Einführung

Bernd Ahrbeck & Marc Willmann

Das Fachgebiet der „Pädagogik bei Verhaltensstörungen“ bleibt auch nach Jahrzehnten wissenschaftlicher Auseinandersetzungen ein nicht leicht zu überschauendes Feld. Dabei erschwert das grundlegende Definitions- und Operationalisierungsproblem des eigenen Leitbegriffs nicht nur eine Verständigung darüber, was mit dem Begriff Verhaltensstörungen beschrieben werden soll, sondern auch, wie einzelne Phänomene erklärt und pädagogische Maßnahmen begründet werden können. Die Vielfalt und mitunter auch Beliebigkeit von Erklärungsansätzen sowie pädagogischen und therapeutischen Interventionen ist ein Ausdruck davon, dass es an einer einigenden Leitidee fehlt, mit der sich die Kernthematik des Faches formulieren lässt.

In einem sehr weiten Selbstverständnis beschäftigt sich die Pädagogik bei Verhaltensstörungen mit allen Problemen, die sich bei der Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit emotional-sozialen Schwierigkeiten einstellen. Da Erziehungsschwierigkeiten jedoch genuin mit dem Erziehungsgeschehen verbunden sind, bedarf es einer weitergehenden Eingrenzung. Sie entsteht dann, wenn sich das Fach in erster Linie auf diejenigen Kinder und Jugendlichen konzentriert, die gravierende Störungen im emotionalen Erleben und sozialen Verhalten aufweisen. Diese Störungen haben sich häufig in einem längeren lebensgeschichtlichen Prozess entwickelt und sind entscheidend durch die bisherigen Beziehungserfahrungen geprägt. Sie führen dazu, dass Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen mit sich selbst nicht zu Recht kommen, mit der Umwelt große Probleme haben und die Umwelt mit ihnen.

Eine Abgrenzung von den weit verbreiteten leichteren Beeinträchtigungsformen im Bereich des emotionalen Erlebens und sozialen Verhaltens ist auch deshalb notwendig, weil sich die jeweiligen Handlungskonsequenzen unterscheiden. Während für diese Gruppe in der Regel begleitende Unterstützungsmaßnahmen im allgemeinen Schulsystem ausreichen, bedürfen Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen einer besonders intensiven und gezielten pädagogischen Unterstützung, häufig auch ergänzender therapeutischer Maßnahmen. Die Schwere und Dramatik innerer und äußerer Problemlagen dieser relativ kleinen Personengruppe kann die Bereitstellung spezieller pädagogischer Settings notwendig werden lassen.

Im Mittelpunkt des vorliegenden Handbuchs steht die Frage, welche Herausforderungen Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen an die Pädagogik stellen. Da sich die Erziehung der Technologisierbarkeit des Handelns weitestgehend entzieht, ist die „Pädagogik bei Verhaltensstörungen“ gut beraten, wenn sie einfachen Patentrezepten misstraut und standardisierte Behandlungsprogramme nur als ergänzende Maßnahmen benutzt. Erziehung ist ihrem Wesen nach vor allem Beziehungsarbeit. Die Beziehungsebene wird deshalb als Schlüsselkategorie für die Bewältigung der pädagogischen Aufgabe betrachtet. Sie bedarf unter erschwerten Erziehungsbedingungen einer besonderen Intensivierung und Verdichtung, mit dem Ziel, dass sich die innere Realität der Kinder und Jugendlichen wandelt und sich die äußere Realität besser bewältigen lässt. Die Erziehungsaufgabe bleibt als ein ubiquitäres Phänomen auch dann bestehen, wenn therapeutische Behandlungen unumgänglich sind. Therapie kann Pädagogik nicht ersetzen, denn sie stellt einen speziellen, zeitlich limitierten Eingriff dar, der einem im Vergleich zur Erziehung begrenztem Anliegen verpflichtet ist.

Das Fach „Pädagogik bei Verhaltensstörungen“ liegt im Schnittbereich verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen. Das Handbuch trägt dieser Komplexität des Gegenstandsbereiches Rechnung, indem es ein Forum für einen interdisziplinären Zugang zum Thema bereitstellt: Expertinnen und Experten aus den verschiedenen Bezugsdisziplinen und Handlungsfeldern geben einen Überblick über den jeweiligen Diskussionsstand, der vor dem Hintergrund seiner pädagogischen Relevanz entfaltet wird.

Die zentralen Themen des Faches werden in acht Hauptteile gegliedert: Geschichte; Handlungsfelder und Institutionen; Erklärungsansätze und theoretische Perspektiven; Störungen des Erlebens, Verhaltens und der Entwicklung; Diagnostik; Pädagogische Perspektiven: Verhaltensstörungen als Erziehungs- und Beziehungsproblem; Interventionsansätze und Handlungskonzepte sowie Verhaltensstörungen als gesellschaftliches Problem.

Da pädagogische Reflexionen und erzieherisches Handeln in höhere Ordnungszusammenhänge eingebunden sind, werden über den Mikrokosmos hinaus gesellschaftliche Entwicklungen berücksichtigt, die den allgemeinen Rahmen für die Genese und den Verlauf von Störungen des Erlebens und Verhaltens bilden. Dass sie eine angemessene Beachtung finden, ist ein besonderes Anliegen der Herausgeber.

Berlin, Oktober 2009

Bernd Ahrbeck & Marc Willmann

1 Geschichte

1.1 Von der „sittlichen Verwilderung“ zu „Verhaltensstörungen“ – Zur Begriffs- und Ideengeschichte der pädagogischen Reflexion über „schwierige Kinder“

Rolf Göppel

Einleitung

Seit wann gibt es eigentlich „Verhaltensstörungen“? Auf diese Frage sind zwei ganz unterschiedliche Antworten möglich. Zum einen könnte man darauf antworten: „Verhaltensstörungen“ gab es schon immer, es gibt sie, seit es Erziehung gibt. Die kindliche Entwicklung ist nun einmal ein sensibler und störanfälliger Prozess und Erziehung ist nun einmal ein spannungs- und konfliktreiches Geschehen. Deshalb ist davon auszugehen, dass es zu allen Zeiten auch besonders schwierige, krisenhafte und gefährdete Entwicklungsprozesse und besonders belastete Erziehungsverhältnisse gab. Zum anderen könnte man darauf aber auch antworten: „Verhaltensstörungen“ gibt es eigentlich erst seit den 1950er Jahren. In der Zeit davor taucht der Begriff in der Literatur nirgendwo auf und die Eltern, Erzieher und Lehrer früherer Epochen hätten mit diesem Begriff überhaupt nichts anzufangen gewusst.

„Verkommene Söhne“ und „missratene Töchter“ – Die Schatten- und Leidensseiten der Erziehung und die Vielfalt ihrer Begrifflichkeiten

Dass es freilich Kummer, Konflikte und Katastrophen zwischen Eltern und Kindern schon immer gegeben hat, dass Erziehung durch alle Epochen hindurch nicht selten auch mit heftigen Emotionen verbunden war, mit Gefühlen von Ärger, Wut, Empörung, Enttäuschung, mit Schuld-, Scham- und Versagensgefühlen, mit Sorgen, Zukunftsängsten, mit Gefühlen der Hilf- und Ratlosigkeit – und zwar sowohl auf Seiten der Eltern als auch auf Seiten der Kinder – davon ist auszugehen. Und man kann es in den Texten der Weltliteratur nachlesen. Einen kenntnisreichen Führer stellt in dieser Hinsicht das schöne Buch: „Verkommene Söhne, missratene Töchter – Familiendesaster in der Literatur“ von Peter von Matt (1995) dar. Dass Eltern und Erzieher, aber auch Autoren von Erziehungsschriften sich zumindest seit der Aufklärungsepoche, ab der es eine intensive und systematische Reflexion über Erziehungsfragen und über die „Perfektionierbarkeit des Menschengeschlechts“ gibt, immer auch Gedanken darüber gemacht haben, wie es zu diesen verhängnisvollen Abweichungen und Fehlentwicklungen kommen konnte, was die möglichen Ursachen für die „Verkommenheiten“ und „Missratenheiten“ der Kinder sind, wie ihnen vorzubeugen und wie ihnen gegenzusteuern ist – auch dafür gibt es vielfältige historische Belege. Die berühmt-berüchtigte Sammlung „Schwarze Pädagogik“ etwa, in der Rutschky (1977) pädagogische Textauszüge der Aufklärungspädagogik zusammengetragen hat, kreist zu großen Teilen um diese Thematik. Das Panoptikum pädagogischer Exempel, Mahnungen und Ratschläge, das dort ausgebreitet wird, stellt dabei freilich in erster Linie eine „Anleitung zur systematischen Drangsalierung der Kinder unter dem Namen der Erziehung“ dar (Flitner 1982, 12). Angstmachen und Bedrohen, Demütigen und Beschämen, permanentes Kontrollieren, Reglementieren und Moralisieren, das sind ganz überwiegend die pädagogischen Mittel, die empfohlen werden.

Eltern und Erzieher haben zwar selten explizit ausformulierte, aber immer und unvermeidlich doch implizite, aus ihren eigenen Lebenszusammenhängen und ihren eigenen Wertorientierungen stammende Idealvorstellungen von der „Wohlgeratenheit“ und „Wohlerzogenheit“ des Nachwuchses im Kopf. Kaum ein Kind kann diesen Idealen je vollständig entsprechen. Solange es sich mit seinen persönlichen Ausprägungen dieser Merkmale im Durchschnittsbereich dessen bewegt, was auch bei anderen Kindern die Regel ist, gelten diese Merkmalsausprägungen eben als die Besonderheiten des Temperaments und des Charakters des jeweiligen Kindes und müssen das erzieherische Verhältnis nicht ernsthaft belasten. Wenn aber die Diskrepanz zwischen den erzieherischen Perfektionsidealen und der konkreten Entwicklungsrealität einzelner Kinder und Jugendlicher besonders eklatant ist, dann entstehen nicht selten jene oben beschriebenen heftigen Emotionen und dann taucht die Frage auf, wie dieses Diskrepanzphänomen angemessen bezeichnet werden kann, wie jene Kinder, die hier in ausgeprägter Weise von den Erwartungsnormen abweichen, zutreffend benannt werden sollen.

Die Liste der in der Geschichte der Pädagogik vorfindbaren Bezeichnungen für diese Problemlage ist lang und vielfältig: da ist unter anderem die Rede von „sittlich verwilderten“, „moralisch schwachsinnigen“, „psychopathisch minderwertigen“, „neurotischen“, „erziehungsschwierigen“, „schwererziehbaren“, „entwicklungsgestörten“ und „verhaltensgestörten“ Kindern. In jüngeren Fachpublikationen tauchten als Alternativen zur Benennung der Klientel auch noch die Begriffe „gefühls- und verhaltensgestört“ (Opp 1998) und „psychosozial deformiert“ (Myschker 1994) auf. Kobi (1996) hat gar den Begriff „verhaltensoriginell“ vorgeschlagen, im Rahmen der Ausschreibung einer einschlägigen Professur fand sich kürzlich die Formulierung „Pädagogik/Didaktik erwartungswidrigen Verhaltens“. In jüngster Zeit ist zudem häufig von „Kindern mit herausforderndem Verhalten“ die Rede. Und dann kommen auch noch all die psychiatrischen Kürzel hinzu, die die beklagten Abweichungen von den Erwartungsnormen auf bestimmte Defekte im Gehirnstoffwechsel zurückführen und die inzwischen so weit in die Alltagspsychologie diffundiert sind, dass sie häufig fast synonym zum Begriff der Verhaltensstörung verwendet werden: MCD (Minimale Cerebrale Dysfunktion), POS (Psychoorganisches Syndrom), ADS (Aufmerksamkeitsdefizitstörung), ADHS (Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung).

Die historische Relativität von Kindheit und von „kindlichen Verhaltensstörungen“

Eine historische Betrachtung eines sozialen Phänomens macht immer auf die Wandelbarkeit des sozialen Umgangs mit diesem Phänomen aufmerksam, darauf, dass die Art und Weise, wie wir heute die entsprechenden Probleme wahrnehmen, benennen und deuten, nicht die einzig mögliche ist, dass andere Generationen unter Umständen einen ganz anderen Blick auf die Sache hatten, ganz andere Erklärungen für selbstverständlich und evident hielten.

Dies gilt schon für das soziale Phänomen Kindheit insgesamt: Dabei galt „Kindheit“ lange Zeit als historisch relativ unveränderliche, „zeitlose“ anthropologische Grundgegebenheit. Erst in den 1970er Jahren wurde mit den Büchern von Ariès (1975) und deMause (1977) die historische und damit sozial-relativistische Betrachtung von Kindheit populär. Dabei ist es erstaunlich, wie unterschiedlich diese beiden Pioniere die Sozialgeschichte der Kindheit (re)konstruiert und die großen historischen Entwicklungslinien einmal als Verfalls- und einmal als Fortschrittsgeschichte bewertet haben. Natürlich hängen an diesen unterschiedlichen Kindheitskonstruktionen auch jeweils durchaus unterschiedliche Konsequenzen im Hinblick auf die Einschätzung der Verbreitung und Wahrnehmung kindlicher Verhaltensstörungen in unterschiedlichen historischen Epochen.

Wenn nach Ariès (1975, 209) die mittelalterliche Gesellschaft tatsächlich „kein Verhältnis zur Kindheit“ hatte, das heißt keine bewusste „Wahrnehmung der kindlichen Besonderheit, jener Besonderheit, die das Kind vom Erwachsenen, selbst dem jungen Erwachsenen, kategorial unterscheidet“, wenn diese Gesellschaft tatsächlich überhaupt „keine Vorstellung von Erziehung“ gehabt hat und erst unsere moderne Welt „von den physischen, moralischen und sexuellen Problemen der Kindheit geradezu besessen“ ist (Ariès 1975, 560) – wie könnte es dann in jener Gesellschaft eine Aufmerksamkeit für kindliche Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten gegeben haben?

Wenn andererseits nach deMause (1977, 12) die Geschichte der Kindheit „ein Alptraum ist, aus dem wir gerade erst erwachen“, wenn Kinder in früheren Epochen massenhaft und massiv traumatisiert wurden und wenn erst nach und nach im Laufe der Geschichte sich so etwas wie elterliche Empathie, die Fähigkeit der Erwachsenen, sich in die Bedürfnisse der Kinder einzufühlen, historisch herausgebildet hat, dann sollte man – nach all dem, was man heute über die kindlichen Entwicklungsbedürfnisse und die Folgen solcher Traumatisierung weiß – annehmen, dass angesichts dieser ungünstigen Bedingungen des Aufwachsens im Mittelalter kindliche Verhaltensstörungen extrem weit verbreitet waren.

Was wandelt sich? – Zum Verhältnis von Phänomenen, Benennungen und Deutungen

Prinzipiell sind im Verhältnis der drei Momente „Phänomen – Bennennung – Deutung“ sehr unterschiedliche Relationen denkbar:

  1. Die Phänomene selbst, das heißt die Kindheit und die in ihr vorherrschenden Problemlagen und Störungsbilder haben sich grundlegend gewandelt und entsprechend auch die Bezeichnungen und Erklärungsmuster, die die Pädagogen dafür jeweils ersonnen haben. Früher waren also die Kinder tatsächlich „sittlich verwildert“ oder „psychopathisch“ oder „schwererziehbar“ und heute sind sie eben „verhaltensgestört“, „psychosozial deformiert“ oder „hyperaktiv“.
  2. Die Phänomene selbst, das heißt die Schwierigkeiten, die die Kinder mit ihrer Umwelt haben und die ihre Umwelt mit ihnen hat, sind im Kern stets die gleichen geblieben, aber die jeweiligen Betrachtungsperspektiven, die Deutungsmuster und die Erklärungsansätze haben sich gewandelt und in der Folge zu jeweils veränderten Begriffsvorschlägen zur Benennung ein und desselben Problems geführt. Hierbei sind nun wiederum zwei unterschiedliche Alternativen denkbar:

Das „schwierige“ Kind in der Pädagogik des 19. und 20. Jahrhunderts

Ich will mich im Folgenden vor allem auf den letzten Punkt, die Ideengeschichte, konzentrieren. Also auf die unterschiedlichen Bilder des schwierigen Kindes, die in der Pädagogik des 19. und 20. Jahrhunderts leitend waren sowie auf die unterschiedlichen Begrifflichkeiten und Konzepte, die zur Benennung und Deutung dieses Phänomens verwendet wurden, bevor sich dann nach 1950 unter dem Einfluss des Behaviorismus der Begriff „Verhaltensstörung“ weitgehend durchsetzte. Dabei lassen sich in der Geschichte dieses Bereichs der Pädagogik drei unterschiedliche Paradigmen relativ deutlich unterscheiden (vgl. ausführlich dazu: Göppel 1989).

Schwierige Kinder als „sittlich verwilderte Kinder“

Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Phänomene, die heute meist als „Verhaltensstörungen“ bezeichnet und primär unter psychologischen Kategorien gedeutet werden, ganz überwiegend unter moralischen Kategorien gefasst. Die Rede war entsprechend von „boshaften“, „verkommenen“, „entarteten“, „verschlagenen“, „verwahrlosten“, „zuchtlosen“, „sittlich verwilderten“ Kindern und Jugendlichen. Weiterhin tauchen in der entsprechenden Literatur Begriffe wie „Rohheit“, Frechheit“, „Falschheit“, „Selbstsucht“, „Heftigkeit“, „Reizbarkeit“, „Anmaßung“, „Herzlosigkeit“ zur Charakterisierung jener Kinder auf.

Als exemplarischer pädagogischer Text für dieses Paradigma kann Pestalozzis berühmter Stanser Brief gelten. Pestalozzi (1799) berichtet dort über seine Erfahrungen, die er während des Versuchs gemacht hat, mehr als 70 Kindern und Jugendlichen, die in den Revolutions- und Kriegswirren im Schweizer Kanton Unterwalden 1789 obdach- und zum Teil elternlos geworden waren, eine angemessene Versorgung, vor allem aber eine elementare sittliche Bildung zukommen zu lassen. Pestalozzi beschreibt diese Kinder folgendermaßen: „Die meisten dieser Kinder waren, da sie eintraten, in dem Zustand, den die äußerste Zurücksetzung der Menschennatur allgemein zu seiner nothwendigen Folge haben muß. Viele traten mit eingewurzelter Krätze ein, daß sie kaum gehen konnten, viele [...] mit Augen voll Angst und Stirnen voll Runzeln des Misstrauens und der Sorge, einige voll kühner Frechheit, des Bettelns, des Heuchelns und aller Falschheit gewöhnt; andere vom Elend erdrückt, dultsam aber mißtrauisch, lieblos und furchtsam“ (Pestalozzi 1799, 5). Dabei stellt Pestalozzis pädagogischer Optimismus, die Überzeugung, dass es möglich sei, dass sich auch „mitten im Schlamm der Rohheit, der Verwilderung und der Zerrüttung die herrlichsten Anlagen und Fähigkeiten“ entfalten (Pestalozzi 1799, 6), die Grundlage für sein ganzes pädagogisches Unternehmen dar. Zur Befreiung dieses „sittlichen Keims“, dieses „verschütteten Kerns der Menschlichkeit“ entwickelt Pestalozzi im Stanser Brief ein dreistufiges Modell der sittlichen Elementarbildung: Zunächst die (1) „allseitige Besorgung“, das heißt die Erfüllung der kindlichen Grundbedürfnisse nach Nahrung, Wärme, Zuwendung und damit die „Erzielung einer sittlichen Grundstimmung durch reine Gefühle“; dann (2) „sittliche Übungen durch Selbstüberwindung und Anstrengung“, das heißt die gezielte Kontrolle aggressiver und selbstsüchtiger Impulse und die Schaffung einer ruhigen, geordneten Atmosphäre in der Kindergruppe, und schließlich (3) „die Bewirkung einer sittlichen Ansicht durch das Nachdenken und Vergleich der Rechts- und Sittlichkeitsverhältnisse, in denen das Kind schon durch sein Daseyn und seine Umgebungen steht“ (Pestalozzi 1799, 19), das heißt eine gezielte, an konkrete Anlässe anknüpfende reflexive Auseinandersetzung mit moralischen Problemen, mit Fragen hinsichtlich dessen, was „recht“ und was „unrecht“, was „gut“ und was „böse“ ist.

Dieses Verständnis von „schwierigen Kindern“ als „sittlich verwilderten“ Kindern war auch maßgeblich für die vielleicht bedeutsamste Gründung einer speziellen, auf diesen Adressatenkreis zugeschnittenen pädagogischen Institution im 19. Jahrhundert, das Rauhe Haus in Horn bei Hamburg, das für die Rettungshausbewegung in besonderer Weise modellhaft wurde. „Rettung“ wurde von Wichern (1998) immer in einem doppelten Sinn verstanden: „Rettung des Seelenheils“ dieser Kinder, die ohne solche „Bewahrung“ „dem Bösen“ und „der Sünde“ schutzlos ausgeliefert wären, aber auch „Rettung“ als tüchtige Mitglieder für die Gemeinde und die Gesellschaft. Bei Wichern spielt dabei die religiöse Komponente, die göttliche Gnade, die Bekehrung zu Christus und die Wandlung hin zu einem gottesfürchtigen Leben eine stärkere Rolle als bei Pestalozzi, aber in seiner Charakterisierung der Probleme und in der Deutung ihrer Ursachen liegt er doch weitgehend auf der selben Linie.

Schwierige Kinder als „psychopathisch minderwertige Kinder“

Eine neue und grundlegend andere Verständnisweise „schwieriger Kinder“ zeichnete sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts ab und gewann dann rasch sehr große Verbreitung in pädagogischen Kreisen. Eine wichtige Rolle dabei spielte von Strümpells Werk „Die pädagogische Pathologie oder die Lehre von den Fehlern der Kinder“ (1890) als der erste Versuch, systematisch die Vielzahl der Erscheinungen zu sammeln und zu reflektieren, die in der erzieherischen Alltagsrealität die schönen Perfektionsideale der Pädagogen immer wieder durchkreuzen. Von daher kann sein Buch durchaus als Gründungsschrift jener pädagogischen Fachrichtung gelten, die heute als Verhaltensgestörtenpädagogik an den Hochschulen etabliert ist. Von Strümpell selbst verstand sein Werk als eine Art Programmschrift, mit der er eine neue pädagogische Teildisziplin grundlegen wollte.

Dabei bestimmt von Strümpell (1890, 16f.) jene neue Teildisziplin folgendermaßen: „Die pädagogische Pathologie ist die Lehre von all denjenigen Zuständen, und Vorgängen, welche erfahrungsmäßig während der Entwicklung des geistigen Lebens von solcher Beschaffenheit sind, daß sie der Abschätzung und Werthbestimmung, nach denen der Pädagoge sie im Hinblick auf die von ihm gedachte oder erstrebte Jugendbildung auffaßt und beurtheilt, sich entweder nicht als genügend oder als bedenklich oder schädlich, überhaupt als in irgendwelcher Hinsicht der Besserung bedürftige Fehler darstellen. Solche Fehler nennen wir pädagogische Fehler.“ Der erste Schritt, den die neue Wissenschaft zu leisten habe, ist nach von Strümpells Auffassung das Sammeln des „Untersuchungsmaterials“. Entsprechend erstellt er zunächst ein umfangreiches „alphabetisches Verzeichnis der Kinderfehler“. Dieses Verzeichnis reicht von „Ängstlichkeit“, „Abneigung“, „Ausgelassenheit“ und „Albernheit“ bis hin zu „zappelig“, „zimperlich“, „zu frühreif“, „Zwangsvorstellungen“ und „Zwangshandlungen“. Insgesamt werden auf diese Art und Weise über 300 „Kinderfehler“ zusammengetragen und mit kurzen Kommentaren versehen. Dieser umfangreiche Katalog stellt ein recht buntes Sammelsurium von Eigenschaften, Tätigkeiten und Zuständen dar, das mehr über die Erziehungsmentalität des ausgehenden 19. Jahrhunderts und über die Reichhaltigkeit und Differenziertheit der deutschen Sprache zur Benennung von unerwünschten Merkmalen bei Kindern aussagt, als über das, was Kinder in ihrer Entwicklung gefährdet, belastet und bedrängt.

Von Strümpell hält dabei zunächst an einer klaren Abgrenzung der „pädagogischen Pathologie“ von den medizinischen Problemen und Fragestellungen fest. Erst in der zweiten Auflage hat er diese Eingrenzung des Gegenstandsbereichs der pädagogischen Pathologie auf „rein psychologische Fehler“ aufgegeben und zugleich ein neues Paradigma zur Erklärung psychischer Abweichungen adoptiert. 1891 hatte der Direktor der Zwiefaltener Irrenanstalt, J.L. A. Koch, den ersten Band seines umfangreichen Hauptwerks „Die psychopathischen Minderwertigkeiten“ veröffentlicht. Darin entwickelte er ein Konzept, in dem praktisch alle Formen psychischer Auffälligkeiten und Störungen im Vorfeld der eigentlichen Geisteskrankheiten auf hirnorganische Störungen bzw. auf „Minderwertigkeiten der nervlichen Konstitution“ zurückgeführt werden. In der 1892 erschienenen zweiten Auflage von Strümpells „Pädagogischer Pathologie“ wird dieses Kochsche Konzept in aller Breite rezipiert. Und entsprechend wird vielen „Kinderfehlern“ nun tatsächlich ein echter Krankheitswert zugeschrieben, da sie, unter der neuen Dominanz der psychiatrischen Perspektive, als Ausfluss von hirnorganischen Defekten gedeutet werden.

Um die Jahrhundertwende und auch in den folgenden Jahrzehnten war die Rede von „Kindern mit psychopathischen Minderwertigkeiten“, die uns heute so befremdlich vorkommt, in Pädagogen- und Heilpädagogenkreisen so geläufig wie heutzutage die Rede von „Kindern mit Verhaltensstörungen“. Einerseits hat dieses neue Deutungsmuster, das erstmals bei von Strümpell in einem pädagogischen Werk auftauchte, durch seine Tendenz zur „Entmoralisierung“ sicherlich viel an pädagogischem Verständnis und an Hilfsbemühungen für jene Kinder mobilisiert – eine sehr rührige und verdienstvolle Organisation in diesem Zusammenhang war etwa der „Deutsche Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen e.V.“ (vgl. von der Leyen 1926). Andererseits führte es aber durch die massive Tendenz zur Pathologisierung kindlichen Fehlverhaltens und durch die spätere Verknüpfung mit Ideen der Erblehre und der Eugenik auch zu sehr problematischen Stigmatisierungen der Betroffenen.

Ein weiterer wichtiger Vertreter und Verbreiter dieses neuen psychopathologischen Deutungsmusters in der Pädagogik und Heilpädagogik war Johannes Trüper, der Leiter des Erziehungsheimes und Jugendsanatoriums Sophienhöhe bei Jena. Er hat im Jahr 1893 eine Monographie mit dem Titel „Psychopathische Minderwertigkeiten im Kindesalter – Ein Mahnwort für Eltern, Lehrer und Erzieher“ veröffentlicht. Darin bezieht er sich ebenfalls auf Kochs „neues System nervöser und seelischer Anomalien“ und stellt klar, jene Kinder seien zwar „von klein auf schwer erziehbar, sofern sie nach den Erziehungsplänen und -methoden für Normale behandelt werden sollen; aber ob die Beschwernis auch weit gehe, so sind sie doch nicht in der Weise geschwächt, gebunden, hingegeben und gehemmt, daß sie die Freiheit ihrer Willensbestimmung eingebüßt hätten“ (Trüper 1893, 4f.). Im Jahr 1896 gründete Trüper gemeinsam mit Koch, Ufer und Zimmer die Zeitschrift „Die Kinderfehler“, die später in „Zeitschrift für Kinderforschung“ umbenannt wurde, aber dabei den Untertitel „mit besonderer Berücksichtigung der pädagogischen Pathologie“ beibehielt und die bis in die 1930er Jahre hinein die bedeutendste deutschsprachige Zeitschrift auf dem Gebiet der Heilpädagogik und der Kinder- und Jugendpsychologie blieb.

Schwierige Kinder als „seelisch belastete Kinder“

In dieser Zeitschrift fanden dann in der Weimarer Zeit auch die zum Teil recht heftig geführten Auseinandersetzungen mit den Vertretern jener psychologischen Richtungen statt, die wiederum eine neue „revolutionäre“ Deutungsperspektive im Zusammenhang mit „erziehungsschwierigen Kindern“ ins Spiel brachten, den Vertretern der Individualpsychologie und der Psychoanalyse. Diese blieben zwar insofern in dem psychopathologischen Rahmen, als auch sie letztlich die Auffälligkeiten und Abweichungen der „erziehungsschwierigen“ Kinder als Ausdruck krankhafter Prozesse deuteten. So meint etwa August Aichhorn (1925 a, 56), dass schon „der Grad der Schwererziehbarkeit [...] ein Maßstab für die Schwere der seelischen Erkrankung“ sei. Bei den Vertretern dieser neuen Sichtweise lag nun jedoch ein ganz neues Krankheitsverständnis zugrunde. Es war nun nicht mehr einfach die „psychopathische Konstitution“ oder die hirnorganische Abweichung, die als ursächlich postuliert wurde, vielmehr waren es nunmehr ganz bestimmte Entwicklungs- und Beziehungsgeschichten die dazu führten, dass es zur Ausprägung eines „nervösen Charakters“, zu einem problematischen „Streben nach Macht“, zu einer „Kompensation von Minderwertigkeitsgefühl“ und zu einem „Mangel an Gemeinschaftsgefühl“ bzw. zu einer „unbewussten Fixierung“ oder einer „neurotischen Verwahrlosungstendenz“ kam. Auf die eine oder andere Art war also nach dieser neuen Sichtweise durch die problematischen familiären Interaktions- und Beziehungsprozesse eine Art „Webfehler“ in die psychische Struktur des Kindes geraten, der jetzt dazu führte, dass es mit untauglichen Mitteln bestimmte Ziele zu erreichen suchte oder dass es mit seinem Verhalten unbewusst in bestimmten Widerholungszwängen gefangen war. Je nach tiefenpsychologischer Schulrichtung gab es dabei unterschiedliche Vorstellungen vom „Aufbau des menschlichen Charakters“ bzw. von der Funktionsweise des komplexen „psychischen Apparats“ sowie unterschiedliche Beschreibungen von den zentralen kritischen Knotenpunkten der Kindheit und den damit zusammenhängenden Wegen und Irrwegen der kindlichen Entwicklung.

Damit stand eine ganz neue Vielfalt von Möglichkeiten bereit, die Genese bestimmter problematischer Dispositionen, feindseliger Haltungen, aggressiver Strebungen, krimineller Neigungen, zwanghafter Befürchtungen, neurotischer Reaktionen oder depressiver Verstimmungen bei individuellen Kindern oder Jugendlichen auf theoretisch plausible Art zu rekonstruieren. Entsprechend wurden die Fallschilderungen in der Literatur nun sehr viel umfangreicher und detaillierter, und sie standen unter einem ganz neuen Anspruch, im individuellen Fall zu verstehen und zu erklären, wie und warum dieses Kind, das aus dieser speziellen Familiensituation kommt und das in seiner Entwicklungsgeschichte mit diesen belastenden Ereignissen konfrontiert war, ausgerechnet diese besondere Störung entwickelt hat. Die konkreten „Symptome“ bekamen nun eine Signal- und Symbolqualität für dahinter verborgene unbewusste intrapsychische Konflikte oder intrapersonale Spannungen zugesprochen. Im Kern sind es dabei immer wieder frustrierte kindliche Grundbedürfnisse, frühe Erfahrungen existentiellen Mangels und hilflosen Ausgeliefertseins, die sich tief in die Psyche eingeprägt haben und die nun durch widerspenstige, aggressive, feindselige Verhaltensweisen überspielt werden sollen. Diese neue Sicht der Dinge ermöglichte zugleich auch eine ganz neue pädagogische Haltung im pädagogischen Umgang mit schwierigen Kindern und Jugendlichen. So heißt es etwa bei Adler, Furtmüller und Wexburg (1983, 65): „Die rauen Charaktere, die zügellosen, unerziehbaren Kinder können uns darüber belehren, wie der dauernd unbefriedigte Zärtlichkeitstrieb die Aggressionsbahnen in Erregung bringt.“ Aichhorn leitet aus einer ähnlichen Einschätzung seine „praktische Psychologie der Versöhnung“ ab. In diesem Sinne schreibt er über die Jugendlichen des von ihm geleiteten Fürsorgeerziehungsheims Oberhollabrunn: „Keinem von uns war je eingefallen, in ihnen Verwahrloste oder gar Verbrecher zu sehen, vor denen die Gesellschaft geschützt werden müsse; für uns waren es Menschen, denen das Leben eine zu starke Belastung gebracht hatte, deren negative Einstellung und deren Hass gegen die Gesellschaft berechtigt war; für die daher ein Milieu geschaffen werden musste, in dem sie sich wohl fühlen konnten“ (Aichhorn 1925b, 130).

Literatur

Adler, A., Furtmüller, C. & Wexberg, E. (1914): Heilen und Bilden. Ein Buch der Erziehungskunst für Ärzte und Pädagogen. Frankfurt a.M.: Fischer, 1983

Aichhorn, A. (1925 a): Erziehungsberatung und Lebenshilfe. Zwölf Vorträge über Psychoanalytische Pädagogik. Reinbek: Rowohlt, 1972

Aichhorn, A. (1925b): Verwahrloste Jugend. Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung. Bern: Huber, 1977

Ariès, Ph. (1975): Geschichte der Kindheit. München: Hanser

deMause, L. (1977): Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp

Flitner, A. (1982): Konrad sprach die Frau Mama... Über Erziehung und Nicht-Erziehung. Berlin: Siedler

Göppel, R. (1989): „Der Friederich, der Friederich...“ – Das Bild des „schwierigen Kindes“ in der Pädagogik des 19. und 20. Jahrhunderts. Würzburg: Edition Bentheim

Kobi, E.E. (1996): Heilpädagogik in der Wendezeit. Brüche, Kontinuitäten, Perspektiven. In: Opp, G., Freytag, A. & Budnik, I. (Hrsg.): Heilpädagogik in der Wendezeit. Luzern: Edition SZH, 264 – 285

Koch, J.L.A. (1981/1982/1983): Die Psychopathischen Minderwertigkeiten. 3 Bde. Ravensburg: Maier

Leyen, R. von der (1926): Aus der Arbeit des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen e. V. – Wege und Aufgaben der Psychopathenfürsorge III in den Jahren 1919–1924. In: Zeitschrift für Kinderforschung, 31 (Jg.), 448–463

Matt, P. von (1995): Verkommene Söhne, missratene Töchter – Familiendesaster in der Literatur. München: Hanser

Myschker, N. (1994): Psychosozial deformierte Kinder und Jugendliche fordern heraus. Pädagogisch-therapeutische Hilfe als Hauptaufgabe künftiger professioneller Erziehung? In: Goetze, H. (Hrsg.): Pädagogik bei Verhaltensstörungen: Innovationen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 14–40

Opp, G. (1998): Gefühls- und Verhaltensstörungen. Begriffliche Problemstellungen und Lösungsversuche. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 49 (Jg.), H. 11, 490–496

Pestalozzi, J.H. (1799): Pestalozzis Brief an einen Freund über seinen Aufenthalt in Stanz. In: Pestalozzi, J.H. (1932): Sämtliche Werke, Bd. 13. Berlin: Gruyter, 1 – 32

Rutschky, K. (1977): Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung. Frankfurt a.M.: Ullstein

Strümpell, L. von (1890/1892): Die Pädagogische Pathologie oder die Lehre von den Fehlern der Kinder. Leipzig: Georg Böhme Nachfolger

Trüper, J. (1893): Psychopathische Minderwertigkeiten im Kindesalter – Ein Mahnwort für Eltern, Lehrer und Erzieher. Gütersloh: Bertelsmann

Wichern, J.H. (1998): Die öffentliche Begründung des Rauhen Hauses am 12. September 1833. In: Thole, W., Galuske, M. & Gängler, H.: KlassikerInnen der Sozialen Arbeit. Sozialpädagogische Texte aus zwei Jahrhunderten. Ein Lesebuch. Neuwied: Luchterhand, 67–81

1.2 Zur Geschichte der Verhaltensgestörtenpädagogik als universitäre Disziplin

Bettina Lindmeier

Die Geschichte der Verhaltensgestörtenpädagogik ist eng verbunden mit dem jeweiligen Begriff von Verhaltensstörung bzw. den entsprechenden Vorläuferbegriffen (vgl. Göppel, Kap. 1.1, in diesem Band). Die Geschichte der Verhaltensgestörtenpädagogik als universitäre Disziplin beginnt im engeren Sinne erst in den 1970er Jahren. Noch Anfang der 1960er Jahre wird in einer Übersicht zu den sonderpädagogischen Studienstätten und Studienprogrammen von Heese (1962, 10) der Bereich „Verhalten“ nicht als eigenständiger Studienschwerpunkt aufgeführt, obwohl es zu dieser Zeit bereits 16 sonderpädagogische Studienstätten und sieben Studienschwerpunkte gab. Neben der Pädagogik bei Verhaltensstörungen fehlte zu dieser Zeit auch noch die Geistigbehindertenpädagogik. Dennoch sind die Vorläufer und Wurzeln der universitären Verhaltensgestörtenpädagogik eng mit der Geschichte der allgemeinen Pädagogik und der Sozialpädagogik ebenso wie mit der Geschichte der Psychiatrie verwoben, denn Ursachenforschung und Qualifikation der Mitarbeiter wurden in Anbindung an die entstehenden, sehr unterschiedlichen Institutionen betrieben.

Bedeutsam für die nach 1945 wieder beginnende Fachdiskussion wurde der auf dem ersten Weltkongress für Psychiatrie 1950 vorgeschlagene Begriff „behavioral disorders“ (Verhaltensstörungen) als Oberbegriff zur Bezeichnung aller unangemessenen Verhaltensweisen von leichten Auffälligkeiten bis zu schweren Störungen, der allerdings in der Verhaltensgestörtenpädagogik von Beginn an als problematisch empfunden wurde: „Zwar hat der grundlegende Disput um ihre Hauptbegriffe die Behindertenpädagogik seit jeher bekanntlich ausgiebig beschäftigt [...] Die Pädagogik der Verhaltensgestörten nimmt jedoch auch hier die Sonderstellung einer hochfrequenten Synonyma-Bildung ein, die sich erheblicher Kritik ausgesetzt sieht: Unbehagen, theoretische Schwächen, heimliche Wertigkeiten, unklarer Objektbereich, Mangel an brauchbaren Beschreibungen und Erklärungen, unfruchtbare Empirie, vergebliche Ursachenforschung“ (Bleidick & Ellger-Rüttgardt 2008, 187).

Die Entwicklung der universitären Sonderpädagogik nach dem zweiten Weltkrieg wurde in der Bundesrepublik Deutschland zunächst maßgeblich durch den Verband Deutscher Hilfsschulen gefördert, der sich im Jahr 1953 in Verband Deutscher Sonderschulen (vds) umbenannte und sich zunehmend zum Ziel setzte, den Ausbau der Sonderschulen insgesamt voranzutreiben: Die Denkschrift zum Ausbau des Sonderschulwesens von 1955 zählte bereits fünf auszubauende Sonderschulformen auf, darunter die Schule für „Gemeinschaftsschwierige“ (Bleidick 1998, 100). In den Beratungen zu den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz von 1960 forderte der vds ein viersemestriges Studium für Sonderschullehrer und eine Vereinheitlichung der bereits bestehenden Ausbildungsgänge, deren erster bereits 1953 mit dem Ziel der Hilfsschullehrerausbildung in Hamburg eingerichtet worden war (Bleidick 1998, 106). Die Einrichtung von Studiengängen und ihre allmähliche Akademisierung folgten also erst, nachdem sich Institutionen bereits in der Praxis etabliert hatten.

Als Meilenstein der universitären Verhaltensgestörtenpädagogik gilt das Gutachten „Schule und Unterricht bei verhaltensgestörten Kindern“ von Bittner, Ertle und Schmid (1974), das im Auftrag des deutschen Bildungsrates verfasst wurde. In diesem Gutachten werden Kinder mit Verhaltensstörungen und die Aufgabe der Schule folgendermaßen beschrieben: „Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen sind aufgrund der weiten Verbreitung, der vielgestaltigen Erscheinungs- und Verlaufsformen sowie der fließenden Grenze zum Bereich des Normalen hin kaum als feste Gruppe von ‚Behinderten‘ zu definieren, die in besonderen Institutionen zusammengefasst und dort mit entsprechenden sonderpädagogischen Maßnahmen behandelt werden kann. Verhaltensstörungen sind zumeist eher als das Ergebnis bestimmter ungünstiger Konstellationen im psychosozialen Feld denn als konstante Persönlichkeitsmerkmale aufzufassen: es geht also darum, pädagogische Hilfen für bestimmte Konstellationen, in die jedes Kind hineingeraten kann, als für einen bestimmten, fest umrissenen kindlichen Adressatenkreis bereitzustellen. Daher sind Hilfen für Verhaltensgestörte vorrangig Aufgabe der allgemeinen Schulen und Gegenstand der allgemeinen Pädagogik“ (Bittner, Ertle & Schmid 1974, 91).

Im Bildungsgutachten wird ein gestuftes System empfohlen, das Unterstützungsangebote in der allgemeinen Schule als Regelleistung bereitstellt. Zu den vorgeschlagenen Leistungen gehören Beratung durch Schulpsychologen und Beratungslehrer, sozialpädagogisch-therapeutisch orientierte Gruppenangebote und Förderkurse bei Lern- und Leistungsschwierigkeiten. Das vor einigen Jahren wiederentdeckte Thema der Überlappung von Lern- und Verhaltensstörungen (vgl. Wittrock et al. 2002) wurde hier ebenso bereits benannt wie die Notwendigkeit einer Unterstützung von Lehrkräften der allgemeinen Schule. Kleinkassen als separate Sonderklassen an Regelschulen, die zu dieser Zeit noch häufiger waren als eigenständige Sonderschulen, werden explizit abgelehnt und ihre Auflösung empfohlen.

Nur für zwei Gruppen von Kindern werden hier eigene schulische Einrichtungen gefordert, und zwar in Kooperation mit den für diese Kinder bereits entwickelten Angeboten der Sozialpädagogik und der Kinder- und Jugendpsychiatrie: Zum einen sind dies „klinisch-therapeutische Ganztagsschulen“ (Bittner, Ertle & Schmid 1974, 91) für Kinder mit extrem schweren psychischen Störungen, die weiterhin in der Familie leben können, zum anderen Schulen an Heimen und Kinder- und Jugendpsychiatrien für Kinder, die aus der Herkunftsfamilie herausgenommen wurden.

Die Aussagen zur Unterrichtsgestaltung nennen die (Wieder-)Gewinnung der Kinder „[...] für das Lernen durch persönliche Bindung an Lehrer und Gruppe sowie durch unterrichtsvorbereitende und -begleitende außerunterrichtliche Aktivitäten [...] [und] durch ein hohes Maß an Differenzierung des unterrichtlichen Angebots [...]“. Lerndefizite sollen „[...] nicht nur im kognitiven, sondern auch im sozialen und persönlichen Bereich“ ausgeglichen werden (Bittner, Ertle & Schmid 1974, 92).

Die Befunde dieses Gutachtens, die bis in die Gegenwart nicht an Aktualität verloren haben, konnten aber nur eine geringe Wirkung entfalten, weil sie einen scharfen Gegensatz bildeten zu den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz von 1972, in denen am Begriff der Sonderschulbedürftigkeit und damit – ungeachtet der theoretischen und praktischen Schwierigkeiten und Begründungsnotstände – an der Möglichkeit einer klaren Abgrenzung der Schülerschaft und einem entsprechenden Ausbau der Schulen festgehalten wurde.

In der Folge wurde die fachliche Auseinandersetzung mit der allgemeinen Pädagogik und Schulpädagogik wenig gesucht, stattdessen die „Besonderheit“ von Kindern mit Verhaltensstörungen und ihre „Störung“ in den Mittelpunkt fachlicher Auseinandersetzung gestellt. Die zweifelsfrei wichtige Rezeption psychologischen Fachwissens war weniger durch die Suche nach Kooperations- und Anschlussmöglichkeiten geprägt, wie sie auf der Grundlage einer Klärung der eigenen Grundbegriffe und pädagogischen Fragestellungen hätten erarbeitet werden können (vgl. Willmann, Kap. 6.2, in diesem Band), sondern fand großenteils in Form einer unkritischen, mitunter eklektischen Übernahme psychologischer Theoriebausteine und therapeutischer Konzepte statt. Die fehlende Auseinandersetzung mit pädagogischen Grundfragen, beispielsweise Freiheit und Zwang in der Erziehung, oder mit dem Anspruch auf Autonomie und Würde auffälliger, devianter, die Würde anderer Menschen missachtender Kinder führte dabei immer wieder zur Übernahme fragwürdiger therapeutischer Praktiken. Beispiele hierfür bieten bestimmte Formen der Verhaltensmodifikation, die leicht manipulativen Charakter annehmen können, oder auch die Kontroverse um die konfrontative Pädagogik.

In der universitären Pädagogik bei Verhaltensstörungen ist die pädagogische Tradition eine Minderheitentradition geblieben. Dies wird beispielsweise deutlich bei der Betrachtung von Bewerberprofilen auf Professuren im Fach, bei denen Psychologen gegenüber den Lehrern und Diplompädagogen bevorzugt werden. Es zeigt sich ebenso bei der Betrachtung der Vorlesungsverzeichnisse, in denen entwicklungspsychologische Grundlagen und therapeutische Verfahren aller Art dominieren (Schad 2008). Schlee (1993, 48) fasst diese Entwicklung als Folge einer unglücklichen Begriffsverwendung auf: „Da der Verhaltensgestörtenbegriff keine klaren Bezugsstrukturen bereitzustellen vermag, können mit seiner Hilfe weder theoretische noch empirische Erkenntnisse gewonnen werden.“ Diese Einschätzung wird teilweise in expliziter Bezugnahme auch von anderen Fachvertretern geteilt (Reiser 1999). Ahrbeck (2005, 9) weist darauf hin, dass eine Unterscheidung zwischen der größeren Zahl an „[...] situationsgebundene[n] und transitorische[n] Beeinträchtigungen [...]“ und einer „[...] relativ kleine[n] Gruppe massiv beeinträchtigter Kinder und Jugendlicher [...]“ mit einer „in der Regel lange anhaltenden, [...] verfestigten Symptomatik, erheblichen Störungen in der Persönlichkeitsentwicklung und starken Wiederholungszwängen [...]“ sehr sinnvoll sei; er wendet sich in diesem Zusammenhang gegen eine Tendenz der Relativierung und Beliebigkeit und plädiert für eine Konzentration des Faches auf diese schwer beeinträchtigte Gruppe von Kindern.

Eine Auseinandersetzung mit pädagogischen Fragen innerhalb der universitären Verhaltensgestörtenpädagogik ist maßgeblich durch diejenigen Fachvertreter erfolgt, die der Integrationsbewegung nahe stehen. Diesen Arbeiten ist gemeinsam, dass sie interdisziplinär ausgerichtet sind und (tiefen-)psychologische und soziologische Fragestellungen mit schul- und sozialpädagogischen Fragen verbinden. Wichtig sind insbesondere:

Dlugosch (2003) befasst sich explizit mit der professionellen Entwicklung im Kontext universitärer Strukturen und bestimmt professionelles Handeln unter Bezug auf Oevermann als widersprüchliche Figur „von Fallverstehen und theoretischem Erklärungsbestand“. Die Aufgabe der Ausbalancierung dieses Widerspruchs geschieht vor dem Hintergrund biografischer Relevanzstrukturen, durch die das Deutungs- und Handlungsrepertoire des Pädagogen integriert wird. Sie sind der biografischen Reflexion zugänglich und müssen – dies betrifft sowohl die eigenen als auch fremde Biografiekonstruktionen – in universitären Bildungsprozessen rekonstruiert werden. Obwohl ein solches Bildungskonzept äußerst anspruchsvoll ist und das zunehmende Bedürfnis nach allgemein anwendbaren, wenig zeitaufwendigen Rezepten und Regeln nicht bedient, ist es notwendig, ihm zu folgen. Erst die zeitlich aufwendige und intellektuell anspruchsvolle Integration von Besonderheiten des Einzelfalls und theoretischen Wissens in einem komplexen Deutungsprozess ermöglicht es, dass sich die Pädagogik bei Verhaltensstörungen als universitäre Disziplin weiter entwickelt. Dann kann sie auch in der pädagogischen Praxis Alternativen zur Ausgrenzung von Kindern aus ihren Lebenszusammenhängen anbieten.

Literatur

Ahrbeck, B. (2004): Kinder brauchen Erziehung. Die vergessene pädagogische Verantwortung. Stuttgart: Kohlhammer

Ahrbeck, B. (2005): Entwicklungslinien und Zukunftsperspektiven im Fach Verhaltensgestörtenpädagogik. In: Sonderpädagogische Förderung, 50 (Jg.), H. 1, 4–12

Bittner, G., Ertle, C. & Schmid, P. (1974): Schule und Unterricht bei verhaltensgestörten Kindern. In: Deutscher Bildungsrat (Hrsg.): Gutachten und Studien der Bildungskommission 35, Sonderpädagogik Bd. 4. Stuttgart: Klett, 13–102

Bleidick, U. (1998): Der Verband und die Bildungspolitik 1948 bis 1998. In: Möckel, A. (Hrsg.): Erfolg – Niedergang – Neuanfang. 100 Jahre Verband deutscher Sonderschulen. München: Reinhardt, 96–163

Bleidick, U. & Ellger-Rüttgardt, S. (2008): Behindertenpädagogik – eine Bilanz. Stuttgart: Kohlhammer

Dlugosch, A. (2003): Professionelle Entwicklung und Profession. Impulse für universitäre Bildungsprozesse im Kontext schulischer Erziehungshilfe. Bad Heilbrunn: Klinkhardt

Heese, G. (1962): Das sonderpädagogische Studium. Eine Übersicht über die Studienstätten und Studienprogramme für die sonderpädagogischen Studienstätten im deutschen Sprachgebiet. Berlin: Marhold

Preuss-Lausitz, U. (2008): Aggressive Jungen, depressive Mädchen: der Beitrag der schulischen Erziehungshilfe bei der Suche nach zukunftsfähigen Geschlechterrollen in einer demokratischen Gesellschaft. In: Reiser, H., Dlugosch, A. & Willmann, M. (Hrsg.): Professionelle Kooperation bei Gefühls- und Verhaltensstörungen. Pädagogische Hilfen an den Grenzen der Erziehung. Hamburg: Kovač, 89–104

Preuss-Lausitz, U. (Hrsg.) (2005): Verhaltensauffällige Kinder integrieren: Zur Förderung der emotionalen und sozialen Entwicklung. Weinheim: Beltz

Reiser, H. (1999): Förderschwerpunkt Verhalten. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 50 (Jg.), H. 4, 144 – 148

Reiser, H., Klein, G., Kreie, G. & Kron, M. (1987): Integrative Prozesse in Kindergartengruppen. Über die gemeinsame Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern. Weinheim: Juventa

Reiser, H., Willmann, M. & Urban, M. (2007): Sonderpädagogische Unterstützungssysteme bei Verhaltensproblemen in der Schule. Innovationen im Förderschwerpunkt Emotionale und Soziale Entwicklung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt