Einleitung

Die Frage, wie „richtig“ erzogen werden soll, welche Erwartungen, Ansprüche, Haltungen und Umgangsformen im Verhältnis zwischen den Generationen angemessen sind, welche Versäumnisse, Einseitigkeiten und Fehlentwicklungen hier kritisiert und korrigiert werden müssen, ist eine Frage, die wie wenige andere immer wieder für heftige Diskussionen sorgt. Dass diese Diskussionen je zu einem Ende kommen könnten, sei es in dem Sinne, dass irgendwann einmal ein allgemeiner Konsens bezüglich der „richtigen“ Erziehungsformen und der angemessenen Umgangsweisen gefunden wird, sei es in dem Sinne, dass es irgendwann einen Zustand allgemeiner Zufriedenheit mit den bestehenden erzieherischen Verhältnissen und mit den gegebenen Denk- und Verhaltensweisen der nachwachsenden Generation gibt, ist kaum zu erwarten.

Erzieherische Prozesse sind nicht mit Präzision steuerbar, erwünschte Ergebnisse nicht mit Sicherheit herstellbar, Um- und Irrwege in Entwicklungsverläufen nicht mit Gewissheit kontrollierbar. Alles was sich in diesem Feld ereignet und entwickelt ist nicht nur von den Absichten und Angeboten, den Ansprüchen und Anreizen der Erziehenden, sondern stets auch vom Eigensinn und vom Entgegenkommen der Betroffenen abhängig, also von deren Einsichten, Interessen, Stimmungen, Launen, Widerständen … Und diese werden wiederum stets von vielfältigen weiteren Einflussquellen mit geprägt: Von den Erwartungen der Peers, von den Trends der Jugendkultur, von den Botschaften der Medien, von den Einflüsterungen der Konsumwerbung …

Da aber im Zusammenhang mit der Erziehung letztlich viel auf dem Spiel steht, nämlich nichts weniger als die individuelle künftige Lebensbemeisterung und der Fortbestand kollektiver sozialer Spielregeln und zivilisatorischer Errungenschaften, ist das „Projekt Erziehung“ sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene immer wieder mit hohen Ambitionen, großen Hoffnungen, also mit intensiven Gefühlen und somit unvermeidlich bisweilen auch mit großen Sorgen und mit herben Enttäuschungen verbunden. Und damit natürlich auch immer wieder mit Kritik und mit Klagen, mit Mahnungen und Warnungen, mit Mutmaßungen und Auseinandersetzungen darüber, was warum falsch läuft in der Erziehung, wer daran Schuld hat und was zur Besserung und Rettung getan werden müsste.

Da die Bedeutsamkeit der erzieherischen Einstellungen und Maßnahmen der Erwachsenen prinzipiell also als sehr hoch eingeschätzt wird, da die konkrete Zuordnung von bestimmten Entwicklungsresultaten zu unterschiedlichen erzieherischen Ideen und Praktiken aber angesichts der Vielfalt der Einflüsse aus ebenso prinzipiellen Gründen stets mit einem hohen Maß an Unsicherheit behaftet bleibt, da sich zudem in diesem Feld empirische Aussagen über das, was der Fall ist und normative Aussagen über das, was der Fall sein soll, in komplexer Weise überlagern, ist es nicht sehr verwunderlich, dass gerade der Bereich der Pädagogik in hohem Maße den Konjunkturen des Zeitgeistes ausgeliefert ist. Immer wieder gab es gravierende Umschwünge hinsichtlich dessen, was als „richtiger“, angemessener, kindgemäßer, entwicklungsförderlicher erzieherischer Umgang beschrieben wurde und damit natürlich auch hinsichtlich dessen, was als erzieherisches Fehlverhalten beklagt und angeprangert wurde.

Von daher gilt für den Bereich der Pädagogik in ganz besonderem Maße das, was der Philosoph Ralf Konersmann ganz allgemein über das Phänomen Zeitgeist ausgeführt hat: „Philosophisch gesehen, versucht der Zeitgeist die Antwort auf eine Frage. Sie lautet: Wie kann das Wissen, das als wahres Wissen zeitlos ist, in einem gegebenen Augenblick, vorzugsweise im Hier und Jetzt, gültig werden? Wie passen die Zeitlosigkeit der Wahrheit und der Zeitbezug der Erkenntnis zusammen? Seit dem 18. Jahrhundert machen wir die Erfahrung der Geschichtlichkeit des Wissens, und seither strapaziert diese Erfahrung des Wandels das alte, idealerweise in der Mathematik verkörperte Wissensmodell der Zeitlosigkeit. Der Zeitgeist ist eine Art Hilfskonstruktion, um hier einen Ausgleich zu finden. Mit diesem Hilfsangebot verbunden ist aber auch seine Macht als Verführer. Daher ist Skepsis geboten“ (Konersmann 2005, S. 2).

So gab es in den letzten Jahren in der öffentlichen Erziehungsdebatte etwa einen ausgesprochen „Rollback“ hin zu Forderungen nach mehr Disziplin, Autorität und Führung. Entsprechend wurde ein allgemeiner Mangel an Erziehung im Sinne von Regeleinhaltung, Grenzdurchsetzung und Strenge beklagt. Prominente Bücher, die diese Forderungen und Klagen populär machten, waren etwa die Bücher von Bernhard Bueb „Lob der Disziplin“ (2006) und „Von der Pflicht zu führen“ (2008) sowie Michael Winterhoffs Bestseller „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ und „Tyrannen müssen nicht sein“ (2009). Nicht, dass es immer wieder Autoren gibt, die solche Positionen vertreten ist dabei das eigentlich Überraschende, sondern eher die Tatsache, dass jene Bücher, die vor 30 Jahren vielleicht gänzlich unbeachtet geblieben wären oder die, wenn sie wahrgenommen worden wären, dann eher Verwunderung und Protest ausgelöst hätten, auf einmal auf so große positive Resonanz beim breiten Publikum stoßen, dass sie zu Bestsellern werden und dazu führen, dass jene Thesen und Forderungen plötzlich die öffentliche Erziehungsdebatte dominieren und zum Gegenstand von unzähligen Zeitschriftenartikeln, Hörfunksendungen, Podiumsdiskussionen und Talkshows werden.

Zu anderen Zeiten waren es andere Bücher mit gänzlich anderen pädagogischen Konzepten, die das breite Publikumsinteresse auf sich zogen und die mit dem Versprechen und der starken Hoffnung verknüpft waren, dass eine Orientierung an den dort dargestellten Prinzipien im erzieherischen Bereich – ja im gesellschaftlichen Bereich überhaupt – alles zum Besseren wenden würde. So beschreibt Andreas Flitner etwa die erstaunliche Rezeptionsgeschichte von Alexander Neills Buch „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung“ folgendermaßen: „Eine kleine Sammlung von Praxisberichten des – aus der deutschen Reformpädagogik hervorgegangenen – Erziehers Alexander Neill über seine Privatschule Summerhill, die seit langem unbeachtet auf dem Buchmarkt war, erschien 1969 als Taschenbuch unter dem neuen Titel Antiautoritäre Erziehung und erreichte binnen kurzem eine deutsche Auflage von mehr als einer Million Exemplaren“ … „Ein Generationsereignis, zugleich ein publizistisches Phänomen“ (Flitner 1999, S. 168).

Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre waren es die Bücher von Alice Miller, die einen regelrechten Boom auslösten und der „antipädagogischen Bewegung“ erhebliche Schubkraft verliehen. Sie war vor dem Hintergrund ihrer psychoanalytischen Arbeit mit erwachsenen Patienten zu der Überzeugung gekommen, dass am Anfang aller psychischen Leiden und aller zwischenmenschlichen Tragödien stets eine erzieherisch verbrämte Traumatisierung des Kindes gestanden habe. Und sie kam von daher zu der These, dass alle erzieherischen Absichten im Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern, d.h. alle Versuche, Kinder aufgrund erzieherischer Ideen einzuschränken und in bestimmte Richtungen zu lenken, verwerflich seien, weil sich dahinter stets das aus dem unbewussten Wiederholungszwang stammende Motiv der Erziehenden verberge, sich für die in der eigenen Kindheit erlittenen Erniedrigungen und Demütigungen rächen zu wollen. Entsprechend forderte sie den radikalen Verzicht auf alle erzieherischen Ambitionen.

Nun könnte man sagen, diese Umschwünge seien eben nur Erscheinungen auf der Ebene der populären pädagogischen Schriften, wenn man so will, der „pädagogischen Laienkultur“ und daneben gebe es doch die Erziehungswissenschaft, die ganz unabhängig von diesen wechselhaften Tendenzen in den „Niederungen“ der Alltagsvorstellungen über Erziehung und der dort populären Konzepte, in ihrem Erkenntnisfortschritt stetig und unaufhaltsam voranschreite. Eine solche scharfe Trennung der Ebenen ist in diesem Bereich der realen Sachlage jedoch wenig angemessen. Zwar gibt es inzwischen durchaus in vielen Bereichen der Erziehungswissenschaft eine hoch entwickelte Forschungslandschaft und so wissen wir heute z.B. durchaus sehr viel genauer Bescheid als früher über die Zusammenhänge zwischen der sozialen Herkunft und den Bildungschancen und über die Merkmale eines effektiven, lernwirksamen Mathematikunterrichts – aber im Hinblick auf die grundlegenden erzieherischen Fragen nach den vordringlichen Zielen, die pädagogisch befördert werden sollen, ist ein solcher „Erkenntnisfortschritt“ sehr viel schwerer zu realisieren. Eben deshalb, weil diese Fragen ganz stark in die grundlegenden Aspekte unseres kulturellen Selbstverständnisses eingebettet sind: Welche Tugenden halten wir für primär bedeutsam? Welche Ausprägungen von Disziplin, Gehorsam, Unterordnungsbereitschaft bzw. welches Maß von Autonomie, von geistiger Unabhängigkeit, Kritikfähigkeit und Widerstandsbereitschaft halten wir für wünschenswert? In welchem Verhältnis stehen für uns die eher asketischen und arbeitsbezogenen Dimensionen wie Leistungsbereitschaft, Ausdauer, Fleiß, Sparsamkeit, Gewissenhaftigkeit zu den eher hedonistischen Dimensionen wie Lebensfreude, Glücksstreben, Selbstverwirklichung, Genussfähigkeit, Konsumlust? In welchem Verhältnis stehen die eher individualistischen Dimensionen wie Originalität, Kreativität, Spontaneität, Sensibilität zu den eher sozialen Dimensionen wie Geselligkeit, Verlässlichkeit, Hilfsbereitschaft, Solidaritätsfähigkeit, Zivilcourage? Und selbst wenn man sich hier auf einen allgemeinen Prioritätenkatalog der Tugenden verständigen könnte – auf welchen Wegen, mit welchen erzieherischen Mitteln könnte dieses „wünschenswerte Tugendprofil“ gefördert werden? Könnten es überhaupt für alle Kinder die gleichen Mittel sein, oder wäre hier der „Individualität des Kindes“ und natürlich auch der Individualität der jeweiligen Familienkultur Rechnung zu tragen?

Und dann kommt ja das wiederum stark kulturell geprägte Generationenverhältnis ins Spiel: Welche Umgangsformen zwischen Erwachsenen und Kindern halten wir prinzipiell für angemessen? Auf welches Maß an Gehorsam und Respekt sollten die Erwachsenen kraft ihres Erwachsenenstatus ganz selbstverständlichen Anspruch haben? Welches Maß an Fürsorglichkeit und Unterstützung, an Lenkung und Leitung, an Grenzsetzung und Kontrolle brauchen Kinder welchen Alters? Und was soll bei Verletzung der gezogenen Grenzen und der vereinbarten Regeln geschehen? Auf all diese Fragen kann es keine „wissenschaftlichen Antworten“ im strengen Sinne des Wortes geben. Und zwar deshalb nicht, weil die Wissenschaft einerseits nicht die Autorität hat, in jenem Dickicht normativer Fragen letztverbindliche Antworten zu geben, und weil sie andererseits auch nicht in der Lage ist, mit hinreichender Sicherheit die Effekte bestimmter erzieherischer Maßnahmen auf individuelle Kinder und Jugendliche zu prognostizieren.

Günther Bittner ist in diesem Sinne zu dem ernüchternden Fazit gekommen, Erziehung sei „anscheinend ein weitgehend unmöglicher Gegenstand von Wissenschaft: Die Problemlagen sind für die empirische Durchdringung vielfach zu komplex, Erziehungsgeschehen ist eingebettet in Lebensformen und kulturelle Traditionen, die sich der distanzierenden wissenschaftlichen Erörterung entziehen, weil der Wissenschaftler selbst in diesen Traditionen steht; Normen und Wertfragen lassen sich oft nur schwer von Fakten trennen“ (Bittner 1996, S. 237). Dennoch hält auch Bittner die Erziehungswissenschaft keineswegs für überflüssig. Er weist ihr jedoch eine bescheidenere – aber dennoch unentbehrliche – Funktion zu: „Wie der Theaterkritiker das Bühnenleben und der Musikkritiker das Konzertgeschehen kenntnisreich kommentiert, so der Politologe die Vorgänge auf der politischen Bühne und der Erziehungswissenschaftler die Entwicklungen auf dem Erziehungssektor. Der Erziehungswissenschaftler untersucht weder streng methodisch, was der Fall ist, noch sinnt er tiefgründig über die Geltung von Werten und Normen; er ist Chronist, Rezensent und Kommentator von Lebensgeschehnissen“ (ebd.).

Ihm kommt dabei insbesondere eine kritische Funktion zu. Da es in pädagogischen Feldern einerseits einen starken und permanenten Innovations- und Verbesserungsdruck gibt – die aktuell bestehende Praxis kann nie als „gut genug“ gelten –, da es dort andererseits aber bisweilen ein ziemlich schwach entwickeltes historisches Gedächtnis gibt, gilt es immer wieder zu prüfen, ob bestimmte Ideen und Vorschläge tatsächlich so innovativ und originell sind, wie sie sich ausgeben und ob nicht zu anderen Zeiten bereits ganz ähnliche Dinge beklagt und ganz ähnliche Forderungen erhoben wurden und ob dort vielleicht sogar Erfahrungen mit der Umsetzung entsprechender Ideen gemacht wurden. Da pädagogische Autorinnen und Autoren, um die Aufmerksamkeit für ihre Botschaften und die Resonanz für ihre Lösungsvorschläge zu erhöhen, häufig auch zu negativen Übertreibungen neigen, d. h. zur Dramatisierung der gegenwärtigen erzieherischen Lage als „Erziehungskatastrophe“, „Erziehungsnotstand“, „Erziehungsvergessenheit“ etc., geht es weiterhin auch stets um eine kritische Prüfung der vorgetragenen Thesen: Wie gut belegt sind die behaupteten pädagogischen Versagens-, Krisen- und Niedergangsphänomene? Wie plausibel ist es, dass die dargestellten Problemlagen mittels der geforderten veränderten erzieherischen Haltungen und Umgangsformen zum Besseren gewendet werden könnten?

In diesem Sinne sollen in dem geplanten Buch markante Entwicklungen, die sich auf dem Erziehungssektor in den letzten Jahrzehnten ereignet haben, unter die Lupe genommen, d.h. beschrieben, analysiert und kommentiert werden. Es sind Entwicklungen, die einerseits eher die „Erziehungsmentalitäten“ betreffen, d. h. die in der Bevölkerung weit verbreiteten Vorstellungen davon, wie Kinder sind, was ihnen zuzutrauen, was ihnen zuzugestehen und was ihnen zuzumuten ist, welche Probleme und Konflikte im Umgang mit Kindern derzeit dominierend sind und welche erzieherischen Ideen, Forderungen und Ratschläge plausibel erscheinen, um jene Probleme und Konflikte zu lösen. Und es sind andererseits Entwicklungen, die eher die Erziehungsdiskurse betreffen, d.h. die Begrifflichkeiten, Leitideen, Zielperspektiven, Konzepte und „Paradigmata“, die im Bereich der erziehungswissenschaftlichen Fachkommunikation ihre Konjunkturen haben. Dabei sind es einerseits die zentralen Leitbegriffe, die sich wandeln oder die, selbst wenn sie gleich bleiben, doch bisweilen andere inhaltliche Aufladungen und Konnotationen erhalten, es sind unterschiedliche Beschreibungen der zentralen Problemlagen, die in den Fokus treten, es sind natürlich auch innerhalb der einzelnen erzieherischen Felder reale Veränderungen hinsichtlich des jeweiligen fachlichen Selbstverständnisses und der zentralen Aufgabenstellungen und es sind schließlich Wandlungen hinsichtlich der übergreifenden Zielperspektiven, die das ganze Geschäft der Erziehung leiten sollen.

Dabei wird der Bogen der pädagogischen Felder, die in den Blick kommen, ein recht weiter sein: Von der Familie über den Kindergarten, die Schule, die außerschulische Jugendbildung, bis hin zum Studium und zur Lehrerbildung. Anders als in anderen Wissenschaften, die sich mit abgelegenen Winkeln des Weltwissens und mit eher hochspeziellen Problemen und nur für kleine Expertenkreise überhaupt verständlichen Fragen befassen – man denke etwa an die „Glaziologie“ die „Zoologie des Phytoplanktons“, die „Nanostrukturtechnik“ oder die „Historischvergleichende Finnougristik“ – betreffen pädagogische Fragestellungen doch meist Themen, die „unser aller Leben“ irgendwie berühren und zu denen deshalb auch nicht durch Diplom oder Promotion explizit ausgewiesene Fachleute in der Regel eine Meinung haben. Zum einen sind wir in gewissem Sinne als Erzogene und als Erziehende immer schon langjährige „Experten in Erziehungsfragen“, zum anderen betreffen Fragen, die sich auf das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft und die Gestaltung des Erziehungs- und Bildungswesens beziehen, ja auch Aspekte der „res publica“ und verdienen deshalb unsere Aufmerksamkeit als Staatsbürger.

Von daher gibt es „Erziehungsdiskurse“, Diskussionen über pädagogische Fragen, auch nicht nur auf Kongressen der „Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft“ oder in erziehungswissenschaftlichen Vorlesungen oder sonderpädagogischen Seminaren, sondern ebenso im öffentlichen Raum: an Elternstammtischen, in Doku-Soaps und Fernseh-Talk-Shows, in Bild-Zeitungs-, Stern-, Spiegel-, Focus- und Zeit-Artikeln sowie in einer großen Vielfalt von Erziehungsratgebern, die jährlich auf den Buchmarkt kommen. Und diese öffentlichen „Erziehungsdiskurse“ beeinflussen einerseits die in der jeweiligen Epoche vorherrschenden „Erziehungsmentalitäten“ und spiegeln sie gleichzeitig andererseits auch wieder.

Welche Wirkkräfte „hinter“ den Gezeiten des erzieherischen Zeitgeistes stehen, was der heimliche Antrieb für die oftmals erstaunlichen Trendverschiebungen im Erziehungsbereich ist, warum einmal die eine und dann wieder ganz andere Lagebeschreibungen, Problemdeutungen und Handlungsempfehlungen vom breiten Publikum als „plausibel“ und „passend“ bzw. als „progressiv“ und „provokativ“ wahrgenommen werden, ist dabei schwer auszumachen.

Auch ist es schwer anzugeben, in welchem Verhältnis diese außerwissenschaftlichen pädagogischen Diskurse zu jenen Diskursen stehen, die innerhalb der Erziehungswissenschaft als Disziplin geführt werden. Einerseits sind es durchaus Ergebnisse wissenschaftlicher Studien – etwa der TIMMS oder der PISA-Schulleistungsstudien, der Shell-Jugendstudie, der KFN-Jugendstudie, der World-Vision oder der KIGGS-Kinderstudie –, die bisweilen große Medienresonanz finden und die Diskussion an der „Basis“ entfachen, andererseits sind es aber auch Ereignisse im öffentlichen Raum, etwa der zufällige Videomitschnitt einer Gewaltattacke in der Münchner U-Bahn oder die Äußerungen eines konservativen Bischofs zum geplanten Ausbau früher Betreuungseinrichtungen, welche durch ein entsprechendes Medienecho die öffentliche Erregung in Gang bringen und schließlich dann auch die wissenschaftlichen Experten mit fachkundigen Kommentierungen auf den Plan rufen.

In jüngerer Zeit wurde dieses komplizierte Wechselverhältnis in der Erziehungswissenschaft selbst reflexiv zum Thema gemacht. Etwa in dem von Marotzki und Wigger 2008 herausgegebenen Sammelband „Erziehungsdiskurse“, in dem die Herausgeber in der Einleitung schreiben, die Erziehungswissenschaft sei zugleich „eine empirisch forschende und zeitdiagnostisch kritische Disziplin, indem sie ihre Analysen öffentlicher Diskurse und Diskursmedien präsentiert und kritisch diskutiert“ (Marotzki/Wigger 2008, S. 8). Und Micha Brumlik schreibt im Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen „Gegenbuch“ zu Bernhard Buebs „Lob der Disziplin“, mit dem sich die Autoren direkt in eine aktuelle Erziehungsdebatte eingemischt haben: „Gegenstand der Erziehungswissenschaft ist nicht nur, wie und unter welchen Bedingungen erzogen wird und werden soll, sondern auch, wie und mit welchen möglichen Folgen für Kinder und Jugendliche Erziehungsprozesse in der Öffentlichkeit dargestellt oder vorgeschlagen werden“ (Brumlik 2007, S. 7).

Der „pädagogische Zeitgeist“ während des (Sonder-)Pädagogik-Studiums Anfang der 1980er Jahre in Würzburg

Die Kommunikationssituation an pädagogischen und sonderpädagogischen Ausbildungsstätten stellt noch einmal eine eigene Gemengelage zwischen wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen pädagogischen Diskursen dar. Die Studierenden der Pädagogik und Sonderpädagogik sind naturgemäß pädagogischen Fragen gegenüber besonders aufgeschlossen, sie setzen sich in ihrem Studium mit wissenschaftlichen Theorieansätzen und empirischen Studien auseinander, wollen an aktuellen Trends und Entwicklungen partizipieren. Sie bringen aber auch ihre Erfahrungen und Einstellungen aus ihrer Biographie und aus ihrer Alltagswelt mit und auch sie sind natürlich in ihren Vorstellungen über Kindheit und Jugend, über Familie und Schule sowie in ihrem Denken über pädagogische Problemlagen und erzieherische Maßnahmen von ihrer Zeitungslektüre, von ihrem Fernseh- und Internetkonsum und von ihren Diskussionen darüber mit Eltern, Geschwistern und Freunden mindestens ebenso beeinflusst wie von Vorlesungen und Fachbüchern.

In jeder Generation von Pädagogikstudierenden gibt es vermutlich Themen, die besondere Faszinationskraft haben, Bücher, die man gelesen haben muss, um mitreden zu können, Theorieansätze, die als besonders angesagt und spannend gelten, Autoren, denen der Ruf vorauseilt, dass sie besonders wichtig, progressiv und innovativ seien – meist deshalb, weil sie massive Kritik an bestehenden Auffassungen und Verhältnissen vortragen –, und solche, die im Ruf stehen, eher konservativ, bieder oder gar rückschrittlich zu sein. Die jeweiligen studentischen Fachkulturen verstärken und kanalisieren jene Tendenzen und der aufmerksame studentische Novize wird in der Regel ziemlich schnell in die geläufigen Betrachtungs- und Bewertungsschemata „hineinsozialisiert“.

Ich will deshalb hier zu Beginn zunächst ein wenig von der Zeit und von dem Zeitgeist vor nahezu dreißig Jahren Revue passieren lassen, als ich an der Universität Würzburg Sonderpädagogik für das Lehramt mit der Fachrichtung „Verhaltensgestörtenpädagogik“ sowie Diplompädagogik studierte. Ich will mich dabei insbesondere auf Aspekte der Deutung von „Verhaltensstörungen“ konzentrieren, weil sich dort die pädagogischen Grundfragen nach den angemessen Formen des pädagogischen Bezugs und nach den Möglichkeiten der erzieherischen Einwirkung in besonderer Weise zuspitzen. Ich will mehr assoziativ, in einigen knappen Schlaglichtern, Autoren, Titel, Thesen und Trends benennen, die hier während meiner Studienzeit besonders bedeutsam waren. Dass dies insgesamt ein subjektiv eingefärbtes Bild ergeben wird, dass schon Kommilitonen, die zur gleichen Zeit am gleichen Ort den gleichen Studiengang begonnen haben, vermutlich manches anders wahrgenommen und erlebt haben dürften, liegt auf der Hand.

Insgesamt war das Studium der Pädagogik damals noch von einer eher lockeren Prüfungs- und Studienordnung geprägt, die nur sehr vage Angaben darüber machte, aus welchen Themenbereichen bis zur Anmeldung zur Prüfung welche Scheine beizubringen waren. Das Thema „Kerncurriculum“ spielte noch keine Rolle und es bestand noch nicht der Anspruch, dass möglichst alle Studierenden bis zum Ende ihres Studiums möglichst die gleichen „Wissens- und Kompetenzpakete“ erworben haben sollten. Das Studium der Pädagogik war ein klassisches geisteswissenschaftliches Studium mit großen Freiheiten und damit mit der Chance, es sehr stark von eigenen Interessen und Fragen geleitet als persönlichen Bildungsgang zu gestalten. Maßgeblich für die Auswahl der Lehrveranstaltung waren mehr die konkreten Fragestellungen, die den einzelnen Vorlesungen und Seminaren zugrunde lagen, sowie die Faszinations- und Überzeugungskraft, die von den einzelnen Dozenten ausging, als irgendwelche vorgegebenen „Modulinhalte“, die laut Prüfungsordnung zu absolvieren waren. Zugleich war schnell klar, dass es im Feld der Pädagogik über weite Strecken weniger um „gesichertes positives Wissen“ geht, das man „schwarz auf weiß“ nach Hause tragen kann, das man getreulich zu memorieren und bei Prüfungen feinsäuberlich zu reproduzieren hat, als vielmehr um kritische Auseinandersetzung mit konträren Positionen, also um Diskussion, Argumentation und begründete Stellungnahme.

Kapitel 1
Von einstmals intakten erzieherischen Verhältnissen zur „Erziehungskatastrophe“ der Gegenwart? Brauchen Kinder heute wieder mehr Erziehung, Disziplin und Gehorsam?

1 Die mediale Darstellung der gegenwärtigen erzieherischen Lage

In den letzten Jahren fegt ein strenger Wind durch die deutsche Erziehungslandschaft. Allenthalben werden in den öffentlichen Debatten zum Thema Erziehung düstere kulturkritische Niedergangsszenarien ausgebreitet und beschwörende Forderungen nach einer Rückkehr zu mehr Strenge, Autorität und Disziplin erhoben. Die heutigen Kinder und Jugendlichen werden dabei oft ziemlich pauschal in ein recht schlechtes Licht gestellt. Sie seien zu großen Teilen unreif, aufsässig, tyrannisch, verwahrlost, verhaltensgestört, mediensüchtig, gewaltbereit …, ihnen mangele es an traditionellen Tugenden wie Selbstdisziplin, Zurückhaltung, Leistungsbereitschaft, Verlässlichkeit, Engagement, Empathie … Die empirischen Belege dafür, dass die behaupteten Negativtrends tatsächlich zutreffen, sind dabei freilich meist ebenso dürftig wie die Begründungen dafür, warum und inwiefern die geforderten „härteren Gangarten“ in der Erziehung die Dinge zum Besseren wenden könnten.

Dabei stellt sich die Frage, ob die Journalisten und die Bestsellerautoren hier eine verbreitete Stimmung, ein unterschwellig gärendes Unbehagen, eine echte Sorge, die in der breiten Bevölkerung vorhanden ist, aufgreifen und in Titeln, Reportagen und Talkshows zur Sprache bringen, oder ob es umgekehrt so ist, dass die stets primär auf Schlagzeilen, auf Unheil und Skandal fokussierten Medien ihrerseits hier zunächst ein Thema besetzen und entsprechend überzogene Vorstellungen, Deutungen und Forderungen dann in die Köpfe der Menschen transportieren. Vermutlich handelt es sich um einen wechselseitigen Prozess mit einer entsprechenden Steigerungsdynamik.

Fragt man den Mann, die Frau auf der Straße, so gibt es jedenfalls kaum einen Zweifel daran, dass die heutigen Kinder mehr Erziehung, mehr Grenzen, mehr Disziplin bräuchten. Infratest hat im Auftrag des Spiegels im Juli 2005 (also noch vor der Bueb-Debatte) 1000 Personen die Frage vorgelegt: „Erziehen Eltern ihre Kinder im Großen und Ganzen zu autoritär, oder lassen sie ihren Kindern zu viel Freiraum?“ Nur 5 % der Befragten waren der Meinung, dass Eltern heute eher zu autoritär erzögen, 13 % hatten keine Meinung oder hielten das Verhältnis für genau richtig. Aber 82 % waren der Meinung, dass heutige Eltern ihren Kindern zu viel Freiraum lassen (TNS Infratest, Juli 2005).

Orientiert man sich an den breitenwirksamen erziehungsorientierten Fernsehformaten, dann gibt es auch hier keinen Zweifel. Die Supernanny rückt in der Regel aus, um mittels klarer Regeln und Rollenanweisungen Struktur und Ordnung in chaotische Familienverhältnisse zu bringen und erreicht damit hohe Einschaltquoten. In einer Big-Brother-Variante werden Teenager, die „außer Kontrolle“ geraten sind, in ein Erziehungscamp in die Wüste von Utah verfrachtet, in dem strenge Disziplin, Autorität, Härte und Unterwerfung unter ein rigides Regelsystem herrschen – zur Resozialisierung der Jugendlichen einerseits und zur voyeuristischen Unterhaltung des heimischen Publikums andererseits. In einem ähnlichen Format mit dem Titel „Die strengsten Eltern der Welt“ werden aufsässige Teenager aus Deutschland für eine Woche zu besonders strengen deutschen Emigrantenfamilien in Alaska, Argentinien, Australien oder sonst wo auf der Welt verfrachtet und in der fremden Umgebung dann gefilmt. Der entsprechende „Suchaufruf“ an deutschsprachige Auswandererfamilien in aller Welt, den man im Internet finden kann, macht auf interessante Art und Weise das „Konzept“ der Produzenten – und damit das Zuschauerinteresse, auf das mit dieser Sendung geschielt wird, deutlich. Zugleich auch die Machart solcher „Dokumentationen“:

„Liebe Familien,

Für ein TV-Projekt suchen wir weltweit nach deutschsprachigen Familien, die Lust hätten zwei deutsche Teenager für 7 Tage bei sich aufzunehmen und in ihren Alltag zu integrieren. Sie sollten selbst auch ein Teenager-Kind haben. Die deutschen Teenies sind typisch pubertierende Jugendliche, die respektlos sind, sich nicht an die Regeln der Eltern halten, nur vor dem Computer sitzen, sich nicht an vorgegebene Zeiten halten, etc.

Innerhalb der Doku wird das Ganze ungefähr so vonstatten gehen: Die Eltern der Teenies schlagen die Hände über dem Kopf zusammen und sind am Ende ihres Lateins. Die Kinder werden in die große weite Welt geschickt, in eine deutschsprachige Familie, in der Regeln, Werte, Religion, Ordnung, Pünktlichkeit, Erziehung, etc. eine sehr wichtige und große Rolle spielen. Die Teenies sollen sich nun für sieben Tage anpassen und am Ende des Tages natürlich auch mit mehr Einsehen und Verständnis in ihre eigenen Familien zurückkehren.“

(http://wireltern.eu/forum/die-strengsten-eltern-der-welt-tvdoku-sucht-familie. html 4.4.2009)

Auch die populären abendlichen Talkshows haben das Erziehungsthema in letzter Zeit häufiger aufgegriffen etwa unter Titeln wie: „Starke Hand gesucht?“ am 18.9. 2008 bei Maybrit Illner, „Kinder Tyrannen, Eltern Weicheier – Fehlt die harte Hand?“ am 3.3. 2009 bei Sandra Maischberger, „Die Kindergangster – Harte Hand statt sanfter Worte“ am 5.4.2009 bei Anne Will, „Jugend außer Rand und Band“ am 8.6. 2009 bei Reinhold Beckmann, „Kinder verzogen, Eltern Versager“ am 10.11.2009 bei Sandra Maischberger oder „Halt’s Maul, Alter! Eltern am Rande des Nervenzusammenbruchs?“ am 9.2. 2010 bei Sandra Maischberger.

Fragt man die diversen „Erziehungsexperten“ der schreibenden Zunft, die sich in den letzten Jahren mit mehr oder weniger gehaltvollen Analysen der erzieherischen Lage in Deutschland und mit entsprechenden Empfehlungen zur Behebung der Missstände zu Wort gemeldet haben (und die deshalb als Gäste gern in die oben genannten Talkshows eingeladen werden), dann gibt es ebenfalls kaum einen Zweifel. Dort ist von einer „Elternkatastrophe“ (Gaschke 2001), einer „Erziehungskatastrophe“ (Gaschke 2002), einem „Erziehungsnotstand“ (Gerster/Nürnberger 2001), einer „Erziehungsvergessenheit“ (Ahrbeck 2004) die Rede. Es wird das „Lob der Disziplin“ gesungen und mehr Autorität eingefordert (Bueb 2006) bzw. „Die Abschaffung der Kindheit“ durch eine zu partnerschaftliche Haltung der Eltern beklagt, die zur Folge habe, dass Kinder zu Tyrannen werden (Winterhoff 2008, 2009).

Kann es also noch irgendeinen Zweifel geben, wenn sich der „Mann auf der Straße“, die Experten im Fernsehen und die pädagogischen Bestsellerautoren in der Beurteilung der pädagogischen Lage der Gegenwart so einig sind? Macht es Sinn, sich gegen diesen pädagogischen Zeitgeist zu stemmen, wenn dieser mehr oder weniger unisono die Rückkehr zu mehr Strenge und zu „Zucht und Ordnung“ fordert? Ich will es dennoch versuchen und im Folgenden einige Anmerkungen, Zweifel, Rückfragen und Differenzierungen bezüglich der derzeit so verbreiteten Behauptungen vom Erziehungsnotstand und von der dringlichen Notwendigkeit, von mehr Autorität und Disziplin formulieren.

2 Wellen der Erziehungskritik

Der erzieherische Zeitgeist ist wetterwendisch und hat seine eigenen Gezeiten. Warum welche erzieherische Grundüberzeugungen zu bestimmten Zeiten besondere Zustimmung beim Publikum finden, ist meist nicht recht auszumachen. In der Regel hat dieser erzieherische Zeitgeist wenig mit klaren empirischen Erkenntnissen – weder bezüglich der Ursachen der beschriebenen pädagogischen Krisenszenarien noch bezüglich der zu erwartenden Folgen der empfohlenen „neuen“, „besseren“ Erziehungshaltungen und -maßnahmen zu tun. Er hat nicht einmal viel mit den maßgeblichen Strömungen und Entwicklungen innerhalb der Erziehungswissenschaft selbst zu tun, sondern eher mit atmosphärischen Verschiebungen in der gesellschaftlichen Großwetterlage.

In der Regel kommen Erziehungskritik und Kulturkritik als siamesische Zwillinge daher. Einerseits wird die kritisierte zu lasche, liberale, freiheitliche bzw. die zu harte, strenge, disziplinorientierte Erziehung als Ausdruck gesellschaftlicher Degenerations- und Desorientierungstendenzen bzw. eben als Ausdruck totalitärer Strukturen, autoritärer Gesinnung, patriarchaler Mentalität gebrandmarkt. Andererseits wird damit gleichzeitig die Hoffnung beschworen, mit einer veränderten Erziehung – und d. h., je nachdem, mit einer strikteren, wieder stärker auf Disziplin, Ordnung und Gehorsam setzenden bzw. einer freiheitlicheren, stärker auf Selbstbestimmung, Diskussion und Konsens setzenden Erziehung – könne gleichzeitig auch ein bedeutsamer Beitrag zur Veränderung der Gesellschaft im erwünschten Sinne geleistet werden.

Derzeit erleben wir offenbar wieder einen Umschwung des Pendels in Richtung auf den „autoritären Pol“. Solche Pendelbewegungen gab es in den letzen Jahrzehnten häufiger. Die antiautoritäre Bewegung der ’68er brachte eine massive Kritik der bisherigen traditionellen Erziehungsvorstellungen, die von selbstverständlichen Gehorsamsforderungen, von Unterwerfungsritualen und Strafpraktiken durchdrungen war und bei der die Sekundärtugenden eine große Rolle spielten, mit sich. Diese wurde nun als eine „Erziehung zur Diktatur“ (Bott 1970) gebrandmarkt. Das Buch von Neill über seine Schule in Summerhill, das schon lange vorher weitgehend unbeachtet auf dem deutschen Buchmarkt erhältlich war, wurde unter dem neuen Titel „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung“ und getragen vom 68er Zeitgeist plötzlich zum pädagogischen Bestseller (Neill 1969, 200446).

Als Gegentendenz gegen die in den 1970er Jahren tatsächlich stattfindenden Liberalisierungs-, Emanzipations- und Egalisierungsbestrebungen in der Pädagogik gab es dann 1978 die Thesen des Forums „Mut zur Erziehung“, die unter anderem von Hermann Lübbe, Robert Spaemann und Golo Mann unterstützt wurden, welche die verderbliche Wirkung der antiautoritären und emanzipatorischen Erziehungslehren verurteilten und die alte erzieherische Ordnung wieder herstellen wollten. In diesen Thesen heißt es unter anderem: „Wir wenden uns gegen den Irrtum, die Tugenden des Fleißes, der Disziplin und der Ordnung seien pädagogisch obsolet geworden, weil sie sich als politisch mißbrauchbar erwiesen haben. In Wahrheit sind diese Tugenden unter allen politischen Umständen nötig. Denn ihre Nötigkeit ist nicht system-spezifisch, sondern human begründet“ (Forum Mut zur Erziehung 1978).