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Sauerlandkrimi & mehr

2008 by Kathrin Heinrichs

ISBN 978-3-934327-10-8

Kathrin Heinrichs

Druckerschwärze

Sauerlandkrimi & mehr

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Für Herbert

Ähnlichkeiten zu realen Orten sind gewollt.
Personen und Handlung des Romans dagegen
sind frei erfunden. Bezüge zu realen Menschen
wird man daher vergeblich suchen.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

1

Heike atmete durch. Die letzte Zeile geschrieben. Auch noch mal auf Fehler durchgeschaut, die Seite konnte endlich in Druck gehen. Das Druckhaus meldete sich nach dem zweiten Klingeln. Höllinghaus. Man kannte sich.

„Unsere Seite 4 ist freigegeben“, gab Heike durch. „Das war die letzte. Schönen Abend noch!“

Toller Spruch. Heike wusste, dass für die Leute im Druckhaus die Arbeit jetzt erst richtig begann.

„Moment, Moment!“, stoppte Höllinghaus sie. „Wo bleibt die Seite 6?“

„Die 6? Keine Ahnung. Sie wissen doch, die 5 und die 6 kommen aus Lentrop. Fragen Sie mal Vorhoff oder – “, Heike fiel es schwer, den Namen auszusprechen, „– Hillebrandt.“

„Immer alles auf den letzten Drücker“, schimpfte Höllinghaus. „Wir haben gleich viertel nach zehn! Verflixte Hacke!“

„Rufen Sie mal in Lentrop durch! Bis morgen dann!“

Nochmal Gebrummel. Dann legte Höllinghaus auf.

Heike starrte einen Moment lang vor sich hin. Sie wusste genau: die Seite 6 machte Thorsten. Die 6 machte immer Thorsten und Vorhoff die 5. Nur wenn Vorhoff im Urlaub war, sah das anders aus.

Gedankenverloren packte Heike ihre Sachen zusammen, dann wählte sie am Computer den Zeitungsserver an. Hier konnte sie nachschauen, welche Seiten noch nicht freigeschaltet waren. Die 6 aus Lentrop war immer noch nicht da. Heike beendete das Programm. Dann zog sie ihre Jacke an und knipste das Licht aus. Sie würde nicht abwarten, ob und wann die 6 hereinkam. Sie würde gar nicht mehr warten. Nie mehr.

2

„Es ist jemand gestorben“, sagte Alexa mit bebender Stimme. Ihre Miene war ernst. „Hör zu. Ich lese dir die Todesanzeige vor:

Edgar

ist von uns gegangen“

Alexa schluckte, bevor sie weiterlesen konnte.

„Unser Freund, Partner und Familienmitglied
hat bereits am 13. Januar 2008 diese Erde verlassen.
Wir bitten, uns auf den Verlust
unseres Katers nicht mehr anzusprechen.
Die Wunden wollen sonst nicht heilen.
Da kommt keiner mehr – und das ist so schlimm.“

Einen Moment lang schien Alexa zwischen Lachen und Weinen zu schwanken. Dann war klar, sie hatte sich für das Erste entschieden. Sie platzte los.

„Das ist nicht ernst, oder? Alexa liefen die Lachtränen über die Wange. „Sag, dass das nicht ernst gemeint ist!“

Ich lachte mit und spürte in der aufkommenden Ausgelassenheit, wie sich etwas in mir löste.

Endlich fiel der ganze Krampf dieses beschissenen Freitags von mir ab. Die sieben Stunden Unterricht. Die Lehrerkonferenz. Der Streit über die Kopfnoten. Aber nun, da ich mit Alexa im Bett lag und sie von Herzen lachen sah, war das alles nicht mehr wichtig.

Schon beim Abendessen war ich so müde gewesen, dass meine Frau einen Zeitungsabend vorgeschlagen hatte. Ich liebte diese Abende ohne Verabredung und Fernsehprogramm. Für Alexa und mich gab es dann nichts Schöneres als im Bett zu liegen, so zu tun, als hätten wir keine Kinder, und Zeitung zu lesen.

„Wunderbar!“, hörte ich meine Frau jetzt aus den Tiefen der Druckerschwärze sprechen. „Hör dir das an! Eine Geburtstagsanzeige:

„Unser Jürgen kriegt ’nen Riesenschreck,
auf einmal ist die 4 vorn weg.
Wir wünschen ihm noch viele Jahre,
bevor er selbst liegt auf der Bahre.“

Ich selbst war gerade mit einer meiner Lieblingsseiten beschäftigt, auf der Neuvermählte und Neugeborene mit immer denselben Sätzen vorgestellt wurden.

„Marco und Evelyne Kruscak haben in ihrer Wohnung in der Damaschkestraße die Wiege aufgestellt“, war unter einem Foto zu lesen, auf dem eine abgekämpfte Mutter mit ihrem Baby abgebildet war. „Ab jetzt wird der kleine Yves ihren Tagesablauf bestimmen.“

„Ach, so ein kleiner Yves“, schwärmte ich, schob die Zeitung beiseite und tastete nach meiner Frau. „Weißt du eigentlich, dass man in meiner rheinischen Heimat statt Yves „Üwwes“ sagen würde? Und fändest du es nicht auch wunderbar, noch einen kleinen Üwwes zu bekommen?“ Zärtlich streichelte ich Alexas Bein. Meine Müdigkeit war aus ungeklärten Gründen beinah verschwunden.

„Ich möchte nicht mit einem Foto in der Zeitung erscheinen, auf dem ich aussehe, als hätte ich sechs Wochen Magen-Darm-Grippe hinter mir.“ Alexas Schnodderton sowie die Tatsache, dass sie immer noch in ihre Zeitung vertieft war, zeigten, dass sie von meinen Streicheleinheiten bislang völlig unbeeindruckt war.

„Auch nicht für Üwwes?“, umschmeichelte ich sie. Einen Moment überlegte ich, kurzerhand das Licht auszuschalten, um Alexa jede Weiterlesemöglichkeit zu nehmen. Stattdessen strich ich vorsichtig an ihrem Oberschenkel hoch. Ich hatte gerade einen Punkt erreicht, der selbst eine Frau wie Alexa nicht ganz unberührt lassen konnte, als das Telefon klingelte.

Alexa und ich schreckten gleichzeitig hoch.

„Nicht drangehen!“, murmelte ich wütend.

„Dann sind die Kinder gleich wach.“

„Es ist halb elf!“, schimpfte ich. „Welcher Idiot kommt auf die Idee, um diese Zeit – “ Noch während ich sprach, hatte ich mich in Richtung Telefon gerobbt.

„Jakobs“, knurrte ich in den Hörer, in unfroher Erwartung, einige meiner Schüler am anderen Ende der Leitung kichern zu hören.

„Wer – wer ist da? Sind Sie das, Herr Jakobs?“ Die Stimme barg Panik. Mir war sofort klar, dass es sich um einen Notruf handelte.

„Wer spricht dort?“

„Simone. Simone Reinold.“

„Simone, was ist los?“

„Es ist … ich wollte …“, die Stimme zitterte, brach ein. Ich hörte ein Schluchzen.

„Simone, wo sind Sie?“

„In der Redaktion. Ich musste noch … ich sollte … wegen so einer Geschichte … aber hier im Büro …“ Wieder brach die Stimme ab. Ich warf einen unsicheren Blick zu Alexa hinüber.

„Simone, versuchen Sie sich zu sammeln. Was ist los bei Ihnen im Büro?“

„Hier liegt …“, erneut endloses Schluchzen, „hier liegt Thorsten. Und er ist … er ist … tot.“

„Tot“, wiederholte ich tonlos. Tausend Bilder schossen mir durch den Kopf. Ich lebte seit zehn Jahren im Sauerland. Seitdem hatte ich einige Tote gesehen.

„Jemand hat ihn erschossen“, brachte Simone jetzt hysterisch heraus. „Jemand hat Thorsten erschossen!“

„Erschossen?“ Ich erstarrte – auch wenn ich nur vage ahnte, wer Thorsten war. „Hören Sie zu, Simone! Sie dürfen nichts anfassen! Lassen Sie alles so, wie es ist. Wir müssen als Erstes die Polizei anrufen.“

„Die Polizei?“

„Natürlich. Die Polizei muss kommen.“

„Die Polizei … die Polizei ist doch …“ Simone bekam kaum ganze Worte heraus. Offenbar stand sie völlig unter Schock.

„Sie haben die Polizei schon verständigt?“

„Meine Mutter! Sie – sie – “ Der Rest ging in lautem Weinen unter.

„Ihre Mutter hat die Polizei verständigt – in Ordnung. Dann werde ich mich jetzt – “

„Nein, nein!“, hörte ich Simone plötzlich aufschreien.

Dann ein Klicken in der Leitung.

„Simone?“ Ich bekam Panik. „Simone?“

Simone antwortete nicht. Ich rief noch zweimal, bevor ich realisiert hatte, dass sie wirklich aufgelegt hatte.

Als ich den Telefonhörer sinken ließ, bemerkte ich, dass Alexa mich mit großen Augen ansah.

„Simone Reinold“, stieß ich hervor, „sie hat aus der Redaktion angerufen. Ich muss – es ist – “

„Langsam!“, Alexa nahm meine Hände. „Beruhige dich erst mal!“

Ich atmete tief durch. „Vielleicht erinnerst du dich. Simone! Eine Schülerin aus der 11. Ich betreue sie im Praktikum. Sie ist beim Sauerländer Anzeiger. Gestern, als ich herumgefahren bin, da habe ich auch sie aufgesucht – in der Redaktion in Lentrop.“

In abgehackten Sätzen gab ich wieder, was Simone mir erzählt hatte.

„Am Ende“, stotterte ich, „da hat sie besonders heftig geschluchzt. „Nein!“, hat sie geschrien. „Nein, nein!“

„Du musst sofort hinfahren!“, sagte Alexa mit Nachdruck.

Ich nickte mechanisch. „Klar, ich fahre hin!“

Ich murmelte es noch, als ich schon auf dem Weg zum Auto war: „Klar, ich fahre hin!“

3

Der Anblick, der sich mir im Redaktionsbüro bot, übertraf alles, was ich bislang an Schrecklichem gesehen hatte. Der Mann lag in seinem Bürostuhl, den Oberkörper weit nach hinten überstreckt, die Hände hinter der Lehne des Stuhles gefesselt. Das Entsetzlichste aber hatte sich in seinem Gesicht abgespielt. Der Mund dieses Mannes war ein schwarzes Loch! Getränkt von dunklem Blut, war sein verstümmelter Schlund eine einzige entsetzliche Wunde! Es dauerte einen Moment, bis ich realisierte: Dem Mann am Schreibtisch war die Zunge herausgeschnitten worden. Es war unfassbar, aber da lag sie vor ihm, die Zunge, auf der Computertastatur, aufgespießt auf einen messingfarbenen Brieföffner.

Es ist kaum beschreibbar, welches Grauen mich bei dem Anblick all dessen erfasste. Nach einem Moment der völligen Starre überkam mich das Entsetzen auf andere Weise. Ich brüllte. Aus voller Kraft brüllte ich all den Schrecken heraus, den dieses Szenario in mir ausgelöst hatte. Ich brüllte, bis jemand mich anfasste, mich hielt, auf mich einredete.

„Vincent!“, hörte ich, musste aber weiterbrüllen, konnte nicht aufhören.

„Vincent! Es ist gut! Vincent!“

Es war Alexas Stimme. Wie war sie hierhergekommen? Jetzt musste auch sie es sehen. Den blutigen Schlund … die Zunge …

„Vincent! Wach auf! Es ist nur ein Traum!“

Ein Traum? Ich versuchte, meine Umgebung wahrzunehmen. Ich lag. Tatsächlich, ich lag. Ein weicher Untergrund, mein Bett. Zu warm alles, schweißnass. Ich spürte, dass ich heftig atmete.

„Es ist alles gut.“ Alexas Stimme, die sanft auf mich einredete. Ihr Arm, der mich von hinten umfasste. Ich hatte geträumt. Ich hatte tatsächlich geträumt. Es gab keine herausgeschnittene Zunge. Keinen blutigen Schlund. Aber – und diese Wahrheit traf mich in diesem Moment ein zweites Mal wie ein Hammer – ein Mord war wirklich passiert. Und – Simone war weg!

Ich fuhr hoch. „Simone! Was ist mit Simone?“

„Die Polizei hat sich noch nicht gemeldet.“ Alexa zog mich sanft zurück. „Mein Gott, Vincent, was hast du denn geträumt?“

„Er hatte keine Zunge mehr.“ Ich merkte, wie kryptisch sich der Satz anhören musste. „Thorsten Hillebrandt, der Redakteur. Man hatte ihm die Zunge herausgeschnitten.“

„Wie furchtbar!“

„Keine Ahnung, wie ich auf so etwas komme. Ich habe ja die Leiche selber gar nicht gesehen. Man hat mich in einem winzigen Abstellraum befragt. Aber ich fürchte, dieses Blut geht mir nach. Das Blut an der Redaktionstür. Wer weiß, wie es drinnen ausgesehen hat.“

Alexa strich mir sanft über den Rücken. Wir lagen eine Weile stumm da. Ich genoss es, meine Frau so nahe zu haben. Mir kam in den Sinn, wie der gestrige Abend begonnen hatte. Und wie sich dann alles gewendet hatte. Unaufhaltsam stiegen die Bilder des vergangenen Abends in mir auf. Die Fahrt nach Lentrop … die Gruppe von Schaulustigen vor der Polizeiabsperrung … die Beamten, die nur die Stirn gerunzelt hatten, als ich darauf gedrängt hatte, Simone zu sehen … und dann drinnen die Nachricht, eine Simone Reinold gäbe es da nicht. Niemand hatte sie gesehen. Tatsächlich hatte es einen Mord gegeben. Thorsten Hillebrandt, einer der Redakteure, war in seinem Büro mit einem Schuss in den Hinterkopf niedergestreckt worden – aber gefunden worden war er von einem Nachbarn. Simone Reinold – wer das überhaupt sei. Dann hatte die Befragung begonnen. Insgesamt hatte ich meine Geschichte viermal erzählt.

„Warum hat Max sich nicht gemeldet?“ Ich drehte mich halb zu meiner Frau um. „Jetzt haben wir schon einen Freund bei der Kripo, und er meldet sich nicht. Ich habe ihm direkt nach der Befragung auf die Mailbox gesprochen.“

„Vincent“, flüsterte Alexa beruhigend, „es ist fünf Uhr in der Früh. Selbst wenn Max deine Nachricht gestern noch gehört hat – er ruft nicht mitten in der Nacht hier an. Entweder er hat Dienst – dann hat er jetzt genug zu tun. Oder er liegt im Bett und schläft. Dann kannst du später mit ihm sprechen. Versuch noch ein bisschen zu schlafen!“

Ich schauderte. „Wenn ich dann noch einmal so fürchterlich träume – nein danke!“ Trotzdem rollte ich mich wieder auf die Seite und versuchte mich zu entspannen.

„Eine herausgeschnittene Zunge“, hörte ich irgendwann Alexa nachdenklich sagen. „Ein interessanter Traum.“

„Ein abscheulicher Traum“, widersprach ich. „Die Zunge war auf einen Brieföffner gespießt. Es sah ein bisschen aus wie ein Grillspieß.“

„Igitt.“ Alexa schüttelte sich in meinem Rücken. „Erinnert irgendwie an Diebe, denen die Hand abgehackt wird. Meinst du, dieser Hillebrandt ist umgebracht worden, weil jemand Angst vor einer Enthüllungsstory hatte?“

„Das liegt nahe. Aber eigentlich möchte ich mir das gar nicht näher ausmalen. Simone sagte am Telefon, sie sei „wegen so einer Geschichte“ noch einmal in der Redaktion gewesen. Schlimmstenfalls ist sie eine Mitwisserin und damit ein weiteres Opfer.“ Ich drehte mich ein wenig auf den Rücken. „Alexa, dieses Blut an der Tür, das könnte von ihr stammen. Womöglich war der Mörder noch am Tatort, als sie mich anrief. In einem der anderen Räume. Vielleicht ist sie überrascht worden und – “

„Verdammte Hacke!“ Alexa brachte die Dinge immer auf den Punkt. Dann kam ihr offenbar ein anderer Gedanke. „Ist es eigentlich üblich, dass in Zeitungsredaktionen so spät noch gearbeitet wird? Oder waren die beiden außer der Reihe im Büro?“

„Nein, nein, so ein Spätdienst ist ganz normal“, erklärte ich. Schließlich hatte ich vor meiner Zeit als Lehrer selbst lange bei einer Zeitung gejobbt. „Aktuelle Artikel werden oft erst zwischen 22 und 23 Uhr übermittelt. Wenn von einer Abendveranstaltung berichtet wird, geht es ja gar nicht anders.“

„Und was ist mit dem Ermordeten, diesem Thorsten? Kennst du ihn? Hast du ihn gestern bei deinem Praktikumsbesuch kennengelernt?“

„Er ist an mir vorbeigelaufen. Ein gutaussehender, jungenhafter Lockenkopf. Anfang dreißig, schätze ich. Wir haben uns nur gegrüßt. Gesprochen habe ich mit dem Redaktionsleiter, mit diesem Vorhoff.“ Diese Begegnung war mir allerdings noch ganz gut im Gedächtnis.

„Was ich auch nicht so richtig verstehe“, ich hörte Alexas Stimme an, dass ihr das, was jetzt kam, nicht ganz angenehm war, „dieses Mädchen, Simone, warum hat sie bei dir angerufen? Ich meine, du bist ihr Lehrer. Sie weiß, dass du weit weg wohnst, dass du ihr nicht unmittelbar helfen kannst. Wieso hat sie hier angerufen – und überhaupt“, Alexa stützte jetzt ihren Kopf auf ihren Arm, „warum wusste sie eigentlich auswendig deine Nummer?“

„Ich habe keine Ahnung, ob sie sie auswendig wusste“, gab ich zurück. Ich merkte selbst, dass meine Stimme Trotz barg. Alexa hatte einen wunden Punkt angesprochen. Eine Frage, die ich mir selbst schon mehrfach gestellt hatte. Warum hatte Simone ausgerechnet mich angerufen? Gut, ich kannte sie schon lange. Seit der siebten Klasse unterrichtete ich sie in Deutsch. Ich hatte sie sozusagen aufwachsen sehen – vom aufgeregten Mädchen beim Lesewettbewerb bis hin zur jungen, hübschen Frau, die in Shakespeares Sommernachtstraum mitgespielt hatte.

Simone war schon ein tolles Mädchen. Ein bisschen alternativ. Auf jeden Fall setzte sie sich angenehm ab von den vielen Mädels in ihrem Alter, die nur ihr Aussehen und Jungs im Kopf hatten. Simone war in einem guten Sinne anders – und ganz nebenbei verfügte sie über großes sprachliches Talent – daher auch ihr Wunsch, Journalistin zu werden, daher ihr Wunsch, das Praktikum beim Sauerländer Anzeiger zu absolvieren. Simone war eine Schülerin, wie man sie sich wünschte. Allerdings – und das war es, was jetzt in mir bohrte – allerdings hatte Simone eine Zeitlang einen engeren Kontakt zu mir gesucht. So sehr, dass ich das Gefühl gehabt hatte, etwas aufpassen zu müssen. Zu Beginn der Oberstufe war sie nach dem Unterricht zu mir gekommen, um mit mir persönlich etwas zu besprechen. Sie fände es affig, sagte sie mir, dass ich sie plötzlich siezen würde. Ob wir nicht die Abmachung treffen könnten, es in diesem Fall beim Du zu belassen. Ich würde sie schließlich schon aus der Mittelstufe kennen. Ich teilte ihr mit, dass ich das für keine gute Idee hielt, da ich ihre Mitschüler ja ebenfalls siezen müsste.

„Und wenn wir es außerhalb des Unterrichts so halten?“, hatte Simone gefragt und mich einen Augenblick zu lange angeschaut.

„Tut mir leid“, hatte ich geantwortet. „Ich möchte da keinen Unterschied machen. Nicht zwischen Unterricht und Nicht-Unterricht. Und nicht zwischen dir und anderen Schülern meines Kurses.“

Simone hatte die Botschaft verstanden. Zwei, drei Unterrichtsstunden lang war sie etwas beleidigt gewesen. Dann hatte es sich gelegt, und unser Verhältnis war so unkompliziert geworden wie schon zuvor. Zumindest hatte ich das gedacht. Warum sie mich allerdings in einer Notsituation wie der am gestrigen Abend als Ersten angerufen hatte, konnte ich mir auch nicht erklären.

„Ich bin für Simone vielleicht so eine Art erwachsener Vertrauter“, sagte ich vage in das Dunkel des Schlafzimmers hinein. „Sie wächst ohne ihren Vater auf.“

„Hat sie schon öfter hier angerufen?“ Alexas Stimme war plötzlich scharf. Das ärgerte mich.

„Selbstverständlich“, erwiderte ich ebenso scharf, „sie ruft immer dann an, wenn du zum Sport bist.“

„Tut mir leid“, sagte Alexa. Ich konnte mich täuschen, aber ihr Arm auf meiner Hüfte wirkte plötzlich seltsam starr.

4

Wolfgang fuhr seine Forke mit einer solchen Wucht in die Streu, dass er seinen Stoß kaum aufhalten konnte. Er wusste nicht, was er denken sollte. Er wusste nicht, was da vor sich ging. Warum das alles so war. Nur gut, dass Annegret jetzt da war. Er hätte es nicht länger ausgehalten im Haus. Wo er Mutters Weinen anhören musste. Und wo Vaters starr blickenden Augen an diesem Morgen eine Träne entwichen war. Eine Träne, die nur er, Wolfgang, wahrgenommen hatte.

Seitdem dieser Mann da gewesen war, war alles in Aufruhr. Er war gekommen, als Wolfgang gerade zum ersten Kaffee in der Küche gesessen hatte. Mutter hatte ein wenig herumgefuhrwerkt, was ihn eigentlich störte, wenn er seinen ersten Kaffee trank und Zeitung lesen wollte. Dann hatte es plötzlich an der Haustür geklopft. Sie hatten keine Klingel. Immer noch nicht. Obwohl Thorsten mehrfach gesagt hatte, das sei unmöglich. Auch hier in Rixen könne man nicht mehr den ganzen Tag die Tür unverschlossen lassen, so dass jeder hereinspazieren könne. Aber wer spazierte bei ihnen schon herein? Onkel Werner, wenn er vorbeikam … Klaus, wenn er sich etwas ausleihen wollte … die Pflegerinnen … Frau Werner. Eine Handvoll Leute. Und alles Leute, die man kannte.

Aber Thorsten! Zu allem einen guten Rat. War vielleicht achtmal im Jahr zu Hause und riss dann das Maul auf, als wäre er hier der Boss! Und Mutter ging natürlich voll darauf ein. Thorsten hier, Thorsten da! Er, Wolfgang, konnte sagen, was er wollte, und kam damit nicht durch. Thorsten aber, ihr Thorsten, der hatte immer recht. Der Star der Familie. „Der ist was geworden!“ Wenn Mutter das sagte, konnte Wolfgang sich immer nur mit Mühe zurückhalten. Aus Thorsten war was geworden – und aus ihm? Und Annegret? Wer saß denn hier fest und machte den Hof? Wer hörte sich Mutters Jammereien stundenlang an? Wer fuhr sie zum Arzt? Zum Friseur? In die Stadt? Wer half der Pflegerin, wenn Vater gewendet werden musste? Thorsten nicht. Thorsten hatte ja mit seinem Beruf zu tun. Wie oft er das hören musste. Dass Mutter sagte: „Thorsten hat ja mit seinem Beruf zu tun.“ Wolfgang hatte auch mit seinem Beruf zu tun. Übrigens 14 Stunden am Tag.

Wenn Thorsten kam, machte Wolfgang sich meistens vom Acker. Das musste er sich nicht antun. Auch noch Thorstens Heldengeschichten mitanhören!

Mutter hatte das längst mitgekriegt, dass er immer verschwand. „Bleib mal hier!“, hatte sie letztens zu Wolfgang gesagt. „Dann hörst du auch mal was Neues.“ Da war er natürlich extra gegangen. Und leider zu früh wieder nach Hause gekommen. In der Regel war Thorsten zum Abendbrot schon weg. Letzten Sonntag aber nicht. Da hatte er noch dagesessen, als Wolfgang zurückkam, und sogar gesagt, das sei aber schön, dass sie sich doch noch mal sähen. Wolfgang hatte gute Miene gemacht, nichts groß gesagt, und Thorsten hatte sich richtig Zeit für ihn genommen. Er hatte sich den Stall zeigen lassen und ihn tausend Sachen gefragt. Ob er nicht schon mal über Bio-Haltung nachgedacht hätte. Das wäre stark im Kommen, ein Markt mit Zukunft. Der Bedarf sei so groß, dass der Handel kaum versorgt werden könne. Er habe ihm da mal ein paar Informationen zusammengestellt – wie man da einsteigen könne und so. Er habe ihm das auf einen USB-Stick geladen.

„Hör mir auf mit Bio!“, hatte Wolfgang gesagt. „Was da an Schindluder getrieben wird! Der Dünger, der in Scharfenberg aufgetragen worden ist, der wurde auch als Bio-Dünger verkauft.“

„Du meinst den PFT-Fall?“, hatte Thorsten gemeint. „Schlechtes Argument. Das war ein kriminelles Delikt. Deswegen ist doch nicht die ganze Bio-Branche schlecht.“

Wolfgang hasste es, wenn sein Bruder so sprach. „Schlechtes Argument!“ Er war doch nicht in der Schule. Diese Sprache hing ihm zum Hals raus. Er war dann nach draußen gegangen, hinten rüber zur Weide, aber Thorsten war ihm gefolgt. Hatte sich neben ihn auf die Bank gesetzt und Wolfgang befragt. Wie Wolfgang sich das weiter vorstellte mit dem Hof und allem Drum und Dran.

Wolfgang war irritiert gewesen. „Was meinst du denn – wie ich mir das vorstelle?“

„Mit Papa, zum Beispiel. Wollt ihr ihn wirklich weiter zu Hause pflegen?“

„Ja, wie denn sonst?“, hatte Wolfgang gefragt.

„Und überhaupt – der Hof – glaubst du, dass du das noch lange durchhältst? Wie sind denn die Zahlen? Musst du zuschießen? Das ist auf Dauer nicht gut.“

„Wieso – wie meinst du – ?“

„Ich meine, das ist ja nicht nur dein Ding“, hatte Thorsten ihn unterbrochen. „Du hast den Hof übernommen. Aber du glaubst ja wohl nicht im Ernst, dass das ohne einen Ausgleich möglich ist. Wir sollten uns endlich mal darüber unterhalten, inwieweit du uns auszahlen musst, Annegret und mich.“

„Auszahlen?“ Wolfgang war aus allen Wolken gefallen. „Davon war doch bislang nie die Rede.“

Thorsten hatte ihn angeschaut mit einem Blick, in dem sein Unverständnis über so viel Naivität zum Ausdruck kam.

„Wolfgang, du bekommst ein riesiges Wohnhaus – und dazu Wald- und Ackerflächen ohne Ende. Du wirst bis zu deinem Lebensende niemals Miete bezahlen. Das ist bei Annegret und mir anders. Wir müssen ein Haus kaufen, wenn wir eins haben wollen. Kaufen, verstehst du? Kaufen – für Geld. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum du mit allem versorgt wirst – Beruf, Haus, Land – während wir uns durchschlagen müssen.“

Wolfgang war fassungslos gewesen. Ihm war so vieles eingefallen, was man hätte sagen können. Und nichts davon hatte er herausbringen können.

„Damit du mich nicht falsch verstehst, Wolfgang, mir ist durchaus bewusst, was du hier leistest. Aber Annegret und ich haben ja bis auf ein Grundstück noch gar nichts bekommen!“

Wolfgang hatte nicht einmal genickt. Aber das war auch nicht nötig gewesen. Thorsten hatte sofort weitergesprochen. Und jetzt in einem netten, brüderlichen Ton.

„Weißt du, jetzt nach dem Kyrill-Schaden hast du viel Holz verkaufen müssen. Du hast mehr Einnahmen als du normalerweise hättest. Die musst du teuer versteuern, wenn du die Einnahmen verbuchst. Es wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, die Auszahlung vorzunehmen.“

Wolfgang konnte nicht sprechen. Dabei gab es so viel. Er konnte die höheren Einnahmen über mehrere Jahre versteuern. Das gehörte zum Kyrill-Vertrag, den die Landwirtschaft ausgehandelt hatte. Viel wichtiger aber, er brauchte das Geld. Er brauchte das Geld verdammt dringend. Er würde in den nächsten Jahren kaum Holz schlagen können, weil der Sturm alles niedergemacht hatte. Und er brauchte einen neuen Trecker. Und eine neue Futteranlage, und die Scheune musste neu gedeckt werden, und –

„Denk mal drüber nach!“ Thorsten hatte ihm auf die Schulter geklopft. „Denk einfach drüber nach!“ Dann war er aufgestanden, hatte sich gestreckt und einen Blick über die Landschaft geworfen. „Mensch, Wolfgang, wie schön es hier ist! Du bist schon ein Glückspilz, dass du so wohnst.“

Noch ein freundlicher Blick, dann hatte er sich umgedreht und war zum Haus zurückgegangen.

„Thorsten!“ Wolfgang hatte auf einmal das Gefühl gehabt zu wissen, warum Thorsten hinter dem Geld her war.

„Willst du Heike heiraten?“

„Heike?“ Thorsten hatte sich umgedreht und Wolfgang angeschaut. Erstaunt. Fast ein bisschen belustigt. „Wie kommst du denn darauf? Nein, nein, Heike und ich, wir sind nicht mal mehr zusammen.“ Und nach einem kurzen Moment hatte er gegrinst und gesagt: „Du weißt doch, Wolfi, wir beide sind nicht fürs Heiraten gemacht. Wir bleiben allein.“ Dann war er gegangen.

Wolfgang war über all das nicht hinweggekommen. Dass Thorsten Ansprüche stellte. Er, der nie etwas eingebracht hatte. Dass er die Kyrill-Katastrophe nutzen wollte, um sich sein Teil herauszuschneiden. Aber auch: dass er sich von Heike getrennt hatte. Heike, die die wunderbarste Frau war, die Thorsten jemals mitgebracht hatte. Eine Frau, die er gar nicht verdient hatte – und die er trotzdem hatte laufenlassen.

Wolfgang hatte das alles nicht einordnen können – und das, was jetzt war, noch viel weniger. So oft hatte Wolfgang sich gewünscht, dass es seinen Bruder nicht gab. Aber jetzt … jetzt … jetzt war alles schlimm. Mutter weinte. Und selbst Vater hatte geweint. Wolfgang wurde den Gedanken nicht los, dass Vater nicht nur um seinen Jüngsten trauerte, sondern dass er vermutete, dass er, Wolfgang, mit dem Tod zu tun haben könnte. Denn wenn jemand wusste, wie Wolfgang zu seinem Bruder stand, dann war es sein Vater.

Wolfgang hatte noch keine Gelegenheit gehabt, mit seinem Vater allein zu sein, mit ihm in Ruhe zu sprechen. Ihm zu erklären, wie sich das alles verhielt. Erst war dieser Mann da gewesen, Thorstens Chef. Und dann war Annegret gekommen. Es war ein schrecklicher Aufruhr, alles durcheinander. Auch der Arzt war gekommen, weil Mutter einen Herzanfall bekommen hatte, und die Pflegerin war zum Waschen gekommen. Wolfgang war froh gewesen, in den Stall verschwinden zu können. Er war mit der Arbeit längst fertig, aber nichts trieb ihn zurück.

Da, schon wieder ein Auto. Ein fremdes Kennzeichen. Eine Frau stieg aus, und dann, etwas beschwerlich, ein Mann. Das war die Polizei. Wolfgang wusste es sofort. Er atmete durch. Warum musste alles immer noch schlimmer kommen, als es schon war?

5

„Rixen ist ein komischer Name“, Ina stieg mit Schwung aus dem Auto. Im Gegensatz zu Max war sie frisch. Sie war erst am Morgen zur Truppe gestoßen. „Hört sich gar nicht sauerländisch an.“

„Mhm“, zu viel mehr sah sich Max nicht in der Lage, während er sich aus dem Autositz quälte.

„Aber dafür sieht es ziemlich sauerländisch aus“, Ina sah sich unternehmungslustig um. „Schöner Hof! Die alten Bäume – das Fachwerk – gefällt mir gut. Aber ulkig, nicht wahr? Mitten im Dorf – so ein großer Hof!“

Zum Glück konnte Ina gut damit leben, wenn man nicht antwortete. Selbstgespräche waren ihr täglich Brot. Zumindest wenn sie mit Max unterwegs war.

„Guten Tag!“ Ein Junge ging den Fußweg entlang, an der Hofeinfahrt vorbei.

„Hallo!“, grüßte Max freundlich zurück.

Ina sah ihn verdattert an. „Kanntest du den?“

„Nee, wie sollte ich?“

„Warum grüßt er uns dann?“

„Weil das hier auf dem Dorf noch üblich ist, dass man sich grüßt.“

Ina stutzte. Wahrscheinlich hatte sie ab jetzt das Gefühl, in Bullerbü gelandet zu sein.

„Ist ja Wahnsinn!“, sagte sie schließlich. Dann orientierte sie sich kurz und ging zur Haustür hinüber.

„Warte mal eben!“

Ina sah sich erstaunt um. „Was ist los?“

„Gib mir eine Minute! Ich bin noch nicht richtig wach.“ Max war im Auto eingedöst. Er fühlte sich wie um zwanzig Jahre gealtert. Und er fühlte sich so, als könne er jetzt unmöglich in dieses Haus hineingehen und einer Bauernfamilie die Todesnachricht ihres Sohnes überbringen. Er ließ seinen Blick über den Hof schweifen. Zwei Autos standen da. Ein alter Kadett und ein neuerer Golf. Beide mit dem Kennzeichen des Hochsauerlandkreises. Dann fiel sein Blick auf eine Wasserpumpe, die über ein altes Becken ragte.

„Moment mal eben!“ Max ging die paar Meter. Der Schwengel war schwer beweglich, aber man merkte sofort, dass die Pumpe grundsätzlich funktionierte. Ein kleines Rinnsal begann schon beim ersten Pumpen zu fließen. Beim zweiten kam ein richtiger Schwall. Max bewegte den Schwengel drei-, viermal, fing dann mit beiden Händen das Wasser auf und erfrischte damit das Gesicht. Es war eiskalt und ließ seinen ganzen Körper erschauern.

„Soll ich dir auch noch deine Zahnbürste holen?“ Inas Ton war spöttisch.

„Ein Handtuch wäre nett.“

Ina verdrehte die Augen.

„Dann muss es eben so gehen.“ Max rieb sich das Gesicht am Ärmel seiner Jacke ab. Goretex – nicht gerade saugfähig.

„Ich wäre dann so weit.“

„Phantastisch!“ Ina klopfte ihrem Kollegen auf den Rücken, dann gingen sie zur Haustür hinüber.

„Keine Klingel!“ Ina hatte es kaum ausgesprochen, da öffnete sich auch schon die Tür. Eine Frau, Mitte vierzig, etwas unförmige Jeans, Rollkragenpullover. Vor allem aber rotgeweinte Augen. Ina streifte Max mit einem fragenden Blick.

„Kriminalpolizei“, sagte sie dann und zückte ihren Ausweis. „Mein Name ist Ina Rüther, das ist mein Kollege Max Schneidt. Dürfen wir einen Augenblick hereinkommen?“

„Natürlich.“

Die junge Frau führte die beiden durch eine schlicht eingerichtete Diele in ein Wohnzimmer hinein. Es sah aus, als würde es nur selten genutzt. Max wunderte das nicht. Sicher spielte sich das Leben überwiegend in der Küche ab. Wenn es denn hier überhaupt Leben gab. Bislang wirkte alles öde und leer. Und das biedere Chippendale-Wohnzimmer konnte dem nicht entgegenwirken. Hier hatte sich garantiert seit 30 Jahren nichts mehr verändert. Max erinnerte sich, dass er ein solches Ambiente mal in der Fernsehsendung „Bauer sucht Frau“ gesehen hatte. Wenn seine Erinnerung ihn nicht täuschte, hatte die vermittlungswillige Frau ziemlich schnell Reißaus genommen. Max räusperte sich.

„Frau Hillebrandt?“, wandte er sich unsicher an die Frau, die sie zum Sitzen aufgefordert und nun selbst auf der äußersten Kante eines Sessels Platz genommen hatte.

„Ich bin eine geborene Hillebrandt“, erklärte die Frau. „Jetzt heiße ich Höffelmann. Annegret Höffelmann. Thorsten ist – Thorsten war mein Bruder.“ Die Frau weinte leise in sich hinein.

„Moment, Moment!“ Inas Stimme war sehr bestimmend. „Woher wissen Sie überhaupt vom Tod Ihres Bruders?“

Annegret Höffelmann sah erstaunt hoch. „Na, von seinem Chef. Herrn Vorhoff. Er war heute Morgen in aller Frühe hier.“

Ina und Max sahen sich stirnrunzelnd an.

Bevor sie sich jedoch äußern konnten, öffnete sich plötzlich die Tür und eine alte Frau erschien im Türrahmen. Auch sie hatte offensichtlich viel geweint, ihr Gesicht sah völlig verquollen aus. „Sind die Herrschaften wirklich von der Polizei?“ Ihre Stimme war zittrig.

„Mutter, wir hatten doch abgesprochen – “, die Tochter fuhr hoch und ging ihrer Mutter entgegen. „Sie hatte einen Herzanfall, als sie es erfuhr“, erklärte sie in Richtung der Gäste.

„Ich möchte hören“, die Mutter schluckte hörbar, „ich möchte hören, wer das getan hat.“

„Ich glaube nicht, dass die Polizei dazu schon etwas sagen kann“, die Tochter drehte sich fragend um, „oder haben Sie den Täter schon gefasst?“

„Nein, nein“, beeilte Max sich zu sagen. „Im Gegenteil, wir sind auf Ihre Hilfe angewiesen. Deshalb – wenn Ihre Mutter es sich zutraut – wir wären dankbar, mit Ihnen beiden zu sprechen.“

Die Tochter warf einen prüfenden Blick auf ihre Mutter. Die gab ihn halbwegs sicher zurück. „Ich bleibe!“, sagte sie. Es dauerte etwas, bis sie sich auf einem Stuhl niedergelassen hatte.

„Zunächst mal“, begann Ina, „es tut uns sehr leid, was mit Ihrem Sohn beziehungsweise Ihrem Bruder passiert ist. Ich bin nicht sicher, was Ihnen dieser Vorhoff heute Morgen erzählt hat –“ Sie blickte die beiden Frauen fragend an.

„Na, dass er erschossen worden ist. Thorsten.“ Die Schwester kämpfte mit aufkommenden Tränen. „In seinem Büro.“

„Das ist richtig. Hat er noch mehr erzählt?“

Die Schwester brauchte einen Moment, bis sie sicher war, halbwegs sprechen zu können. „Eigentlich nicht sehr viel. Eigentlich hat er mehr gefragt.“

Max sah Ina an, was sie dachte. Hillebrandts Chef würde daraus eine Homestory machen. „Die armen Hinterbliebenen“. „Die weinende Mutter“. Blut und Tränen waren eine gelungene Kombination.

„Nun, für uns ist es wichtig, mehr über Thorstens Lebensund Arbeitsumfeld zu erfahren. Hatten Sie viel Kontakt?“

„Nein“, schoss es aus der Schwester heraus, dann etwas sanfter: „Er kam nicht sehr oft.“

„Er musste viel arbeiten“, nahm die Mutter ihren Jungen in Schutz. „Aber letzte Woche war er noch da.“

„Aha!“ Ina hob eine Augenbraue.

„Ja, am Sonntag.“

„Er ist relativ kurzfristig gekommen“, erklärte die Schwester. „Ich selbst hab ihn kaum gesprochen. Ich wohne ja nicht hier. Ich wohne in Brilon. Aber nachmittags bin ich kurz vorbeigekommen, um nach Papa zu sehen.“ Sie zeigte nach oben. „Unser Vater ist bettlägerig. Ein Schlaganfall. Pflegestufe III.“

Ina nickte. Max fiel auf, dass sie sich nicht abgesprochen hatten, wer mitschrieb. Unwillig kramte er in seiner Jackentasche herum und angelte einen Kuli und ein Notizbuch heraus.

„Jedenfalls kam Thorsten kurz nach Mittag, stimmt doch, Mama, woll?“

Die Mutter nickte. „Es war so schade, dass er nicht zum Essen gekommen ist. Er isst viel zu selten warm. Er ist ja immer unterwegs. Bei uns hätte er endlich mal wieder Braten gekriegt.“

„Er kam also am Sonntag, nach Mittag. Ist Ihnen etwas aufgefallen? War er aufgeregt? Hat er von etwas Bestimmtem erzählt?“

„Von etwas Bestimmtem?“ Die Mutter wiederholte den Satz monoton. „Er hat erzählt, dass er viel arbeiten muss.“

Ina wandte sich an die Tochter. „Hat er sich Ihnen gegenüber genauer geäußert?“

„Er hat mir ein Buchhaltungsprogramm empfohlen“, erklärte sie. „Ich mache die Buchhaltung hier für den Hof. Mein Bruder bewirtschaftet ihn. Mein großer Bruder. Wolfgang. Ich helfe ihm, wenn es um den Schriftverkehr geht, bei Abrechnungen und so.“

Wolfgang. Endlich hatte Max etwas, was er aufschreiben konnte.

„Er ist irgendwo draußen. Wahrscheinlich im Stall.“

„Buchhaltung“, griff Ina das Thema wieder auf. „Gab es sonst etwas, was Ihr Bruder erwähnte? Zum Beispiel, woran er für die Zeitung arbeitete?“

„Davon hat er nie viel erzählt.“ Die Mutter umgriff mit beiden Händen die Armlehnen ihres Stuhls. „Das ist ja eine ganz andere Welt.“

„Er hat gar nichts erzählt?“

„Da war schon noch etwas“, die Tochter schaute Max und Ina nicht an. Sie schwamm mit ihrem Blick auf dem Teppich herum. „Heike.“

Der Kopf der Mutter fuhr herum. Die Tochter wich ihrem Blick aus.

„Das war seine Freundin. Ich hab ihn nach ihr gefragt, und da hat er erzählt – Thorsten – nun, die beiden waren nicht mehr zusammen.“

„Das wusste ich ja gar nicht.“ Die Augen der Mutter blitzten.

„Er hat es dir wahrscheinlich nicht erzählt, weil du – naja, weil du es nicht verstanden hättest. Er wusste ja, dass du dir wünschst, dass er endlich heiratet. Er wollte sich nicht rechtfertigen, weil er wieder Schluss gemacht hat.“

„Hat Ihr Bruder häufiger die Beziehungen gewechselt?“

„Nein!“, fuhr die Mutter dazwischen. Sie verteidigte ihr Junges tapfer.

„Ganz normal“, die Tochter schien objektiver zu sein. Ina versuchte, sie mit Blicken zu ermuntern. „Mit Heike war er über zwei Jahre zusammen. Und diesmal habe ich wirklich gedacht – davor hat er häufiger gewechselt – also, er war kein Frauenheld, wirklich nicht. Aber jemand, der sich schwertat, wenn er sich festlegen sollte.“

Max registrierte, dass die alte Frau Hillebrandt zusammengesunken war. Thorsten hatte sich ihr nicht anvertraut. Er hatte wieder seine Freundin verlassen. Und jetzt war er tot. Das verstand sie alles nicht.

„Diese Heike“, begann Ina. „Wie hieß sie mit Nachnamen?“

„Jablonski. Heike Jablonski. Eine Kollegin.“

„Eine Kollegin?“ Ina war überrascht. Sie warf einen Blick zu Max hinüber. „Ich dachte, das wäre so eine Miniredaktion.“

„Sie arbeitet in einer anderen Stadt, aber bei derselben Zeitung“, erklärte Annegret Höffelmann, „dort war Thorsten auch, bevor er in Lentrop eingesetzt wurde.“

„Verstehe.“

„Ist es denn tatsächlich möglich, dass Heike unseren Thorsten – “ Frau Hillebrandt hatte sich plötzlich aufgesetzt und starrte ihre Tochter mit einer Mischung aus Entsetzen und Wut an.

„Mutter, wie kannst du das denken? Ich habe nur erzählt, dass die beiden sich getrennt haben. Das hat mit Thorstens Tod überhaupt nichts zu tun.“

„Ja, aber – “

„Nichts aber!“, fuhr die Tochter dazwischen. Einen kurzen Moment schwiegen alle. Dann klingelte plötzlich Inas Handy.

„Entschuldigung“, murmelte sie. „Ich bin sofort zurück.“ Sie ging in den Flur.

„Wieso das denn?“, hörte Max sie sagen. Sie hätte auch vom Wohnzimmer aus telefonieren können.

„Ich fürchte, viel mehr können wir Ihnen gar nicht sagen“, wandte sich die Tochter plötzlich an Max. „Und diese Sache mit Heike – ich glaube, die sollten Sie nicht überbewerten. Thorsten hat mir ausdrücklich gesagt, Heike und er verstünden sich weiterhin gut. Sie seien schließlich Kollegen und müssten auch in Zukunft zusammenarbeiten.“

Max schluckte. Zu diesem Thema sagte er lieber nichts. Er hatte selbst so etwas hinter sich. Eine Beziehung mit seiner Vorgesetzten – die wahrscheinlich genau in diesem Moment im Flur mit Ina telefonierte: „Ja, ich sag’s ihm. Aber ich halte das nicht für eine gute Idee. Noch eine andere Sache. Als wir hier ankamen –“

„Ihr Bruder hat Ihnen nicht erzählt, ob er im Moment an einer besonderen Geschichte arbeitete?“, hakte Max jetzt zum dritten Mal nach, um vom Telefongespräch im Flur abzulenken. „Irgendetwas, das ihn besonders beschäftigte, das er als besonders brisant dargestellt hätte?“

„Er hat eigentlich gar nicht von seiner Arbeit erzählt“, erklärte die Schwester. „Er hat sich nach dem PFT-Fall im Nachbarort erkundigt, das ist alles, was mir einfällt.“

„PFT?“ Max runzelte die Stirn.

„Vielleicht haben Sie davon gehört“, die Schwester zog die Augenbrauen zusammen. „Es hat eine Trinkwasserverunreinigung in der Region Arnsberg gegeben, weil im Nachbarort auf einen Acker falscher Dünger aufgetragen worden ist.“

„Falscher Dünger?“ Max erinnerte sich dunkel an den Umweltskandal. „Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen jetzt nicht danach ist“, sagte er deshalb vorsichtig, „aber vielleicht können Sie mir trotzdem ein wenig über die Hintergründe erzählen.“