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Untergangsprophet und Lebenskünstlerin

Hans-Martin Schönherr-Mann

Untergangsprophet
und
Lebenskünstlerin

Über die Ökologisierung der Welt

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Für Irmi

Inhalt

Vorwort

Einleitung: Kehrt die Natur im Zeitalter der Ökologisierung wieder?

1. Von der Utopie zur Dystopie

2. Von Pragmatikern und Apokalyptikern

3. Von der ökologischen zur politischen Krise

4. Von der Ökologie der unsichtbaren Hand zur göttlichen Vorsehung

5. Von der Informatisierung zur Ökologisierung und zurück

6. Von der Liebe zur Natur zum Willen zur Macht

7. Von der Ökologisierung zum Gesundheitswesen

8. Von der Ethisierung der Natur zur Ökologisierung der Ethik

9. Von der ökologischen Erziehung zum Individualismus

10. Von der Ökologisierung zur Technologisierung

11. Von der technischen Natur zur kleinen Erzählung und zurück

12. Von der Ökologisierung als Fortschritt und Rückschritt

13. Von der Ökologisierung zur Sozialisierung und zurück

Nachtrag: Von der Ökologie zur Ästhetik und nicht zurück

Vorwort

Unser Leben hat sich verdoppelt. Wer sich heute durch die Welt bewegt, wer erwirbt, konsumiert, wegwirft, reist, investiert und politisch entscheidet, scheint in allen Bereichen zwischen zwei Versionen der Lebenswelt wählen zu können: einer konventionellen und einer biologischen, respektive ökologischen. Kaum jemand wird infrage stellen, dass bewusst lebende, sich progressiv und links verortende Bürgerinnen nach Möglichkeit zu letzterer Variante tendieren werden. Dabei ist es kaum mehr vorstellbar, dass kritische Geister der ökologischen Frage vor noch nicht allzu langer Zeit sehr skeptisch gegenüberstanden. Als das Thema Umweltzerstörung in den Siebzigerjahren immer mehr Aufmerksamkeit erlangte und immer mehr linke Gruppen anfingen, sich in der jungen Anti-AKW-Bewegung zu tummeln, quittierten das viele, so auch ich, mit einem Kopfschütteln. Bei Marx hatten wir gelernt, dass der Fortschritt der Produktivkräfte den Weg in eine bessere Gesellschaft ebnet. Die moderne Technik hatte auch längst einen Stand erreicht, der den Benachteiligten eine erheblich lebenswertere Existenz ermöglichte, wenn der Kapitalismus die produzierten Güter nicht ungerecht verteilen würde. Es ging also darum, darin blieben wir Vätern der Neuen Linken wie Herbert Marcuse treu, die Produktionsverhältnisse zu ändern. Strategien, die Produktivkräfte ungenutzt zu lassen oder ihre Entwicklung zu bremsen, wie es Denker der frühen Ökologie, beispielsweise Ivan Illich, forderten, und die Verabschiedung des Proletariats durch André Gorz verzichteten hingegen auf die Änderung der Produktionsverhältnisse.

Der Eindruck des Atom-Unfalls von Harrisburg Anfang der Achtzigerjahre führte bei vielen zum Umdenken. Auch meine Perspektive veränderte sich und ich begann mich mit der Frage zu beschäftigen, wie man die Ökologie mit dem sozialen Fortschritt verknüpfen könnte.

Doch in der Beschäftigung mit den ökologischen Desastern schlug das theoretische Pendel bald ins Gegenteil aus. Unter dem Einfluss von Nietzsche, Heidegger und der postmodernen Philosophie begann ich am technologischen als auch am rationalen Denken zu zweifeln. Bereits die Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer schien keinen Ausweg aus dem Dilemma zu kennen, dass der Fortschritt in die Barbarei und daran anschließend in die Naturzerstörung führt.

So entwickelte ich den Begriff der negativen Ökologie: Die modernen Naturwissenschaften und Technologien erfassen Natur nicht, wie sie wirklich ist, sondern entfalten einen Willen zur Macht, der im Industrialismus gipfelt und kein richtiges Leben mehr zulässt, eine Entwicklung, in die sich der damals noch real existierende Sozialismus einklinkt und die auch der Marxismus nicht zu humanisieren wüsste. Ein Zusammenspiel von Technologisierung, Bürokratie und Wirtschaft intensiviert nicht nur die Herrschaft des Menschen über den Menschen, sondern auch die industrielle Naturzerstörung. Vom Standpunkt der entwickelten Zivilisation schien jeder Ausweg aus diesem Verhängnis verstellt und Tschernobyl unterstrich noch mal die tödlichen Folgen dieses Zustandes.

Das Problem der Umweltzerstörung technologisch anzugehen, erachtete ich aus der Perspektive der negativen Ökologie als reichlich aussichtslos, da Technologien der Natur nie zu entsprechen vermögen, diese vielmehr immer nach technologischen Strukturen behandeln. Negative Ökologie wollte diese Differenz bzw. Adornos Nichtidentisches markieren und davon ausgehend im Sinne Heideggers zu denken geben, nicht zu handeln: Es müsste mehr gedacht und weniger getan, mehr unterlassen als aktiv angegangen werden.

Die Unfähigkeit der repräsentativen Demokratie, die Umweltprobleme anzugehen, verschärfte die Bedrohung durch die Umweltzerstörung genauso wie der Sozialismus, der indes schließlich unterging. Der Widerstand, der sich seit den Siebzigerjahren in der Bevölkerung ausbreitete, wirkte ebenfalls ziemlich hilflos und schien der Entwicklung kaum etwas entgegenzusetzen zu haben.

Erst in den letzten zwei Jahrzehnten ließ sich erkennen, dass sich seit den Siebzigerjahren sehr viel bewegt und gewandelt hatte, und zwar weniger von Seiten der Politik der repräsentativen Demokratie als vielmehr durch aktive Bürgerinnen selbst. Das obrigkeitshörige Bewusstsein des 19. und 20. Jahrhunderts verlor an Lufthoheit. Die Autoritäten büßten für viele ihren Glanz ein. Natürlich würde man sich vor einen Nazi-Führer fürchten, doch vor ihm kuschen wie ihre Väter oder Urgroßväter würden heute viele nicht mehr. Heute sucht man sich seine wichtigen ethischen Werte selbst und übernimmt diese nicht mehr vom Staat oder den Kirchen. Die offizielle Politik reagierte zwangsläufig darauf und muss heute stärker als in den Jahren der frühen Bundesrepublik auf die Bürgerinnen achten.

So erhielt die Demokratie durch die diversen Bürgerinitiativen ein partizipatorisches Element. Die Zeitgenossen ergreifen politisch selbst die Initiative, sie wehren sich, und zwar häufig durchaus erfolgreich. Ohne die außerparlamentarische Anti-AKW-Bewegung gäbe es schwerlich die Bemühungen der institutionellen Politik, aus der Atomenergie auszusteigen. Das Thema Umwelt hat nicht bloß ungeheure Popularität erreicht. Öko ist überall in die Wirtschaft, Technologien, Politik und die Alltagswelt eingezogen, sodass man von einem Prozess der Ökologisierung sprechen kann.

Einerseits verbindet sich die Ökologisierung mit dem Anspruch auf Mündigkeit, mit diversen Emanzipationsperspektiven, mit politischen Protestbewegungen, mit aktiven Bürgern. Die Emanzipation eröffnet nicht nur Frauen neue Lebenswege. Die Familie büßte an Bedeutung ein, während sich die Lebenswelten bis heute differenzieren. Nicht dass die Religion keine Rolle mehr spielt. Aber in Europa lässt ihre Wiederkehr in den letzten Jahrzehnten auf sich warten. Die Bürgerin achtet längst mehr auf das Körperheil als auf das Seelenheil. Es geht um Gesundheit, schmackhaftes Essen, vergnüglichen Sport, neue Ideen und um effiziente Nutzung von Energie. Ökologisierung besitzt daher auch hedonistische Perspektiven.

Andererseits entgeht die Ökologisierung trotzdem nicht der Dialektik der Aufklärung und entwickelt zwangsläufig Schattenseiten. Sie intensiviert den Krisendiskurs, der sich in den letzten Jahrzehnten epidemisch ausbreitete und die Ängstlichkeit der Zeitgenossen ausnutzt, um diese wieder besser zu kontrollieren und zu lenken. Sie beschleunigt die Medizinisierung der modernen Gesellschaft, indem sie die zunehmende Macht des Gesundheitswesens sogar noch befördert. Sie bietet der Bürokratisierung eine unglaubliche Spielwiese, indem sie immer mehr Bereiche der umweltfreundlichen Reglementierung unterstellt.

Obendrein bringt die Ökologisierung massive Ambivalenzen hervor, durch die aber auch viele negative Einschätzungen aus den Siebzigerjahren relativiert werden. Verdankten diese sich einer traditionellen Kritik an der Moderne, die das ökologische Bewusstsein jener Zeit prägte, so erscheint es heute eher absurd, der Ökologisierung noch eine technikfeindliche Neigung attestieren zu wollen. Heute heißt Ökologisierung primär Technologisierung.

Dabei ist es auch nicht mehr ausgemacht, ob dadurch das Denken formiert wird, wie es Martin Heidegger befürchtete. Die Ökologisierung ist längst der Ort der individuellen Kreativität, ob im IT-Bereich oder in der Landwirtschaft. Sie beeinflusst die Pädagogik und bietet nicht nur Chancen der ethischen Erziehung, sondern setzt dieser auch Grenzen. So geht es nicht nur um Einstellungen, um die Befolgung von ethischen Normen, sondern auch um praktische Konsequenzen, um Verantwortungs- statt um Normenethik, indem Schüler beispielsweise ausrechnen, wie es der Schule gelingt, Energie zu sparen, und wie sie sich selbst daran beteiligen können. Dadurch fördert sie weniger eine Erziehung zur gesinnungsethischen Gleichheit als zur verantwortlichen Individualität.

Selbstredend liegt die Ökologie auch mit manchen Themen und Bereichen im Konflikt. Die Ökonomie fordert sie weit weniger heraus als den Sozialstaat und die Praktiken sozialen Ausgleichs. Zur liberalen Vorstellung des freien Spiels der Kräfte besteht zwar eine Nähe, die aber bei genauerer Betrachtung theologische Wurzeln offenbart. Diese Verwandtschaft von Ökologisierung, Liberalismus und Christentum mag Vertretern aller drei Strömungen unangenehm erscheinen, zu leugnen ist sie nicht. Die Ökologisierung liegt ferner im Konflikt mit der Ästhetik, ein Problem, das vielleicht gar nicht gelöst werden muss, sich aber wahrscheinlich in hedonistisches Wohlgefallen auflöst, was so manche ästhetische Theorie verunsichert, beispielsweise die Adornos.

Vor allem des Themas Ethik bemächtigt sich die Ökologisierung mit einer unglaublichen Dynamik, wobei sie eine autoritäre Ethik à la Hans Jonas längst hinter sich gelassen hat. Es gibt heute keine größere ethische Spielwiese als die Ökologie. Dabei ist sie jedoch weit davon entfernt, nur als schlechtes Gewissen aufzutreten, im Gegenteil, man kann ökologisch etwas für die Welt und für sich selbst tun und auf diese Weise womöglich auch noch Geld sparen. Die Ökologisierung bedient sich dabei auch der Askese, sie ist aber längst nicht nur asketisch ausgerichtet. Es geht ihr nicht mehr nur um das Überleben, sondern um das gute Leben: Ökologisierung als Lebenskunst, wobei sich dies derzeit allerdings primär auf die Ober- und Mittelschicht beschränkt.

Der folgende Text enthält weder Zitate noch Literaturhinweise. Meiner Publikationsliste kann man zahlreiche Texte entnehmen, in denen die hier vorgelegten Thesen weiter ausgeführt und auch belegt werden (online verfügbar unter: www.gsi.uni-muenchen.de/personen/aplprof_pd/schoenherr-mann/index.html).

Ich freue mich über Anfragen und Kommentare, die ich gerne beantworte:

hmschmann@gsi.uni-muenchen.de.

Einleitung: Kehrt die Natur im Zeitalter
der Ökologisierung wieder?

Die Welt wird immer natürlicher! Seit Jahrzehnten lässt sich diese Entwicklungstendenz der Moderne beobachten: Vielerorts versucht man, nicht mehr so naturschädlich zu produzieren wie noch im alten Industriezeitalter, wird der Natur heute sehr viel mehr bewahrende Aufmerksamkeit zuteil als vor fünfzig, hundert oder gar hundertfünfzig Jahren. Kehrt also die Natur im Zeitalter der Ökologisierung wieder?

Mag die Natur im Industriezeitalter entschwinden, in Vergessenheit gerät sie nie. Ob bei Nichtregierungsorganisationen, in der Kunst, der Wissenschaft, im Fernsehen, zumindest in der Trauer um ihr Vergehen oder ihren Niedergang blieb die Natur immer präsent. Schon gar nicht vergisst man die Naturvergessenheit des Industriezeitalters, lassen sich doch noch genug Naturruinen bewundern. Just indem ja manche Apokalyptiker im Anschluss an Martin Heidegger begeistert drohend Naturvergesslichkeiten beklagen, erinnern sie an die Natur.

Ob in der Kunstfertigkeit ökologisch orientierter Ingenieurinnen oder in der publikumswirksamen Sorge von Kulturschaffenden, es kehrt die entschwundene Natur wieder, um die sich zwischen 1830 und 1970 nur wenige Zeitgenossen ernsthaft kümmerten. Einerseits gab es zu dieser Zeit noch genug davon. Die Romantik war vorüber, während der man noch die Erhabenheit der Alpen bewunderte. Andererseits glaubten viele an den wissenschaftlich technischen Fortschritt und waren fasziniert von industriellen Gütern – die Eisenbahn, das Dampfschiff, das Flugzeug, dessen erste Piloten als Helden gefeiert wurden, was diese auch häufig mit dem Leben bezahlten.

Bereits vor gut 250 Jahren überraschte indes Jean-Jacques Rousseau seine Zeitgenossen mit der These, dass der Mensch durch die Kultur verkomme: Der Naturmensch sei friedliebend, doch die natürlichen Tugenden des Mutes und der Tapferkeit verfielen im forschreitenden Prozess der Kultur. Wenn man dagegen den Kulturmenschen vom Egoismus befreie, dann offenbare sich eine quasi natürliche Gleichheit.

Rousseau zog daraus auch persönliche Konsequenzen, lehnte die urbane höfische Kultur ab und lebte lieber auf dem Land. Die Kunde von den edlen Wilden in Amerika schien diese Anschauung zu untermauern und versetzte nicht nur ihn in freudige Erregung: Da leben Menschen im Einklang mit der Natur und realisieren dabei hohe Werte wie Heldentum, Mut und Tapferkeit – dabei hatte Karl May seine Bücher noch gar nicht geschrieben.

Die Soldaten des vorrevolutionären 18. Jahrhunderts ließen es hingegen an Heldenmut und Opferbereitschaft missen und verzichteten lieber darauf, sich freiwillig erschießen zu lassen. Vielmehr brauchten sie hinter sich einen Feldwebel, der aufpasste, dass sie vor dem Feind nicht davonliefen. Das dünkt indes viel vernünftiger, wenn nicht sogar natürlicher als der Mut von Winnetou, der diesen schließlich das Leben kostete.

Offenbar wurde Rousseaus Klage jedoch erhört: Ob in Verdun, in Stalingrad oder als Selbstmordattentäter, der Soldat hat seither gelernt, sich opfern zu lassen. Ist der Mensch damit zu seiner Natur zurückgekehrt, wie es Rousseau erklärt? Oder entschwand nicht eher die Natur im Menschen? Und zwar just auf Geheiß des prophetischen Philosophen der Natur Jean-Jacques, aber selbstredend gegen seine Absicht? Denn: Würde sich der Naturmensch jemals selbst opfern?

Oder gibt er sich gerade deshalb hin, weil er nur Natur und noch kein Individuum ist? Dies ist zwar nicht Rousseaus Intention, dennoch präsentiert es sich als die Konsequenz seines Denkens: Wenn die Natur wiederkehrt, wird das Leben einfacher, die Menschen werden solidarischer. Dies impliziert auch mehr praktiziertes Heldentum, mehr Bereitschaft, sich für andere mutig einzusetzen und somit mehr Krieg. Und wer damit einmal angefangen hat, kann davon so schnell nicht lassen, wie die Erfahrung nicht nur des 20. Jahrhunderts lehrt. Dann führt die Natur in den Kriegszustand – zumindest unter Bedingungen der Kultur. Kehrte somit die Natur schon in den Weltkriegen wieder? Im Sinn eines leicht verdrehten Rousseau wäre das nicht mal völlig absurd.

Die verschiedensten Facetten der Naturidealisierung strahlen für diverse Ökologen auch heute noch allerhand Attraktivität aus. Dass die Natur der Zeitgenossin freundlich und nicht feindlich entgegenstehe oder sich zumindest neutral verhalte, dass sie Heilkräfte beherberge, wahre und womöglich noch ewige Schönheit entfalte, dass sie die Menschen moralisch bessere, solche Vorstellungen leben seit Rousseau bis heute fort und gewinnen im Laufe der drei, vier letzten Jahrzehnte vermehrt Zulauf.

Doch der Prozess der Ökologisierung entwickelt sich weitgehend in andere Richtungen, in denen eine ursprüngliche Natur oder ein opferbereiter Naturmensch keine große Rolle spielt. Die Natur kommt vielmehr mittels Einsatz von Technologien, Praktiken und Denkweisen zurück, in denen sich die Bürgerin fleißig weiter ihrer Kultur versichert, die sie indes in der Natur besser zu verankern sucht. Freilich stellt sich daran anschließend die Frage: Was heißt Natur im technologischen Zeitalter, im Zeitalter der Ökologisierung?

1. Von der Utopie zur Dystopie

Zwar greift einerseits die technische Welt immer weiter aus, differenziert sich zunehmend, bildet anscheinend naturferne Welten. Andererseits verschwinden vom Markt der Visionen aber richtige technische Utopien, die eine glückliche Welt in künstlichen Hemisphären prophezeien. Selbst das Versprechen der Lebensverlängerung, mit dem Medizin und Biotechnologien fleißig hausieren gehen, erkennt die Bürgerin nicht mehr selbstredend als Utopie oder Wunschtraum an. Zu unwägbar drohen die Gefahren.

Und kaum eine Zeitgenossin erwartet noch die Heraufkunft des Kommunismus, also die Verwirklichung einer gesellschaftlichen Utopie, die seit Anfang des 19. Jahrhunderts soziale Hoffnungen zumeist auf den technischen Fortschritt stützte. Auch Marx wollte ja keine Utopie schreiben, so eifern ihm seither viele fleißig nach und niemand will mehr Utopist sein. Fast niemand.

Als dagegen das Industriezeitalter in Kinderschuhen steckte und seine hässliche Fratze höchstens ansatzweise aufblitzte, also im frühen 19. Jahrhundert, entwirft der Sozialist Charles Fourier seine Utopie, die sich auf erotische Lust stützt, interessanterweise damit aber nicht zeugen will. Nein, die Menschen vermehren sich unter utopischen Lebensbedingungen nicht, sie vermindern sich. Das dadurch eintretende Glück strahlt in die Natur ab: Raubtiere sterben aus. Welche Freude: Die Polkappen schmelzen – so Fourier – und strahlen stattdessen Wärme und Licht aus, sodass ein ewiger Frühling herrscht. Das Meer nimmt einen limonadenartigen Geschmack an.

Prediger werden das Abschmelzen der Polkappen und der Bevölkerung für die Strafe Gottes halten, als Quittung für den Gebrauch der Lüste ohne Reue. Zugegeben, etwas merkwürdig erscheint die Zusammenstellung schon. Doch wenn es den Menschen materiell gut geht, vermehren sie sich nicht so sehr wie unter schlechten Lebensumständen. Sie sind gebildeter und benutzen Verhütungsmittel. Sie haben genug Geld, um sich auch eine verbotene Abtreibung zu leisten. Wie der Hochadel, der seine Kinder natürlich nicht selbst erzieht, sind sie ebenfalls vernünftig genug, sich nicht von einer ausufernden Kinderschar aufreiben zu lassen.

Nationalisten, die Krieg führen, oder Gläubige, die durch Vermehrung Mission betreiben wollen, legen daher großen Wert darauf, dass es der Bevölkerung nicht zu gut geht und dass das Leben möglichst freudlos bleibt. Zwar bieten religiöse Utopien, wie jene vom Paradies und vom ewigen Leben, gelegentlich einen Trupp Jungfrauen zum Vergnügen an, verlegen aber jede Verwirklichung des guten Lebens aus dieser in jene andere Welt. Dort wird seltsamerweise über Vermehrung wiederum kein Wort verloren: Im Himmel wird nicht geboren – ein Rentnerparadies.

Unter prekären Lebensbedingungen muss die Reproduktionsrate höher sein: Wenn viele, aus welchen Gründen auch immer, umkommen, müssten umso mehr geboren werden – unter der wenn auch unsinnigen Bedingung, dass es einen biologischen, also natürlichen Sinn der Gattung gäbe. Diese Logik gefährlicher Lebensbedingungen wirkt bei Tieren auch noch weiter, wenn sich ihre Lage verbessert. Das lässt dann regelmäßig eine Population anwachsen, bis sie ihre Lebensgrundlagen aufbraucht, um dann wieder abzunehmen.

Den Menschen könnte Ähnliches blühen, weil sie, einmal der Kriegslogik unterworfen, wie sie der Nazi-Vordenker Carl Schmitt definiert, zu einem vergleichbaren natürlichen, allerdings wenig vernünftigen Verhalten neigen. Nach Schmitt aber, für den der Souverän nicht nur über den Ausnahmezustand befindet, sondern der Bevölkerung auch vorschreiben darf, wer öffentlicher Freund und Feind sei, handeln die Zeitgenossen nun mal nicht sehr klug. Wenn sie unter modernen Bedingungen immer mehr natürliche, allemal endliche Ressourcen mobilisieren und sich die Menschheit weiter vermehrt, werden sich die Überlebensbedingungen massiv verschlechtern. Die Logik der Vermehrung führt beinahe zwangsläufig zu der Freund-Feind-Unterscheidung Carl Schmitts: Fundamentalistische jüdische Siedler in den von Israel besetzten Gebieten und die Palästinenser schenken sich dabei gegenseitig wenig. Oder die Verdammten dieser Erde wehren sich durch Vermehrung, die den Wohlstand in den reichen Ländern direkt und indirekt bedroht.

Um solche gewaltsamen Zuspitzungen zu vermeiden, ist die Bürgerin darauf verwiesen, die Zahl der Geburten unter Kontrolle zu halten und die Bevölkerung massiv zu verringern. Dies ist nur dann nicht grausam, wenn es durch Verhütung und nicht durch Vernichtung geschieht, wie es Nazis betrieben und Rechtsradikale propagieren. Die Logik, dass man menschliches Leben vermehren solle, um möglichst vielen Menschen ein Leben zu bieten, erweist sich als eine Logik der Brutalität, weil sie erstens sehr vielen Menschen ein nur katastrophales Leben schafft und zweitens einen Vernichtungskampf um bessere Lebensbedingungen befeuert: Wer gegen Verhütung und Abtreibung eintritt, befördert damit Tendenzen zum Elend und zur Grausamkeit. Carl Schmitt hatte sicher insoweit recht, dass dieser Überbevölkerungskrieg nicht durch Moralpredigten eingedämmt werden kann.

Eine reflexive Ökologie zweifelt an einem Begriff von Natur, der Krieg, Tapferkeit und Opferbereitschaft beinhaltet, und bevorzugt eine Kultur der Lust ohne Reue, die sich ohne Abtreibung und Verhütung allerdings nicht ökologisch realisieren lässt. In der Lust kehrt die Natur wieder, nicht in der Enthaltsamkeit. An Rändern der von Menschen bewohnten Welt – nämlich in den intensiver technisierten Ländern – beginnt sich eine solche, von Fourier erahnte Logik zu entfalten. Kehrt in dieser Lustorientierung die Natur wieder?