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Über dieses Buch:

Für Marie und Ronaldo rückt der große Tag in greifbare Nähe – endlich heiraten sie! So viel haben sie gemeinsam durchgestanden und sich nun ein Happy End verdient. Alles könnte so schön sein … ja, wäre da nicht Maries Mutter, für die eine standesamtliche Trauung geradezu eine Zumutung ist; und nicht nur das stellt die Liebe von Marie und Ronaldo auf eine harte Probe …

„Zehn Etagen bis zum Glück“ ist der dritte Teil einer Serie voller Gefühle: Liebe, Pech, Verrat und Glück – die perfekte Mischung zum Mitfiebern!

Über den Autor:

Christian Pfannenschmidt, geboren 1953, war Journalist und Reporter für die Abendzeitung, München, den Stern und das Zeit-Magazin. Heute lebt er als Autor in Köln und Berlin. Von ihm stammen unter anderem die Drehbücher der ZDF-Erfolgsserie Girlfriends. Der Seerosenteich wurde in mehrere Sprachen übersetzt und in der Verfilmung, als ARD-Zweiteiler, verfolgten über 6 Mio. Menschen die Karriere von Isabelle, dem Mädchen vom Lande, das zur Chefin eines Modeimperiums aufsteigt. 2003 gründete er eine eigene Fernsehproduktion und setzte seine persönliche Erfolgsgeschichte mit TV-Serien wie u.a. Die Albertis und Herzensbrecher – Vater von vier Söhnen fort.

Christian Pfannenschmidt veröffentlichte bei dotbooks bereits Die Albertis und Der Seerosenteich.

Die Website des Autors: www.christianpfannenschmidt.de

Die Charaktere der Girlfriends-Serie haben den Autor nicht mehr losgelassen. Und so hat er – basierend auf den Drehbüchern – sieben Romane über die Freundinnen Marie, Ilka und Elfie geschrieben:

Band 1: Fünf Sterne für Marie

Band 2: Freundschaft auf den dritten Blick

Band 3: Zehn Etagen bis zum Glück

Band 4: Demnächst auf Wolke sieben

Band 5: Kurz vor zwölf im Paradies

Band 6: Das 1x1 zum großen Glück

Band 7: Frühstück für zwei

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Neuausgabe März 2015

Copyright © der Originalausgabe 1998 Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg

Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de

Titelabbildung: Thinkstockphoto/istock

ISBN 978-3-95824-069-8

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Christian Pfannenschmidt

Zehn Etagen bis zum Glück

Roman

dotbooks.

Kapitel 1

Es war ein Arbeitstag wie jeder andere im Hanssons Palace: hektisch in den Kernzeiten, vorher und hinterher Routine. Für die Damen vom Schreibpool war es für heute zu Ende.

Fröhlich kamen Vera, Katja, Frau Wolf und Elfie aus dem Hotel und winkten dem Portier zu. Schmollke hatte zwar noch ein paar Stunden Dienst vor sich, aber das konnte seine Laune nicht trüben. Lachend winkte er zu den vieren zurück.

»Wenn ich’s dir doch sage!« Elfie redete auf Vera ein und verdrehte ungeduldig die großen Augen. »Den Film mußt du dir ansehen!« Und da Vera immer noch keine Reaktion zeigte, holte sie nun zum ultimativen Beweis aus: »Sogar Rob hat geweint.«

Vera zog die Mundwinkel nach unten. Elfie und ihr Liebesglück! Elfie und ihre grenzenlosen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung! Singen, Tanzen, das Checkers – und immer alles mit Rob! Während sie selbst ihren kleinen Florian hütete und schon froh war, wenn Stefan sie abends wenigstens anrief. Das war hart, aber nichts, was sie Elfie vorwerfen konnte oder wollte. Deshalb sagte sie jetzt nur leise: »Wann soll ich denn ins Kino gehen, Elfie? Seit Stefan wieder in Düsseldorf ist und seinem Vater in der Fabrik zur Seite steht, komme ich doch kaum noch aus dem Haus.«

Elfie machte eine wegwerfende Handbewegung, nach dem Motto: Wer nicht will, der hat schon! Sollte bloß hinterher keiner kommen und behaupten, sie hätte niemanden auf diesen tollen Film und seinen Helden aufmerksam gemacht! »Trotzdem«, sagte sie abschließend. »Keanu Reeves ist einfach zum Knutschen!«

Katja lachte kurz auf und schüttelte den Kopf Elfte hatte den Namen komplett deutsch ausgesprochen, und Katja korrigierte sie nun, wohl wissend, daß es Elfie vollkommen schnuppe war, ob der Knuddeltyp, von dem sie sprach, so, so oder noch ganz anders hieß. In ein paar Tagen würde sie ohnehin von einem anderen Schauspieler schwärmen, und währenddessen würde sie weiter mit Rob glücklich sein.

»Die ganze Woche über in Düsseldorf?« fragte Wilma Wolf plötzlich sehr sanft und mitfühlend. »Das stelle ich mir sehr kompliziert vor … so eine Wochenendbeziehung.«

Elfte, Vera und Katja sahen sie überrascht an. Außer, daß Frau Wolf sich einmal bitter über die Zeit beklagt hatte, in der sie arbeitslos gewesen war, hatte sie sich noch nie zu persönlichen Dingen geäußert oder Interesse am Privatleben ihrer neuen Kolleginnen gezeigt.

»Ist es auch«, antwortete Vera knapp.

Katja sagte nichts. Obwohl darüber nicht mehr gesprochen wurde, hatte sie das Gefühl, daß Frau Wolf sie für ihren Karriereknick immer noch persönlich verantwortlich machte. Sicher – das Drama hatte mit dem Konkurs der Werft zu tun, die Katjas Vater gehört hatte. Aber abgesehen von allen anderen Dramen, die damit in Zusammenhang standen, war Katja nun wohl die letzte, der man all das anlasten konnte. Und obwohl beide Frauen sich um einen zivilen Umgang miteinander bemühten, war die Feindseligkeit zwischen ihnen allgegenwärtig. Meist äußerte sie sich darin, daß die beiden sich gegenseitig ignorierten, so wie jetzt.

Auch Elfie sah keinerlei Veranlassung, auf Frau Wolfs mitfühlende Worte einzugehen. Erstens war Vera ihre Freundin, zweitens benahm die Wolf sich ihnen allen gegenüber meist wie ein fleischgewordener Vorwurf, und drittens … überhaupt? »Welche Beziehung ist nicht kompliziert?« fragte Elfie ebenso schnippisch wie leichthin und grinste breit. »Na los! Nennt mir eine!« setzte sie nach. Wieder rollte sie mit den Augen, so als dächte sie angestrengt nach. »Außer der von Barbie und Ken natürlich.« Sie lachte schallend, tippte Schmollke im Vorbeigehen auf die Schulter und schmetterte ihm ein fröhliches »Tschüs, Schmolli!« entgegen.

Der Portier lächelte, machte Elfie ein Kompliment wegen ihres Aussehens und wünschte den Damen einen schönen Feierabend. Vera, Katja und Frau Wolf verabschiedeten sich ebenfalls von Schmollke, und die vier setzten ihren Weg fort.

»Schmolli hat recht«, sagte Katja. »Elfie sieht fantastisch aus. Obwohl: Ich kann mich noch gar nicht daran gewöhnen, daß die keine Brille mehr trägt.«

Ein angeregtes Pro und Kontra über Kontaktlinsen schloß sich an. Im Grunde war viel bemerkenswerter, wie schlank Elfie vor lauter neuem Lebens- und vor allem Liebesglück geworden war. Aber das wäre – im Beisein der Wolf – wieder ein zu intimes Thema gewesen, und außerdem vollzog sich Elfies Gewichtsabnahme langsam und stetig, während sie erst vor wenigen Tagen und ohne jede Vorwarnung brillenlos ins Büro spaziert gekommen war.

»Jedenfalls waren deine Brillen früher auch nicht übel«, sagte Katja und deutete mit den Händen ein überdimensionales Exemplar an, in dem alle sofort die extravaganten Modelle erkannten, die Elfie bis vor kurzem bevorzugt hatte. Das löste allgemeines Gelächter aus, und Katja drehte ab Richtung Parkplatz, während die anderen drei über die Baumwall-Brücke zur U-Bahn gingen.

Schmollke sah den vieren nach und murmelte: »Mir gefällt sie in jeder Ausführung.«

Wenig später konnten auch die Sekretärinnen im Direktionsbüro Feierabend machen. Gudrun Stade warf einen liebevollen, fast wehmütigen Blick auf die weiße Orchidee auf ihrem Schreibtisch. Sie stand in voller Blüte und gab der elegant-funktionalen Büroeinrichtung etwas Exquisites – zart, doch zugleich auch stark und ausdrucksvoll, so wie Gudrun Stade selbst.

Am Nebentisch hingegen ersoff alles in Rosa. Renee Broscheks Make-up schimmerte in allen erdenklichen Schattierungen dieser süßlichen Farbe. Ihre Haarkämme waren pink, ihr Kostüm schimmerte hellviolett. Auch sie war mit der Arbeit fertig und zog sich gerade die Lippen nach. Der Stift, den sie dazu benutzte, leuchtete undefinierbar rosa-pink-violett; der Hersteller hatte – wahrscheinlich in Ermangelung einer zuortbaren Farbe – diese Nuance viel- bis nichtssagend »Dahlia« getauft.

Gudrun Stade schob ihren Stuhl zurück, stand auf und ging auf die Garderobenhaken zu, ohne ihre Kollegin eines Blickes zu würdigen. Als sie sich ihren Mantel überzog, gingen gleichzeitig, wie auf Kommando, die Türen zu den beiden Direktorenzimmern auf Beide Sekretärinnen zuckten zusammen, und auch Chef und Chefin blieben wie angewurzelt in der Tür stehen.

Ronaldo Schäfer faßte sich als erster. »Das war jetzt nicht geprobt«, sagte er lachend. »Kommen Sie, Ilka! Unterstützen Sie mich? Sagen Sie es den Damen? Wir haben nicht heimlich Stunts geprobt, während sie zu Tisch waren!«

Sein Gegenüber am anderen Ende des Chefsekretariats schüttelte die braunen Locken und lachte ebenfalls. »Stimmt«, sagte sie. »Wir sind einfach nur das perfekte Team?«

Renee Broschek schloß die Augen. Dieser Heile-Welt-Kasten! Dieses Wir-sind-alle-eine-nicht-nur-große-sondern-vor-allem-superglückliche-Familie! Sie haßte, haßte, haßte es!

Auch Gudrun Stade schloß kurz die Augen. Den ganzen Tag schon hatte sie es vor sich hergeschoben und gehofft, daß sich eine Gelegenheit wie diese ergeben würde, zwischen Tür und Angel, ohne großes Aufsehen, viele Leute anwesend, keine Möglichkeit, das Thema zu vertiefen.

»Herr Schäfer, ich komme morgen ein Stündchen später«, sagte sie leise. Und obwohl sie sich vorgenommen hatte, ihren Chef bei der Begründung direkt anzusehen, schlug sie nun die Augen nieder. »Ich muß zum Arzt«, sagte sie noch leiser.

Ronaldo hatte einen großen Abend vor sich und war dementsprechend gutgelaunt. »Kein Problem«, sagte er so fröhlich und gönnerhaft, als hätte er seiner Sekretärin soeben bezahlten Sonderurlaub auf unbegrenzte Dauer bewilligt.

Frau Stade nickte knapp und zog sich weiter an.

Renee Broschek hatte Spiegel und Lippenstift blitzschnell verschwinden lassen, als die beiden Chefs aufgetaucht waren, und verdrehte nun genervt die Augen.

»Schon wieder!« stöhnte sie leise.

»Kann ich mit Ihnen noch ein paar Sachen durchgehen, Frau Broschek?« fragte Ilka.

»Natürlich, Frau Frowein!« flötete die Sekretärin, so als sei sie es, die bezahlten Sonderurlaub auf unbefristete Zeit bekommen habe.

Bevor die beiden Frauen sich in Ilkas Büro zurückzogen, ging Ilka ein paar Schritte auf Ronaldo zu und legte ihm ihre Hand auf den Arm. »Ich wünsche Ihnen viel Glück für den heutigen Abend!«

»Danke!« Ronaldo strahlte. »Drücken Sie mir die Daumen?«

Ilka schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das wird nicht nötig sein.«

»Na, hoffentlich!« Ronaldo grinste, aber ein wenig nervös war er doch. »Schließlich kennen Sie sie besser und länger als ich.«

»Eben«, sagte Ilka. »Wenn’s gut für Ihr Mariechen ist …« Sie ließ den Satz unvollendet und sah Ronaldo auf eine Weise an, die ihm Mut machte.

»Na, denn!« sagte er, reckte das Kinn vor und zog seine makellos sitzende Krawatte zurecht.

Nachdem sich alle voneinander verabschiedet hatten, stürmte er die Feuertreppe hinunter. Im Lift wäre er heute abend erstickt. Erst, als er bereits die Halle betreten hatte, bemerkte Ronaldo, daß er immer noch ein Tempo vorlegte wie ein Schuljunge nach dem Klingelstreich. Da kam es ihm gerade recht, die erste Empfangsdame und den Personalchef im trauten Plausch an der Rezeption anzutreffen. Mit federnden Schritten bremste er ab, um gerade noch mitzubekommen, daß sie sich darüber unterhielten, ob die Startnummer Dreizehn Glück, Unglück oder womöglich gar nichts zu bedeuten habe. Ohne in diese schwierige Materie einsteigen zu wollen, bemerkte Ronaldo dennoch, daß er die Empfangsdame schon lange nicht mehr so entspannt gesehen hatte, und er konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, denn den Grund dafür glaubte er zu kennen. Seit das Hansson Palace sich eine Gäste-Managerin leistete und Marie sich mit Bravour dieser neuen Aufgabe widmete, war es in erster Linie der Empfang, der davon profitierte.

»Na, Frau Barth, alles klar?« fragte Ronaldo und kannte die Antwort.

»Das kann man wohl sagen.« Frau Barth machte eine Kopfbewegung auf Maries Büro am Ende der Halle zu und lächelte. »Seitdem fühle ich mich um Jahre jünger.«

Ronaldo entschied sich, Frau Barths Bemerkung unkommentiert zu lassen, und wandte sich statt dessen an den Personalchef: »Und Sie, Herr Dr. Begemann? Wie sieht’s mit dem neuen Barkeeper aus?«

»Wir suchen noch. Sobald wir jemanden finden, sage ich Ihnen Bescheid.«

»Gut. Dann schönen Feierabend Ihnen beiden.«

»Danke, gleichfalls, Herr Schäfer.«

Für die wenigen Schritte bis zu Maries Arbeitsplatz ließ Ronaldo sich nun viel Zeit. Zusammen hatten sie ihn sehr sorgfältig und mit Liebe zum Detail ausgestattet, daher waren ihm alle Einzelheiten des antiken Mobiliars und der dezent-eleganten Accessoires vertraut. Aber an das Gesamtbild, mit Marie im Zentrum des Geschehens, hier unten in der Halle und durch sämtliche Hoteletagen von ihm getrennt, hatte er sich noch nicht gewöhnt. Marie beugte sich interessiert nach vorne und hörte einem weiblichen Gast zu, nickte, notierte sich etwas, schob der Dame eine Zettel zu, auf dem sie etwas ankreuzte, sagte noch etwas und reichte der Dame dann die Hand, woraufhin diese sich erhob. Marie lächelte ihr einen Abschiedsgruß zu und vertiefte sich dann in ein Schriftstück. Langsam trat Ronaldo zu ihr an den Schreibtisch.

»Du hast ja die Ruhe weg«, bemerkte er.

Marie hob den Blick und legte den Kopf schief. »Aufgeregt?« fragte sie.

»Ja«, sagte Ronaldo schlicht.

Marie freute sich diebisch. Auch weil Ronaldo es offenbar für normal hielt, daß sie an einem beliebigen Werktag ihren kompletten Perlenschmuck – Ohrstecker, Kette und Armband – angelegt hatte, daß sie zu ihrem Chanel-Kostüm heute einen tief dekolletierten Body trug, die Haare frisch frisiert und sich in der Mittagspause hatte maniküren und schminken lassen. Sie verstaute ihre Arbeitsutensilien im Schreibtisch, zwinkerte Ronaldo zu und sagte: »Dann komm! Es wird schon schiefgehen!«

»Haben sie dir wat gesagt, Erich?« rief Maries Mutter beim Tischdecken aus dem Wohnzimmer in Richtung Küche. »Oder hab ich wat vergessen? Dat Kind hat nich Geburtstag, wir beide auch nich. Wat is denn bloß los? Es wird doch nix passiert sein!«

Aus der Küche ertönte undefinierbares Gebrummel.

»Wat sagste, Erich?«

Diesmal blieb es in der Küche still.

»Och, Erich! Nu sag du doch auch mal was! Oder ob doch was passiert is?«

Maries Vater kam mit einer hübsch zurechtgemachten Wurstplatte ins Eßzimmer. »Was soll denn sein, Elisabeth? Sonst beklagste dich, daß die beiden sich hier so selten sehen lassen, und nu, wo sie endlich mal vorbeischauen, isses dir auch wieder nich recht. Freu dich doch einfach!«

»Ist doch wahr!« schmollte Maries Mutter und nahm ihrem Mann die Wurstplatte ab. »Haste wieder viel zuviel draufgepackt! Du weißt doch, dat Herr Schäfer Vegetarier ist Obwohl: Wofür dat gut sein soll, muß er mir noch mal erklären.«

»Hauptsache, die haben sich nich wieder irgendwelchen beruflichen Tüdelkram ausgedacht!« murmelte Maries Vater, wobei ›Tüdelkram‹ in diesem Fall für so etwas wie Rio, Hongkong oder Tokio stand.

»Na und wenn schon?« übernahm Maries Mutter nun den Part der Vernunft. »Dat geht uns gar nichts an, Erich. Die beiden sind schließlich erwachsen.« Sie beugte sich über den Eßtisch, schob Käse- und Rohkostplatten auseinander, um für die Wurst Platz zu machen und wandte ihrem Mann ihre üppige Rückfront zu. Der ließ seinen Blick wohlgefällig über den Anblick gleiten, der sich ihm bot, und kniff seiner Frau in die Stelle, die er am bequemsten erreichen konnte.

»So wie wir, was?« meinte er grinsend.

»Erich!« zischte seine Frau entrüstet, ohne dabei ihr Vergnügen verbergen zu können. Sie drehte sich um und küßte ihren Mann, der sie dabei weiter über die soeben genossene Hinterpartie streichelte, als es auch schon an der Haustür klingelte.

Ruckartig löste sich Elisabeth Harsefeld aus der Umarmung. »Laß, Erich! Sie sind da!«

Trotzdem war Biene, das mittlerweile älteste Familienmitglied, auf ihren vier krummen Beinen als erste an der Tür. Nachdem sich alle herzlich begrüßt und anschließend an den appetitlich gedeckten Tisch gesetzt hatten, kamen sie am Ende eines ausgedehnten Mahls auf den Anlaß des überraschenden Zusammentreffens zu sprechen. Es war Ronaldo, der räuspernd und sichtlich nervös die Initiative ergriff und sich dazu sogar von seinem Stuhl erhob.

»Liebe Frau Harsefeld, lieber Herr Harsefeld …«, begann er feierlich. Weiter kam er erst mal nicht, weil Maries Vater sofort begriff und seiner Aufregung mit einem ironischen »Hört, hört!« Luft machte. Seine Frau legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm, Ronaldo lächelte irritiert und fuhr dann fort: »Es ist vielleicht etwas altmodisch und paßt nicht mehr so recht in unsere Zeit, aber …«, an dieser Stelle lächelte er Marie liebevoll an, »… wir sind nun mal ein bißchen altmodisch, nicht wahr, und darum möchte ich in aller Form und ganz offiziell …« Wieder unterbrach er sich, um Maries Hand zu nehmen, seiner Schwiegermutter in spe Gelegenheit zu geben, sich eine Träne aus dem Augenwinkel zu wischen, und selbst noch einmal durchzuatmen, bevor es raus und damit offiziell war. »… ganz offiziell …«, nahm er seinen Faden wieder auf, »… bei Ihnen um die Hand Ihrer Tochter anhalten.«

Nicht, daß das jetzt noch überraschend gewesen wäre, aber trotzdem hielten Maries Eltern den Atem an und starrten ungläubig zwischen den beiden jungen Leuten hin und her. Marie wußte, wie ihren Eltern zumute war, hatte aber nicht die geringste Absicht, den Rest des Abends mit Gefühlsduseleien und tränenreichen Bekundungen von Elternglück zu verbringen. Sie beugte sich vor und sagte sehr sachlich: »Genau. Wir wollen heiraten. Ich habe bereits ja gesagt.«

Jetzt sprachen beide Eltern gleichzeitig. »Mariechen!« brach es überglücklich aus Elisabeth Harsefeld heraus, während ihr Mann nur murmelte : »Tja, wenn das so ist …« Dann sperrte Elisabeth Harsefeld überwältigt den Mund auf, und ihr Mann grinste die angehenden Eheleute zufrieden an.

Ronaldo räusperte sich erneut, um eine etwas umständliche Rede darüber zu beginnen, daß er immer für Marie da sein werde, auf einem gemeinsamen Lebensweg, der von Liebe, Verständnis und Respekt gekennzeichnet sein solle. Dessen waren sich Maries Eltern ohnehin sicher, aber die ruhige und selbstsichere Art, in der Ronaldo sprach, bestätigte es noch einmal, und das tat ihnen gut.

»Ach, Mariechen, ich freu mich so!« seufzte Maries Mutter gerührt, als er geendet hatte. »Für euch beide«, setzte sie fast verschämt hinzu, um gleich darauf ihren Mann anzustoßen. »Nun sag du doch auch mal was, Erich!«

»Tja …«, Erich Harsefeld hob die Hände, als würde er nun zu einer großen Rede ansetzen. Statt dessen sagte er aber nur noch einmal »Tja …« und schluckte.

»Freust du dich, Papa?« fragte Marie und spielte ihm damit strahlend das Stichwort zu.

Und dann folgte doch noch eine väterliche Rede. Erich Harsefeld hatte das gar nicht beabsichtigt, aber über die Tatsache, daß er nicht Maries leiblicher Vater war, das Kind aber schon sehr früh wie ein Geschenk angenommen und sich der Verantwortung gestellt hatte, kamen die Erinnerungen an Maries Kindheit, an ihre Sorgen und Nöte, vor allem die Angst und Selbstzweifel, die sie immer wieder gehabt habe und die er, ihr Stiefvater, ihr zu nehmen versucht hatte, und damit war er bei dem Punkt, diese Aufgaben und Verantwortungen jetzt an Ronaldo weiterzugeben. »Das müssen Sie nun alles machen, Herr Schäfer«, sagte er. »Da bin ich fast ein bißchen traurig drüber.« Dann merkte er, daß er drauf und dran war, sentimental zu werden, griff zu seinem Glas, hielt es seiner Frau entgegen und meinte: »Aber wir zwei 011en verlieren ja keine Tochter, was Elisabeth? Wir kriegen ja einen Sohn dazu …« Um die Rührung zu überspielen, die ihn nun doch überkam, ging er mit dem erhobenen Glas um den Tisch herum auf Ronaldo zu. »Denn sag ich mal: Ja. Nehmen Sie unsere Marie. Und denn sag ich noch: Ich heiße Erich. Und nu komm an meine Brust, mein Jung!«

Eine Umarmung folgte der anderen. Und als alles gesagt und gewünscht war, was es zu sagen und zu wünschen gab, zogen die Frauen sich zum Abwaschen in die Küche zurück und überließen das nun wohl fällige Männergespräch den Männern. Das Frauengespräch in der Küche berührte zwei strittige Punkte, die Marie, gemäß der Absprache mit Ronaldo, nun versuchte, ihrer Mutter klarzumachen: Sie lehnte es ab, über Nacht zu bleiben, und sie ließ sich von ihrer Mutter nicht zu einer kirchlichen Hochzeit überreden. Weder das Argument, sie sei aber doch eigentlich katholisch, noch der Begriff »wilde Ehe« und schon gar nicht die Frage, was Nachbarn und Bekannte wohl denken könnten, vermochten Marie umzustimmen. Als ihre Mutter schließlich damit drohte, dann würden sie und Maries Vater der standesamtlichen Trauung fernbleiben, war Marie sauer, aber schon wenig später, nachdem die beiden sich recht distanziert voneinander verabschiedet hatten, mußte sie mit Ronaldo auf der Rückfahrt schallend über die Vorstellung lachen, daß Elisabeth und Erich Harsefeld sich die Hochzeit ihres einzigen Kindes entgehen lassen würden.

Gudrun Stade widmete sich mit besonders viel Sorgfalt ihrer Morgentoilette. Sie tat nicht mehr als sonst, aber sie tat alles mit Bedacht, warf immer wieder prüfende Blicke in den Spiegel und konnte, so sehr sie sich auch bemühte, keine Anzeichen dafür finden, daß sie offenbar todkrank war. »Hast auch schon mal besser ausgesehen«, teilte sie ihrem Spiegelbild mit, um sich gleich darauf mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß das ein paar Jährchen zurücklag und es sich eben peu à peu erwies, daß auch gepflegte Frauen mit der Zeit nicht jünger wurden. Dann cremte sie sich von Kopf bis Fuß ein, trocknete ihre Haare und begab sich in ihr Ankleidezimmer. Auf dem Weg dahin betrachtete sie ihre antiken Möbel und modernen Teppiche, die Stiche an den Wänden, die Leuchter und Plastiken, als sähe sie sie zum ersten – oder letzten – Mal.

Die gynäkologische Untersuchung dauerte lange und war unangenehm. Viel schrecklicher aber war das Ergebnis der Hysteroskopie gewesen. Der anfängliche Verdacht hatte sich bestätigt: Krebs. Der Arzt telefonierte noch in Gudruns Beisein mit dem Marienkrankenhaus und sagte, sie werde in den nächsten Tagen, möglicherweise sehr kurzfristig, einen Termin für die Operation erhalten. Gudrun zog sich wie in Trance an, unterschrieb bei der Arzthelferin irgendwelche Papiere, tastete nach dem Ausgang und lief zunächst ziellos durch die Straßen. Ganz langsam gewöhnte sie sich an den Gedanken, daß nichts mehr war wie früher, daß sie keine Ahnung hatte, wie es weitergehen würde, falls es überhaupt weiterging, und daß es vorläufig nichts – aber auch gar nichts – gab, was sie tun konnte, um am Fortgang der Dinge auch nur das Geringste zu ändern. Das einzige, was sie tun konnte, war, was sie immer getan hatte: Haltung bewahren und die Dinge eins nach dem anderen nehmen, so, wie sie kamen. Peu à peu eben. Als sie gedanklich soweit gekommen war, orientierte sie sich erst einmal, in welchem Teil von Hamburg sie sich überhaupt befand. Ihr kam es vor, als sei sie seit Stunden ziellos durch die Straßen gelaufen. Als nächstes beschloß sie, zur Arbeit zu gehen. Schließlich hatte sie sich lediglich für einen Arztbesuch abgemeldet. »Und tot umfallen wirst du schon nicht«, sagte sie sich. Ihren ersten Impuls, ein Taxi zu nehmen, verwarf sie. Die U-Bahn würde es auch tun. Sie brauchte noch ein wenig Zeit, bis sie zu business as usual zurückkehren konnte.

Am Baumwall angekommen, drehte sie noch einmal ab Richtung Landungsbrücken. Langsam ging sie die Elbe entlang und setzte sich auf eine Bank. Sie blickte auf den glitzernden Strom, sah den Schiffen zu, den Kränen in der Ferne und der kleinen Propellermaschine, die gerade direkt vor ihr vom Wasser aus zu einem Touristen-Rundflug startete, und schließlich wagte sie einen Blick auf das majestätisch hinter ihr liegende Hansson Palace. Zu früh, wie sie feststellen mußte. Ohne es zu wollen und ohne es kontrollieren zu können, begann sie zu weinen. Wenn es bloß das Hotel gewesen wäre, ihre Position, Ronaldo, Ilka, Marie … Das alles zu verlassen war schlimm genug. Aber Bill Hansson selbst, nach all den Jahren, all den Mißverständnissen, Verletzungen und Demütigungen … jetzt, wo alles vergeben und vergessen war und ihre Liebe sich als stärker zu erweisen begann … Gudrun Stade schluchzte hörbar auf, und wer weiß, wohin ihr Schmerz sie noch getrieben hätte, wenn nicht ein kleines Mädchen vorbeigehüpft gekommen wäre, ihr ein Taschentuch gereicht und sich dann mit den Worten »Ich bin auch manchmal traurig« zu ihr auf die Bank gesetzt hätte.

Renee Broschek wußte die zwei Stunden, in denen ihre Kollegin längst zurückerwartet worden war, gut zu nutzen. Als erstes kassierte sie die handschriftliche Notiz ein, die auf Frau Stades Schreibtisch lag. Offenbar handelte es sich um eine Telefonnummer irgendwo im entfernteren Ausland.

Obwohl es nur Zahlen waren, erkannte Frau Broschek Ilkas Handschrift. Sie mußte die Nummer gestern abend, nachdem alle anderen schon das Büro verlassen hatten, für Ronaldo notiert haben, sonst hätte sie sie nicht auf Frau Stades Schreibtisch gelegt. Frau Broschek hatte keine Ahnung, worum es sich dabei handelte oder was sie mit der Nummer anstellen sollte, aber sie ließ sie vorsichtshalber erst mal verschwinden. Später ließ sich immer noch entscheiden, ob sie ihr nützlich sein konnte oder ob sie sie einfach wieder herbeizaubern würde, so als habe Gudrun Stade sie zwischenzeitlich verschlampt.

Die nächste Gelegenheit, etwas Ausbaufähiges einzufädeln, ergab sich, als Ronaldo zu ihr hereinkam und ihr eine umfangreiche Kalkulation gab, die sie an den Schreibpool weiterleiten sollte. Dabei erkundigte sie sich nach Frau Stades Verbleib: »Wann sie zurück sein wollte, wissen Sie wohl nicht?«

»Ach, Herr Schäfer …!« Renee blickte entschuldigend zu ihm auf »So was sagt die mir doch nicht!«

Ronaldo hörte kaum zu und begann die Post durchzusehen, die sich auf Frau Stades Schreibtisch stapelte.

Das bedeutete, er würde sich noch länger im Sekretariat aufhalten. Renee Broschek holte aus: »Wissen Sie, Herr Schäfer, Sie hören ja immer nur die eine Seite, und zu mir haben Sie ja kein Zutrauen, aber ich kann nur sagen: Die Stade ist nicht so harmlos, wie sie Ihnen gegenüber immer tut! Die ist …«, sie machte eine wirkungsvolle Pause und senkte die Stimme, »… eine Hexe.«

Ronaldo sah kurz auf »Reden Sie keinen Unsinn!«

»Nein, wirklich! Die hext herum! Ich erlebe das jeden Tag. Tut immer freundlich und hilfsbereit, gibt sich als Freundin, nimmt Kolleginnen in ihren seltsamen Kreis auf … und dann schlägt sie sie in ihren Bann.«

Ronaldo glaubte, nicht recht zu hören, und sagte, sie möge aufhören, aber Frau Broschek war nicht mehr aufzuhalten. Sie begann mit den Damen vom Schreibpool, die von der Stade angeblich systematisch kleingehalten worden seien, kam dann zu Begemann, den die Stade mit ihrer Schwarzen Magie geradezu in den Wahnsinn getrieben habe, um dann Maries Schicksal zu beklagen: »Was hat sie sie gequält! Und als sie dann ganz klein war, hat sie sie in die Arme genommen, und heute … heute benutzt sie sie, wie’s ihr gerade paßt, und übt ihren diabolischen Einfluß auf sie aus. Auf alle. Auch auf Sie!«

»Frau Broschek!« Ronaldo wußte nicht, was er darauf sagen sollte. Er wollte nur, daß diese Giftspritze endlich Ruhe gab. Es schien auch nicht nötig zu sein, sich ausführlicher zu diesen Phantastereien zu äußern, da das Telefon zu klingeln begann.

Renee hatte aber noch ein Letztes zu sagen: »Ich wollte jedenfalls, daß Sie Bescheid wissen. Mich versucht sie auch fertigzumachen, aber bisher hat sie das nicht geschafft. Sollte mir allerdings eines Tages doch was passieren …«

»Das einzige, was Ihnen passieren kann, Frau Broschek, ist eine Kündigung. Und jetzt gehen Sie gefälligst ans Telefon!«

Renee Broschek setzte ein dienstliches Gesicht auf und griff zum Hörer. Das war ja nun nicht so gut gelaufen. Obwohl … Sie verzog die Mundwinkel und lächelte in sich hinein. Man konnte ja nie wissen, ob die Saat, die man streute, nicht doch eines Tages noch aufgehen würde. Aber schon, als sie das Pfeifen und Rauschen in der Leitung hörte und sich eine Telefonistin aus Lima meldete, wußte sie, daß auch die andere Sache nichts genützt hatte. Sie nahm sich vor, den Zettel mit der ausländischen Telefonnummer gleich nach dem Telefonat zu vernichten.

»Da ist ein Krankenhaus aus Lima, Herr Schäfer, ein Doktor Beck möchte Sie sprechen.«

»Stellen Sie rüber!« Ronaldo warf die Post auf Frau Stades Schreibtisch und beeilte sich, in sein Büro zu kommen.

Sebastian! Wie lange hatte er nichts von ihm gehört. Und gerade jetzt, kurz vor der Hochzeit! Genial, dachte er, manchmal paßt doch alles wunderbar zusammen!

Im ganzen Hotel tuschelte man schon in sämtlichen Abteilungen und Etagen darüber, daß nächste Woche ein rauschendes Fest stattfinden würde. Offenbar fragte sich niemand, wieso nicht längst Einladungen dazu ausgesprochen worden waren und warum die notwendigen Vorbereitungen dafür nicht bereits auf Hochtouren liefen. Nein, es würde kein rauschendes Fest geben. Die Hochzeit sollte im engsten Kreis und in aller Stille stattfinden, und für Ronaldo gab es – außer seiner Tochter Heike – nur einen Menschen, den er gerne dabeihaben wollte: seinen alten Freund Sebastian Beck, und zwar als Trauzeugen. Ronaldo hatte ihn schriftlich und in aller Form dazu eingeladen. Aber er hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, daß Sebastian den weiten Weg zu diesem zwar wichtigen, aber sehr kurzfristig anberaumten Ereignis auf sich nehmen würde – oder konnte. Das Krankenhaus in Lima, in dem Sebastian Beck als Arzt arbeitete, konnte sicher nicht so einfach auf ihn verzichten. Wie in alten Zeiten kamen die beiden sofort zum Punkt.

»Sebastian, sag bloß …«

Sebastian ließ seinen Freund nicht ausreden. »… daß ich zu deiner Hochzeit komme. Ist doch selbstverständlich, Ronaldo. Aber hast du dir das auch gut überlegt?«

Ronaldo lachte kurz auf, kam aber schon nicht mehr zu einer Antwort, da die miserable Leitung nun ganz zusammenbrach. Einen Moment lang lauschte er dem transatlantischen Rauschen, dann schmiß er den Hörer auf die Gabel. Er hätte aufspringen und durch sein Büro tanzen mögen, so sehr freute er sich auf Sebastian.

Gudrun Stade saß immer noch an der Elbe und kam zu dem Schluß, daß es eine ebenso große wie unnötige Lüge wäre, jetzt so zu tun, als habe sich nichts geändert. Sie hatte sich noch nie vor der Arbeit gedrückt, aber ihr war klar, daß sie sich momentan nicht darauf konzentrieren konnte. Sie würde lediglich körperlich anwesend sein, und selbst das war in ihrer derzeitigen Verfassung nicht viel. Nein, sie mußte sich der neuen Situation stellen. Oder sollte sie etwa, wenn der Anruf aus dem Marienkrankenhaus kam, alles stehen- und liegenlassen?

Gudrun Stade schüttelte den Kopf. »Geordneter Rückzug«, verordnete sie sich selbst, stand auf und ging entschlossen zum Hansson Palace hinüber. Sie würde kein Tamtam um ihre Krankheit machen, sondern ihren Chef lediglich um ein paar Tage Urlaub bitten.

»Ab morgen«, sagte sie eine Stunde später zu Ronaldos größtem Erstaunen. Aber einer so engagierten Sekretärin wie Frau Stade, die sich noch kein Versäumnis hatte zuschulden kommen lassen, durfte er diese Bitte wohl nicht abschlagen, auch wenn sie etwas plötzlich kam. Selbstverständlich hatte sie auch eine geordnete Übergabe angeboten.

»Und für wie lange?« wollte Ronaldo wissen.

Frau Stade zögerte. »Ganz genau kann ich es dummerweise nicht sagen«, sagte sie leise. »Ich denke mal, den Rest dieser und die nächste Woche. Aber nur, wenn es geht.«

»Es wird gehen, Frau Stade«, sagte Ronaldo großzügig. »Zumal ich nächste Woche selbst weg bin.«

»Ich weiß. Wegen der Hochzeit.«

Ronaldo lächelte wie ein großer Junge und nickte.

»Vielen Dank, Herr Schäfer«, sagte Frau Stade und erhob sich.

Ronaldo war in Gedanken mit seinen eigenen Plänen für die nächste Woche beschäftigt und fragte seine Sekretärin erst, als sie schon an der Tür war: »Wo soll’s denn hingehen?«

Frau Stade blieb abrupt stehen und murmelte, ohne sich umzudrehen: »Das ist noch ganz und gar unklar. Ganz und gar. Leider.« Im Hinausgehen hob sie entschlossen den Kopf, obwohl sie sich furchtbar elend fühlte. Sie hatte Ronaldo nicht belügen wollen, und sie wußte, daß er den wirklichen Grund für ihre Auszeit für sich behalten hätte, aber sie bekam das Wort einfach nicht über die Lippen. Sie konnte es kaum denken. Und trotzdem war es allgegenwärtig. Es kam ihr so vor, als ob ihre einzige Möglichkeit, dieses Wort zu bannen und zu verhindern, daß es noch mehr Unheil anrichtete, darin bestehe, es nicht auszusprechen. Sonst fürchtete sie, die Kontrolle über sich zu verlieren. Gleichzeitig merkte sie, daß dieses Versteckspiel keineswegs Ausdruck eines souveränen Umgangs mit … mit … nun eben mit dieser Krankheit war.

Gudrun Stade ging zu ihrem Schreibtisch zurück, ohne ihre Kollegin eines Blickes zu würdigen. Eine Mittagspause gestand sie sich heute nicht zu. Statt dessen begann sie ihre Unterlagen für eine Übergabe vorzubereiten.

Ilka und Marie vergnügten sich in der Mittagspause am Jungfernstieg in einer Boutique mit edlen Kleidern, ausgefallenen Schuhen und Accessoires. Während Ilka sich wie selbstverständlich durch all den Luxus bewegte, hatte Marie Mühe, nicht jedesmal wieder schlucken zu müssen, wenn sie sah, was die Sachen kosteten, die ihr gefielen. Das knöchellange, lindgrüne Kleid mit passendem Chasuble hatte es ihr sofort angetan, und als sie jetzt damit aus der Ankleidekabine kam und Ilka nur »Perfekt!« ausrief, warf Marie ihre letzten Bedenken über Bord und sagte: »Ich habe mich immer gefragt, welche Frau sich solche Sachen leisten kann. Aber jetzt wird mir klar, man muß sich so was gar nicht leisten können, man muß es einfach nur kaufen! Soll ich?«

»Unbedingt!« sagte Ilka und hob das Champagnerglas, das eine Verkäuferin ihr während der Wartezeit angeboten hatte.

Auch Marie nahm ihr Glas. »Und dann Ilka, was meine Trauzeugin angeht … Muß ich dich extra fragen?«

»Ja. Ich möchte es hören.«

»Also gut. Würdest du bitte meine Trauzeugin sein, als meine allerbeste Freundin?«

Ilka senkte den Blick. Es kam ihr so vor, als würde Marie ihre Glücksgefühle über die bevorstehende Hochzeit einfach auf sie übertragen. Es stimmte zwar, daß die Funkstille zwischen ihnen nun endlich vorbei war und sie wieder miteinander reden konnten, aber Ilka glaubte zu wissen, daß Maries Neigung, vorschnell die Flucht anzutreten und sich von Menschen zu distanzieren, bevor sie sich deren Sicht der Dinge angehört hatte, jederzeit zu einer neuen Eiszeit zwischen ihnen führen konnte. Jedenfalls gelang es ihr nicht mehr so ohne weiteres, die Nähe zu Marie zu spüren, die ihre Freundschaft früher ausgezeichnet hatte. Dabei wünschte sie sich das so sehr. Feierlicher als nötig und sehr ernst sagte sie nach einem für Marie unverständlichen Zögern: »Ja, ich will.«

Als sie ihre Sachen zusammengepackt und ihren Schreibtisch bis auf ihre geliebte Orchidee geräumt hatte und auch Renee Broschek sich für den Feierabend rüstete, wandte Gudrun Stade sich zögernd und ungern an die intrigante Kollegin.

Kaum hatte sie zu sprechen begonnen, wurde sie von Frau Broschek unterbrochen: »Keine Aufträge, bitt& Ich trete jetzt meinen wohlverdienten Feierabend an.«

»Es ist nur eine Bitte.«

»Sie wollen mich um etwas bitten

Gudrun Stade bereute augenblicklich, überhaupt davon angefangen zu haben. Aber es lag ihr wirklich viel daran, diese Orchidee gut versorgt zu wissen. In den letzten Tagen hatte diese Pflanze für sie eine ganz neue Bedeutung gewonnen. Wieder und wieder hatte sie die schöne, volle Blüte bewundert, und sie war ihr wie ein Symbol des Lebens und der Gesundheit erschienen. So unvernünftig das auch war, hatte sie schon öfter gedacht, daß, solange diese Blume blühte, Knospen trieb und sich immer wieder selbst erneuerte, auch ihr Körper sich regenerieren konnte. Gudrun gab sich einen Ruck, berichtete ihrer Kollegin mit knappen Worten von dem bevorstehenden »Urlaub« und fragte: »Könnten Sie in der Zeit meine Orchidee versorgen?«

Renee Broschek stand abrupt auf und ging auf die Garderobe zu. »Ich denke ja gar nicht daran«, sagte sie.

»Bitte! Ich hänge sehr daran.«

»Dann erst recht! Außerdem hasse ich Blumen, Haustiere, kleine Kinder und all diese Scheußlichkeiten. Das ist doch nur was für Leute, die sonst nicht wissen, womit sie sich beschäftigen sollen.«

Gudrun Stade verlor zum erstenmal in ihrem Berufsleben die Nerven. Sie sprang auf und machte ein paar erregte Schritte auf ihre Kollegin zu. »Sie häßliche, grauenhafte, seelenlose, monströse, hassenswerte Person!« schrie sie. »Ich hoffe, Sie sind nicht mehr hier, wenn ich wiederkomme!« Dann kehrte sie zu ihrem Schreibtisch zurück und schrieb, immer noch erregt, eine Notiz für Ilka, mit der Bitte, die Pflanze zu versorgen. Sie nahm beides und ging in Ilkas leeres Büro hinüber.

Das boshafte Lächeln, mit dem Renee Broschek für heute das Sekretariat verließ, zeigte ihre Vorfreude auf das, was sie am nächsten Morgen gleich als erstes tun würde.

Und tatsächlich kam sie am folgenden Tag sehr früh zur Arbeit, noch bevor irgend jemand anders die Direktionsetage betreten hatte, und ging in Ilkas Büro. Als sie zu der großen Papierschere auf Ilkas Schreibtisch griff, las sie Gudruns Notiz und freute sich diebisch. Dann drückte sie zu und schnitt die schöne große Blüte langsam und genußvoll ab.

Am selben Vormittag saß Gudrun Stade im Krankenhaus ihrem Arzt gegenüber und versuchte ihm klarzumachen, daß er gefälligst seinen Job machen solle, ohne sie mit Details zu beängstigen.

»Heute klärt jeder jeden über alles auf. Nichts bleibt ungesagt. Ich möchte das alles gar nicht wissen«, sagte sie bestimmt. »Ich will operiert werden, überleben, gesund werden und dann wieder funktionieren.«

Dr. Rilke schwieg einen Moment und sah die resolute Frau aufmerksam an. »Sie haben Angst«, sagte er dann ganz ruhig.

Statt seinem Blick auszuweichen, sah Gudrun Stade ihm gerade in die Augen. »Wundert Sie das?« fragte sie.

Dr. Rilke war beeindruckt. Wie oft schon hatte er seine Patientinnen bei den akrobatischsten Selbsttäuschungsversuchen beobachtet, und im Grunde wünschte er, niemals persönlich mit Krebs konfrontiert zu werden. Er war sich alles andere als sicher, ob er, trotz aller beruflichen Erfahrung, dieser grausamen Krankheit gewachsen sein würde. Und er hatte vollstes Verständnis dafür, daß Gudrun Stade sich nun ungefiltert alles von der Seele redete, was sie bedrückte, wie schockiert sie war und daß sie sich über sich selbst ärgerte, weil sie in regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen eine Garantie für fortwährende Gesundheit gesehen hatte.

Dr. Rilke ließ sie reden, bis sie von selbst aufhörte. Dann fragte er nach möglichen Erbschäden.

Gudrun Stade lachte auf »Mein Vater ist an einer Fischvergiftung gestorben. Meine Mutter ist 85 und fest davon überzeugt, unsterblich zu sein.«

Damit war auch der Teil der Anamnese beendet, und Gudrun erkundigte sich nach ihren Chancen.

»Auf Unsterblichkeit?« fragte Dr. Rilke.

Gudrun Stade unterdrückte ein Lachen und sagte ernst: »Ich will auf keinen Fall zu Tode operiert werden.«

Dr. Rilke schüttelte den Kopf und erklärte sein Operationsprinzip des »soviel wie nötig und sowenig wie möglich« und daß das Überwinden von Krebs oft auch eine Frage der persönlichen Lebenseinstellung sei. Was das Letztere anging, so war er fest davon überzeugt, speziell dieser Patientin Mut machen und ihr eine reelle Chance in Aussicht stellen zu können.

Nachdem dieser Punkt geklärt war – für Gudrun Stade der wichtigste –, kam sie auf Ilka und Marie zu sprechen. Auf Empfehlung der beiden war sie zu diesem Arzt und in dieses Krankenhaus gegangen, und sie wußte, daß Ronaldo sogar privat Kontakte zu Dr. Rilke hatte. Zwar glaubte sie nicht, daß es zu Dr. Rilkes Angewohnheiten gehörte, in seiner Freizeit über die Krankengeschichten seiner Patientinnen zu plaudern, aber die bloße Erwähnung ihres Namens und ihres gegenwärtigen Aufenthaltsortes hätte ihr Geheimnis ja bereits preisgegeben, und das wollte sie auf jeden Fall verhindern. »Es ist nämlich so«, begann sie, »meine Kollegen wissen alle nichts … nun ja, davon. Ich möchte Sie bitten, falls Sie einem von ihnen begegnen, daß das so bleibt. Für die Leute im Hotel habe ich Urlaub.«

Dr. Rilke wußte nicht, ob er die Stärke dieser Frau bewundern oder ihr sagen sollte, daß Verheimlichen bei dieser Krankheit der falsche Weg war. Allerdings war auch er der Meinung, daß eine Gerüchteküche, die ein so großes Hotel wie das Hansson gewiß darstellte, nicht der geeignete Ort war, um ein gravierendes persönliches Problem quer durch die Etagen kolportieren zu lassen. Er sicherte ihr Verschwiegenheit zu, nahm sich aber vor, im Blick zu behalten, ob Frau Stade womöglich überhaupt niemanden eingeweiht hatte und mit ihrer Krankheit ganz allein war.

Es dauerte nicht lange, bis sich seine Vermutung bestätigte: keine Post, keine Blumen und schon gar keine Besucher fanden sich an Gudrun Stades Krankenbett ein. Das änderte sich auch nach der Operation nicht. Und obwohl die Operation gut verlaufen war – das Krebsgeschwür in der Gebärmutter konnte erfolgreich entfernt werden –, schien seine Patientin sich nicht in einer genesungsfördernden Verfassung zu befinden. Ganz offensichtlich hatte sie die Schwere des Eingriffs unterschätzt, ebenso wie die postoperativen Schmerzen und die Zeit, die es dauerte, bis sie wieder richtig fit sein würde. Dazu gehörte auch eine Kur, die nach dem Klinikaufenthalt dringend notwendig war. Eine fortgesetzte Lüge gegenüber ihrem Arbeitgeber, soviel wußte Dr. Rilke sicher, würde nur eine zusätzliche Bürde sein und weitere Probleme schaffen, die seine Patientin sich gerade jetzt nicht leisten konnte. Nach reiflicher Überlegung kam er zu dem Schluß, daß Marie die geeignete Person wäre, das unheilvolle Schweigen zu durchbrechen. Sie stellte nicht nur eine vertrauensvolle Verbindung zu Frau Stades Arbeitgeber dar, sondern war, soviel er wußte, darüber hinaus auch mit Frau Stade befreundet. Trotzdem fiel es ihm nicht leicht, sie einige Tage später anzurufen. Immerhin handelte er gegen den erklärten Willen seiner Patientin, aber er war sich sicher, daß es zu ihrem Besten war. Daß sein Anruf Marie am Tag vor ihrer Trauung erreichte, konnte er nicht ahnen.

Marie saß an ihrem Schreibtisch und versuchte sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, als Dr. Rilke sie anrief. Ohne Umschweife kam er sofort zum Thema, und Marie fiel aus allen Wolken. Sie hatte sich in den letzten Tagen nur mit sich beschäftigt. Da waren all die Karten zu schreiben gewesen, auf denen sie und Ronaldo ihre Vermählung bekanntgeben mußten, wenn sie die Leute schon nicht an dem Ereignis selbst teilnehmen ließen. Und mit jeder Karte hatte Marie sich erneut und verschärft gefragt, ob es nicht falsch war, nur im engsten Kreis zu feiern. Außerdem mußte auch für den kleinen Kreis der Hochzeitsgäste ein Lokal reserviert, ein Menue ausgewählt und eine Tischordnung überlegt werden. Dann war da das Problem mit ihrer Mutter. Obwohl Marie ihr und ihrem Stiefvater aus Trotz nur eine normale Einladungskarte geschickt hatte, überlegte sie ständig, ob sie sie nicht doch noch einmal anrufen und sich vergewissern sollte, ob sie auch wirklich kämen. Darüber hinaus lag ihr auch noch Heike auf der Seele. Ihr Verhältnis zu Ronaldos Tochter war inzwischen recht gut, aber sie konnte sich nicht vorstellen, daß Heike sie wirklich als Ronaldos neue Frau akzeptierte. Ronaldo behauptete zwar, Heike freue sich über die Hochzeit, aber glauben konnte Marie das nicht. Und selbst der Abend mit Ilka gestern, als sie von ihrem Junggesellinnenleben Abschied genommen hatte, war von einer gewissen Wehmut überschattet gewesen. Ilka war davon überzeugt, daß Maries Prioritäten sich noch einmal deutlich in Richtung Mann und Familie verlagern würden, wenn sie erst mal verheiratet war. Marie hatte das zwar abgestritten, konnte Ilka aber nicht umstimmen. Auch die Ohrringe, die sie Ilka zum Abschied geschenkt hatte, waren, das merkte sie selbst, im Grunde nur eine Art Abschiedsgruß. Und dann, als wäre das, all das, noch nicht genug, war während der letzten Tage immer wieder Sebastian Beck Thema gewesen. Ilka hatte von seiner erotischen Stimme berichtet und Marie nach ihm ausgefragt. Erst da wurde Marie bewußt, daß sie gar nichts von ihm wußte, außer daß er in Lima in einem Krankenhaus als Arzt arbeitete, vier Kinder hatte und mit einer Brasilianerin verheiratet war – und natürlich, daß er Ronaldo viel bedeutete. Was sie im Zusammenhang mit diesem Mann persönlich am meisten beschäftigte, war die Frage, ob er es mit seiner komplizierten Flugverbindung, die äußerst knapp kalkuliert war, pünktlich zur Trauung schaffen würde. Schließlich sollte er der zweite Trauzeuge sein, und es wäre einfach nicht richtig und irgendwie armselig, mit nur einem Trauzeugen zu heiraten.

Jetzt saß Marie wie versteinert da. Sie konnte kaum begreifen, was Dr. Rilke ihr da erzählte. Als sie es endlich begriff, kam sie sich dumm, eitel und verwöhnt vor. »Selbstverständlich«, sagte sie tonlos. »Ich komme sofort.«

Genau das tat sie auch. Sie ließ alles stehen und liegen und raste mit ihrem kleinen Flitzer durch die Stadt Richtung Klinik. Irgendwo hielt sie an, um einen Blumenstrauß zu kaufen. Danach fuhr sie in einem vernünftigeren Tempo weiter. Sie machte sich Vorwürfe, daß sie nichts von Gudruns Problemen mitbekommen hatte, und fragte sich, warum sie den plötzlichen Urlaubsantrag so fraglos hingenommen hatte. So etwas war ganz und gar nicht Gudruns Art. »Marie Malek«, sagte sie halblaut zu sich selbst, »wenn du jetzt taub und blind für deine nächste Umgebung wirst, weil du glaubst, du und das bißchen Heiraten seien das wichtigste auf der Welt, dann … dann … kannst du die ganze Heiraterei vergessen!« Ganz unbewußt verfiel sie in den Tonfall ihrer Mutter. »Heiraten hat nämlich wat damit zu tun, dat man sich öffnet, Mariechen, dat man Verantwortung für andere übernimmt. Wenn de dich aber nur bedienen lassen willst, mußte zu uns in den Schlachterladen kommen!«

»Schon gut, Mami«, sagte sie dann in ihrer normalen Stimme und lächelte. »Schon kapiert.«

Als sie eine halbe Stunde später an Gudruns Bett saß, war sie unendlich froh, daß sie sofort einen Zugang zu ihr fand, und sie verstand auch, was Gudrun zu der Geheimhaltung getrieben hatte.

»Wenn ich mir das Getratsche der lieben Kollegen bloß vorstelle …«, sagte Gudrun. »Ich kann es direkt hören, O-Ton Broschek: Die Stade hat Krebs! Die Mädel vom Schreibpool würden sich – ich möchte fast sagen: genüßlich – mit detaillierten Schilderungen der Operation gegenseitig übertreffen. Und am Ende würden sie immer sagen: Ob die überhaupt wiederkommt? Ob sie je wieder ganz gesund wird? Und dann sind sie auch schon bei der Frage, wer denn wohl meine Nachfolgerin wird …«

Erschöpft hielt Gudrun inne. Marie nahm ihre Hand. »Du übertreibst, Gudrun.«

Langsam schüttelte Gudrun den Kopf. »Ach, Marie … Mir wird immer klarer, daß wir alle ersetzbar sind. Und sterblich. Wir verdrängen das. Ich war immer eine Meisterin im Verdrängen. Aber ich hatte in den letzten Jahren ja auch niemanden zum Reden. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie das geht. Ich weiß nur: Ich schäme mich, zu versagen. Ich schäme mich, so auszusehen, hier so hilflos zu liegen. So soll mich niemand sehen. Und nun bist du gekommen …« Sie hörte auf zu reden, drückte dankbar Maries Hand und begann zu weinen.

»Du mußt dich nicht schämen, Gudrun, du am allerwenigsten! Weiß Bill Hansson …?«

Gudrun schüttelte so heftig und so verzweifelt den Kopf, daß Marie nicht weiterzusprechen brauchte. Sie wartete eine Weile, bis Gudrun sich wieder beruhigt hatte, und streichelte sie, ehe sie fragte: »Soll ich ihn anrufen?«