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Die endlose Stadt

Holle ist Künstlerin, sie fotografiert Städte. Ein Stipendium führt sie nach Istanbul, einer schmerzhaft schönen Stadt, wo sie eine Affäre mit dem Türken Celal beginnt. Existenziell wird für Holle dort die Begegnung mit Christoph Wanka. Der reiche Geschäftsmann repräsentiert alles, was Holle ablehnt, und doch kann sie sich nicht von ihm lösen, schwankt ständig zwischen Anziehung und Abstoßung. Als Holle schließlich einwilligt, dass Wanka ihr eine Reise nach Mumbai finanziert, beginnt ein Kräftemessen, das sie zwingt, ihren eigenen Lebensentwurf zu hinterfragen.

Hals über Kopf verlässt Holle Mumbai. Theresa bezieht Holles verlassene Wohnung. Die deutsche Journalistin kennt die kontrastreiche Metropole, in der das Überleben für viele Menschen nur am Zufall hängt. Und sie trifft auf Christoph Wanka. Während Theresa in Mumbai nach und nach in eine Stellvertreterrolle gleitet, die weiter reicht, als es in ihrer Absicht liegen könnte, möchte Holle im labyrinthischen Körper Istanbuls am liebsten verloren gehen und entdecken, wie sich all das neu zusammensetzt, was sie ihr Leben nennt. Als die Demonstrationen im Gezi-Park die Strukturen der Stadt selbst zum Bröckeln bringen, scheint die Gelegenheit günstig …

Im neuen großen Roman von Ulla Lenze begeben sich zwei Frauen auf Spurensuche in der abenteuerlichen Fremdheit zweier ferner Städte, Istanbul und Mumbai. Die endlose Stadt ist ein Roman voller wunderbarer Spiegelungen und geheimer Verflechtungen. Eine schwebend leichte Konstruktion, in der Zeiten, Orte und Identitäten ineinander tauchen, ein vielschichtiges Kunstwerk von großer Schönheit.

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1

ISTANBUL

ES GIBT BESTIMMT VIELE WEGE

Jemand kommt durch das Licht der tiefstehenden Sonne auf sie zu. Er bewegt sich ohne Hast, womit er ihr Stehenbleiben in ein Warten umdeutet. Sie lächelt widerstrebend. Kneift die Augen zusammen vor den Strahlen. Bis er vor ihr steht und sein Schatten auf sie fällt.

Es ist der, dem sie die vergangenen sechs Monate verdankt. Am Vortag haben sie sich die Hand geschüttelt, heute kaum Notiz voneinander genommen; nicht auf der Fähre, nicht im Topkapi-Palast oder im Museum of Modern Art. Er war Teil einer von Bodyguards umhüllten Entourage, die sich um den deutschen Außenminister scharte; alle in harmlos bunten Polohemden zu tiefernsten dunklen Anzughosen.

Sie spürt, wie sich ihr Körper anspannt.

»Hallo«, sagt sie lässig.

»Hallo«, sagt er vergnügt.

Und dann zögern sie beide – eigentlich müssten sie ihre Namen kennen. Noch einmal fragen, das geht nicht.

»Möchten Sie nicht zur Sultan-Eyüp-Moschee?« Sie zeigt zu dem unruhigen Haufen aus dreißig deutschen und türkischen Künstlern und Kulturleuten drüben bei der Fähre.

»Nein, ich will heute nichts mehr erklärt kriegen«, sagt er. »Sie?«

»Ich auch nicht.«

»Was haben Sie vor?«

»Einfach rumlaufen.« Allein wagt sie nicht zu sagen. Stattdessen schiebt sie die Sonnenbrille aus dem Gesicht. Sein Lächeln verliert die Vorsicht, schließt sich enger um sie.

Mit welcher Ausrede kommt sie von ihm los?

»Vorschlag«, sagt er und legt die Hand auf ihre Schulter. Sie dreht sich um und betrachtet gemeinsam mit ihm den kleinen Ort: pastellfarbene Häuser an einem Hügel, Minarette einer Moschee, ihr Blick folgt seiner ausgestreckten Hand. Kein Ehering – etwas, auf das sie erst seit kurzem achtet, auch bei Männern, an denen sie kein Interesse hat.

»Von oben kann man bis nach Istanbul schauen. Wollen wir das in Angriff nehmen?«

In Angriff nehmen. Dazu fallen ihr Rentenreformen, obere Tabellenplätze im Fußball ein. Spazieren gehen oder einfach rumlaufen nicht.

Seine Hand löst sich von ihrer Schulter; ihr Zögern hat er nicht bemerkt, er geht schon auf den Ort zu.

Sie spazieren durch eine Grünanlage, menschenleer und ein bisschen öde. Sie gleichen in diesen ersten Minuten ihr Wissen über Eyüp ab: viertwichtigster Pilgerort in der islamischen Welt, sonderbar versteckt hier am Ende des Goldenen Horns, und bis auf die Moschee und den Blick vom Hügel nach Istanbul wissen die Reiseführer, die sie gelesen haben, nichts zu empfehlen.

Es ist eher ein Schlendern, und das hat sie nicht erwartet, dieses langsame Gehen, das für jeden Schritt geradezu eine Entscheidung verlangt (das also nennt er in Angriff nehmen). Doch nach jedem Versuch, das Tempo anzuziehen, ist sie ihm einen Meter voraus und er mitnichten bereit, aufzuschließen.

Die Hand im Nacken, dreht sie sich um und lächelt spöttisch. Er zieht fragend die Augenbrauen hoch, und sie stellt ihr Lächeln sofort ab.

Die Bilder vom Abend kehren zurück. Die großen Lichtlachen auf den gebohnerten Dielen des deutschen Generalkonsulats. Der Festsaal. Die Parfumverwehungen wie Schneegestöber, das einen mal hier und mal dort ins Gesicht trifft. Enge Kostüme, Form. Kontrollierte Haarspray-Helmfrisuren. Formen und noch mal Formen. »Das alles passt doch gar nicht«, hat sie gestöhnt, und ihre Sitznachbarn links und rechts aufzuwiegeln versucht: »Die haben doch keine Ahnung von Kunst oder von uns, um uns geht es nicht, es geht nur …« – »Halt mal den Mund, Holle, bitte« – »… ums öffentliche Image.«

Und dann wurde der Mann, mit dem sie hier schlendern muss, ans Rednerpult gerufen: Wie viel die Stiftung ihm verdanke, ihm, dem Vorstandsmitglied einer großen Bau- oder Bankengruppe, sie hat es vergessen. Sie hatte sich nach draußen geschlichen und mit Celal telefoniert. Celal stand am Galataturm und sagte, er kriege, wenn er ihre Stimme höre, sofort eine Latte. »It is big like Galata Tower, baby!«

»Sieht aus wie Schnee«, sagt der Baugruppen- oder Bankenmensch und zeigt auf den Hang.

»Ja«, sagt sie. Es sind alte osmanische Gräber; sie weiß, dass er das weiß. Warum hat er sich ihr angeschlossen? Ist sie ihm bereits aufgefallen, als die Künstler der Reihe nach vorgestellt und ihre wichtigsten Stationen verlesen wurden? Und während der Exkursion heute hat er nur auf eine Gelegenheit gewartet, mit ihr allein zu sein? Wohl kaum. Irgendetwas muss seine Aufmerksamkeit erregt haben, als sie eilig an Land sprang. Irgendetwas daran muss ihn verwundert haben, vielleicht sogar gestört.

Das ist das Wichtigste an ihr. Nicht, bei wem sie studiert hat, in welchen Galerien ausgestellt oder ihr Geburtsjahr. Dieses Abhauen. Deine Verlorenheit aufessen, hat Celal gesagt: »I want to eat your loneliness.« Denn sie hatte gesagt: »I am lonely most of the time.«

Ein Bursche mit einer Zwanzig-Liter-Wasserflasche auf der Schulter überholt sie. Sie gehen so langsam, als nähmen sie Rücksicht auf ihr schleppendes Gespräch, das sonst vollends abgehängt werden könnte. Er beginnt eine Unterhaltung über den Stadtverkehr in Berlin und Hannover, er sucht offenbar nach universalen und unverfänglichen Themen.

»Ich fahre Fahrrad«, sagt sie.

»Ist das nicht gefährlich in Berlin?«

Sie nickt.

Eigentlich würde sie ihn gerne zu seiner Arbeit befragen. Aber mit welchen Fragen gibt sie preis, dass sie Leute wie ihn nicht kennt, aber ihnen misstraut? Es gibt nicht einmal ein gemeinsames Thema, höchstens die angestrengte Suche danach.

Sie gehen an einem muslimischen Kopftuchgeschäft vorbei, an einer Bäckerei, deren Fenster von oben bis unten mit Fladenbrot zugestopft ist, an Läden mit Schwämmen, Seifen, losen Kräutern und Tees. Sie steckt ihre Sonnenbrille in die Tasche.

»Haben Sie Lieblingsrestaurants in Berlin?«, fragt er.

»Wollen Sie mich zum Essen einladen?«

Er lacht leise. Aber kann dann gar nicht antworten. Er fragt ein paar Namen ab, Sternerestaurants allesamt, und sie schüttelt, obwohl sie ein paar davon kennt, jedes Mal den Kopf.

»Vergessen Sie nicht, dass ich arm bin, das ist technisch gesehen die Grundlage unserer Bekanntschaft.«

Er lächelt wieder, aber nun erkennt sie Rückzug in diesem Lächeln. Ihre Direktheit ist ihm unangenehm. Das versteht sie sogar. Als müsse er sich entschuldigen für das, was er ist. Muss er ja auch.

Die Geschäfte wiederholen sich, noch immer durchstreifen sie das Seifen-Schwämme-Kräuter-Viertel. Eine verschleierte Frau hält ihr Kleinkind, die Hose heruntergezogen, über einen Strauch.

Sie richtet ihren Blick auf die Auslagen, geht näher – er folgt ihr, stellt sie erleichtert fest –, sie betastet die harte Oberfläche einer graugrünen Seife, riecht daran. »Das ist Olivenölseife aus Aleppo«, erklärt sie fachmännisch, »davon nehm ich gleich zwei.«

Sie betreten ein Ladenlokal mit dunkler Holzvertäfelung, alten, fast vergessenen Gerüchen nach Heu und Harz, trockenen Sommern, Apotheke. Aus den Jutesäcken quellen Gewürze und Kräuter. »Merhaba.« Ein alter Herr begrüßt sie mit einer leichten Verbeugung. Hinter ihm Glaskaraffen mit Rosenknospen, aus denen man Tee machen kann.

Ihr Begleiter betrachtet versonnen eine alte Truhe aus Mahagoni.

»Schön hier, nicht?«, fragt sie.

»Ja«, bestätigt er, »ganz wunderbar!«

»In der Istanbuler Innenstadt verschwinden diese Läden, das wissen Sie, ja?«, hört sie sich sagen. »Stattdessen die multinationalen Firmenmonster, die ihr Filialnetz über die gesamte Welt werfen. Douglas, Body Shop, Starbucks, H&M, Restaurant Nordsee. Ja, in der Istiklal Caddesi gibt es jetzt ein Restaurant Nordsee. Alles wird gleich, und überall passiert das Gleiche.«

Was sie sagt, das weiß doch jeder. Sie hustet, mit dem Husten will sie ihn davon abhalten, zu antworten. »Besser?«, fragt er, als sie endlich das Ablenkungsmanöver beendet und auch das Glas Wasser trinkt, das ihr der alte Mann reicht. Auch Celal ist so fürsorglich. So hat sie ihn kennengelernt, als sie am ersten Abend nach ihrer Ankunft durch die nächtlichen Gassen streifte und bei seinem Eckimbiss ankam, den er gerade schließen wollte. Sie war hungrig. Er sah ihr das an, dabei stand sie nur unschlüssig herum und betrachtete verstohlen den schönsten Türken der Welt. Er kochte ihr Spaghetti mit hausgemachtem, sehr öligem Pesto, nachdem sie erklärt hatte, »I’m vegetarian, you know«. Er setzte sich zu ihr an den kleinen Bistrotisch. Die Kacheln ringsum waren beklebt mit DIN-A4-Ausdrucken, blitzlichtige Aufnahmen von Chicken-Döner, Hot Dog, Pizza und Manti, Turkish Ravioli. Sie schauten einander an, denn sein Englisch reichte nicht wirklich für eine Unterhaltung, und er strich sich verlegen immer wieder sein langes schwarzes Haar zurück. Als er nach ihrer Telefonnummer fragte, konnte sie sich mit der Wahrheit herausreden, sie habe noch keine türkische SIM-Karte, und in ihre Mailadresse baute sie absichtlich einen falschen Buchstaben ein.

Vom gespielten Hustenanfall ein bisschen geschwächt, nimmt sie die Seifen entgegen, der Verkäufer hat sie in schönes Seidenpapier gewickelt.

Er verbeugt sich wieder.

»So orientalisch, nicht wahr?«, spöttelt sie, aber ihr Begleiter weiß nicht, dass sie nur in Anführungszeichen von Orient und Okzident redet, anders als er, der ihr sofort zustimmt und von Istanbul als Brücke zwischen Ost und West schwärmt. Seit Monaten diskutiert sie mit den anderen Künstlern über dieses Problem des Schwärmens und wie damit künstlerisch umzugehen sei. Ob sie die Klischees dieser Stadt berücksichtigen müssen, um über sie hinausführen zu können, oder sich ganz auf ihren eigenen unbestechlichen Blick verlassen. Machen wir Kompromisse oder Kunst?, lautet die selbstkritische Kernfrage.

Und dann hat sie noch die Sache mit Celal begonnen. Wie ein deutscher Rentner mit einem Thaimädchen (der deutsche Rentner ist in diesem Fall sie). Sie selbst macht diese Witze, wenn auch nur, damit die anderen sie nicht machen.

Ihr Begleiter nun redet über all das hinweg, was so hochproblematisch ist. Die Verschmelzung, sagt er, sei so gelungen, dass man oft gar nicht wisse, auf welchem Kontinent man jeweils sei, schließlich befinde sich Eyüp doch auf der europäischen Seite und sei recht volkstümlich, und auf den Prinzeninseln wiederum, in Asien also, sei es wie in einer mecklenburgischen Sommerfrische vor hundert Jahren, mit den hübschen weißen Holzvillen und Pferdekutschen.

»Ach«, seufzt sie, »Orient und Okzident, eines Tages werden diese Begriffe überholt sein wie Neger und Fräulein.«

»Orient und Okzident sind geographische Bezeichnungen, daran ist nichts falsch«, sagt er nach einer Pause.

»Und wie können die dann verschmelzen? Erdteile verschmelzen nicht. Sie verwenden diese Begriffe also als Kulturbezeichnungen, und das hat etwas, entschuldigen Sie, Kulturhegemoniales.«

Wieder entsteht eine Pause. Sie sieht einem Pingpongspiel entgegen, das sie mühelos gewinnen wird.

Die Türglocke scheppert, ja, er hält ihr die Tür auf. Sie schaut ihn an, sprachlos und verletzt.

»Wir wollen doch heute nichts mehr erklärt kriegen«, sagt er.

Sie ist verwirrt, betrachtet aufmerksam ihre Umgebung – die Bettlaken, die zum Trocknen von Fenster zu Fenster gespannt sind, die Katze, die um die Ecke gleitet –, und auch er schweigt, aber schaut manchmal zu ihr hin.

Sie findet sich erst wieder, als sie aus seinem Blick gerät, sie stapft hinter ihm das osmanische Gräberfeld hoch, gewissermaßen spielt er jetzt den Anführer, männlich zügig plötzlich, einmal dreht er sich um und prüft, wo sie bleibt. Es dunkelt nun auch. Sie laufen über zerbrochene Grabplatten und durch einen Wald aus hellen, menschengroßen Stelen, die unter den Jahrhunderten ins Kippen geraten sind, in ein Muster aus Zuneigung und Abkehr. Lebensdaten und Namen in Arabisch. Wilder Wein und irgendein Gestrüpp rauschen in der Dämmerung wie ausgeschüttete Flüssigkeiten über Grabplatten und Wege.

Er steigt eine schmale, bröckelnde Steintreppe hoch, dreht sich um und schaut sie an, sagt nichts, geht weiter, sagt dann: »Es muss noch einen anderen Weg geben als diesen.«

»Es gibt bestimmt viele Wege. Es gibt sogar eine Seilbahn.«

»Aber Sie wollten doch laufen«, sagt er.

»Ja, doch«, sagt sie.

Und dann wieder Schweigen. Es ist anders als das Schweigen zu Anfang, das eher ein suchendes, tastendes Schweigen war. Ihre Belehrungen im Seifengesundheitsladen sind ihr inzwischen peinlich, sie würde nun gerne eine Erklärung anbringen, aber in seinem ganz dem Aufstieg verpflichteten Körpermodus lässt er ihr keine Möglichkeit, überhaupt nur darauf zu sprechen zu kommen.

Sie klettern mühsam über Gestrüpp. Er dreht sich um und reicht ihr die Hand. Sehr zarte Haut.

Er nimmt die nächsten Stufen beherzt, seine Füße stecken in dunkelblauen Mokassins, nackt, gebräunt. Sie verlässt die Treppe und bewegt sich leise durchs Unterholz, spürt das klebrige Kitzeln von Spinnweben in ihrem Gesicht. Will sie, dass er sie vermisst und dann sucht? Wie albern. Sie kehrt um. Er steigt weiter aufwärts, hat nichts bemerkt, sie zieht das Tempo an und bewegt sich wieder hinter ihm her, keuchend.

Er wartet oben an einem Plateau auf sie, vor einem umgefallenen Grabstein, der erschöpft gegen eine verwitterte Mauer lehnt. Er schaut in die Ferne. Istanbul liegt im letzten Licht des Tages. Sterne treten am dunkelblauen Himmel hervor. Er lächelt ihr zu, aber es ist das geduldige Lächeln für Aufsichtsratssitzungen, die schlecht laufen, Verhandlungspartner, die nicht spuren.

»Geht’s?«

»Ja«, sagt sie atemlos.

»Machen Sie keinen Sport?«

»Doch, und Sie?«

»Keinen. Bis auf Waffensport.«

Er lächelt, als amüsiere er sich über sie, die brav ein skeptisches Gesicht schneidet.

Sie denkt an Celal, an Celals Knarren. Keine Sportwaffen.

Warum sie in diesen stillen Wettbewerb mit diesem Unbekannten tritt? Nur einmal hört das kurz auf. Sie gehen Seite an Seite über einen fast stockdunklen Pfad, den er mit seinem Handylicht ausleuchtet, der Weg ist nicht ganz breit genug für zwei. Ihre Arme wischen kurz aneinander. Und dann streifen sie sich wenig später noch einmal, wie eine Impfauffrischung.

Die Erinnerung an die warme Haut wiederholt sich eine Weile in ihrem Bewusstsein, den ganzen Abstieg lang – der leichter ist als der Aufstieg. Sie erreichen den Hafen pünktlich, und nachdem er ihr seine Karte gegeben hat, sortieren sie sich wieder in ihre Gruppen ein. Dr. Christoph Wanka, so heißt er.

2

ISTANBUL

WILL YOU ACCEPT ME?

Es gab eine Zeit, da wollte sie absolut nichts haben. Vielleicht ist diese Zeit auch noch gar nicht vorbei. Seit sie in Istanbul lebt, muss alles, was sie je gedacht hat, noch einmal anders gedacht werden, und damit hat sie noch nicht einmal angefangen (weil ja alles im>mer noch stattfindet). Und es liegt vielleicht sogar an dieser vielgerühmten Istanbuler Verschmelzung von Orient und Okzident – oder an einer anderen Verschmelzung.

Hat sie nicht immer geglaubt, sie brauche jemanden zum Reden, zum Austausch? Durch Celal gerät sie in genau jenen Zustand, zu dem das Reden wohl hinführen soll: sich verstanden und geborgen zu fühlen.

You want sleep? Are you sad? You want to go home?, vergewissert er sich nach langen Ausführungen ihrerseits. Er antwortet eher auf das Gefühl, aus dem heraus sie mit ihm spricht, ein Gefühl, das ihr oft erst bewusst wird durch sein Nachfragen.

Dass sie nicht reden können, ist befreiend.

Einmal, sie sitzen am Küchentisch der Künstlerresidenz, bekommt sie diesen Wutanfall. Celal begreift offenbar nicht – hat er es vergessen? Nie verstanden, nie gewusst? –, dass sie mit einem wichtigen Künstlerstipendium in Istanbul ist, eine Auszeichnung, eine Ehre. Er hat sie gefragt, wie viel sie für ihre Wohnung zahlt. »Nothing«, schreit sie. »Nothing! I am invited!«

Er zuckt erst zurück vor so viel Wut. Dann schlägt er sich an die Stirn, als sei endlich der Groschen gefallen, und sagt mit einer Stimme, mit der man Kleinkinder lobt: »Yes, I know, you are big artist. I am very sure you are.« Er sagt es liebevoll. Immer liebevoller. Er steht auf und nimmt sie in den Arm.

Sie fängt an zu weinen. Sie lacht. Er hält sie fest umarmt. Er streicht über ihr Haar. Er kennt sich aus mit Schmerz und Furcht.

In der Stadt ist sie nie ohne ihn, selbst wenn sie allein loszieht. Sie taucht in die Straßen ein wie in einen gemeinsamen Körper. Manchmal sehr konkret. In der Gegend um das Döner Paradise herum kann sie nirgends mehr essen gehen. Du bist doch Celals Freundin, nein nein, du bist eingeladen. Auch um den Taksim-Platz, wo Celal geschäftlich zu tun hat, gibt es Zonen, in denen sie nicht bezahlen darf. »Friends. No pay, of course not.« Ein System, das auf Gegenseitigkeit beruht? Ja, durchaus, aber wie merken die sich das? Merken sie es sich? Manchmal stürmt jemand in Celals Imbiss und bereitet sich hinter der Theke ein Sandwich zu. Celal lacht. »Good customer. I don’t need to work.« Celal sitzt oft an einem der drei Bistrotische und trinkt Tee. Springt aber sofort auf, wenn ein echter Kunde vorbeikommt. Das sind die, die er bislang nicht kennt. Sie werden früher oder später zu Freunden. Auf Facebook hat er bald die 5000-Freunde-Grenze erreicht. Die Touristen, sind sie anständig, zahlen natürlich. Sie stopfen ihm die Lirascheine in die Schürzentasche. Daran erkennt sie, dass er kein Verhältnis zu Geld hat, Geld ist etwas, das notgedrungen ebenfalls im Döner Paradise vorkommt, etwa wie das Frittierfett oder das Spülmittel. Zwar stöhnt er manchmal über die langen Arbeitszeiten, aber es wirkt, als übernehme er aus Höflichkeit das übliche Gejammer, um nicht als zu glücklich aufzufallen. Das Döner Paradise ist sein Zuhause, seine eigene Stammkneipe. Vor drei Jahren hat er das kleine Lokal für etwa einhunderttausend Euro gekauft, inzwischen, durch die Sanierung der Altstadthäuser ringsum und die zentrale Lage, bietet man ihm das Doppelte. Celal sitzt auf einer Goldmine, aber der Gewinn ist gleich null. Sie kann nicht abschätzen, wie ernst die Lage wirklich ist und ob sie vielleicht helfen kann. Sie entwickelt Geschäftspläne, die aber ihren eigenen Vorlieben entsprechen: Warum machst du aus deiner Dönerbude keinen vegetarischen Imbiss mit anatolischen Gemüseeintöpfen, das ist bestimmt eine Marktlücke, die gesundheitsbewussten westlichen Touristen wären begeistert.

Aber sie spricht wohl wirklich nur von sich selbst. Sie ist froh, dass Celal darauf nicht anspringt, denn dann müsste sie womöglich die Sache mit ihm gemeinsam durchziehen.

Er will sie heiraten.

Es ist der erste Heiratsantrag in ihrem Leben.

Zwischen Asien und Europa, irgendwo dort, auf dem türkisblauen Wasser, hat ein schöner junger Mann mit dem größten Herzen der Welt zu ihr gesagt: Heirate mich.

Letzte Woche.

Seither zieht sie sich von Celal ein bisschen zurück, gerade so, dass es als Vernachlässigung nicht eindeutig wird. Lass mich nachdenken. Und wenn sie nun darüber nachdenkt, dann geht das nicht, ohne über ihr gesamtes Leben nachzudenken. Genau das, wovon sie sich so angenehm befreit fühlt, seit sie in Istanbul lebt.

Die nächsten zwei Tage verbringt sie mit den anderen Künstlern in der Galerie. Sie streiten, wer welchen Raum bekommt, welche Wand, welche Ecke. Matthias baut eine Videoinstallation auf, Perihan zimmert aus Sperrholz eine Kabine, Point of no return, Berta kippt fünfhundert Päckchen Zucker über den Boden des hinteren Raums – hinten, das ist die Bedingung, und ein rotes Absperrband soll dafür sorgen, dass der Zucker nicht den Raum verlässt.

Gipsdübel fehlen, die Leiter wackelt, Matthias muss festhalten, während sie oben steht, die Bohrmaschine bedient und über Christoph Wanka nachdenkt. Es ist eher ein Farbschleier, der das Bisherige anders einfärbt. Diese leichte Besessenheit erklärt sie sich damit, dass sie zu keinem Urteil über ihn findet.

Sie hat den Spaziergang zunächst als Desaster abgeheftet. In ihrer Erinnerung formt er sich Stück für Stück um zu einer hochinteressanten Erfahrung. Sie haben einander zwar wenig mitgeteilt, aber die Auslassungen hatten einen Druck bewirkt wie der Abstoßungseffekt zweier Magneten. Zumindest in ihrer Erinnerung, in der auch immer wieder ihre Arme aneinanderwischen.

Am Tag der Ausstellungseröffnung glänzt das Kopfsteinpflaster vom stetigen Regen. Als es dunkel wird, sprühen Lichtringe um die Laternen. Die Altstadthäuser vornehm und manche düster, sie stehen kurz vor der Sanierung. Blätternder Putz, rostrote Wunden, grün verfärbte Eisenbrüstungen. Ein verfallener Stadtpalast, aus dem es nach Schutt riecht, nach Geistern.

In der dunklen Zürafa Sokag leuchtet ein milchig weißes Lichtfeld, in das Gestalten ein- und ausströmen. Sie erkennt Matthias und Berta zwischen türkischen Künstlern. Sie versucht, sich in die Unterhaltung einzubringen, da biegt plötzlich Celal in die Gasse ein, geht langsam und zögernd auf Holle zu, offenbar darauf hoffend, dass sie ihn anschaut. Sie tut so, als bemerke sie ihn nicht. Celal verschwindet in einem Hauseingang. Er wartet dort ab. Sie erhält eine SMS: I can see you, baby. You are pretty tonight!

Sie antwortet nicht.

I love you kommt als Nächstes.

Sie blickt auf. Sie tut, als bemerke sie Celal erst jetzt, als die Gruppe sich ihm zuwendet. »My favourite Turk«, brüllt Matthias und tauscht türkische Begrüßungsfloskeln mit ihm. »What a handsome guy, look at you«, jubelt Berta.

Ihr gefällt das nicht, diese Begeisterung. Als wollten sie dem Verdacht zuvorkommen, sie würden sich nur deshalb mit Celal abgeben, weil sie mit ihm zusammen ist.

Sie begrüßt ihn mit Wangenküsschen, riecht die Grilldünste des Dönerfleischs in Haar und Kleidung. Seine Hand kriecht in ihre. Raue Innenflächen wie Reibeisen. Sie will ihre Hand wieder herausziehen, aber er hält sie fest, während er versucht, eine bereits begonnene Erzählung zu Ende zu bringen. Über das Döner Paradise, seinen Onkel und eine Straßenkatze, so viel wird deutlich, aber da Celal Personalpronomen nicht unterscheidet, bleibt unklar, ob er seinen Onkel oder die Katze über Nacht ins Döner Paradise eingesperrt hat. Die anderen hören ihm mit zärtlichen Blicken zu. Die Geduld der anderen kennt keine Grenzen. Sie soll netter zu ihm sein, hat man sie schon ermahnt, ihm nicht ins Wort fallen und auch nicht sein Englisch verbessern. Sie befreit ihre Hand und betritt die Galerie.

Die Leute schieben sich durch die Räume und suchen einander. Wenn jemand bei ihr stehen bleibt, ist ihr nie klar, was es zu reden gibt. Eine deutsche Dame erzählt, ihre Tochter mache ein Praktikum in Istanbul. Ein türkischer Student erzählt, auch er fotografiere, und reicht ihr seine Visitenkarte. Eine deutsche Journalistin fragt, wie Istanbul ihre Arbeit beeinflusst habe. Sie gibt etwas Vages, Unbrauchbares zur Antwort.

Sie wird von den drängenden Leuten in den mittleren Raum gespült, direkt vor Perihans Kabine Point of no return. Sätze in Englisch, Türkisch und Deutsch füllen den Raum. Sätze, an niemanden gerichtet. Darum geht es. Man spricht in ein Mikro, irgendetwas, und das wird aufgezeichnet und als loop in den Raum gespeist.

Sie hat für interaktive Kunst nicht viel übrig. Aber als sie Christoph Wanka am Eingang entdeckt, flüchtet sie panisch in die Kabine. Sie spürt den Schock durch ihren Körper rasseln. Sitzt reglos in der Kabine und versteckt sich also vor Wanka.

Jemand klopft – ist er das? –, sie rührt sich nicht. Der Point of no return, das ist nicht die Kabine, sondern alles, was außerhalb stattfindet. Die Kabine ist das Zeitanhalten. Das Innen. Das Refugium. Noch einmal klopft es an der Tür. Sie knetet ihre Finger. Sie zupft an ihrem engen Rock, zieht ihn über die Knie, legt ihre Hände auf die Oberschenkel, betrachtet, was sie ist, voller Verwunderung plötzlich. Einen Körper haben in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort. Den wirst du nicht los, aber kannst dich immer anders denken – sie spricht inzwischen ins Mikro. »Hallo?«, ruft jemand und klopft an die Tür. Du kannst dir auch vorstellen, eine Wand zu sein oder eine Lampe. Jemand öffnet die Tür und schließt sie sofort wieder, »Entschuldigung, dachte, es sei leer.« Sie steht auf und tritt ins grelle Licht der Galerie.

Wanka steht im vorderen Raum unweit ihrer Bilder. Er ist ganz in Schwarz gekleidet. Er schnappt sich von einem Tablett einen Wein, das Glas an den Lippen, dreht er sich um und entdeckt sie. Beide heben sie die Augenbrauen. Sie geht auf ihn zu, mit der Sicherheit, die einsetzt, wenn es keinen Ausweg mehr gibt. Soweit sie die Lage überschaut, ist Wanka allein gekommen.

»War mir gar nicht klar, dass Sie noch in Istanbul sind!«, schreit sie durch den Lärm und klingt ein bisschen herablassend.

»Selbstverständlich bin ich noch hier«, schreit er zurück und klingt wiederum, als müsse sie das doch wissen und sei ein bisschen blöd.

Sie verschränkt die Arme über der Brust und spürt dasselbe Stocken wie beim Spaziergang – ein Stocken, das, wie sie meinen will, sich aus einer Suchbewegung ergibt, nicht aus einem Desinteresse.

Er sagt etwas, das im Lärm untergeht.

»Wie bitte? Ja, natürlich zeige ich Ihnen meine Bilder.« Sie legt gastgeberinnenhaft ihre Hand auf seinen Arm und führt ihn zu ihrer Bilderserie Habe die Welt geendert / I have chenged the world.

Gemeinsam betrachten sie das erste Bild, ein Häusermeer. »Sehen Sie die Kabel an den Häusern«, sagt sie, »wie Adern, immer dieser Eindruck von Blutgefäßen und als sähe man in die Dinge hinein, ihr Inneres ist auch im Außen.«

Er nickt, nimmt einen Schluck Wein, verkleckert ein bisschen davon, als jemand zu dicht an ihnen vorbeigeht. Sie schaut rücksichtsvoll zur Seite.

»Eminönü«, sagt sie. »Der Fähranleger. Auffliegende Tauben. Nur die Tauben.« Sie zeigt wie eine Wetterfee auf das Bild.

»Und die Menschen?«

»Auf meinen Bildern gibt es keine Menschen.«

Sie betrachten gemeinsam den Taksim-Platz, den griechischen Stadtteil Fener und den Ägyptischen Basar. Menschenleer.

»Schicken Sie die Leute weg?«

»Nein, ich warte einfach«, sagt sie und ist enttäuscht. Hat sie sich in den letzten Tagen so viel über Wanka zusammengereimt, dass er mit der inneren Version nicht mithalten kann? Als er schweigt, sagt sie: »Manchmal warte ich auch umsonst. Ich stehe drei Stunden an einer Stelle, harre aus, und gehe wieder. Doch es frustriert mich nicht. Die nicht gemachten Bilder sind Teil der existierenden Bilder.«

Er reagiert nicht; er könnte sowohl sprachlos vor Faszination sein als auch vor Langeweile. Sie fügt sicherheitshalber eine handfeste Information hinzu: »Ich will die Serie in Mumbai fortsetzen.«

»Das wird schwierig.«

»Sie kennen Mumbai?«

Er nickt. Sie wartet, dass er erzählt, aber er beugt sich zum Bild. Sie kann sich jemanden wie Wanka nicht in Mumbai vorstellen. Was wäre, wenn sie ihn nach Orten fragt, deren Klang sie liebt, Byculla. Chinchpokli. Bhuleshwar. Kalbadevi. Marine Lines. Apollo Bunder. Matunga. Elphinstone Road. Jemand rempelt sie an, sie stolpert nach vorne, kann sich wieder fangen. Ein Türke mit roter Brille und grünem Haar nimmt sie in den Arm und drückt sie an sich: »Sorry, sorry.« Sie schiebt ihn ungeduldig weg.

Wankas Blick ruht auf dem Fähranleger Eminönü.

»Meine Bilder zeigen Orte, an denen eben noch jemand war«, versucht sie es von neuem. »Wir sehen manchmal mehr von den Menschen durch ihre Abwesenheit.«

Sie schaut ihn so lange an, bis er zurückschaut, aber sein Blick verrät nichts.

»Und, wollen Sie noch mehr über meine Bilder wissen?«

»Na ja, wenn Künstler über ihre Kunst sprechen, sollte man lieber weghören.« Er grinst selbstbewusst.

Holle kennt diese Kritik. Ein Singvogel muss nichts von Ornithologie verstehen, um singen zu können; eine Kritik, die sich für Hierarchien interessiert. Sie bleibt ruhig. Sie ist die Expertin, nicht er. Sie sagt: »Vielleicht kann das niemand, über Kunst reden. Weil Kunst nicht im Reden aufgeht.«

Wanka hält an seinem Grinsen fest. Vielleicht überfordert sie ihn? Erneut verschieben sich die Leute; Holle wird zurückgedrängt und spürt schließlich die Wand im Rücken.

Eine Wand sein. Eine Lampe. Stattdessen ist sie eine Silhouette aus Rock und Hemd in der Fensterscheibe, und hinter der Spiegelung entdeckt sie plötzlich draußen auf der Straße Celal. Er hebt die Hand. Er kann sie in der beleuchteten Galerie besser erkennen als sie umgekehrt ihn; er kann nicht einmal sicher sein, dass sie ihn sieht. Different world, you know. I told you. Canım. Listen, tatlım. Listen to me. This is my life how it is. I did tell you already. Many times. Sie spricht mit Celal ein Englisch, das sich seinem angepasst hat. Kurze Sätze. Manchmal ist auch die Grammatik nicht richtig; sie merkt es kaum noch. Es ist seine, und seine ist türkisch. Vielleicht lernt sie auf diese Weise Türkisch oder wird ihr das Türkischlernen, sollte sie es eines Tages angehen, erstaunlich leichtfallen.

Celal streicht sich das lange glatte Haar zurück und winkt schüchtern. Sie tut, als bemerke sie ihn nicht. You can go, you can leave me. Any time.

Und er wird nicht gehen. Er wird nie gehen. Sie muss gehen. Wenn, dann sie.

Das hat sie schon dreimal getan. Und nun spricht er vom Heiraten.

»Alles klebt«, seufzt sie.

»Der Zucker«, sagt Wanka und blickt sie an. »Ich würde gerne kaufen. Sie verkaufen doch, oder?«

»Ja«, sagt sie und ist nicht überrascht. Das gehört dazu. Nicht darüber nachzudenken, ob man einen Käufer, einen Sammler vor sich hat. Nie. Stattdessen über alles andere. Als würde sie ihm mehr Ehre erweisen durch die Phantasie einer besonderen Verbindung anstelle einer Geschäftsbeziehung. Jetzt versteht sie, warum ihre Gedanken in den letzten Tagen verrücktgespielt haben. Sie wollte den einen Gedanken nicht denken müssen. Einen Gedanken, der immer ein Schuldgefühl auslöst.

Später sitzen sie auf der Dachterrasse der Künstlerresidenz, eingemummelt in Wolldecken, auf einer klammen Couch. Unter ihnen glitzert die Stadt, und über dem schwarzen Bosporus blinken vereinzelt die Lichter der Fähren. Celal ist noch immer bei ihnen, sie trinken Wodka, es geht auf drei Uhr zu. Celal muss in vier Stunden das Döner Paradise öffnen (und den Onkel befreien). Sie spürt eine grausame Regung, sie hat ihn nicht nach Hause geschickt; er wartet also. Er wartet, so wie sie in den Istanbuler Straßen steht und wartet, dass alle verschwinden, dass niemand mehr zu sehen ist. Nur die Gebäude, die Fassaden, der Stein. Celal wartet, dass nur noch Holle zu sehen ist, und diese Hingabe macht sie hilflos und wütend.

Sie reden Deutsch, und ab und an, nicht sie, übersetzt jemand für ihn, etwa wenn sie besonders laut lachen.

»Du hättest zehntausend verlangen sollen pro Bild. Wenn er fünftausend umstandslos schluckt, dann schluckt er auch zehntausend.«

»Was macht er noch mal?«

Sie zuckt gleichgültig die Schultern. »Vorstandsmitglied eines Bauunternehmens, glaube ich.«

»Witte Bau AG«, liest Matthias von der Visitenkarte ab und gibt den Namen in die Suchmaschine ein. »Die bauen ein Einkaufszentrum drüben in Esenyurt. Bauen außerdem in Schwellenländern. Und er ist Kunstsammler, steht hier. Warum wussten wir das nicht?«

Sie wäre lieber ohne Geld. Sie weiß nicht, woher dieser Gedanke kommt und ob sie sich Sorgen machen muss. Vielleicht. Es hat immer noch irgendwie geklappt. Sie will weder kein Geld haben noch viel, sie will unbehelligt bleiben. Sie will einfach leben und Kunst machen. Die letzten Monate war sie hier. Wurde wie ein Pflegekind mit anderen Künstler-Pflegekindern in ein Heim für Künstler gesteckt. Einmal die Woche saust ein Putzfrauenteam durch das Gebäude, vier beleibte Frauen mit Kopftüchern in geblümten Kitteln machen sich wie bei einer Durchsuchung in den Wohnungen zu schaffen, summend und singend, in keiner länger als zehn Minuten, sie rauschen hindurch, sie sprechen kein Wort Englisch, vielleicht bewegen sie sich nur von Wohnung zu Wohnung, von Putzauftrag zu Putzauftrag, und mehr als die eigene wischende Hand sehen sie von Istanbul nicht.

Celals Mutter ist ähnlich. Eine Frau mit großen schweren Brüsten, die bis zum Bauchnabel hängen, runden Armen, das Kopftuch unter dem Kinn gebunden. Sanfte Augen. Voller Liebe. Bei ihrer ersten Begegnung, im Keller des Döner Paradise, hatte die Mutter das Töpfeschrubben unterbrochen und die Arme weit geöffnet, und Holle war hineingefallen und an der Frau hängen geblieben. Es ist wie mit Celal. Es verwirrt sie. Sie weiß nicht, wie sie ohne das leben soll, und sie weiß auch nicht, wie sie damit leben kann.

Es ist die letzte Woche des Stipendiums. Sie muss nach Deutschland zurück und sich eine Wohnung suchen. Vielleicht auch nur ein Zimmer erst einmal. Vielleicht auch eine Couch erst einmal. Oder kann sie vielleicht doch bei Celal in Istanbul bleiben? Celal, obwohl schon dreißig, wohnt nicht allein. Er wohnt bei seiner Schwester und seinem Schwager, und da ist es eng.

Von dem Geld, das sie von Christoph Wanka bekommt, wird sie ihre Schulden bezahlen. Für viel mehr reicht es nicht. Zum ersten Mal an diesem Abend wendet sie sich Celal zu.

»There are photographers who get half a million for a picture.«

»Lira or Euro?«

Als die anderen lachen, lacht Celal mit.

Nachdem sie zu Ende gelacht haben, gibt sie Celal ein Zeichen, dass sie schlafen gehen wird.

»You should go home, canım.«

Es hatte gedauert, bis Holle das Wort canım, das in allen seinen SMS auftauchte und für sie so seltsam nach Hund aussah, mit dem weich gesäuselten Dschanam verknüpfte. Dschanam, Schatz. »What does canım mean?« Er verstand nicht, sie zeigte ihm das Wort. »Dschanam«, sagte er, »it is dschanam.«

Das alles war sieben Monate her. Nun war sie wieder hier. Lag in der Dunkelheit einer fremden Wohnung, und neben ihr Celal.

»Will you go back to Mumbai?«

»I just come from there.«

»But you go back?«

»I don’t know.«

»How long will you stay in Istanbul?«

»I don’t know.«

»Is there beach in Mumbai?«

»Yes. But you cannot swim or sunbathe there.«

»Why?«

»It is dirty. Very dirty, full of waste. The sands and the water are very bad.«

»Can I visit you?«

»Yes.«

»Will you accept me?«

Sie wusste nicht, was er mit accept meinte – Sex?

»Yes, I will accept you.«

»Is it warm?«

»Yes, it is warm.«