen Aufschub.

img

Abbildung 1.2 Anlass für die Einrichtung einer Klinischen Ethikberatung (n = 483)

In mehr als der Hälfte der Fälle gab die Geschäftsführung den Anstoß zur Einrichtung Klinischer Ethikberatung, häufig unter Beteiligung einer interdisziplinären Arbeitsgruppe. Daneben setzten sich insbesondere berufsübergreifende Gruppen und einzelne Ärzte für die Einführung Klinischer Ethikberatung ein. Entsprechend leiteten entweder die Geschäftsführung, eine interdisziplinäre Gruppe oder Ärzte die Implementierungsphase. Selten übernahm die Pflege Koordinationsfunktionen; überproportional häufig wurden aber das Qualitätsmanagement und die Seelsorge mit dieser Aufgabe betraut. Externe Beratung wurde von etwa der Hälfte der Krankenhäuser als nicht notwendig erachtet. Stattdessen wurden unterschiedliche, häufig kombinierte Informationswege verwendet (u. a. andere Krankenhäuser, Internet, Zeitschriftenartikel).

Etwa die Hälfte der Krankenhäuser mit einer existierenden oder im Aufbau befindlichen Ethikberatung gab Schwierigkeiten während der Implementierungsphase an (Abb. 1.3). Hierbei spielte ärztlicher Widerstand eine bedeutsame Rolle. Aber auch das Berufungsverfahren und die mit grundsätzlichen Fragen verbundene Erstellung der Geschäftsordnung erwiesen sich als eine Quelle für Schwierigkeiten. Außerdem wurden Zeitmangel, Desinteresse an ethischen Fragestellungen sowie Kommunikationsbarrieren, die den Aufbau behinderten, beschrieben. Die Dissense wurden mehrheitlich durch Gespräche, teilweise verbunden mit einer verstärkten Einbindung der Beteiligten, überwunden. Die erwähnten Konflikte waren in etwa einem Fünftel der Krankenhäuser noch nicht gelöst.

img

Abbildung 1.3 Schwierigkeiten während der Implementierungsphase (n = 110)

Die überwiegende Anzahl der Krankenhäuser war sehr zufrieden oder zufrieden mit dem eigenen Vorgehen (Abb. 1.4). Bewährt hat sich – und das gilt auch für Krankenhäuser, die mit ihrem Implementierungsverfahren weniger oder gar nicht zufrieden waren – die Bildung einer berufsübergreifenden Arbeitsgruppe, in der Mehrzahl mit Beteiligung der Geschäftsführung. Auch bewährte sich die Übernahme von erfolgreichen klinikinternen Prozessen (z. B. aus dem Qualitätsmanagement und den Leitbildentwicklungen).

65 Krankenhäuser würden ihr Vorgehen genauso wiederholen (Abb. 1.5). Überwiegend sind dies diejenigen, die einen hohen Grad der Zufriedenheit angaben. Die Krankenhäuser, die nicht zufrieden waren, verwiesen insbesondere auf noch nicht gelöste Konflikte. Als häufigste Änderung wurde von den Krankenhäusern eine verstärkte interne Öffentlichkeitsarbeit angegeben. 44 Krankenhäuser wollten noch keine Bewertung ihres Implementierungsverfahrens abgeben, da sie dies als zu früh erachteten.

img

Abbildung 1.4 »Bei der Implementierung hat sich bewährt …« (n = 258)

img

Abbildung 1.5 »Im Rückblick würde ich Folgendes anders machen …« (n = 258)

1.7 Zusammenfassung

Ethische Probleme sind seit jeher Bestandteil der Tätigkeit im Krankenhaus. Durch gesellschaftliche, technische und finanzielle Veränderungen erweisen sich die traditionellen Lösungsmuster für die Zusammenarbeit miteinander und das Verhältnis zum Patienten heutzutage häufig als unzureichend. Es erscheint deshalb sinnvoll, andere Konfliktlösungsstrategien der medizinischen Ethik für die im Krankenhaus auftretenden Probleme anzuwenden. Dabei gilt es, das Bewusstsein und die Sensibilität für Konflikte zu schärfen, klare Analysen durchzuführen, die bestehenden Regelungen anzuwenden und nach individuellen Wertmaßstäben zu suchen. Dabei müssen ethische Probleme von anderen, nicht ethischen Fragestellungen abgegrenzt werden. Es gilt dabei auch, unerfüllbare Erwartungen an die Medizinethik zu dämpfen.

Eine strukturierte ethische Reflexion kann

Der bewusste Umgang mit Medizinethik kann es erleichtern, Konflikte zu analysieren, den Entscheidungsprozess aufzuzeigen, Prinzipien zu untersuchen und Empfehlungen auszusprechen. Eine geregelte ethische Reflexion im Krankenhaus kann dabei den Rahmen für Konfliktlösungsstrategien bilden und damit den behandelnden Arzt, die zuständige Pflegekraft oder das Behandlungsteam entlasten und deren Kenntnisse verbessern. Die systematische Besprechung einzelner Krankheitsverläufe unter ethischen Gesichtspunkten wirft die Frage auf nach den zugrundeliegenden Werten und deren Beurteilung und Gewichtung durch den Einzelnen. Die strukturierte Diskussion über ethische Argumente und Handlungsalternativen, d. h. das moderierte Gespräch, ist die entscheidende Neuerung gegenüber der üblichen Entscheidungsfindung auf der Station. Die Krankenhäuser und zunehmend auch die Pflegeeinrichtungen in Deutschland haben Formen Klinischer Ethikberatung eingerichtet oder befinden sich in der Aufbauphase.

Literatur

Chambliss DF (1996) Beyond caring. Hospitals, nurses and the social organization of ethics. Chicago, London: University of Chicago Press.

Dörries A, Hespe-Jungesblut K (2007) Die Implementierung klinischer Ethikberatung in Deutschland. Ergebnisse einer bundesweiten Umfrage bei Krankenhäusern. Ethik in der Medizin 19:148–156.

2 Theoretische Grundlagen

2.1 Medizinethische Aspekte der Klinischen Ethikberatung

Alfred Simon, Gerald Neitzke

2.1.1 Ethik in der Medizin

Ethik stellt einen integralen Teil der Medizin seit ihren Anfängen dar. In der Antike wurden im ärztlichen Handeln wissenschaftlich-medizinische mit moralischen Aspekten verbunden. So gilt die hippokratische Medizin nicht nur als Grundlage des westlichen Medizinverständnisses, sondern die in ihrer Tradition ausgebildeten Ärzte vertraten den Hippokratischen Eid als Ausdruck einer sie verbindenden Moral. Das ärztliche Ethos des griechischen Altertums – also deren gültige moralische Regeln – beinhaltete einige bis heute aktuelle Normen wie die Schweigepflicht, das Schadensverbot und die ärztliche Fürsorgepflicht. Da Medizin ihrem Wesen nach eine Handlungs- oder angewandte Wissenschaft ist, gibt es bei ihrer praktischen Ausübung keine wert- oder moralfreien Entscheidungen oder Handlungen. Aspekte wie das jeweilige Menschenbild, Vorstellungen vom guten Leben und Sterben, Bewertungen von Krankheit, Gesundheit oder Behinderung etc. gehen in jede Entscheidung im Verlauf eines Behandlungsprozesses mit ein.

Ethik in der Medizin bzw. Medizinethik (beide Begriffe werden im Folgenden synonym verwendet) stellte über lange Zeit einen überwiegend impliziten und unausgesprochenen Teil der Medizin dar. Das hat sich heute geändert: Ethik ist ein Pflichtfach im Medizinstudium und in der Krankenpflegeausbildung geworden; Ethik ist an den meisten Medizinischen Fakultäten in Deutschland als Forschungsfach etabliert; die Zahl an Ethikgremien wächst ständig und umfasst derzeit so unterschiedliche Einrichtungen wie den Deutschen Ethikrat, die Zentrale Ethikkommission (ZEKO) bei der Bundesärztekammer, Ethikkommissionen bei den Landesärztekammern und Medizinischen Fakultäten, Lebendspendekommissionen sowie die in diesem Band behandelten Institutionen zur Klinischen Ethikberatung. Ethik ist also innerhalb der Medizin deutlicher sichtbar geworden und stellt heute einen expliziten Teil des Fachs dar. Ethik wird mehr und auf höherem professionellen, wissenschaftlichen und interdisziplinären Niveau reflektiert und diskutiert (Ach und Runtenberg 2002). Welche historischen Entwicklungen trugen dazu bei, dass ein Bedarf für Ethik als eigener, expliziter Bereich der Medizin entstand (s. Tab. 2.1)?

Tabelle 2.1 Gründe für zunehmenden Bedarf an medizinethischer Expertise

Zunächst hat der technische Fortschritt in der Medizin zu einer neuartigen Herausforderung geführt. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein konnte vorausgesetzt werden, dass das ärztliche therapeutische Angebot automatisch mit dem Wohl des Patienten übereinstimmte. Die therapeutischen Möglichkeiten waren häufig begrenzt, so dass allein das Vorhandensein einer Behandlungsoption dazu führte, dass sie von den Patienten dankbar angenommen wurde. Die Technisierung der Medizin jedoch, etwa durch die Entwicklung der künstlichen Beatmung (»Eiserne Lunge«) und der Dialyse, hat dazu geführt, dass nicht jedes therapeutische Angebot in jedem Fall auch als im Sinne und zum Wohle des erkrankten Menschen verstanden werden kann. Ärztliche Entscheidungsprozesse wurden dadurch komplexer und anspruchsvoller: Zunächst muss geprüft werden, ob es ein medizinisch sinnvolles Therapieangebot gibt, dann erfolgt im zweiten Schritt die Reflexion, ob diese Maßnahme ebenfalls sinnvoll gemäß der Lebensplanung und persönlichen Werthaltungen des Patienten ist. Dieser Schritt bedarf häufig eines ethischen Diskurses, insbesondere dann, wenn ärztliche und pflegerische Verantwortung und Fürsorge zu einer anderen Bewertung der Situation führen als die geäußerten oder mutmaßlichen Präferenzen und Vorstellungen des Patienten.

Ein zweiter Grund für die zunehmend explizite Auseinandersetzung mit Ethik in der Medizin ist die in den letzten Jahrzehnten gewachsene Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts. In allen Lebensbereichen unserer Gesellschaft haben sich die Menschen daran gewöhnt und profitieren als Individuen davon, dass sie ihre Lebensentscheidungen eigenverantwortlich und selbstständig treffen können und dürfen. Diese Entwicklung kann nicht vor den Türen der Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen Halt machen. Daraus ergeben sich jedoch neuartige Herausforderungen im Umgang mit Menschen, die aktuell nicht entscheidungsfähig sind oder eine für Außenstehende unvernünftig erscheinende Entscheidung für sich selbst treffen. Diesen Herausforderungen kann durch einen Ethikdiskurs angemessen begegnet werden.

Ein dritter Grund für das zunehmende professionelle Interesse an Ethik besteht darin, dass zur Begründung wertbezogener Entscheidungen in der Medizin heute nicht mehr nur das ärztliche Ethos befragt werden kann. Gleichermaßen relevant sind die moralischen Überzeugungen und Intuitionen in der Kranken- und Altenpflege sowie die diversen Werthaltungen, die von Patientenseite eingebracht werden. In einer pluralistischen und zunehmend multikulturellen Gesellschaft führt dies zwangsläufig zu einer Zunahme moralischer Konflikte in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen und dadurch zu einem steigenden Bedarf an Orientierung und ethischem Diskurs.

Innerhalb der Medizinethik hat sich in den letzten 10 bis 20 Jahren die Disziplin der Klinischen Ethik etabliert, die sich inhaltlich mit ethischen Herausforderungen auf den Stationen eines Krankenhauses im Zusammenhang mit der Patientenversorgung in Medizin und Pflege befasst (Vollmann 2006). Die Klinische Ethik deckt daher auch den größten Teil der ethischen Konflikte in Alten- und Pflegeheimen ab. Um einem verbreiteten Missverständnis vorzubeugen, sei betont, dass die Klinische Ethik – wie die Medizinethik – als Bereichsethik verstanden wird: Sie entwickelt keine eigenständige Moraltheorie, sondern stellt eine Anwendung der Methoden und Prinzipien der allgemeinen Ethik auf den Bereich klinischer Fragestellungen dar.

Die Geschichte der Klinischen Ethik beginnt spätestens in den 1960er Jahren, als die neu entwickelte Technik der Dialyse eine dramatische Triage-Situation schuf: Die Zahl der in den Kliniken vorhandenen Dialyseeinheiten war wesentlich kleiner als der Bedarf der Patienten mit terminalem Nierenversagen. In den USA wurden deshalb Komitees eingerichtet, die eine gerechte und faire Zuteilung der Dialyseplätze gewährleisten sollten. Da diese Form der Allokation als Konsequenz den Tod der nicht berücksichtigten Patienten nach sich zog, wurden diese Gremien unter dem Namen »Life or Death Committees« bekannt. Auch in Deutschland waren solche Entscheidungen zu treffen und es gab vereinzelt Institutionalisierungsansätze, um dem Problem adäquat und strukturiert zu begegnen. Durch eine erhebliche Ausweitung des Angebots an Dialyseeinrichtungen wurde jedoch die Ressourcenknappheit in Deutschland langfristig beseitigt.

Ein weiteres Komitee ist dadurch bekannt geworden, dass es eine Entscheidung mit weit reichenden klinischen Konsequenzen getroffen hat: Das so genannte »Ad Hoc Committee« der Harvard Medical School in Boston wandte sich einem Problem zu, das durch die Technik der künstlichen Beatmung entstanden war. Angesichts der Knappheit an Beatmungsbetten musste die Frage beantwortet werden, ob innerhalb der Gruppe der beatmeten Patienten einzelne Menschen identifizierbar waren, bei denen die Behandlung nutz- und damit sinnlos geworden war. Sie sollten dann nicht weiter beatmet werden und durften folglich als potenzielle Spender von Organen in Betracht gezogen werden. Das Komitee erarbeitete 1968 das Kriterium des Hirntods und setzte dieses mit dem eingetretenen Tod des Menschen gleich. Die neue Definition des Todes löste sowohl das Problem der Beendigung der Beatmung als auch der Zulässigkeit der Organspende und setzte sich in der Folgezeit in vielen Ländern der Welt durch.

Das Geburtsdatum der Klinischen Ethikberatung im engeren Sinne liegt im Jahr 1976. Damals entschied der Oberste Gerichtshof des US-Staates New Jersey im Fall von Karen Ann Quinlan, dass dem Antrag der Eltern stattgegeben wird, ihre schwer kranke Tochter durch eine Beendigung der künstlichen Beatmung sterben zu lassen. Einer solchen Entscheidung sollte aber die Beratung durch ein »Krankenhaus-Prognose-Komitee« vorausgehen. Dieser Hinweis wurde von vielen Kliniken aufgegriffen und es entstanden – in Erweiterung der vom Gericht geforderten Aufgaben – sogenannte Health Care Ethics Committees (HEC). Heute verfügt jedes größere Krankenhaus in den USA über ein solches Gremium zur Ethikberatung. Als eigene Fachzeitschrift wurde 1989 das HEC-Forum gegründet. In Deutschland wurde die Entwicklung vom Katholischen und Evangelischen Krankenhausverband 1997 aufgegriffen. Den Mitgliedskrankenhäusern wurde empfohlen, ein Klinisches Ethikkomitee einzurichten (KKVD/DEKV 1997). Dies beschleunigte die Institutionalisierung von Klinischer Ethik in Deutschland. Auch die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer begrüßt die zunehmende Gründung von klinischen Ethikberatungsstrukturen in Krankenhäusern und Pflegeheimen (Zentrale Ethikkommission 2006).

Nach dieser historischen Übersicht zur Ethik in der Medizin sollen in den folgenden Abschnitten des Kapitels zunächst die Begriffe Ethik und Moral definiert und voneinander abgegrenzt werden (Abschnitt 2.1.2). Danach werden die bekanntesten ethischen Theorien im Sinne von Begründungsansätzen für moralische Normen vorgestellt (Abschnitt 2.1.3). Nach dem Aufzeigen der philosophischen Grundlagen der Ethik (nicht nur) in der Medizin werden die wichtigsten Konfliktfelder der Klinischen Ethik sowie einige zentrale moralische Werte in der Patientenversorgung benannt (Abschnitt 2.1.4). Abschließend werden Aspekte der ethischen Kompetenz beschrieben, deren Erwerb und Anwendung von Beschäftigten im Gesundheitswesen erwartet werden kann und soll (Abschnitt 2.1.5).

2.1.2 Ethik und Moral

Obwohl die Begriffe Ethik und Moral im täglichen Sprachgebrauch oft gleichbedeutend verwendet werden, hat es sich innerhalb des ethischen Diskurses als sinnvoll erwiesen, zwischen diesen beiden Begriffen zu unterscheiden. Ethik ist die Bezeichnung für ein Teilgebiet der Philosophie, das sich mit Fragen der Moral beschäftigt. Da der Begriff Moral bei vielen oft mit negativen Erinnerungen daran verbunden ist, was sie einst zuhause oder in der Schule über Gut und Böse gehört haben, soll zunächst auf die Bedeutung des Begriffs Moral aus der Sicht der Ethik eingegangen werden. Danach werden die Aufgaben, Möglichkeiten und Grenzen der Ethik als eine philosophische Reflexion über Moral erörtert.

Der Begriff »moralisch« wird sehr häufig in der Bedeutung von »moralisch richtig« oder »moralisch gut« verwendet. Ob etwas moralisch richtig oder falsch ist, kann aber nur vom Standpunkt einer bestimmten Moral aus beurteilt werden. Die katholische Moral etwa betrachtet Geschlechtsverkehr vor der Ehe als unmoralisch. Wer jedoch den moralischen Charakter der Sexualität nicht vom formalen Akt der Eheschließung abhängig macht, sondern davon, ob sie Ausdruck der Liebe der beiden Partner zueinander ist, wird in der Frage des vorehelichen Geschlechtsverkehrs einen anderen, aber deshalb nicht weniger moralischen Standpunkt vertreten als die katholische Moral. Denn »unmoralisch« bedeutet in diesem Zusammenhang nur, den Normen einer bestimmten Gruppe nicht zu entsprechen.

Normen sind Maßstäbe für soziales Handeln. Ihnen kommt innerhalb einer sozialen Gruppe eine doppelte Aufgabe zu. Sie bieten dem Einzelnen eine Orientierungsmöglichkeit für das eigene Handeln und ermöglichen der Gruppe, die Handlungen ihrer Mitglieder zu beurteilen. Normen können daher in Form von Handlungsanweisungen (z. B.: Du sollst den Willen des Patienten respektieren) oder in Form von Werturteilen (z. B.: Meine Oberärztin ist ein guter Mensch) ausgedrückt werden. Nicht jede Handlungsanweisung und nicht jedes Werturteil sind jedoch Ausdruck einer moralischen Norm. Es gibt auch Normen, die nicht in den Bereich der Moral gehören. Wer bei Rot über eine freie Kreuzung fährt, wer als Mann in Deutschland einen Rock trägt, wer die Möglichkeit zu einer beruflichen Verbesserung ungenützt lässt oder wer beim Fußball einen Einwurf mit nur einer Hand ausführt, verstößt zwar gegen bestimmte Handlungsnormen, handelt aber nicht unmoralisch. Der Ethiker bezeichnet solche nicht moralische Handlungsnormen als außermoralische Normen und meint damit Normen, die nicht in den Bereich der Moral gehören. »Moralisch« kann also sowohl im Sinne von »moralisch richtig« als auch in der Bedeutung von »zur Moral gehörend« verwendet werden. Es ist wichtig, diese beiden Bedeutungen streng auseinander zu halten, da es sonst in Diskussionen über moralische Fragen zu großen Verwirrungen kommen kann.

Worin aber unterscheidet sich die Moral von Bereichen wie dem Recht, der Konvention, der Etikette, der Klugheit oder dem Spiel, die ebenso wie die Moral Normen und Regeln für soziales Verhalten formulieren? Eine Antwort auf diese Frage kann helfen, das Wesen der Moral genauer zu bestimmen.

Ein erstes Charakteristikum moralischer Normen ist ihr Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. Allgemeingültigkeit bedeutet nicht, dass moralische Normen für alle Menschen verbindlich sind, sondern beschreibt den Anwendungsbereich einer Norm: Wer der Ansicht ist, dass es in einem konkreten Fall moralisch geboten sei, den Willen des Patienten zu respektieren, meint damit implizit, dass es in allen vergleichbaren Fällen ebenfalls geboten sei, den Patientenwillen zu achten. Eine moralische Norm bezieht sich also immer auf eine Klasse von Fällen und hat damit einen größeren Geltungsbereich als etwa eine Spielregel, die außerhalb des jeweiligen Spiels, dessen Verlauf sie regelt, keinerlei Bedeutung für das menschliche Handeln hat.

Als soziale Größenordnung unterscheidet sich die Moral auch von der Klugheit. Die Klugheit lenkt das Verhalten vom Standpunkt der Wünsche und Interessen des Einzelnen aus. Die Moral hingegen lässt sich in ihren Urteilen darüber, was moralisch richtig, falsch, tugendhaft etc. ist, nicht nur von den Interessen des Einzelnen leiten, sondern hat in der Regel immer auch das Wohl der Allgemeinheit im Blick.

Als ein System von Normen, dessen Aufgabe es ist, das Zusammenleben der Menschen zu regeln, ist die Moral dem Recht einerseits und der Konvention oder der Etikette andererseits verwandt. Während es jedoch im Bereich der Konventionen nicht um Dinge von so entscheidender sozialer Bedeutung geht wie im Bereich der Moral oder des Rechts (z. B. Kleiderordnung), unterscheidet sich die Moral vom Recht dadurch, dass sie nicht durch den bewussten Akt einer gesetzgebenden Gewalt geschaffen oder abgeändert wird. Dem Recht stehen auch andere Mittel zur Verfügung, das Fehlverhalten von Mitgliedern zu sanktionieren. Darüber hinaus beschreibt das Recht zumeist nur einen Minimalanspruch und definiert so den Handlungsspielraum, innerhalb dessen sich der Einzelne moralisch positionieren kann und muss.

Bisher wurde vor allem über den gesellschaftlichen Aspekt der Moral gesprochen. Moral hat aber auch einen mehr individualistischen Aspekt, denn es ist das Individuum, das in einer konkreten Situation Entscheidungen treffen und Handlungen vornehmen muss. Der Handelnde kann sich dabei ganz von traditionellen Normen leiten lassen oder aber sein Handeln an eigenen, autonomen Moralvorstellungen ausrichten. Setzt man voraus, dass die Moral für den Menschen und nicht der Mensch für die Moral geschaffen ist, so kann unter dem Gesichtspunkt