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Sauerlandkrimi & mehr

2003 by Kathrin Heinrichs

Umschlagillustration: Birgit Beißel

Kathrin Heinrichs

Krank
für zwei

Sauerlandkrimi & mehr

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Ähnlichkeiten zu realen Orten sind gewollt.
Personen und Handlung des Romans dagegen
sind frei erfunden. Bezüge zu realen Menschen
wird man daher vergeblich suchen.

Inhalt

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

+

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

+

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

+

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

+

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

+

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

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Er war erregt, freudig erregt. Endlich hatte er das Zeichen gefunden. Im nachhinein erschien es ihm so offensichtlich. Es war verwunderlich, daß er nicht schon viel früher darauf gestoßen war. Es war schlicht und einfach und trotzdem hundertprozentig zutreffend. Und das beste an dem Zeichen war – er konnte es leicht umsetzen. Es war praktikabel.

Praktikabel war ein gutes Wort. Etwas mußte praktikabel sein. Und dann mußte man es anpacken. So ging das. Schritt für Schritt mußte er jetzt noch einmal alles durchdenken, um nichts zu übersehen. Das war wichtig. Nichts zu übersehen. Zuverlässig sein. Das galt auch für seine Arbeit. Er durfte nicht auffallen, mußte seine Arbeit weiterhin gewissenhaft durchführen. In der Klinik mußte man sich auf ihn verlassen können. Das war wichtig.

Schon rutschten seine Gedanken wieder ab zu dem Zeichen. Das Geniale war, daß es so eindeutig war und daß trotzdem keine Spur zu ihm hinführen würde. Dieses Gefühl befriedigte ihn zutiefst. Vorsichtig zog er die Schublade seines Schreibtischs auf. Zielsicher griff er mit einem Arm über die Schublade hinweg und ertastete den Gegenstand, der an der Rückseite der Schublade mit Kreppband angeklebt war. Erfühlte das kühle Metall und ließ seine Finger ein paarmal darüber gleiten. Dann zog er seinen Arm wieder ein. Es war noch zu früh. Er würde alles zur rechten Zeit hervorholen. Zur rechten Zeit. Das war wichtig. Er durfte keinen Fehler machen. Nichts unnötig herumliegen lassen. Er würde es hervorholen, wenn die Zeit gekommen war. Jetzt, da er das Zeichen gefunden hatte, konnte es nicht mehr lange dauern.

1

Es war genau so, wie wir es im Geburtsvorbereitungskurs gelernt hatten. Schmerzen im Bauchraum, die nach unten ziehen. Ich versuchte, ruhig zu atmen. Mich zu entspannen. Schon hörte ich die Stimme von Gerhild in meiner Erinnerung. Gerhild war die Leiterin unseres Schwangerschaftskurses gewesen, und Gerhild war eine Meisterin, wenn es darum ging, Entspannung zu verbreiten. „Stell dir vor, du bist ein Wal!“ Gerhilds Stimme hatte immer so etwas Hypnotisches gehabt. „Du bist ein Wal und schwimmst durchs Wasser.“ Wo sonst, hatte ich mich an dieser Stelle immer gefragt. „Du bist groß und schwer.“ Das wiederum hatte ganz gut auf mich gepaßt. „Und trotzdem wirst du von den Wellen getrieben.“ Hier war meistens der Punkt gewesen, an dem ich eingeschlafen war. Als ich einmal besonders laut geschnarcht hatte, hatte Gerhild mich geweckt. Das war schon etwas peinlich gewesen. Gerhilds vorwurfsvoller Blick hatte mir zudem klar gemacht, daß ich unter diesen Voraussetzungen nie zur Elite der Wal-Eltern gehören würde.

Schon wieder durchzuckte mich der Schmerz. Ich krümmte mich. Davon war nie die Rede gewesen. Natürlich war mir bewußt, daß eine Geburt Schmerzen mit sich brachte. Für die Mutter! Aber doch nicht für den Vater! Oder hatte sich auch das in den letzten Jahren geändert?

„Vincent! Was ist denn mit dir los?“ Endlich, Alexa war zurück. Sie würde mich retten. Schließlich war sie Tierärztin. Die kennen sich mit Walen aus.

Alexa kam mit besorgtem Blick auf mich zu und setzte sich auf den Rand unserer Couch.

„Hast du Schmerzen?“

„Wehen!“ wollte ich gerade sagen, aber etwas hielt mich zurück. Alexa sollte mich nicht für verrückt halten. Ich wollte auch weiterhin als würdiger Vater unseres Walbabys gelten.

„Mein Bauch“, stöhnte ich. „Ich habe furchtbare Bauchschmerzen.“

„Hast du dir den Magen verdorben?“

„Woher soll ich das wissen?“

„Wie lange hast du die Schmerzen schon?“

„Ein paar Stunden.“

„Übertreib nicht, ich bin erst seit zweieinhalb Stunden weg. Und vorher warst du noch putzmunter!“

„Zwei Stunden und fünfundzwanzig Minuten.“

„Wo tut es denn weh?“

Ich strich über meinen Bauch. „Hier überall.“

Alexa stand auf, zog sich ihre Jacke aus, so daß ihr Schwangerschaftsbauch gut sichtbar war, und kniete sich neben mich auf die Couch.

„Tut es hier weh?“

Ich brüllte und entschied, daß ich doch kein Wal war. Ich war ein sensibles männliches Geschöpf. Und ich mußte liebevoll untersucht, nicht aber von einer Tierärztin grausam zerquetscht werden.

„Hier auch?“

Ich brüllte wieder. „Du bringst mich um!“

„Ich tippe auf Blinddarm“, sagte Alexa schonungslos. „Und zwar ein ziemlich entzündeter. Zieh dich an, ich fahre dich ins Krankenhaus.“

„Aber das geht nicht“, widersprach ich. „Du bist hochschwanger. Unser Kind kann jeden Moment zur Welt kommen.“

„Eben“, sagte Alexa. „Und da kann ich einen wimmernden Ehemann an meiner Seite nicht gebrauchen. Dann schon eher einen ohne Blinddarm.“

Ach, die Sauerländer sind ja so pragmatisch. Wie klappte das nur mit Alexa und mir? Ich ein feinfühliger, temperamentvoller Rheinländer. Und Alexa, meine Alexa, eine Sauerländerin. Eine Sauerländerin wie Sauerländer eben so sind. Und inzwischen hatte ich sie ganz gut kennengelernt, die Sauerländer, nachdem mich vor gut zwei Jahren eine Lehrerstelle an einer katholischen Privatschule hierhergelockt hatte.

Wie hatte mein Kölner Freund Robert damals noch gelästert? Man müsse erst ein 50 Liter-Pilsfaß den Kahlen Asten hinaufschleppen, bevor man als Zugezogener im Sauerland akzeptiert würde. Nein, so schlimm war es gar nicht. Man mußte lediglich 50 Liter von diesem Pils-Gebräu hinuntergewürgt haben, bevor man als vollwertiger Mensch anerkannt wurde. Während ich mich vom Sofa hochquälte, kam mir ein interessanter Gedanke. Was war unser Kind eigentlich, wenn es das Licht der Welt erblickte – ein echter Sauerländer (oh Gott, darauf mußte ich nach der Geburt erstmal ein Kölsch trinken) oder ein Rheinländer, der zufällig am falschen Ort auf die Welt gekommen war? Ich konnte nicht länger darüber nachdenken, denn kaum war ich aufgestanden, fuhr mir der Schmerz quer durch den Körper. Ich krümmte mich erneut.

„Schaffst du es zum Auto?“ Alexas besorgter Blick holte mich in die Wirklichkeit zurück. „Sonst rufe ich einen Krankenwagen.“

„Bist du verrückt?“ Ich versuchte mich aufrecht hinzustellen. Das fehlte noch. Ich wußte doch, wie es in dieser kleinen Stadt zuging. Kaum hätten die Sanitäter mich zu Gesicht gekriegt, hätte einer von ihnen sich schon als Schülervater geoutet. Und morgen war es dann am gesamten Elisabeth-Gymnasium herum: Herr Jakobs hat sich wegen einer leichten Blinddarmentzündung mit Blaulicht ins Krankenhaus bringen lassen – prust. Nein, nein, da würde ich doch lieber auf der Privatfahrt in die Klinik glorreich verenden.

Na ja, ganz so schlimm würde es schon nicht werden.

Dachte ich.

2

„Blinddarm“, sagte der Arzt müde, während er etwas in eine Karteikarte eintrug. Wahrscheinlich die Abrechnungsziffern.

„Blinddarm! Das habe ich auch gleich gesagt!“ Der Pfleger, der mich zuvor durchgecheckt hatte, versuchte nun, sich am Arzt vorbei an meine Behandlungsliege zu lavieren. Das fiel ihm nicht ganz leicht, weil er figurmäßig eher an einen Maikäfer denn an eine laviertaugliche Blindschleiche erinnerte. Ein grüner Maikäfer übrigens, denn der Pfleger trug einen grünen, unförmigen Anzug, wie ihn auch die OP-Leute im Fernsehen anhaben. „Gustav, habe ich mir gesagt, wenn das kein Blinddarm ist, dann hast du 30 Jahre lang umsonst als Pfleger gearbeitet.“ Dabei nickte der Mann selbstgefällig, was sein Doppelkinn in unvorhergesehene Wallungen brachte. Gustav hieß er, das hatte er mir gleich zu Anfang gesagt. „Pfleger Gustav. Seit dreißig Jahren hier im Pankratius-Krankenhaus. Da hat man alles gesehen, glauben Sie mir.“ Ein verheißungsvolles Lächeln in meine Richtung sollte mich beruhigen. „Machen Sie sich keine Sorgen! Wär’ doch ein Wunder, wenn wir nicht auch Sie lebend wieder hier rausbrächten, woll?“

Das waren Worte der Zuversicht! Sogleich hatte ich mich besser gefühlt! Dabei war ich anfangs etwas enttäuscht gewesen. Ich kannte doch diese Szenen aus einschlägigen Krankenhausserien. Immer dieselbe Anfangsszene. Da schleppte sich ein Hilfesuchender mit letzter Kraft in die Notaufnahme, und kaum hatte eine hochengagierte Schwester ihn zu Gesicht bekommen, schrillten im gesamten Krankenhaus die Alarmglocken. Alles drehte sich nur noch um den Patienten. Sanitäter eilten herbei, Schwestern und Ärzte in Hülle und Fülle. Alle arbeiteten schweißtreibend und überstündlich, um den Armen zu retten und zu versorgen. Da war man als Verletzter etwas! Dort stellte man etwas dar! Und so ähnlich hatte ich mir meinen eigenen Einstand in der Notaufnahme auch vorgestellt! Folglich hatte ich meinen Schritt verlangsamt, als wir uns dem Pförtner genähert hatten. Vorsorglich hatte ich außerdem meine Arme in den Unterbauch gepreßt und einen entsprechenden Gesichtsausdruck aufgelegt.

Trotzdem hatte es zwei Minuten gedauert, bis Alexa es geschafft hatte, den Pförtner vom Telefon loszueisen. „Wo ist denn die Notaufnahme?“ hatte sie durch das winzige Glasfensterchen gebrüllt. „Die NOTAUFNAHME?“

Reizenderweise hatte der Pförtner dann die Hand auf die Muschel gelegt und uns den Weg beschrieben. Was heißt beschrieben? „Linker Gang“, hatte er zurückgebellt und dann weiter telefoniert. Um sein Mitleid zu erregen, hätte ich vor seinen Augen kollabieren müssen. Ich hätte Schnecken spucken und grüne Punkte haben müssen. Und selbst dann hätte ich nicht sicher sein können, daß er dieselben Krankenhausserien guckte wie ich.

In der Notaufnahme dann die klassische Desillusionierung. Alle anderen in der Warteschleife hatten viel erbärmlicher ausgesehen als ich. Das kleine Kind zum Beispiel, das sich in der Haustür die Finger gequetscht hatte und nun schrie wie am Spieß. Dann der Handballspieler, dessen rechter Arm die besten Siebenmeter augenscheinlich hinter sich hatte. Ganz zu schweigen von den zwei Brüdern, deren Alkoholfahne einen Abstinenzler ins Koma hätte schicken können. Der eine mit einem veilchenblauen Auge, der andere mit einer knochenmäßig ziemlich platten Nase, die aber zum Ausgleich von einer ballonähnlichen Schwellung verziert war – was zum Alkoholpegel wiederum paßte. Inmitten dieser illustren Gästeschar war eine Erkenntnis in mir gereift: Wenn man hier arbeitete, mußte man ein ganz besonderer Mensch sein. Es hatte etwas von Frontcharakter, wenn man in der Notaufnahme Verbände anlegte. Frontcharakter – der zeichnete auf jeden Fall auch Pfleger Gustav aus.

„Wann haben Sie zum letzten Mal gegessen?“ Der diensthabende Mediziner holte mich aus meinen Gedanken heraus.

„Gegessen?“

Alexa und ich hatten ziemlich opulent zu Abend gespeist, Nudelauflauf und Salat, nicht zu vergessen, den Pudding zum Schluß.

„Gegen sieben!“ antwortete Alexa für mich.

„Und noch etwas später“, murmelte ich. Schließlich hatte ich den Nudelauflauf in aller Ruhe zu Ende gegessen, nachdem Alexa aus dem Haus gegangen war.

„Das ist schlecht“, warf der Arzt ein. „Eine sofortige Operation ist in diesem Fall nicht ratsam. Glücklicherweise sind Ihre Entzündungswerte nicht so hoch, daß man auf einer Not-OP bestehen müßte.“

Der Arzt streckte seinen sehnigen Körper und warf nochmal einen Blick auf meine Blutwerte. Der Mann hatte eine olivbraune Haut, einen feingliedrigen, schlanken Körper und schwarzes dünnes Haar. Ein Südamerikaner wahrscheinlich. Auf jeden Fall sprach er perfektes Deutsch.

„Ich schlage vor, wir bringen Sie zunächst mal auf die Station. Dort warten wir bis morgen ab. Natürlich bekommen Sie ein Mittel gegen die Schmerzen, und etwas Entzündungshemmendes sollten Sie auch nehmen. Morgen sehen wir dann weiter.“

Gustav nickte zustimmend. Man konnte annehmen, daß er mit der Vorgehensweise einverstanden war.

„Das geht nicht“, warf ich ein. Der Arzt blickte erstaunt hoch. Gustav stemmte entrüstet die Arme in die Hüften.

„Meine Frau ist hochschwanger. Außerdem erwarten mich meine Schüler, die Zwölf schreibt morgen eine Klausur.“

Der Mediziner sah mich an, als sei ich von allen guten Geistern verlassen. Ein übereifriger Lehrer war offensichtlich das letzte, was ihm in diesem Dienst noch fehlte. Jedenfalls klang seine Stimme, als habe er just in diesem Augenblick entschieden, aus Deutschland auszuwandern. „Die Klausur wird ohne Sie stattfinden müssen. Mit einem akuten Bauch können wir Sie nicht nach Hause schicken. Das ist Ihnen doch wohl klar, oder?“

„Schon!“ Ich wurde etwas kleinlauter. „Ich bin auch durchaus bereit, mich operieren zu lassen. Aber vielleicht muß das ja nicht unbedingt morgen früh sein. Morgen nachmittag würde mir viel besser passen.“ Alexa neben mir starb tausend Tode. Schon im Auto hatte sie wieder darauf herumgeritten, daß Lehrer nicht eben zu den beliebtesten Patienten der Ärzteschaft gehörten – wenn man von ihrer Privatversicherung einmal absah.

„Er steht unter Schock“, sagte meine Gattin wie selbstverständlich. „Ich schlage vor, wir gehen jetzt auf die Station.“

So lief das also. Kaum war man malad, schon wurde man entmündigt. Gerade verheiratet, entschied die liebende Ehefrau. Na ja, vielleicht durfte ich wenigstens, wenn die Dinge schlechter liefen, noch einen Vorschlag für meinen eigenen Grabspruch einbringen. Da mich just in diesem Moment ein heftiger Schmerz durchzuckte, konnte ich den Gedanken leider nicht fortsetzen.

Der Arzt, der Dr. Petras hieß, wandte sich jetzt an Pfleger Gustav: „Informieren Sie mal eben die Drei?“

„Einmal die Drei“, singsangte Gustav lautstark und verließ das Zimmer. Der Mann hatte Freude an seiner Arbeit, das war nicht zu übersehen. Dr. Petras wandte sich jetzt wieder an mich.

„Herr Jakobs, früher oder später muß die Sache ohnehin gemacht werden. Wenn Sie den Blinddarm jetzt aufschieben, könnte er zu einem viel ungünstigeren Zeitpunkt akut werden.“ Dr. Petras blinzelte in Alexas Richtung, vielmehr in Richtung ihres Bauches, wurde aber unterbrochen, als plötzlich die Tür aufging. Ein Herr um die Sechzig schaute um die Ecke. „Haben wir hier die Gallenkolik?“

Dr. Petras stand sofort auf. „So spät noch unterwegs?“ fragte er jovial. „Nein, die Gallenkolik muß woanders liegen. Dies ist ein Blinddarm. Könnte morgen anfallen.“

Aha, ich war also ein Blinddarm. Ganz neues Ich-Gefühl. Immerhin war ich als Blinddarm so interessant, daß der Eindringling einen weiteren Schritt zu uns in den Behandlungsraum kam. Er trug keine weißen Sachen, sondern elegante Freizeitkleidung und hatte einen Sommerblazer über dem Arm. Offensichtlich war der Mann zum Dienst gerufen worden.

„Herr Jakobs möchte morgen nicht operiert werden, weil er noch eine Klausur beaufsichtigen muß“, petzte Dr. Petras. Falls er dabei grinsen mußte, konnte er sich das gut verkneifen.

„Wie sind denn die Werte?“ Der Ältere ging zu Petras und blickte über die Zahlen in meiner Karteikarte.

„Temperaturdifferenz? Druckschmerz?“ Petras nickte.

„Hierbleiben müssen Sie auf jeden Fall“, erklärte der zweite Arzt dann. „An einer akuten Appendizitis sind schon andere gestorben.“

Eine reizende Einführung. Ich bedankte mich mit einem Lächeln.

„Das ist übrigens unser Chefarzt Dr. Peuler“, stellte Petras jetzt seinen Kollegen vor. „Er würde in Ihrem Fall morgen auch die Operation übernehmen.“

„Eine laparoskopische OP“, sagte Peuler in meine Richtung, „das heißt, wir operieren nach dem Schlüssellochprinzip. Kleines Loch, große Wirkung.“ Während Dr. Peuler sich im weiteren über die Genialität seiner Behandlungsmethode ausließ, machte ich mich mit dem Gedanken vertraut, die nächsten Tage im Pankratius-Krankenhaus zu verbringen. Dabei fiel mein Blick plötzlich auf Chefarztens Hände. Der Mann hatte riesige Pranken. Insgesamt war er gar nicht besonders groß gewachsen, aber seine Hände waren ein echtes Phänomen. Vielleicht war der Mann Chirurg geworden, weil er in Zeiten der Personaleinsparungen als einziger mit einer Hand die Bauchdecke aufhalten konnte, um mit der anderen zu operieren. Aber Quatsch. Dr. Peuler wollte ja ganz anders operieren. Große Hände, kleines Loch, wenig Schmerzen.

„Ich schicke Ihnen dann gleich noch unseren Anästhesisten vorbei“, schloß Dr. Peuler seinen Vortrag. Hoffentlich hatte wenigstens Alexa hingebungsvoll gelauscht. „Alles Weitere macht der Kollege.“ Peuler zwinkerte mir aus dunkelbraunen Augen zu und reichte mir seine Pranke. „Bis morgen dann.“

Bis morgen dann! Erst im nachhinein bekamen seine Worte eine besondere Bedeutung. Noch hatte ich keinen Schimmer, daß ich Peuler zwar noch einmal sehen würde, allerdings in einem Zustand, den ich uns beiden lieber erspart hätte.

„Ich geh dann jetzt rüber zur Gallenblase“, sagte der Chefarzt und ging zur Tür. Ich, Blinddarm, wollte noch etwas sagen, aber er, Skalpell, hatte bereits die Klinke in der Hand. Als er einen Schritt in den Flur machte, wäre er beinahe von einem Bett überfahren worden. Vielleicht wäre das eine glücklichere Tötungsart gewesen. Na ja, schwer zu entscheiden. Lenker des Bettes war natürlich Gustav, am anderen Ende hing noch ein zweiter Mann, ein schlaksiger Typ in meinem Alter, der Gustav eindeutig untergeordnet war.

„Tach, Chef“, sagte Gustav. Aber Peuler grummelte nur etwas und war schon auf dem Weg zu anderen Organen. Gustav wandte sich jetzt an Dr. Petras. „Hier ist das Bett“, erklärte er, als könne irgend jemand das Ungetüm übersehen. „Es war sogar noch ein Läufer da. Gott sei Dank. Auf der Drei war nämlich mal wieder keiner frei.“

Was war denn ein Läufer? Das hörte sich mehr nach Leichtathletikstadion als nach Klinikalltag an. Der Typ an Gustavs Seite sah allerdings nicht so aus, als sei er mal mit Ben Johnson um die Wette gesprintet. Er war eher der blasse, unsportliche Typ. Sicher war er als Junge immer als letzter in die Völkerballmannschaft gewählt worden.

„Wenn wir Sie dann mal zum Einsteigen überreden dürften?“ Pfleger Gustav schlug die Bettdecke zur Seite und strahlte mich aus seinem runden Gesicht auffordernd an.

Ich dagegen warf einen verzweifelten Blick zu Alexa hinüber. „Aber ich kann doch laufen“, versuchte ich es. „Wirklich wahr. Meine Beine sind noch ganz in Ordnung. Es ist wirklich nicht nötig, daß Sie –“ In dem Moment durchzuckte mich ein Schmerz. Ich hielt mir die Seite und krabbelte kleinmütig ins Bett.

„Kostet auch nichts extra“, scherzte Gustav und steckte meine Schuhe ans Fußende. „So, Micha“, sprach er seinen stummen Schiebegenossen an, „dann mal ab dafür.“

Als wir über den Gang fuhren, schloß ich die Augen. Allein dieser Geruch: Desinfektionsmittel, Medikamente, Küchengerüche und weniger appetitliche Bestandteile, die sich da zu einer ganz spezifischen Mischung zusammensetzten. Es war immer dasselbe: Sobald ich ein Krankenhaus betrat, überkam mich eine solche Beklommenheit, daß ich am liebsten sofort Reißaus genommen hätte. Leider war das im Moment nicht möglich. Ich hatte einen entzündeten Blinddarm. Und der mußte wohl oder übel raus.

Ich erinnerte mich an einen Krankenhausaufenthalt in Köln. Eine Schnittwunde an der Hand, die ich in der Uniklinik hatte behandeln lassen. Ein Monstrum von einem Krankenhaus, in dem der Hinweis, sich in der Röntgenabteilung zu melden, einen ähnlichen Abenteuerwert hatte wie der Versuch, mit verbundenen Augen ein Maislabyrinth zu durchwandern. Jetzt wohnte ich im Sauerland, wo es in den vielen kleinen und mittelgroßen Städten auch nur kleine oder mittelgroße Kliniken gab. Aber wo man immerhin mit einem kleinen Schnitt eine mittelgroße Wirkung erzielen konnte: Blinddarm weg.

„Herr Jakobs?“ Ich riß die Augen auf und stellte fest, daß wir vor einem Fahrstuhl angelangt waren. „Was machen Sie denn hier?“ Neben meinem Bett stand jemand, der vor kurzem in einen Farbtopf gefallen sein mußte. Jedenfalls sahen seine gelbgefärbten Haare danach aus.

„Benno?“ Tatsächlich, er war’s. Leibhaftig stand er vor mir, mein ehemaliger Geschichtsschüler, immer noch gut an seinen ziemlich abstehenden Ohren zu erkennen. Benno war einer der ersten Schüler gewesen, die ich am Elisabeth-Gymnasium unterrichtet hatte. Ein pfiffiger Junge, der mir auf der Abiturfeier das Sie verboten hatte. „Ab jetzt ist Schluß mit der Oberstufensiezerei!“ hatte er mir feierlich verkündet, und dann hatten er und seine Freunde drei Gläser Sekt hintereinander hinuntergekippt.

„Sind Sie krank?“ Benno zeigte auf das Bett.

„Nein, nur auf einer Probefahrt.“

„Herr Jakobs ist ein Scherzbold“, warf Gustav ein. „In Wirklichkeit ist er wegen Blinddarm hier. Hab’ ich sofort erkannt.“

Bevor der Pfleger die Sache weiter ausführen konnte, kam ein Fahrstuhl an. Sowohl Benno als auch meine Sänftenführer wollten offensichtlich hinein.

„Quetschst du dich dazu?“ fragte Gustav, während er zusammen mit dem anderen Knaben mein Bett hineinschob. Alexa paßte mit ihrem Bauch gerade noch daneben, und auch Benno fand noch ein Eckchen.

„Klar’ fahr ich mit. Ich muß auf die Fünf.“

„Machst du hier eine Ausbildung?“ wollte ich von Benno wissen.

„Nee, Zivildienst.“ Benno grinste.

„Im Notfall nehmen wir sogar Leute mit Abitur“, quatschte Gustav dazwischen und gackerte über seinen Witz.

„Auf welcher Station arbeitest du denn?“

Benno runzelte die Stirn. „Eine Zeitlang war ich auf der Drei.“

„Auf der Drei?“ rief ich erfreut. „Dann sehen wir uns ja häufiger.“

„Aber jetzt bin ich auf der Fünf eingesetzt.“ Benno zog vielsagend die Augenbrauen hoch. Ich wollte gerade nachfragen, als plötzlich im Aufzug ein Piepen zu hören war. Der junge Mann, den Gustav eben als Läufer bezeichnet hatte, nestelte an seinem Gürtel herum. Dann zauberte er eine Art Mini-Handy hervor und nahm ein Gespräch an.

„Sofort, ja“, sagte der Mann ins Handy hinein. Inzwischen hatte der Lift den dritten Stock erreicht. Die Tür öffnete sich lautlos.

„Was Dringendes?“ wollte Gustav wissen.

„Ein Bett für die Eins. Da kommt gleich eine gesprungene Fruchtblase.“

„Dann sieh zu, daß du loskommst. Das Bett kann auch Benno übernehmen, was Benno?“

Benno grinste. Offensichtlich hatte er sich wieder gefangen. „Ich bin zwar nicht im Dienst“, unkte er, „aber für ehemalige Pauker mache ich eine Ausnahme.“ Kurzerhand griff er zu und schob mein Bett nach draußen.

Der angepiepste Bettenschieber blieb im Lift und winkte kurz, als sich die Aufzugtür schloß. „Mach bald Feierabend!“ rief Gustav ihm nach. Der Kollege konnte es schon nicht mehr gehört haben.

„Einer der wenigen Läufer, die richtig was tun“, erklärte Gustav wichtigtuerisch in unsere Richtung.

„Was ist denn eigentlich ein Läufer?“ fragte Alexa. Sie hatte ebenfalls genug von diesem Marathon-Insider- Gedöns.

„Läufer gehören zum Hol- und Bringedienst“, erklärte Benno, während er per Knopfdruck eine Glastür zur Station öffnete. „Sie machen nichts anderes als Betten, Blutproben oder sonstwas durchs Krankenhaus zu transportieren. Per Pieper werden sie von A nach B geschickt.“

„Und warum machen das nicht die Schwestern und Pfleger?“

„Zu teuer. Wenn man Pflegepersonal einsparen will, muß man für die Hilfsarbeiten Ungelernte einstellen. Deshalb geht in der Regel eine Schwester oder ein Pfleger zum Bettentransport und nimmt sich einen Läufer dazu.“

Wie auf Kommando kam uns auf dem Gang plötzlich eine Schwester entgegen. Eine Schwester im doppelten Sinne. Kranken- und gleichzeitig Ordensschwester, wie an ihrer weißen Haube leicht zu erkennen war. Das Pankratius-Krankenhaus war von einem Schwesternorden geführt worden, bevor es in die Hände der Pfarrgemeinde übergegangen war. Offenbar arbeiteten aber immer noch einige Schwestern im Hause. Schon in der Notaufnahme war der Geist des Hauses nicht zu übersehen gewesen. Ein riesiges Kreuz hatte dort für einen nachhaltig katholischen Eindruck gesorgt.

„Willkommen im Pankratius!“ Die Stimme der Schwester war etwas gewöhnungsbedürftig. Wahrscheinlich ersparte sie der Klinik eine Lautsprecheranlage.

„Schwester Berthildis, hiesige Stationsschwester“, murmelte Benno.

„Na, was haben wir denn da alles auf einmal?“ Schwester Berthildis deutete strahlend auf Alexa. Die hob abwehrend die Hände. „Ich bin noch nicht dran. Zunächst muß mein Mann seinen Blinddarm loswerden.“

„Na, das sollte doch wohl gelingen.“ Schwester Berthildis blinzelte durch ihre dickglasige Brille und packte am Bett an, was der Fahrt neuen Schwung verlieh. „Jetzt geht’s erstmal auf Ihr Zimmer.“

Auf dem Flur war trotz der Abendstunde noch einiges los. Vor uns humpelte ein Mann mit zwei Krücken den Gang entlang. Als sich das Bett näherte, preßte er sich an die Wand und ließ uns durch. Mir kam der Verdacht, daß er Berthildis’ Fahrstil schon kannte. Kurz bevor der Gang eine Biegung machte, hielten wir an. Benno öffnete die Tür und lotste mein Bett ins Zimmer hinein. Von der Größe her handelte es sich um ein Zweibettzimmer, doch außer mir war niemand zu entdecken.

„Vorerst haben Sie das Zimmer für sich“, erklärte Schwester Berthildis. Pfleger Gustav sagte gar nichts mehr. Bei Berthildis hatte sogar er nicht mehr viel zu melden. Er klemmte nur noch die Räder des Bettes fest. „Muß wieder auf den Posten!“ erklärte er dann, hob die Hand und zog ab. Benno schloß sich direkt an. „Ich komme bald mal vorbei!“ rief er beim Hinausgehen. „Dann feiern wir ein Revival des Geschichts-Grundkurses.“ Er grinste noch einmal von einem Stehohr zum anderen. Dann machte er sich aus dem Staub. Zehn Minuten später war auch Schwester Berthildis verschwunden, natürlich nicht, ohne mich gründlich einzuweisen und mir die Ankunft eines Anästhesisten zu versprechen. Als sich die Tür hinter ihr schloß, atmete ich tief durch.

„Verdammte Hacke!“ murmelte ich.

Alexa faßte meine Hand. „Alles halb so wild“, beruhigte sie mich. „In drei, vier Tagen bist du hier raus. Dann ist die ganze Sache vergessen. Ich hole dir jetzt etwas zum Anziehen und rufe bei der Schule an. Es wird schon alles ohne dich laufen. Und morgen früh sieht die Welt schon ganz anders aus.“

Dankbar lächelte ich Alexa an und gab ihr einen Kuß.

Morgen früh sieht die Welt schon ganz anders aus.

Wie wahr, was meine Walfrau da sagte.

Wie fürchterlich wahr!

3

Mein Schlaf endete am nächsten Morgen ziemlich abrupt. Ich wußte zunächst gar nicht, wo ich war. Dann sah ich Schwester Berthildis vor mir und erinnerte mich.

„Gut geschlafen, Herr Jakobs?“ Schwester Berthildis war, obwohl schon wieder oder noch immer im Dienst, voller Energie. Das unterschied uns irgendwie grundlegend.

„Ich stelle Ihnen ein Säftchen hier auf den Nachttisch. Trinken Sie das bitte gleich. Dann bekommen Sie von der Narkose schon gar nichts mehr mit.“

Ich fragte mich, ob das wirklich nötig war. Im gestrigen Schmerzmittel mußte auch etwas Einschläferndes gewesen sein. Jedenfalls fühlte ich mich noch immer so kaputt, daß ich eh nichts mitkriegen würde. Um ein Haar wären mir die Augen wieder zugefallen.

„Meine Kollegin wird Ihnen gleich einen Einlauf machen“, zwitscherte Schwester Berthildis weiter. „Bis später!“

Einen Einlauf? Plötzlich war ich hellwach. Offensichtlich hatte ich die wichtigsten Passagen in Dr. Peulers Vortrag gestern wirklich verpaßt! Dann riß ich mich zusammen und konzentrierte mich auf meine baldväterlichen Pflichten. Ich mußte jetzt aufstehen, mich auslaufen und operieren lassen, um möglichst schnell wieder Alexa zur Seite zu stehen. Voller Tatendrang, aber mit eingekniffenem Po machte ich mich auf den Weg zur Toilette. Im Flur wollte ich gerade die Klotür öffnen, als ich ihn hörte. Einen Schrei. Einen Schrei, der durch Mark und Bein fuhr. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Etwas Schreckliches mußte passiert sein. So schrie man, wenn man um sein Leben schrie. Ich ging einen Schritt weiter auf den Flur und schaute, woher der Schrei gekommen sein könnte. Aus Richtung des Schwesternzimmers kam mit Panik im Blick Schwester Berthildis angerannt.

„Woher kam das?“ rief sie im Vorbeilaufen.

„Von da!“ antwortete ich. Die Stationsschwester hastete schon in die richtige Richtung. Ich folgte ihr etwas langsamer. Der Flur machte jetzt einen Knick. Vor uns auf dem Gang stand eine Tür auf. Berthildis blieb stehen und blickte vorsichtig hinein. Aus zwei Metern Entfernung sah ich, wie sie die Hand vor den Mund preßte. Langsam folgte ich ihr und warf ebenfalls einen Blick hinein. Eine Frau stand direkt neben der Tür an die Wand gelehnt. Sie war kalkbleich und wimmerte leise vor sich hin. Ich sah mich angsterfüllt um. Es war ein Büro, das sich vor mir auftat, feudal ausgestattet mit dunklen Eichenmöbeln. In der Mitte ein Schreibtisch, darauf ein Mann, der mit dem Oberkörper auf der Tischplatte zusammengesunken war. Er wandte uns den Rücken zu. Ich konnte nicht glauben, was ich da sah. In diesen Menschen war hineingeritzt worden. Anders konnte man das nicht erklären. Zwei Schnitte mußten in diesen Rücken hineingeritzt worden sein. Das Blut war verlaufen, die Form etwas unregelmäßig. Aber immer noch konnte man erkennen, was die Schnitte darstellen sollten. Ein Kreuz. Das war ein Kreuz. Ein rotes Kreuz auf einem weißen Kittel, der sich langsam mit Blut vollsog. Voller Entsetzen machte ich einen weiteren Schritt auf das Opfer zu. Sein Kopf schwamm in einer roten Lache. Ich erkannte den Mann trotzdem.

Es war der Chefarzt. Dr. Peuler.

Im selben Augenblick merkte ich, daß ich mich übergeben mußte. Ich fühlte mich krank, richtig krank. Im Grunde genommen – krank für zwei.

4

Meine Operation wurde abgesagt. Das komplette Krankenhauspersonal war in heller Aufregung. Nur Notoperationen sollten durchgeführt werden. Dazu gehörte ich offensichtlich nicht. Mir selbst war es immer noch speiübel. Dr. Peulers starrer Blick, den er im Augenblick seines Todes angenommen hatte, geisterte in meinen Gedanken herum. Sein Kopf auf dem Schreibtisch, die Blutlache. Noch nie war mir bewußt gewesen, welch durchdringende Farbe Blut hat. Dieses Rot verfolgte mich. Und dann das Kreuz. Warum tat jemand so etwas? Warum ritzte jemand einem anderen solch ein Kreuz in den Rücken?

Die erste Stunde lag ich praktisch reglos in meinem Bett. Draußen auf dem Flur war inzwischen die Hölle los. Stimmen, Schritte, Türenschlagen – die Polizei mußte mit einem Großaufgebot angerückt sein. Plötzlich kam mir in den Sinn, daß ich Alexa anrufen mußte. Sie durfte nicht hierherkommen, auf gar keinen Fall! Gott sei Dank erreichte ich sie sofort.

„Bleib bitte zu Hause“, riet ich ihr. „Du kannst dir nicht vorstellen, was hier passiert ist!“ Dann erzählte ich, daß ich soeben meinen Operateur tot aufgefunden hatte. Alexa war entsetzt. Ich versuchte daher, mich bei meinem Bericht auf das Nötigste zu beschränken. Die Sache mit dem Kreuz behielt ich für mich.

Als ich den Hörer aufgelegt hatte, sank ich nachdenklich ins Kissen zurück. Schon wieder tauchte das Blut vor meinen Augen auf. Ich versuchte, es beiseite zu schieben. Dr. Peuler war tot. Ermordet offensichtlich. Ich durfte gar nicht darüber nachdenken, daß ich es schon wieder mit einem Mordfall zu tun bekam. Seitdem ich hier im Sauerland wohnte, drängte sich der Verdacht auf, daß ich nicht im Land der tausend Berge, sondern im Land der tausend Morde gelandet war. Dreimal schon hatte ich mit so einer Sache zu tun gehabt. Und jetzt lag Nummer vier nur wenige Zimmer weiter in seiner Blutlache. Dr. Peuler – der Chefarzt. Rein zufällig der Mediziner, der mich just in diesen Minuten eigentlich hätte operieren sollen. Als es klopfte, schreckte ich auf. Langsam öffnete sich die Tür einen Spalt.

„Herr Jakobs?“ Benno schob seinen Kopf durch den Türspalt. „Kann ich hereinkommen?“

„Benno, natürlich.“ Erleichtert lehnte ich mich ins Kissen zurück.

Benno sah mitgenommen aus. Blaß, mit zerstrubbeltem Haar und rotgeränderten Augen.

„Sie haben ihn gesehen, nicht wahr?“

Ich schluckte. „Dr. Peuler. Ja, ich habe ihn gesehen. Er lag vornübergebeugt auf seinem Schreibtisch.“

Benno ließ sich kraftlos auf den Besucherstuhl fallen. Dann schaute er mich durchdringend an. „Kann ich Ihnen was erzählen?“

„Natürlich!“

„Es ist vielleicht ungewöhnlich, wenn ich gerade Sie damit belemmere – ich meine jetzt, wo Sie gar nicht mehr mein Tutor sind. Früher habe ich Sie ja öfter schon mal mit meinen Problemen vollgelabert, vor allem als sich meine Eltern getrennt haben. Auf jeden Fall kann ich über diese Sache schlecht mit jemandem aus dem Krankenhaus reden, und als Sie mich gestern gefragt haben, auf welcher Station ich arbeite, da dachte ich –“

„Schieß einfach los, Benno! Hat es etwas mit dem Krankenhaus zu tun?“

„Ja, speziell mit dieser Station“, Benno sah mich mit großen Augen an, „hier ist irgendwas im Busch.“

„Wie meinst du das?“

„Mir ist vor einigen Wochen etwas Seltsames passiert.“ Benno schien jetzt etwas leichter sprechen zu können. „Ich habe damals hier auf der Drei gearbeitet, das habe ich ja schon erzählt. Aber dann kam so ein Streßtag. Ich mußte überraschend im OP aushelfen – reinschieben, rausschieben, Sachen besorgen, so der übliche Handlangerjob. Eine OP-Schwester mußte ersetzt werden, dafür war eine Krankenschwester von der Eins gekommen, und ich sollte zusätzlich aushelfen, weil mehrere OPs gleichzeitig liefen.“

Ich wartete gespannt, was jetzt kommen würde.

„Wir kriegten eine Not-OP rein, einen Motorradunfall. Wieder mal ein Ruhrpötter, der mit seiner Maschine die sauerländischen Kurven testen wollte. Auf jeden Fall wurde es hektisch im OP – ich sollte für die Anästhesie drei Ampullen Morphium heranholen, die schon im Vorbereitungsraum bereitlagen. Allerdings lagen dort nur zwei Ampullen, eine fehlte. Natürlich habe ich der Anästhesie sofort Bescheid gegeben, als ich die Ampullen abgab. Aber letztlich wurden doch nur zwei gebraucht, und im allgemeinen Trubel ging die Ampulle dann unter. Weil alles so hektisch war, habe ich zunächst mit niemandem mehr darüber geredet. Erst am nächsten Tag habe ich dann den Chef nochmal angesprochen.“

„Du meinst Dr. Peuler?“

„Genau!“

„Und?“

„Peuler hat sich ziemlich aufgeregt. Ich solle aus einer Mücke keinen Elefanten machen und so. Die Anzahl der Ampullen wäre dann eben von der Anästhesie falsch angegeben worden. So etwas passiere auch in gut geführten Häusern, aus kleinen Unachtsamkeiten heraus. Fertig. Aus. Basta. Ich war richtig verschreckt. Peuler war ein Mann, der wußte, was er wollte, aber eigentlich kein aufbrausender Typ. Deshalb war ich von seiner heftigen Reaktion ziemlich überrascht.“

„Vielleicht hat er einfach Streß gehabt?“

„Ja, das habe ich mir natürlich auch gesagt. Immerhin lag Peuler ziemlich mit der Gynäkologie im Clinch. Da hatte er wahrscheinlich genug Ärger am Hals. Ich hätte die Sache auch längst vergessen, wenn sie nicht noch ein zweites Mal passiert wäre.“ Benno scharrte auf dem Boden mit den Füßen herum. „Ein Patient klagte über Schmerzen und wollte ein Schmerzmittel haben. Schwester Beate, die gerade Dienst hatte, hat auf seiner Kurve nachgeguckt und festgestellt, daß er eine Stunde zuvor Dolantin bekommen hatte. Das sollte ich dem Patienten ausrichten. Der behauptete aber, er habe gar kein Schmerzmittel bekommen. Natürlich haben Beate und ich dann erstmal die Kurve studiert, um zu sehen, wer das Dolantin eingetragen hat. Es war auf Dr. Peuler eingetragen, und da es sich um einen Privaten handelte, konnte das durchaus sein. Wir haben dem Patienten dann ein anderes Mittel gegeben, ein weniger starkes. Damit war er zufrieden, aber bei seiner Meinung ist er trotzdem geblieben. Er habe kein Dolantin bekommen, und Dr. Peuler sei am Nachmittag gar nicht mehr bei ihm gewesen.“

„Habt ihr den Chefarzt erneut angesprochen?“

„Ja, ich habe mich am nächsten Tag an ihn gewandt und den Fall geschildert. Peuler hat sich alles angehört und dann gesagt, er habe dem Patienten tatsächlich das Dolantin verabreicht. Offensichtlich habe der es vergessen. Auf jeden Fall wollte er sich darum kümmern und nochmal mit dem Patienten sprechen. Damit war der Fall eigentlich erledigt.“

„Eigentlich?“

„Na ja, Beate hat anschließend den Tag nochmal rekonstruiert und festgestellt, daß Dr. Peuler an besagtem Nachmittag gar nicht mehr im Haus war. Wie soll er dem Patienten dann das Schmerzmittel gegeben haben?“

„Seltsam, ja.“

„Und das ist immer noch nicht alles. Kurz darauf hat sich Beate nochmal an mich gewandt. Beate ist praktisch die stellvertretende Stationsschwester. Sie hat einen ganz guten Überblick. Und sie meinte, in letzter Zeit sei der Verbrauch an morphinhaltigen Präparaten angestiegen. Natürlich kann so etwas je nach Patientenbelegung passieren. Bei vielen schweren Fällen ist auch der Verbrauch an starken Schmerzmitteln hoch. Außerdem verschreibt jeder Arzt anders. Der eine bevorzugt diese Mittel, der andere jene. Nur im Zusammenhang mit unseren vorherigen Erlebnissen ist es Beate aufgefallen. Sie muß öfter den Bestand aufstocken als früher, glaubt sie.“

„Und jetzt denkst du, die Sache könnte mit Peulers Tod zusammenhängen?“

„Liegt das nicht nahe?“ Benno war jetzt sehr erregt.

„Was ist denn das überhaupt für ein Zeug, über das wir hier reden? Morphium klar, das kennt man als starkes Schmerzmittel – aber dieses Dolodingsda. Hat es denselben Wirkstoff?“

„Es geht hier um Medikamente, die Morphine enthalten

– Morphium ist unter den morphinhaltigen Mitteln der gängigste Wirkstoff“, Benno scharrte unruhig mit den Füßen.

„Morphine werden als Schmerzmittel genutzt, wie gesagt. Aber wenn man keine Schmerzen hat, haben sie durchaus eine drogenartige Wirkung. Ich habe das vorher auch nicht gewußt, aber nach dem Vorfall habe ich mich erkundigt. Das Zeug wirkt benebelnd, euphorisierend und hat ein erhebliches Suchtpotential!“

„Man kann also damit Geld verdienen?“