Die Reihe
»Psychotherapie in Psychiatrie und Psychosomatik«

Der psychotherapeutische Ansatz gewinnt gegenwärtig in der Psychiatrie, neben dem dominierenden neurobiologischen und psychopharmakologischen Modell (»Biologische Psychiatrie«), wieder zunehmend an Bedeutung. Trotz dieser Renaissance gibt es jedoch noch vergleichsweise wenig aktuelle Literatur, die psychiatrische Störungsbilder unter vorwiegend psychotherapeutischem Fokus beleuchtet.

Die Bände dieser neuen Reihe dokumentieren aktuelle Entwicklungen in der Psychotherapie und greifen folgende Aspekte auf:

Die Bände dieser Reihe sind eng verbunden mit einer Tagungsreihe, die wir in Münsterlingen am Bodensee durchführen. Die 1839 gegründete Psychiatrische Klinik Münsterlingen – heute akademisches Lehrkrankenhaus – hat, in der schweizerischen psychiatrischen Tradition stehend, eine starke psychotherapeutische Ausrichtung und in den letzten Jahren auch eine störungsspezifische Akzentuierung erfahren. Hier entwickelte und entdeckte der Psychoanalytiker Hermann Rorschach um 1913 den Formdeuteversuch und der phänomenologische Psychiater Roland Kuhn im Jahr 1956 mit Imipramin das erste Antidepressivum.

Die Bände der Reihe »Psychotherapie in Psychiatrie und Psychosomatik« sollen jedoch mehr als reine Tagungsbände sein. Es werden aktuelle Felder aus dem Gebiet der gesamten Psychiatrie und Psychosomatik praxisnah dargestellt. Eine theoretische Vollständigkeit wie bei Lehrbüchern wird nicht angestrebt. Der Schwerpunkt liegt weniger auf der Ätiologie oder Diagnostik als auf den psychotherapeutischen Zugängen in schulenübergreifender und störungsspezifischer Sicht.

Gerhard Dammann, Bernhard Grimmer und Isa Sammet

Vorwort

In den westlichen Gesellschaften verändern sich die Vorstellungen von den Entwicklungsaufgaben, die typischerweise im Lebensabschnitt der Jugend und des jungen Erwachsenenalters zu bewältigen sind. Insbesondere der Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen scheint heute mehr denn je auf individuell verschiedene Art und in unterschiedlichem Tempo vor sich zu gehen. Dabei wird es immer unklarer, was denn Erwachsen-sein in einer einerseits zunehmend überalterten und andererseits der Hoffnung auf ewiger Jugendlichkeit verfallenen Gesellschaft eigentlich impliziert.

Noch nie scheint es so viele Möglichkeiten für die berufliche und persönliche Identitätsfindung gegeben zu haben wie heute. Dies stellt ein hohes Maß an potenzieller Wahlfreiheit dar, aber auch große Anforderungen an die Flexibilität und Kompetenz des Einzelnen, den eigenen, viel weniger als früher vorgezeichneten Lebensweg zu gestalten. Durch die partielle Auflösung traditioneller Strukturen und Bindungen in Familie und Gesellschaft wächst zugleich die Gefahr, haltloser zu werden und sich im Explorationsprozess von Lebenswegen zu verlieren. Die Lebensphase des Erwachsenwerdens, die Adoleszenz, hat sich in diesem Kontext deutlich verlängert. Das seit einigen Jahren diskutierte Konzept des »Emerging Adulthood« beschreibt diese Ausdehnung der Spätadoleszenz als eine eigenständige Entwicklungsphase bis zum Alter von Mitte bis Ende 20.

Auch wenn der große Teil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in diesem Alter bereits einen sehr hohen Entwicklungsstand aufweist und deshalb nicht verallgemeinernd von einer pathologisch prolongierten Adoleszenz gesprochen werden kann, gibt es gleichzeitig eine Vielzahl von Spätadoleszenten, die schwere Identitäts- und Selbstwertkrisen erleben oder in diesem Alter ernsthaft psychisch erkranken und behandlungsbedürftig sind.

Das psychiatrische und psychotherapeutische Versorgungssystem war lange Zeit nicht optimal auf diese Gruppe der Spätadoleszenten zugeschnitten. Für die Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie waren Adoleszente oft in ihrer Entwicklung schon zu fortgeschritten. Die gemeinsame Behandlung mit deutlich Jüngeren konnte dann einen regressiven Sog auslösen und weitere altersgemäße Entwicklungsschritte verhindern. Auf Psychotherapiestationen für Erwachsene hingegen gerieten sie häufig entweder in die Rolle der von den älteren Mitpatienten behüteten und versorgten Kinder oder aufgrund ihres oppositionellen und provokativen Verhaltens sowie dem altersgemäßen Kommunizieren über (Probe-)Handlungen in Konflikte mit den Behandlern, was nicht selten zu disziplinarischen Entlassungen oder im ambulanten Bereich zu Therapieabbrüchen führte.

Ihre hohe Ambivalenz gegenüber intensiven und stabilen therapeutischen Beziehungen, die raschen Stimmungswechsel, Abbrüche und Neubeginne im Rahmen der Identitätssuche stellen hohe Anforderungen an die Flexibilität der Therapeuten und machen die Arbeit mit Spätadoleszenten oft wenig planbar.

Mit dem zweiten Band unserer Reihe Psychotherapie in Psychiatrie und Psychosomatik widmen wir uns dieser Patientengruppe der Spätadoleszenten. Renommierte Experten, Forscher und Kliniker beleuchten praxisorientiert verschiedene Entwicklungsaspekte, psychische Störungen sowie deren Behandlung und geben einen Einblick in die spezifische stationäre und ambulante Psychotherapie Adoleszenter.

Bernhard Grimmer

Gerhard Dammann

Isa Sammet

Münsterlingen, im Juli 2012

Entwicklungsaufgaben

1 Entwicklungspsychologie der Adoleszenz:
Erwachsen werden im 21. Jahrhundert

Inge Seiffge-Krenke

Die Entwicklungspfade zum Erwachsenwerden haben sich in allen westlichen Industrienationen, so auch in Deutschland und der Schweiz, auf bemerkenswerte Weise verändert. Schon seit mehreren Dekaden ist zu bemerken, dass sich die Adoleszenz durch den zeitlich früheren Beginn der Pubertät auf Kosten der Kindheit ausgedehnt hat. Die in den letzten zehn Jahren neu entstandene Entwicklungsphase, die zwischen Jugendalter und Erwachsenenalter liegt, das sogenannte »Emerging Adulthood«, ist dadurch gekennzeichnet, dass typische Marker für das Erwachsenenalter (Auszug aus dem Elternhaus, der Start in das Berufsleben, das Eingehen fester Partnerbeziehungen bzw. Heirat und Familiengründung) nicht länger einer Standardsequenz folgen und zeitlich hinausgeschoben werden. Es handelt sich keineswegs um eine »pathologisch prolongierte Adoleszenz«, sondern für die meisten jungen Leute um eine normative Entwicklung, die zudem Konsequenzen für die Elternschaft und die therapeutische Arbeit hat. Auch die Eltern gehen mit ihren Kindern anders um als noch vor einigen Jahrzehnten und sie sehen sich einer längeren Elternschaft gegenüber. Dieser Beitrag verdeutlicht, dass das Erwachsenwerden nicht nur von harten Fakten wie Geschlecht, sozialem Status, wirtschaftlicher Situation und kulturellem Hintergrund beeinflusst wird, sondern zahlreiche psychologische Faktoren Einfluss nehmen. Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass Kinder und Eltern heute mit Individuation und Verbundenheit anders umgehen als noch vor einigen Dekaden, eine Veränderung, die auch für die therapeutische Arbeit wichtig ist und diese – nicht selten! – schwierig macht.

1.1 Noch lange nicht erwachsen: Was sind die Indikatoren?

Damit Therapeuten sinnvoll arbeiten können, etwa mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, aber auch in der Elternarbeit, wären klare Strukturen und Altersmarkierungen für die kindliche Entwicklung hilfreich. Die Einschätzbarkeit des Verlaufs der kindlichen Entwicklung, der Anfang und das Ende bestimmter Entwicklungsphasen, die für frühere Generationen so vertraut waren, sind inzwischen jedoch alles andere als klar. Mehr noch, die gesamten Lebensphasen haben sich ineinander verschoben und die Generationsgrenzen sind stark verwischt. Diese Entwicklung betrifft alle Altersphasen, besonders aber die jüngeren Altersgruppen. Die Einflüsse gesellschaftlicher Veränderungen waren schon immer bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen am ehesten zu beobachten bzw. wurden von ihnen auch verstärkt aufgegriffen und zum Anstoß für weitere gesellschaftliche Umwälzungen. Das sieht die Psychoanalyse positiv (»Unreife ist eine Kostbarkeit des Jugendalters. Sie bringt die aufregendsten Formen geistiger Kreativität, neue unverbrauchte Gefühle und Lebenspläne mit sich. Die Gesellschaft muss bei den Wünschen und Hoffnungen der Nichtverantwortlichen aufgerüttelt werden«, Winnicott 1971, S. 165), es bleibt allerdings die Frage, ab wann das Erwachsenenalter mit Selbstverantwortlichkeit zeitlich zu verorten ist.

1.1.1 Entdecken einer neuen Lebensphase

Vor einigen Jahren wurde eine neue Entwicklungsphase entdeckt, die zwischen Jugendalter und Erwachsenenalter steht, das so genannte »Emerging Adulthood«, die Periode zwischen 18 und 25 Jahren (Arnett 2004). Charakteristisch ist, dass es zum einen Verschiebungen in objektiven Markern des Erwachsenenalters gibt wie Heirat, Berufseintritt und Familiengründung. Die psychologischen Kriterien des Übergangs zeigen aber auch, dass sich junge Leute heute oftmals noch nicht wirklich erwachsen fühlen. Besonders deutlich ist innerhalb der letzten zehn Jahre zu sehen, dass junge Leute länger zuhause wohnen, seltener und später heiraten und oftmals noch keinen festen Vollzeitjob vor dem Alter von 30 Jahren haben. Für diese Entwicklungsphase ist eine große Lernfähigkeit charakteristisch und ein sehr großer Selbstbezug. Zugleich kann man eine große Diversität bemerken: Ein sehr breites Spektrum gilt als »normal« – von der berufstätigen Mutter zweier Kinder bis zum »ewigen Studenten«. Diese Diversität und das Ausprobieren neuer Identitätsentwürfe in Bezug auf Beruf und Partnerschaft werden auch gesellschaftlich anerkannt.

Auffällig ist, dass nur etwa 25 % der jungen Leute zwischen 18 und Ende 20 sich als erwachsen betrachten (McNamarra et al. 2009). Das sehen ihre Eltern übrigens genauso (Seiffge-Krenke 2010a). Côté und Schwartz (2002) haben herausgefunden, dass die Identitätskrise, die für Erikson noch zentral für die Adoleszenz war, sich in den letzten Jahren nach hinten verlagert hat und in der neuen Entwicklungsphase des Emerging Adulthood stattfindet. Vielen jungen Leuten ist also noch sehr unklar, wer sie sind, und wer sie sein wollen, und das empfinden ihre Eltern genauso.

1.1.2 Generation vielleicht: Lieber Kind bleiben als Kinder kriegen

Vor einigen Jahrzehnten wurden für das junge Erwachsenenalter drei wichtige Entwicklungsaufgaben von Havighurst (1953) als relevant erachtet, nämlich die Etablierung eines eigenen Haushalts, die Entwicklung fester Partnerschaften und der Einstieg in den Beruf. Dies streben junge Leute auch heute noch an (Seiffge-Krenke und Gelhaar 2006), aber die Zeiten bis zur Erreichung dieser Ziele haben sich stark ausgedehnt. In unserer eigenen Längsschnittstudie, in der wir Familien jährlich untersuchten, und zwar vom 14. Lebensjahr der Kinder an bis zu deren 30. Lebensjahr, wird sehr deutlich, dass der Auszug aus dem Elternhaus in den Altersstufen 21 bis 25 stark ansteigt (von 54 % auf 81 %), dass aber im Alter von 25 Jahren noch rund 16 % Nesthocker vorhanden sind. Während des gleichen Zeitraums waren die jungen Leute sehr engagiert in Partnerschaften, so waren etwa im Alter von 20 bis 25 Jahren zwischen 54 und 62 % in einer Partnerschaft. Im Alter von 25 Jahren haben erst 17 % gearbeitet, 40 % waren noch in der Lehre und 43 % studierten.

Diese Ergebnisse entsprechen recht gut dem Mikrozensus, demzufolge noch jeder dritte Deutsche nach dem 25. Lebensjahr bei den Eltern wohnt. Im Alter zwischen 21 und 27 Jahren sind auf der Basis von Mikrozensusdaten jeweils etwa nur 40 % der Alterskohorte berufstätig. Auch das Heiratsalter hat sich deutlich nach oben verlagert. Während in der Kohorte von 1950 noch 50 % mit 24 Jahren verheiratet waren, so waren dies 2009 nur noch 8 %. Die Elternschaft findet, wenn überhaupt, in den meisten europäischen Ländern um das 30. Lebensjahr statt. Chisholm und Hurrelmann (1995) sprechen, was die Heirat und den Übergang zur Elternschaft angeht, von einer sozialen Retardierung. Einige Familiensoziologen setzen die Geburt des ersten Kindes generell mit dem Beginn des Erwachsenenlebens gleich. Auch aus der Sicht der jungen Leute gilt Elternschaft als der Marker für das Erwachsensein. In unserer Längsschnittstudie waren im Alter von 27 Jahren nur 5 % verheiratet und 4 % hatten Kinder. Fast alle in dieser Gruppe waren schon länger berufstätig. Insgesamt finden wir eine Verlagerung des Heiratsalters ins 3. Lebensjahrzehnt generell in Europa sowie eine Zunahme von nicht ehelichen Lebensformen.

Für die heutige Generation ist charakteristisch, dass sie viel stärker als frühere Generationen eine extensive Explorationsphase erlebt, in der sich ein Berufsbild herauskristallisiert, das dann später spezialisiert bzw. durch weitere berufliche Aktivitäten verändert und ergänzt wird. Immerhin fast 60 % der jungen Leute beurteilten die Situation der eigenen Generation deutlich schwieriger als jene früherer Jahrgänge (Seiffge-Krenke und Gelhaar 2006). Als typische Schwierigkeiten wurden die hohen Arbeitslosenzahlen, zu viele Wahlmöglichkeiten und eine daraus resultierende Orientierungslosigkeit sowie höhere berufliche Ansprüche von den jungen Leuten genannt. Partnerschaften sind häufig vorhanden, wenn auch mit deutlich geringerem Verpflichtungsgrad als bei früheren Generationen.

1.2 Verfrühung in den adoleszenzspezifischen Aufgaben und Retardierung in den erwachsenenspezifischen Aufgaben

In diesem Kontext ist es sinnvoll, sich die Entwicklung in der Adoleszenz kurz zu vergegenwärtigen, denn sie stellt das Fundament dar, auf dem sich die Entwicklung in der neuen Phase des »Emerging Adulthood« vollzieht. Von besonderer Relevanz sind dabei die Diversität in der körperlichen Entwicklung und die immer stärker relational bezogene Identitätsentwicklung. Auf dem Boden von gesamtgesellschaftlichen Veränderungen – und begünstigt durch ein bestimmtes Erziehungsverhalten – findet dann die eigentliche Identitätsentwicklung, die von Erikson (1968) als typisch für das Jugendalter angesehen wurde, heute zunehmend im jungen Erwachsenalter statt.

1.2.1 Identitätsentwicklung: Immer stärkere Bezogenheit

In seiner Arbeit »Insight and Responsibility« beschreibt Erikson (1964), dass Identität nicht einfach die Summe der Kindheitsidentifikation ist, sondern eine neue Kombination von alten sowie neuen Identifikationen und Fragmenten (»but rather a new combination of old and new identification fragments«, Erikson 1964, S. 90). Dieser Prozess ist reich an Krisen und gefährlich. Schon zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften gab es deshalb institutionalisierte psychosoziale Schonzeiten oder Aufschübe, in denen junge Menschen die Möglichkeit der Selbstfindung ausprobieren konnten. Wie wir beschrieben haben, ist diese »Schonfrist« inzwischen besonders ausgedehnt worden.

Ab der Adoleszenz wird die Identitätsentwicklung immer stärker durch den Einfluss anderer bestimmt und verändert. Jugendliche haben nicht nur die Fähigkeit, differenziert über sich nachzudenken (McLean und Breen 2009), wir finden zugleich kognitive Veränderungen bei der Verarbeitung von Beziehungsinformationen, die einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Identität im Jugendalter haben. Jugendliche können hoch komplexe soziale Vergleichsprozesse und Antizipationen des Denkens und Verhaltens von Interaktionspartnern nachvollziehen (Seiffge-Krenke 2010b). Auf diese Weise können sie sich selbst und andere sehr differenziert in Beziehung setzen. Zugleich können sie sich in Vergangenheit und Zukunft sehen (»self in time«). Die weitere Identitätsentwicklung im Jugendalter beinhaltet die Neuorientierung durch den veränderten Körper, nun müssen sich die Jugendlichen auch stärker im Verhältnis zu anderen definieren (Bedeutung der Peergruppe). Immer stärker greifen sie auf psychologische Charakterisierungen für sich selbst zurück und sind in der Lage, negative und positive Selbstaspekte zu integrieren. Diese Integrationsleistung ist häufig noch unsicher, man kann dies an der Spaltung in einen handelnden und einen beobachtenden Teil erkennen. Zur Identitätsexploration dienen Tagebücher, Homepages, Blogs und Videospiele.

1.2.2 Beängstigende körperliche Entwicklungen in der Adoleszenz

Von Laufer und Laufer (1989) wurde in Anlehnung an die Grundidee Freuds die Zentralität der Integration der physisch reifen Genitalien ins Körperkonzept für die weitere Entwicklung herausgearbeitet bzw. der Entwicklungszusammenbruch, wenn dies nicht gelingt. Entscheidend ist, dass bisherige Fantasien (schwängern, empfangen) jetzt Realität werden können, zugleich müssen endgültige Identifikationen und Gegenidentifikationen mit den Eltern erfolgen, ein männlicher oder weiblicher Körper angenommen werden.

Was ist daran so beängstigend? Zunächst ist es die Dramatik und die unterschiedliche Geschwindigkeit, die die körperliche Reife für den einzelnen Jugendlichen hat. Während Jungen und Mädchen vor der Pubertät ungefähr gleich aussehen, ändert sich dies jetzt dramatisch. Wir finden einen starken Wachstumsschub mit 12 Jahren bei Mädchen bzw. 14 Jahren bei Jungen und massive hormonelle Veränderungen, die schon ab dem Alter von 9 Jahren nachts einsetzen können. Insbesondere der asymmetrische Wachstumsschub, d. h. das ungleichmäßige Wachstum der Körperteile (mit den relativ früh wachsenden Beinen, Händen und Füßen, auch der Nase), gibt Anlass zu viel Irritation. Es ist für männliche wie weibliche Jugendliche sehr besorgniserregend, dass sie diesem Geschehen hilflos ausgeliefert sind (sie sind also nicht Agent ihrer Entwicklung) und dass sie unterschiedlich viel Zeit für die Verarbeitung und Integration haben aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeit. Unterschiede in der körperlichen Reife sind nämlich viel charakteristischer als Uniformität. So kann bei weiblichen Jugendlichen die Zeit von den ersten Anzeichen pubertärer Reife bis zur vollständigen Entwicklung zwischen 1,6 und 6 Jahren (!) schwanken. Entsprechend haben früh- und spätreife Jugendliche unterschiedlich viel Zeit für die Integration dieser physisch reifen Genitalien in ihr Körperselbstbild.

1.2.3 Fortschritte in der Beziehungsentwicklung

Mädchen entwickeln schon früh in ihren gleichgeschlechtlichen Freundschaften Intimität, und zwar parallel zu der Phase, in der sie beginnen, ihre Identität neu zu konstruieren (Montgomery 2005). Obwohl auch in Jungenfreundschaften in der Adoleszenz Intimität z. B. durch den Austausch persönlicher, privater Informationen wichtig wird (Seiffge-Krenke und Seiffge 2005), befinden sich diese in einem gewissen Defizit, weil gemeinsame, geteilte Handlungen wichtiger bleiben und sie entsprechend ein in etwa gleich hohes Niveau der Intimität rund zwei Jahre später erreichen, zu Ende der Adoleszenz.

Es sind aber nicht nur die Freunde, die hier »Entwicklungshelfer« (Seiffge-Krenke 2010b) sind, auch die Eltern fördern durch unterschiedliche Sozialisationsmuster diese Entwicklung. Beispielsweise fördern sie die Identität ihrer Kinder nachhaltig, indem sie zunehmend Autonomie zulassen und den Ablösungsbestrebungen ihrer Kinder wohlwollend gegenüberstehen (Steinberg 2001) – dies tun sie für Töchter und Söhne auf unterschiedliche Weise (Seiffge-Krenke 1997). Die Aufnahme romantischer Beziehungen markiert zusätzlich den Objektverlust, der nach Blos (1973) vor allem ein innerer Objektverlust ist. Im Zuge der stärkeren finanziellen und emotionalen Abhängigkeit kommt dem romantischen Partner heute oft eine wichtige Markerfunktion für Autonomie zu.

Bei den frühen Beziehungen spielen das Selbst, der eigene Körper und der Status in der Gruppe eine große Rolle. Die Beziehungen sind obsessiv, häufig sexuell getönt, von einer echten Reziprozität aber weit entfernt, und dauern in der Regel nur kurz an. Beim Knüpfen von Kontakten und der Verarbeitung der vielen Trennungen assistieren die besten Freunde. Nach unseren eigenen Studien entstehen dyadische Beziehungen von hoher Affektivität und Nähe erst in der mittleren bis späten Adoleszenz (etwa 17 bis 19 Jahre). Jetzt definieren sich beide Partner auch als Paar und gehen gemeinsam aus; die Beziehungen dauern länger, haben aber durchaus etwas Idealistisches (Seiffge-Krenke 2003). Erst etwa mit Anfang/Mitte 20 lässt die Idealisierung nach, die Beziehung zu einem (möglicherweise neuen) Partner enthält mehr Tiefe und das Paar handelt zunehmend mehr Verbundenheit, aber auch Individualität in der Beziehung aus, entwickelt sich also in Richtung auf eine intime Partnerbeziehung.

1.2.4 Verfrühung in den adoleszenzspezifischen Aufgaben und Retardierung in den erwachsenenspezifischen Aufgaben

Wir fanden in unserer eigenen Studie, dass die meisten jugendspezifischen Entwicklungsaufgaben nach Havighurst (wie Entwicklung eines reifen Körperkonzepts, Aufbau von engen Freundschaftsbeziehungen, Aufbau von romantischen Beziehungen, Autonomie von den Eltern) bereits im Alter von 14 Jahren bewältigt sind. Signifikante Anstiege sind bis zum Alter von 17 Jahren weiterhin zu verzeichnen, allerdings ist das Ausgangsniveau schon im Alter von 14 Jahren sehr hoch. Demgegenüber zeigt die weitere Entwicklung einen rasanten Bruch insofern, als Entwicklungsaufgaben des jungen Erwachsenenalters (wie Etablierung eines eigenen Haushalts, die Entwicklung fester Partnerschaften und der Einstieg in den Beruf) auf einem sehr niedrigen Niveau beginnen, d. h. praktisch noch nicht realisiert sind, und erst allmählich über die Zeit bis zu den Mittzwanziger Jahren ansteigt (Skaletz und Seiffge-Krenke 2010). Es ist offenkundig so, dass jugendspezifische Entwicklungsaufgaben sehr viel früher bearbeitet werden als etwa noch zu Havighursts (1953) Zeiten, erwachsenenspezifische aber noch lange nicht.

1.3 »Identitätskrise« im jungen Erwachsenenalter und Entpathologisierung des verlängerten Übergangs

Durch die vorangegangenen Ausführungen ist deutlich geworden, dass Jugendliche in nicht klinischen Stichproben eine beeindruckende Entwicklung vollziehen und die Aufgaben ihrer Entwicklungsphase energisch und aktiv angehen. Ihr hoher Entwicklungsstand ist beeindruckend, und auch ihr Niveau der Stressbewältigung ist im internationalen Vergleich sehr gut (Seiffge-Krenke 2006a). Zugleich wurde aber auch die große Diversität von Entwicklungsverläufen deutlich. Dieses Phänomen wird nun noch deutlicher in der Phase des »Emerging Adulthood«, wo gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen, häufig auch in Form von Barrieren, die eigene Entwicklung beeinträchtigen und dem einzelnen Individuum unterschiedlich viel Entwicklungszeit bleibt.

1.3.1 Verschiebung der Identitätskrise ins junge Erwachsenenalter

Für die Psychoanalyse ist das Identitätskonzept von Erikson seit Jahrzehnten unvermindert bedeutsam (Conzen 2010), und es ist auch für die in diesem Artikel vertretene These der Verlängerung des Jugendalters unmittelbar relevant. Für Erikson (1968) erfolgte zwar die Identitätsentwicklung das ganze Leben lang, schwerpunktmäßig hat er sie aber in der Adoleszenz verankert. In seiner Konzeption muss der Jugendliche (13. bis 18. Lebensjahr) auf der Stufe 5 (»Identität vs. Rollendiffusion«), für verschiedene Bereiche ein Gefühl der Identität für sich erarbeiten, sowohl in Bezug auf das, wer er oder sie ist, als auch in Bezug auf das, was er oder sie in der Zukunft sein wird. Neben der Frage »Wer bin ich?«, wird zusätzlich die Frage bedeutsam: »Wer werde und wer will ich sein?« In Stufe 6 (19. bis 25. Lebensjahr; »Intimität vs. Isolierung«) kann der junge Erwachsene auf der Basis einer entwickelten Identität beginnen, intime Beziehungen aufzubauen. Wenn dies nicht gelingt, besteht die Gefahr einer relativen Isolation. Stufe 6 »Intimität vs. Isolation« baut also auf dem zuvor entwickelten Gefühl der Ich-Identität des jungen Erwachsenen unmittelbar auf.

Gegenwärtig arbeiten – von Eriksons Ideen ausgehend – in Europa und Nordamerika verschiedene Forschergruppen an der Erforschung der Identität. Sie haben eindrucksvolle Forschungsbefunde zusammengestellt, die teilweise die Theorie von Erikson bestätigen, die aber auch zu einer Erweiterung und Adaptierung an die gegenwärtigen Lebensumstände geführt haben. Auffällig ist, dass alle heutigen Identitätskonzeptionen zwischen den beiden Dimensionen Exploration und Commitment unterscheiden: Auf eine Phase der Exploration und Erkundung muss letztlich auch eine Verpflichtung für einen bestimmten Identitätsentwurf, ein Commitment, erfolgen. Beide Dimensionen, die Exploration und das Commitment, stehen für den beruflichen und den partnerschaftlichen Bereich der Identität. Ein weiteres wichtiges Ergebnis dieser zahlreichen Forschungsaktivitäten ist die Entpathologisierung des zeitlich verlängerten Übergangs zum Erwachsenenalter.

James Marcia (1966, 1993) setzte Eriksons Idee als Erster empirisch um. Seine Statusdiagnostik unterscheidet vier verschiedene Identitätsstatus, die sich aus verschiedenen Mischungsverhältnissen von Exploration und Commitment ergeben. Jungen Leuten, die eine Phase des Ausprobierens durchlaufen und sich dann hinterher beispielsweise zum beruflichen Engagement in einem bestimmten Bereich entschließen, schrieb er eine Achieved Identity (erarbeitete Identität) zu. Eine andere Gruppe, die sehr stark exploriert, sich aber nicht festlegen möchte, befand sich seiner Meinung nach im Moratorium. Eine dritte Gruppe exploriert kaum, sondern legt sich relativ schnell und ohne nach Alternativen zu suchen, häufig auf einen Beruf fest, der schon im Elternhaus vertreten war (Foreclosure). Eine vierte Gruppe schließlich, der eine diffuse Identität zugesprochen wurde, exploriert nicht und kann sich auch auf nichts festlegen.

Das Fehlen einer gewissen Krise oder Exploration deutet möglicherweise darauf hin, dass relativ schnell eine vorgefundene Weltsicht übernommen wird, ohne sie zu hinterfragen. Dies könnte sich langfristig als maladaptiv herausstellen – insbesondere unter heutigen Bedingungen. Es stellt sich also die Frage, ob unter heutigen Bedingungen eine übernommene Identität (Foreclosure) noch angemessen ist und ob nicht in jedem Fall eine längere Phase der Exploration wichtig und sinnvoll ist. Marcia fand in seinen späteren Forschungsarbeiten (Marcia et al. 1993) eine Zunahme an diffuser Identität von 10 auf 26 % seit den 1970er Jahren. Dies könnte bereits zu diesem Zeitpunkt ein Hinweis auf veränderte Lebensbedingungen in den 1990er Jahren sein, die insgesamt zu einer Verunsicherung beigetragen haben.

Noch deutlicher wird der Einfluss der veränderten Lebensbedingungen auf die Identitätsentwicklung in einer Metaanalyse, die Jane Kroger 2010 publizierte. Diese schloss 124 Studien zum Identitätsstatus nach Marcia ein, die in den Folgejahrzehnten durchgeführt wurden. Bemerkenswert ist zunächst, dass sich das Stadium des Moratoriums über alle Studien hinweg noch bei 42 % aller untersuchten jungen Leute mit einem Alter von 20 Jahren findet. Der Vergleich der Altersgruppen um die 20 und Mitte 30 Jahre zeigt dann aber eine deutliche Weiterentwicklung, und zwar in Richtung auf eine Zunahme an Achieved Identity und eine Abnahme an Foreclosure und Diffusion. In Bezug auf die erarbeitete Identität (Achieved Identity) finden wir eine Zunahme von 34 % im Alter von 22 Jahren auf 47 % im Alter von 36 Jahren. Dies bedeutet zwar, dass bis zum Alter von 36 Jahren erst knapp die Hälfte einen Achieved Identitätsstatus hatte. Dazu muss man sich jedoch vergegenwärtigen, dass die erarbeitete Identität ein sehr anspruchsvolles Kriterium ist, das beispielsweise von Jugendlichen deutlich seltener erreicht wird (14 % im Alter von 17 Jahren), und dass über alle Studien hinweg Progression mehr als zweimal so wahrscheinlich war wie Regression. Die meisten jungen Leute veränderten sich vom Moratoriumsstadium um die 20 zu einer reifen, erarbeiteten Identität mit Mitte 30. Diese Befunde trugen wesentlich zu einer Entpathologisierung des verlängerten Überganges zum Erwachsenenalter bei und verdeutlichen insgesamt eine sehr positive Entwicklung.

1.3.2 Exploration in die Tiefe und Breite, fehlendes Commitment und ruminative Exploration

In weiteren Forschungen wurde offenkundig, dass die Konstrukte der Exploration und des Commitments weiter zu differenzieren sind, wenn man die Identitätsentwicklung der heute lebenden jungen Leute angemessen beschreiben will, und dass diese Differenzierungen auch therapeutisch relevant sind. Luyckx et al. (2008) haben hingewiesen auf den Unterschied zwischen der Exploration in die Tiefe und der Exploration in die Breite. Während früher berufliche Spezialisierungen (Explorationen in die Tiefe) eher charakteristisch waren, versuchen die jungen Leute heute möglichst breit und universell einsetzbar zu sein.

Auch die für eine reife Identität so wichtige Verpflichtung, das Commitment, ist ein Prozess mit mehreren Komponenten. Nach einer Entscheidung und der Identifikation mit ihr sucht man Bestätigung durch signifikante Andere und modifiziert seine Identität auch in Abhängigkeit von den Urteilen anderer. Ist die Entscheidung nicht »passend«, setzt nochmals eine Exploration in die Breite ein, um nach Alternativen zu suchen – es ist also ein sehr komplexer Prozess.

Diese Differenzierungen sind wichtig, wenn wir als Therapeuten Patienten begleiten, die sich mit Identitätsfragen beschäftigen bzw. regelrecht damit quälen. Das Prozesshafte, die Suchbewegungen, sind, wie deutlich geworden ist, ein Stück weit Teil einer gesunden und adaptiven Identitätsentwicklung. Problematisch sind nach diesen Forschungen nicht adaptive Explorationen, sondern die ruminative Exploration, bei der Patienten beispielsweise Schwierigkeiten haben, zufriedenstellende Antworten auf die Identitätsfrage zu finden: sie fragen sich immer dasselbe, ohne mit der Antwort zufrieden zu sein, treten, ähnlich wie man dies von depressiven Krankheitsbildern kennt, auf der Stelle. Dies führt zu psychischen und psychosomatischen Symptomen. Schon in frühen Studien wurden gesundheitliche Folgen deutlich (Marcia et al. 1993). Alle Identitätstypen mit mehr Commitment verfügten über eine bessere Gesundheit, während junge Leute, die dem Moratorium oder dem diffusen Stadium zuzuordnen waren, viel Depressivität, Ängstlichkeit und psychosomatische Beschwerden zeigten (Cramer 2000). Diese Befunde sind auch aus therapeutischer Sicht unmittelbar relevant.

1.4 Ursachen für die verlängerte Adoleszenz

Man mag die Frage aufwerfen, ob die Entstehung der Phase »Emerging Adulthood«, die sich zwischen die Phase des Jugend- und des Erwachsenenalters geschoben hat und inzwischen als ein Phänomen in vielen westlichen Industrieländern gefunden wurde, tatsächlich etwas Neues ist, oder ob sie nicht eigentlich schon immer existierte, und zwar für die privilegierte Oberschicht. Es ist zu reflektieren, was sich gesamtgesellschaftlich geändert hat, damit eine solche verlängerte Adoleszenz möglich wurde. Insbesondere aber wollen wir auf familienpsychologische Faktoren eingehen, die möglicherweise als »Identitätsbremse« wirken, d. h. zu einem unangemessen langen Verbleiben in der kindlichen Entwicklung (vgl. Seiffge-Krenke 2012).

1.4.1 Gesamtgesellschaftliche Veränderungen: Von den Privilegien für wenige zu Exploration für viele

Von Erikson stammt das Zitat »Identität, das ist der Schnittpunkt zwischen dem, was eine Person sein will, und dem, was die Umwelt ihr gestattet«. Sein eigenes Leben verdeutlicht übrigens ebenfalls den starken Einfluss des Entwicklungskontexts auf die Identitätsbildung (Rattner 1995). Erikson kam nämlich nach einer Zeit der Wanderung und des persönlichen Suchens zur Psychoanalyse und zu seiner Theorie der Identität. Von herausragender Bedeutung war seine Feldforschung in verschiedenen Kulturen, die ihm dazu verhalf, über die zum damaligen Zeitpunkt noch sehr stark vertretene Ein-Personen-Psychologie hinaus zu treten und seine Sicht der gesellschaftlichen Determiniertheit von Entwicklung vorzulegen.

Es gab zwar schon immer historische Belege für eine verlängerte Identitätsexploration (vgl. Aby Warburg und Marcel Proust, in Seiffge-Krenke 2012). Es ist natürlich kein Zufall, dass sich die Biografien der beiden fast gleich alten Männer – Warburg und Proust – auch in den äußeren Rahmenbedingungen für den jeweiligen Identitätsentwurf sehr gleichen, nämlich einem reichen Elternhaus und dem Privileg, die eigenen Interessen zu verfolgen. Aby Warburg hat, wie auch Proust, selber nie Geld verdient. Es ist auch vielleicht kein Zufall, dass ein solches Schicksal für Männer der gehobenen Bürgerschicht typischer war. Zwar zeigt das Beispiel von Jane Austen, dass dies auch für Frauen in seltenen Fällen möglich war, oft jedoch mit dem Verzicht auf Kinder und Familie und teilweise auch mit gesellschaftlicher Ächtung verbunden.

Heute sind im jungen Erwachsenenalter ein Ausprobieren und ein Durchspielen verschiedener Alternativen im beruflichen und partnerschaftlichen Bereich möglich und wird auch gesellschaftlich akzeptiert. Menschen in der Lebensphase des jungen Erwachsenenalters stehen, so Arnett, mehr Freiheiten und Möglichkeiten offen als zu jedem anderen Zeitpunkt im Leben. Diese Lebensphase sei gekennzeichnet durch »fun and flexibility«.

Aber ist dies wirklich der Fall? Natürlich ist es ein Zugewinn an Freiheit, wenn man die Möglichkeit hat, für eine längere Schulausbildung, eine entsprechende Berufsausbildung, ein Studium, ein Aufbaustudium usw. möglichst unterschiedliche Aspekte zu explorieren. Aber es ist auch nicht ganz freiwillig, sondern u. a. geboren aus der Sorge, sich möglichst hoch und breit zu qualifizieren, um auf jeden Fall vor Arbeitslosigkeit geschützt zu sein – eine Sorge, die insbesondere von jungen Leuten in Ländern Südeuropas mit hoher Arbeitslosigkeit geteilt wird. Die Proteste der jungen Erwachsenen in Spanien, Griechenland und England, wo die Arbeitslosenquote bei 30 bis 40 % liegt, gingen mehrfach im Sommer 2011 durch die Presse.

1.4.2 Präkarisierung als Einschränkung von Exploration

Es sollte allerdings nicht vergessen werden, dass dieser gesamtgesellschaftliche Trend in unterschiedlichem Maße auf Angehörige verschiedener Bildungsschichten zutrifft. Auch heute noch müssen junge Leute mit niedrigem Bildungsabschluss die Transitionen in einem kürzeren Zeitraum vornehmen, müssen früher Verantwortung übernehmen und haben weniger Zeit für die Exploration verschiedener Identitätsentwürfe. Das ist zweifellos richtig und muss auch beim therapeutischen Umgang mit den Patienten bedacht werden. Dennoch trifft es zu, dass heute in der Gänze mehr junge Leute die Möglichkeiten für Exploration und Fun haben, aufgrund von höherer wirtschaftlicher Stabilität sowie finanzieller Unterstützung durch Eltern oder Staat. Die Shell-Studie (2006) zeigt eindeutig an einer sehr großen Gruppe von 15- bis 24-Jährigen, die in Deutschland befragt wurden, dass ihnen Spaß sehr wichtig ist, auf der anderen Seite aber viel getan wird zur Abwendung der potenziell drohenden Arbeitslosigkeit und dass die beruflichen wie auch partnerschaftlichen Ziele mit gleicher Ernsthaftigkeit und Wertigkeit angestrebt werden.

In diesem Zusammenhang ist auf einen weitgehenden Funktions- und Strukturwandel in der wichtigsten Sozialisationsinstanz, der Familie, hinzuweisen. Klassische Zwei-Eltern-Familien sind zwar immer noch die dominante Familienform, hinzu kommt allerdings eine zunehmende Anzahl alleinerziehender Eltern sowie Familien mit strukturellen Veränderungen, wie Stiefeltern- bzw. Stiefgeschwisterfamilien (Schneewind und von Rosenstiel 1998). Trotz zunehmender Qualifikation der Jugendlichen sind ihre Chancen, den gewünschten Ausbildungs- und Arbeitsplatz zu bekommen, deutlich geringer als für frühere Generationen. Berichtet wird von einem massiven Leistungsdruck sowie Lehrstellen- bzw. Arbeitsplatzkonkurrenz (Ihle et al. 2003).

1.4.3 »Flucht vor der Freiheit«: Individuelle Motive für das Hinausschieben

Welche Motive sind nun für das Aufschieben und Hinauszögern verantwortlich? Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass verlängerte Ausbildungszeiten und eine höhere Qualifikation in diversen beruflichen Feldern ein guter Schutz vor Arbeitslosigkeit sind, und insofern die Exploration in die Breite eine gewisse gesellschaftliche Erfordernis darstellt. Allerdings hat schon Karl Jaspers in seiner Aussage von der »Flucht vor der Freiheit« angedeutet, dass es Motive dafür gibt, das endgültige Commitment aufzuschieben und hinauszuzögern. Bei der Entscheidung für ein Lebenskonzept heißt es nämlich immer auch, sich von vielen anderen möglichen zu verabschieden. In ihren Zeichnungen drücken Jugendlichen die Furcht vor dem Erwachsenwerden deutlich aus, indem beispielsweise die Einengung auf dem Weg ins Erwachsenenalter in Form eines Weges gezeichnet wird, der sich nach hinten in der Ferne verliert und immer gerader und enger auf ein Ziel fortschreitet (Bachmann 2009). Es ist also durchaus möglich, dass es neben den gesellschaftlichen Bedingungen, die eine solche erweiterte Exploration und erhöhtes Commitment notwendig machen, auch individuelle Bedingungen gibt, die zu einer zögerlichen Übernahme von Erwachsenenrollen führen können.

1.4.4 Unzureichende Trennung zwischen den Generationen: Werden Kinder nie erwachsen und bleiben Erwachsene »ewig jung«?

Das Auftauchen einer neuen Lebensphase bzw. die Verlängerung der Adoleszenz ist auch deshalb besonders, weil sie uns dazu veranlasst, über den Lebenszyklus generell nachzudenken, denn alle Lebensphasen haben sich leicht verschoben und die Generationen sind stärker vermischt und weniger abgegrenzt. Aus der Familientherapie aber wissen wir, dass die Grenzziehung wichtig ist. Was also ist passiert?

In jeder Kultur, zu allen Zeiten, gab es den Versuch, den Ablauf des menschlichen Lebens in verschiedene Etappen zu gliedern, deren Dauer, Grenzen und Charakteristika klar definiert waren. Schon in der Antike gab es bestimmte Annahmen darüber, wobei man sich an der Zahl als einem ordnenden Prinzip klammerte. Besonders häufig finden wir Siebener-Einteilungen. Eine der ersten bekannten Siebener-Einteilungen stammt von Solon, geboren etwa um 640 vor Christus in Athen. Bis in die 1970er Jahre hat man sich an einer Siebener-Gliederung (Babyzeit, frühe Kindheit, mittlere Kindheit, Jugend, junges Erwachsenenalter, mittleres Erwachsenenalter, Senium) mit deutlich abgesetzten Aufgaben orientiert, so z. B. in einem berühmten entwicklungspsychologischen Standardwerk von Sears und Feldman (1973): »The seven ages of man«.

Es gab also offenkundig zu allen Zeiten ein starkes Bedürfnis, den Lebenslauf zu gliedern. Wir sehen aber inzwischen, dass kulturelle Normen, die früher galten und eine klare Gliederung in Altersphasen mit jeweils verschiedenen qualitativen Charakteristiken enthielten, inzwischen außer Kraft gesetzt sind (Côté und Schwartz 2002). Aus dem therapeutischen Kontext ist uns klar, dass Zeitbegrenzungen wichtig sind und Generationenunterschiede klar sein müssen, wie auch die einzelnen Lebensphasen klarer voneinander abgegrenzt und in ihrem Bezug gesehen werden müssen.

In den letzten Jahren ist deutlich geworden, dass Exploration in allen Phasen des menschlichen Lebenslaufs erfolgt und, neben einer zeitlichen Verschiebung, auch zu einer deutlichen inhaltlichen Veränderung geführt hat, in der die ältere Generation zunehmend Probleme bekommt, sich entsprechend einzuordnen. Durch die verlängerte Lebenserwartung hat sich auch das Erwachsenenalter stark ausgedehnt, und die Merkmale von Instabilität, neuen Optionen, Exploration und einem verringerten Commitment finden sich auch bei dem bislang als stabil angesehenen höheren Erwachsenenalter. Es gibt zahlreiche Indikatoren dafür, dass es im mittleren und späten Erwachsenenalter sowohl beruflich als auch bezogen auf die Partnerschaften weniger Stabilität gibt. Auffällig ist beispielsweise die Zunahme von Scheidungen nach langer Ehe (Bundesminister für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 1995). Seit etwa 15 Jahren trennen sich immer mehr Paare nach 20 bis 25 Jahren Ehe, grob gesagt, nach dem Auszug der Kinder. Es gibt weiterhin eine beträchtliche Anzahl von neuen Partnerschaften, u. a. auch mit Kindern. Diese Alternative wird vor allem von Männern gewählt, während die Entwicklungsfristen für Veränderungen bei Frauen enger sind.

Beruflicher Neubeginn nach Kündigung und Konkurs ist für nicht wenige ältere Erwachsene eine Erfahrung dieses Lebensabschnitts. Berufliche und partnerschaftliche Umbrüche können eine Neuorientierung und Bereicherung darstellen, bergen aber auch die Gefahr gesundheitlicher Probleme und Dekompensation in sich. Die biografische Selbstverortung fällt zunehmend schwer, und eine erhebliche Anzahl von Erwachsenen ordnet sich noch der Gruppe der Jugendlichen zu. Die Studie von Davis (2006) belegt, dass »Staying Punk« für nicht wenige eine Identitätsform ist, bei der die eigene Altersgruppe nicht akzeptiert wird und es einer zunehmenden Zahl von Erwachsenen schwerfällt, sich der eigenen Altersgruppe zuzuordnen. Wir haben also Verschiebungen in den folgenden Lebensphasen – das ist besonders bemerkenswert und wichtig, nicht nur in der Behandlung erwachsener Patienten, sondern auch in der Elternarbeit bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen.

1.4.5 Längere Beelterung: Ursache oder Folge des verlängerten Übergangs?

Diese Veränderungen sind auf der Folie von gesellschaftlichen Veränderungen wie verlängerten Schul- und Ausbildungszeiten, höherer Arbeitslosigkeit zu sehen, es gibt jedoch auch Hinweise darauf, dass unsichere Bindungsmuster und eine zu lange Unterstützung durch die Eltern Kinder zu Nesthockern oder Spätausziehern machen (von Irmer und Seiffge-Krenke 2008).

Wir hatten anhand der Daten unserer eigenen Längsschnittstudie bereits erläutert (Seiffge-Krenke 2006b), dass im Alter von 21 Jahren erst die Hälfte der jungen Leute ausgezogen ist, viele deutlich später ausziehen und einige permanent bei den Eltern wohnen, und dass diese Nesthocker oft alle Annehmlichkeiten des »Hotel Mama« genießen. Wenn wir zudem berücksichtigen, was weiterhin ausgeführt wurde, dass nämlich eine Verlängerung der Lebensdauer und damit eine »Überalterung der Gesellschaft« eingetreten ist, so mag es schon berechtigt sein zu fragen: Wenn Aeneas länger tragen muss, warum sollten wir nicht ein wenig länger Eltern sein?

Wichtig ist aus therapeutischer Sicht ein Verständnis für die Belastungen der Eltern durch die längere Beelterung. Wir müssen unsere Aufmerksamkeit aber auch auf Faktoren richten, die möglicherweise zu einer unangemessenen Behinderung der Individuation der Kinder führen können. Dies wird beispielsweise offenkundig, wenn man die psychologischen Faktoren analysiert, die an dem verzögerten Auszug beteiligt sind, denn nur etwa jedes zweite Kind zieht zeitgerecht aus. In unserer Studie (Seiffge-Krenke 2006b, 2010a) wurde das Auszugsverhalten junger Erwachsener im Hinblick auf deren prädiktive Kraft für verschiedene Entwicklungsparameter näher untersucht. Es fanden sich drei empirisch nachweisbare Entwicklungspfade, die eng mit dem Bindungsverhalten, aber auch mit der Autonomiesuche und Inangriffnahme wesentlicher alterstypischer Entwicklungsaufgaben und dem elterlichen Unterstützungsverhalten zusammenhingen.

Auf der Grundlage unserer Längsschnittstudie, die bis ins Jugendalter zurückreicht, ließ sich zeigen, dass junge Leute, die zeitgerecht auszogen, d. h. Frauen im Alter von 20 Jahren und Männer im Alter von 21 Jahren (54 % der Stichprobe), überwiegend sicher gebunden waren. Hier bestätigte sich, was die Bindungsforschung behauptet, dass man nämlich von einer sicheren Basis aus die Exploration wagt und vor den neuen Anforderungen nicht zurückschreckt. Diese Gruppen berichteten in ihrer Jugendzeit über mehr Konflikte in ihren Familien, ein energisches Aushandeln von mehr Autonomie. Zugleich reduzierten beide Eltern die Unterstützung und ließen ihre Jugendlichen viel allein gestalten. Ein Vergleich über die Zeit zeigte auf, dass sie alle Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz gut bewältigt hatten und relativ schnelle Fortschritte bei der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben des jungen Erwachsenenalters machten. Partnerschaften mit unterschiedlichen Partnern waren in der Adoleszenz und im jungen Erwachsenenalter häufig.

Bei der Gruppe derer, die noch im Alter von 25 Jahren mit ihren Eltern zusammenlebten (Nesthocker, 16 %), war das Familienklima eher konfliktarm, sodass eine Fortentwicklung oder ein Aushandeln von Autonomie eher unterblieb. Auffällig aber war die lange und unangemessene Unterstützung, die Vater wie Mutter über die gesamte Jugendzeit zeigten, und die erst im Alter von 21 Jahren des Kindes abrupt abfiel. Diese unangemessen hohe Unterstützung während der gesamten Jugendzeit war, neben dem Fehlen von Partnerschaften, ein Hauptfaktor zur Vorhersage des Nesthocker-Phänomens.

Ein dritter Entwicklungspfad, der 30 % der jungen Leute umfasste, setzte sich aus Spätausziehern und Rückkehrern zusammen. Die jungen Leute zogen bis zum Alter von 25 Jahren irgendwann aus (20 %), weitere 10 % kehrten nach einschneidenden Lebensereignissen (Trennung vom Partner, Schwangerschaft oder Geburt von Kindern, Arbeitslosigkeit) wieder in das Elternhaus zurück, was auf den enormen Einfluss von Kontextbedingungen für die Entwicklungsprogression hinweist. Von ihren Müttern wurde diese Gruppe als verhaltensauffällig und psychisch labil eingeschätzt und hatte auch einen relativ niedrigen Entwicklungsstand während ihrer Adoleszenz. Dies könnte darauf hinweisen, dass diese Gruppe eine längere Beelterung braucht, und selbstständige Exploration für sie noch nicht möglich war.

Die Faktoren, die zu dem verzögerten Auszug führen, sind demnach eindeutig und geben wichtige Hinweise für die therapeutische Arbeit. Im therapeutischen Kontext sehen wir natürlich häufiger Nesthocker, Spätauszieher und Rückkehrer als in nicht klinischen Stichproben.

1.5 Überlegungen für Beratung und Therapie

In den letzten Jahren hat sich die Exploration im Bereich der beruflichen und partnerschaftlichen Identität, teilweise bedingt durch gesellschaftliche Veränderungen, in fast allen Altersgruppen ergeben und ist besonders aufgeprägt im jungen Erwachsenenalter. Hier werden zahlreiche Entwicklungsaufgaben gelöst, die zu früheren Zeiten (vgl. Havighurst 1953) eher für die Adoleszenz charakteristisch waren, so beispielsweise der Identitätskonflikt im Sinne Eriksons (1968).

Wir haben eine historische Veränderung insofern, als sich ein früheres männliches Privileg verwandelt hat in eine Chance für viele. Aus therapeutischer Sicht müssen wir aber vor allem die Diversität beachten: Das Moratorium ist nicht für alle möglich, weil die finanzielle Unterstützung für eine sorglose Exploration fehlt. Gerade Patienten aus niedrigeren Bildungsschichten haben oft besonders viele schwere Belastungen zu verarbeiten und verfügen zugleich über weniger Ressourcen, die ihnen dabei behilflich sein können. Eine übernommene Identität ohne allzu lange Exploration (Foreclosure) kann für einige angemessen sein. Dies gilt beispielsweise für Patienten, die chronisch körperlich oder schwer psychisch krank sind und nur eingeschränkte berufliche Möglichkeiten haben. Wir müssen uns also die Lebensbedingungen unserer Patienten immer genau ansehen, um zu verstehen, welche Identitätsentwürfe ihnen überhaupt möglich sind.

Allerdings ist auch darauf hinzuweisen, dass zu breite Exploration im Sinne von diffuser Identität und ruminativer Exploration problematisch ist, und dass selbst Commitment ein Prozess ist, der für die Unterstützung durch bedeutsame Andere, möglicherweise auch den Therapeuten, sinnvoll ist. Da klare Grenzen zur Elterngeneration entfallen, kommt es häufig vor, dass Patienten ein Stück Identität von uns erwarten. Gerade Jugendliche und junge Erwachsene wollen oftmals, dass Therapeuten Stellung beziehen. Wie man mit analytischer Neutralität und Abstinenz in einem solchen Fall umgeht, hat Reinmar du Bois (2002, S. 29) beschrieben: »All dies ist möglich, ohne die eigene Biografie abzuliefern. Man kann sehr persönlich sein, ohne mit vielen persönlichen Fakten umzugehen.«