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GEO

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Großmutter, warum warst du so traurig?

Von Johanna Romberg

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Großmutter, warum warst du so traurig?

Eine Familientragödie vor mehr als 100 Jahren, erschütternd und rätselhaft – auch weil nie wieder über sie gesprochen wurde. Lässt sich trotzdem verstehen, was damals passiert ist, und vor allem: warum? Johanna Romberg hat sich, mithilfe einer neuen Wissenschaft, auf den Weg gemacht, ein bislang undurchdringliches Geheimnis zu erkunden: vergangene Gefühle

Von Johanna Romberg

Als ich vor einiger Zeit einen alten Sekretär aus dem Nachlass meiner Eltern ausräumte, lernte ich auf einen Schlag zwei Dutzend Menschen kennen. Menschen, die mir auf den ersten Blick sehr fremd vorkamen. Frauen mit ausladenden Röcken und üppigen Dutt-Frisuren, die scheu und ernst in die Kamera blickten. Männer mit Backenbart und Kneifer, die in Patriarchenpose inmitten korrekt gescheitelter Söhne posierten. Kleine Mädchen mit aufgerissenen Augen, deren erschreckend dünne Ärmchen darauf schließen ließen, dass die Ernährungslage in norddeutschen Bürgerfamilien um 1870 nicht allzu üppig war.

Die Fotos, die viele Jahre unbeachtet im Sekretär gelegen hatten, zeigen meine Vorfahren: Menschen, die vor hundert und mehr Jahren im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin gelebt haben. Da die Bilder zum Glück beschriftet waren, konnte ich fast alle identifizieren. Zu den Ältesten gehören meine Ururgroßeltern, geboren zwischen 1820 und 1830, zu den Jüngsten meine Großmütter, geboren 1888 und 1891. Auf Fotos der Jahrhundertwende sah ich sie zum ersten Mal als junge Mädchen.

Je länger ich die Bilder betrachtete, desto neugieriger wurde ich. Wer waren diese Menschen, was verbindet mich mit ihnen – jenseits von ein paar Linien auf der Ahnentafel? Von meinen Eltern wusste ich nur, dass die Männer fast alle Pfarrer und Lehrer gewesen waren, die wiederum Pfarrers- und Lehrerstöchter geheiratet hatten. Wie hatte ihr Alltag ausgesehen, hatten sie ihr Leben genossen oder eher ertragen? Worauf richteten sich ihre Wünsche, Hoffnungen, Ängste? Wie waren sie mit Schicksalsschlägen umgegangen?

Es gibt ein Foto, bei dem mir die Antwort besonders am Herzen liegt. 1899 aufgenommen, zeigt es meine Urgroßeltern Anna und Karl Lembcke mit ihren Kindern: fünf Töchtern und einem Sohn. Das kleine Mädchen im weißen Musselinkleid vorn rechts ist meine Großmutter Hermine, die Mutter meines Vaters. Sie ist von allen Mitgliedern ihrer Familie die Einzige, die ich noch kennengelernt habe.

Auf späteren Bildern fällt auf, dass die Frauen darauf meist schwarz gekleidet sind. Es fällt auch auf, dass von Maria und Hedwig, den beiden älteren Schwestern meiner Großmutter, nur Jugendbilder existieren. Eines der letzten zeigt Maria, die Ältere, sie blickt mit wachsamem, leicht irritiertem Blick von einem aufgeschlagenen Buch hoch, einen gezückten Stift in der Hand.

In dem Sekretär meiner Eltern fand ich auch einige Dokumente, darunter einen unscheinbaren, mit Maschine getippten Zettel; eine Abschrift aus dem – nicht erhaltenen – Stammbuch der Familie Lembcke. Zum ersten Mal las ich darauf, schwarz auf weiß und in dürren Stichworten, von der Tragödie, die sich vor über hundert Jahren ereignet hat und die meine Großmutter und ihre Familie lebenslang gezeichnet haben muss.