Über das Buch:
»Willst du mich heiraten?«
Lenore hätte nie gedacht, dass sie mit dieser einen Frage ihr ganzes Leben zerstören könnte. Aber so ist es. Denn ihr geliebter Daniel sagt Nein. Jetzt steht sie vor dem Nichts. Das Einzige, was ihr bleibt, ist ihr kleiner Sohn Scottie und die Hoffnung auf einen Neuanfang in einer fremden Stadt.
Lenore hat keinen Job, keine Ausbildung, keine Freunde. Doch während sie in tiefe Depressionen zu verfallen droht, treten bereits rettende Engel in ihr Leben. Menschen, die sich ihrer annehmen, die ihr auf die Füße helfen und sie mit einem Gott bekannt machen, dessen Pläne so viel größer sind als ihre eigenen. Plötzlich eröffnet sich Lenore die Chance auf ein überreiches Leben, von dem sie nie zu träumen gewagt hätte. Doch eine Lücke bleibt: Daniel.
Muss sie ihn wirklich für immer abschreiben?

Über die Autorin:
Mit ihren Romanen berührt Linda Nichols auf einzigartige Weise die Herzen
ihrer Leser. Bereits ihr christliches Romandebüt war für den Christy-Award nominiert. Zusammen mit ihrem Mann und ihren Kindern lebt sie in Tacoma, Washington.

7

Daniel kam nicht mehr dazu, in das Flugzeug nach Seattle zu steigen. Anstatt am Montagmorgen wie geplant zum Flughafen zu fahren, rief er Sylvia an.

„Kommen Sie in mein Büro“, lautete ihre Aufforderung. Daniel ließ sich das nicht zweimal sagen und lieh sich Lous Auto, einen zerbeulten braunen Volvo ohne Rückspiegel, aber dafür mit zwei Aufklebern. Auf dem einen stand Jesus, bitte schütze mich vor deinen Anhängern und auf dem anderen Als Politik und Religion noch gemeinsame Sache gemacht haben, hat man Leute auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Die Heizung konnte man nicht abstellen und so ließ Daniel alle Fenster herunter, um nicht völlig durchgeschwitzt an seinem Ziel anzukommen. Er fuhr durch die Stadt, achtete aber kaum auf den herumliegenden Abfall, die unangenehmen Gerüche und das grelle Sonnenlicht, das sich in den Stoßstangen der vor ihm fahrenden Autos spiegelte. In der Nähe der Stadtverwaltung wechselte er auf eine andere Autobahn. Vor ihm lagen die kahlen, sonnenverbrannten Hügel von Los Angeles. Er kam an verkrüppelten Bäumen und verdorrten Sträuchern vorbei. Auf den Felsen standen riesige Häuser, die von unten wie düstere Festungen wirkten. Am Santa Monica Boulevard verließ er die Autobahn und fuhr durch Hollywood, das wie immer von Touristenscharen bevölkert war. Dann befand er sich in einer anderen Welt. Der starke Autoverkehr, der Staub und der Dreck der Stadt lagen hinter ihm. Die Landschaft vor ihm wirkte weitläufig und freundlich. Die breiten Boulevards wurden von Palmen und Eukalyptusbäumen gesäumt, die Wolkenkratzer hoben sich deutlich von einem tiefblauen Himmel ab. Das Wasser der Springbrunnen ließ in der Sonne kleine Regenbogen entstehen. In den blitzsauberen Straßen sah er teure Boutiquen und exklusive Restaurants. Die Agentur von Sylvia befand sich in einem flachen, lang gezogenen Gebäude. Daniel fuhr daran vorbei und stellte das Auto ein paar Straßenzüge weiter ab, weil er nicht damit gesehen werden wollte. Während er durch die breiten Drehtüren ging, streifte er sich sein Jackett über.

* * *

Sylvia sah in den kleinen Handspiegel, den sie in ihrer Schreibtischschublade aufbewahrte. Ihr Make-up war noch immer perfekt. Sie schloss die Schublade und warf einen letzten Blick auf den Text, den sie vorbereitet hatte. Es war ein Agenturvertrag mit Standardklauseln. Dann sah sie hoch und starrte auf die Wand ihres Büros. Hoffentlich machte sie keinen Fehler, wenn sie Daniel Monroe unter Vertrag nahm. Sie kannte die Spielregeln: Ein Fehler war noch verzeihlich, bei zweien wurde es kritisch und drei Fehler machten einen in dieser Branche bereits zum Versager. Als sie an diese Möglichkeit dachte, zog sich ihr vor Angst der Magen zusammen.

Sie stand auf und ging ans Fenster. Auf dem Boulevard herrschte reges Treiben. Die meisten Fußgänger waren Touristen, die hofften, einen Blick auf eine Berühmtheit erhaschen zu können. Das Komische daran war, dass diese Leute gar nicht wussten, wer die wirklichen Größen waren. Die Mächtigen im Filmgeschäft waren oft unsichtbar. Ihre Gesichter suchte man vergebens auf den Plakatwänden. Sylvia empfand eine leise Verachtung, wenn sie an die sogenannten Stars dachte. Für sie hatten diese Menschen keinen Charakter, und sie wünschte, sie könnte ihre Arbeit ohne sie machen. Die meisten von ihnen waren wie gierige, hungrige Kinder, die lautstark forderten, was ihnen angeblich zustand.

In der Eingangshalle wurden Stimmen laut. Mit einem Seufzer ließ Sylvia die Sonnenjalousie herunter und drehte sich zur Tür um. Ihr Assistent steckte den Kopf herein.

„Daniel Monroe ist da.“

Sie nickte und ging auf ihren Besucher zu. „Guten Tag, Daniel“, sagte sie betont herzlich. „Bitte kommen Sie herein.“

Er betrat ihr Büro und nahm vor ihrem Schreibtisch Platz. Sie tauschten höfliche Floskeln aus. Er sah wirklich gut aus und hatte auch eine gewisse Ausstrahlung. Dennoch hätte sie fast den Kopf geschüttelt. Was war es, was diese Menschen zu etwas Besonderem machte? Natürlich hatten sie eine große Anziehungskraft, aber Sylvia glaubte, dass ein wesentliches Element auch noch etwas anderes, etwas weniger Schmeichelhaftes war. Es war die Kraft ihres riesigen, hungrigen Egos, das alle anderen Menschen in seinen Bann zog. Nun, solange Daniel dieses Charisma auch auf die Leinwand übertragen konnte, sollte es ihr recht sein. Es musste stark sein, um genug Geld einzubringen.

Sylvia sah Daniel zu, wie er den Vertrag unterschrieb. Seine Hände waren kräftig und braun gebrannt. Sie bewegten sich sicher, ohne zu zögern. Als er den Kugelschreiber hinlegte und sie ansah, wurden seine dunklen Augen weich wie geschmolzene Schokolade, und er schenkte ihr dieses gewisse Lächeln, das in den Mundwinkeln begann und an Intensität immer weiter zuzunehmen schien. Sylvia meinte fast, ihr müsste davon warm werden. Jetzt war sie davon überzeugt, keinen Fehler gemacht zu haben.

„Das ist die Karte des Castingleiters. Er erwartet Sie morgen früh“, sagte sie schließlich.

„Danke, Sylvia.“ Seine Stimme klang sanft, tief und bedeutungsschwer.

Sie neigte den Kopf und ließ zu, dass er ihre Hand nahm. Sein Händedruck war warm und fest. Dann beobachtete sie, wie er ihr Büro wieder verließ. Der teure Armani-Anzug war wahrscheinlich geliehen, aber er sah an ihm aus, als sei er für ihn gemacht. Würde er es schaffen? Sie versuchte gelassen zu bleiben, schloss ihre Bürotür und ging wieder an die Arbeit. Ob er Erfolg hatte oder nicht, würde sich bald herausstellen.

* * *

Drei Wochen später zog Daniel aus Lous Zweifamilienhaus aus und nahm sich eine Wohnung in Santa Monica. Während er sich nun im Rückspiegel seines geleasten Autos betrachtete, versuchte er, in seine neue Rolle zu schlüpfen. Sylvia hatte ihm gleich in der ersten Woche nach Vertragsabschluss einen Termin zum Vorsprechen für eine echte Traumrolle besorgt. Es handelte sich um eine Hauptrolle in Vor Gericht, einer schon lange laufenden Fernsehserie. Er konnte es noch immer nicht fassen, aber er hatte die Rolle bekommen.

Natürlich hatte er Lenore und Scott etwas Geld geschickt. Er hatte sie schließlich nicht vergessen und sie fehlten ihm immer noch. Aber wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, dann wurden die Jahre, die er mit ihnen verbracht hatte, immer mehr zu einer Scheinwelt, einer Zeit in einem anderen Universum. Vielleicht hatte er sich gedanklich zu sehr auf die Rolle in einem Science-Fiction-Film eingelassen, auf die er sich gerade vorbereitete. Trotzdem dachte Daniel immer noch täglich an Lenore, vor allem abends, wenn er in seinem Bett lag, dem einzigen Möbelstück, das außer dem Ledersessel in seiner neuen Wohnung stand. Er fühlte sich unwohl, wenn ihr Gesicht vor seinem geistigen Auge erschien. In diesem Moment zerplatzte seine Euphorie wie eine Seifenblase. Von einer Sekunde auf die andere verspürte er eine große innere Leere, eine nackte Angst. Er lag dann da und vernahm den Verkehrslärm auf dem Boulevard geradezu unerträglich laut. Die Motorengeräusche der vorbeifahrenden Autos verdichteten sich zu dem Rauschen eines Flusses. Natürlich bekam er sich nach einiger Zeit wieder in den Griff. Er musste nur an den glücklichen Verlauf seiner Karriere denken, dann war diese innere Leere wie weggeblasen. Trotzdem war er froh über jeden neuen Morgen, darüber, dass er aufstehen und sein Leben weiterführen konnte.

Sein neues Leben. Es kam ihm fast so vor, als hätte er zwei verschiedene Persönlichkeiten. Die eine hatte die letzten Jahre mit Lenore und Scott verbracht, die andere war Daniel Monroe. Überall in Los Angeles erschien sein Bild auf den Werbeplakaten für die Fernsehserie Vor Gericht. Gestern hatte er es auf einem Stadtbus gesehen, und das war ein seltsames Gefühl gewesen. Er stand zwar im Hintergrund, links neben dem Hauptdarsteller, aber trotzdem war er deutlich zu erkennen. Sein ernstes Gesicht blickte auf den Richterstuhl. Als der Bus mit seinem Bild weitergefahren war, hatte Daniel gespürt, wie es ihn packte. Er fühlte sich wie ein Surfer, der plötzlich auf einem Wellenkamm ritt. Es kam ihm vor, als ob er von etwas mitgerissen würde, von etwas, das größer war als er selbst und das ihm einen festen Halt versprach.

Es war schon seltsam, sich zusammen mit den Filmgrößen auf den Fotos zu sehen. Es war merkwürdig und reizvoll zugleich, ernüchternd und berauschend. Eigentlich gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder hatte er sich von einem gewöhnlichen Menschen in ein außergewöhnliches Wesen verwandelt oder diese Filmstars waren gar nicht so einzigartig und besonders, wie er immer geglaubt hatte. Vielleicht unterschieden sie sich nicht von ihm. Er wusste nicht so genau, was er glauben sollte. Aber das galt im Grunde genommen für sein ganzes Leben. Auch jetzt verspürte er diese Unsicherheit. Wer war er denn wirklich? War er Daniel Monroe, ein Hauptdarsteller der beliebten Fernsehserie Vor Gericht, der in einem geleasten BMW auf dem Weg zu einer Essensverabredung mit Renee Lapin, einer anderen Hauptdarstellerin, war? Oder war er Scotts Vater und Lenores ehemaliger Lebensgefährte? War er das schwarze Schaf der Familie seiner Tante und seines Onkels? War er jemand, der es nicht schaffte, die wichtigsten Menschen in seinem Leben auf Dauer an sich zu binden?

Er kannte die Antworten auf diese Fragen nicht, aber jetzt, in diesem Moment, verspürte er kein Bedauern, kein Gefühl der inneren Leere oder der Verlorenheit, sondern er fühlte sich erstaunlich selbstsicher. Er war etwas Besonderes. Dieses Gefühl wollte er unbedingt festhalten.

Er traf ein paar Minuten zu spät vor dem Restaurant ein, drückte einem Angestellten lässig seine Autoschlüssel in die Hand und ging hinein. Sofort erblickte er sie. Dort saß Renee Lapin. Sie wartete – auf ihn. Als er ihr gegenüber Platz nahm, bekam sie gerade ihr zweites Glas Weißwein serviert.

„Du bist spät dran.“ Sie schien über seine Verspätung nicht wütend zu sein, sondern ihre Stimme klang vielmehr interessiert.

Renee Lapin, dachte er. Ich bin mit Renee Lapin zum Essen verabredet. Sie war zwar kein Megastar, aber auch kein kleines Filmsternchen. Die Leute erkannten sie, wenn sie sich in der Öffentlichkeit zeigte. „Bitte entschuldige.“ Er schenkte ihr sein spezielles Lächeln. „Die Vertragsverhandlungen haben länger gedauert als geplant.“

Sie warf ihm einen ironischen Blick zu. „Na klar doch.“

Wieder lächelte Daniel ihr zu. Er hatte sich immer gefragt, ob die Frauen, die er auf der Leinwand sah, in natura auch so makellos waren wie im Film. Aber er wurde nicht enttäuscht. Der Körper dieser Frau war straff und wohlgeformt. Sie hatte volles, rotbraunes Haar, sonnengebräunte Haut, ein ebenmäßiges Gesicht, weit auseinanderstehende blaue Augen. Ihre Beine, die sie unter dem Tisch ausgestreckt hatte, wirkten unendlich lang. Mit anderen Worten: Sie war einfach hinreißend. Jetzt nahm sie das Weinglas in ihre perfekt manikürten Hände und trank noch einen Schluck.

„Und, wie läuft’s denn so?“, fragte sie.

„Gut“, antwortete er mit einem Kopfnicken. „Und wie läuft’s bei dir?“

„Sehr gut“, entgegnete sie. Endlich lächelte sie ihn an. Sie hatte wunderschöne, weiße Zähne. Begeistert beugte er sich vor, aber plötzlich sah er die feine Linie, entlang des Zahnfleisches, wo die Veneers endeten. Sie hatte ihre Zähne mit Keramikschalen verblendet. Rasch lehnte er sich wieder zurück. Er wünschte, er hätte nicht so genau hingeschaut. Eine leise Enttäuschung machte sich in ihm breit, als wäre er ein Kind, dem man gesagt hatte, dass es keinen Nikolaus gab.

„Möchtest du etwas bestellen?“, fragte er.

„Ja, wenn du so weit bist.“ Er verdrängte den Gedanken an die Zahnveneers der Schauspielerin und konzentrierte sich wieder auf das Positive, auf das Gefühl, das ihm schon den ganzen Morgen über ungeheuren Auftrieb gegeben hatte. Er saß mit Renee Lapin an einem Tisch. Unauffällig sah er sich nach den anderen Gästen im Restaurant um, während Renee den Kellner herbeiwinkte. Ein paar Leute warfen verstohlene Blicke zu ihnen herüber.

„Ich nehme einen Shrimpssalat mit Himbeer-Vinaigrette, aber die bitte auf einem gesonderten Teller. Und bringen Sie mir noch ein Glas Weißwein.“ Sie tippte mit ihrem rot lackierten Fingernagel an den Rand ihres Weinglases.

Daniel bestellte irgendetwas. Das Essen war ihm in diesem Moment nicht so wichtig. Wieder sah er sich um und erkannte ein paar Gesichter. Nicht mehr lange, sagte er sich, dann würden die Leute auch ihn erkennen. Wie ein Blitz durchfuhr ihn die Gewissheit, dass das diesmal kein Wunschdenken war. Sylvia hatte es bestätigt. „Sie sind etwas Besonderes“, hatte sie zu ihm gesagt, als er den Vertrag für die Serie unterschrieben hatte. Ihre Stimme hatte aufrichtig geklungen. „Ihr Name wird in Hollywood bald ein Begriff sein.“ Er wusste bis heute nicht so genau, was sie damit meinte, aber es klang gut.

„Also“, meldete sich Renee wieder zu Wort. „Wie läuft’s?“

Daniel sah sie an. Der Klang ihrer Stimme verwirrte ihn. Hatte sie ihm diese Frage nicht gerade schon gestellt?

„Sehr gut.“ Er nickte und schenkte ihr wieder sein spezielles Lächeln. „Wirklich sehr gut.“

8

Im Vorfeld des Tages, den Daniel auf dem Kalender eingekreist hatte, hatte Scott seinem Vater bereits zwei Briefe geschickt. Lenore hatte mit Daniel telefoniert, um mit ihm die Einzelheiten von Scotts Besuch zu besprechen. Ihr Magen hatte sich jedes Mal schmerzhaft zusammengezogen, wenn sie seine Stimme gehört hatte, aber sie hielten ihre Gespräche kurz und sachlich. Lenore war es gelungen, für Scott einen Direktflug nach Los Angeles zu buchen, und Daniel hatte ihr hoch und heilig versprochen, dass er seinen Sohn vom Flughafen abholen würde. Tatsächlich hatten die beiden sie noch aus dem Flughafengebäude angerufen, um sie wissen zu lassen, dass alles gut geklappt hatte, und Scott war eine Woche bei seinem Vater geblieben. Lenore hatte befürchtet, dass Scott bei seiner Rückkehr traurig sein würde, aber ihrem Sohn ging es ganz gut. Er war sogar froh, wieder bei ihr zu sein. Vielleicht lag es auch daran, dass er seinen neuen Freund Derek vermisst hatte. Am ersten Tag nach seiner Rückkehr stand er frühmorgens auf, zog sich ohne ihre Hilfe an und packte die Souvenirs aus Los Angeles ein, damit er in der Schule von seinem Kurzurlaub erzählen konnte.

„Das ist Daniel?“, hatte Edie gefragt, als sie das Erinnerungsfoto von Scott und Daniel, das Scott mit nach Hause gebracht hatte, an der Pinnwand entdeckt hatte. Lenores einzige Reaktion war ein stilles Nicken gewesen. Vermutlich verglich ihre Besucherin gerade das braun gebrannte Gesicht des gut aussehenden Mannes mit Lenores milchweißer Haut und ihrem mausbraunen Haar, hatte sie sich gedacht. Aber nachdem Edie das Foto betrachtet und dann Scott gemustert hatte, hatte sie nur eine einzige Bemerkung gemacht: „Er kommt mir irgendwie bekannt vor.“

Lenore hatte Edie von Daniels Fernsehkarriere erzählt und angespannt auf neugierige Fragen oder zumindest diesen abschätzenden Blick gewartet, den sie so gut kannte. Aber beides war ausgeblieben. Das Gespräch der beiden Frauen hatte sich anderen Themen zugewandt und sie hatten seitdem nicht mehr über Daniel gesprochen.

Lenore starrte mit leerem Blick hinaus auf den Parkplatz. Sie zwang sich, nicht mehr an Daniel zu denken. Von Carlene war noch nichts zu sehen, aber ihre neue Freundin hatte ohnehin ein anderes Zeitgefühl als die übrige Welt. Sie unterschied sich auch in anderer Hinsicht von anderen Menschen. Lenore hatte noch nie einen gläubigen Menschen wie Carlene getroffen. Ihre absolute Hingabe und ihr unerschütterliches Gottvertrauen schienen nicht zu ihrem Äußeren zu passen. Sie trug ihre Haare übertrieben toupiert, ihre Kleider waren stets knallbunt, und ihr Make-up äußerst farbintensiv. Carlene sprach in einem lockeren Ton über Jesus, aber das passte zu ihrer Persönlichkeit. Sie war alles andere als schüchtern oder reserviert. Lenore war verblüfft, dass sie Carlene so gern mochte. Sie musste lächeln, als sie sich daran erinnerte, wie die andere Frau ein paar ihrer Eskapaden zum Besten gegeben hatte.

„Ich hab mal aus einem Seil einen Keilriemen gebastelt“, hatte Carlene an jenem ersten Tag geprahlt, als Lenore Scott nach der Schule, geplagt von innerer Unruhe und Zweifeln, zu ihr gebracht hatte. Wenn Oma Eileen ihr diese Frau nicht empfohlen hätte, hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre wieder nach Hause gefahren. „Sie ist ein echtes Original“, hatte Scotts Lehrerin gemeint. „Aber sie liebt den Herrn und sie liebt Kinder. Dort drüben sitzt ihr kleiner Sohn Derek.“ Sie hatte auf einen Jungen mit Sommersprossen und einem breiten Lächeln gezeigt.

Edie hatte Oma Eileens Empfehlung bestätigt. „Sie hat ein gutes Herz“, hatte sie gesagt. „Du kannst ihr wirklich vertrauen.“

Die beiden Frauen hatten recht behalten. Auch wenn Lenore überraschend auftauchte, wirkten die beiden Jungen glücklich und zufrieden. Sie wurden von Carlene liebevoll betreut. Lenore merkte schnell, dass Carlene immer offen ihre Meinung sagte, aber Lenore machte das nichts aus. Sie empfand es als sehr angenehm, von Menschen umgeben zu sein, die das aussprachen, was sie dachten.

„Ach, Sie arbeiten bei Doc Ashland?“, hatte Carlene sie an jenem ersten Tag gefragt.

Lenore nickte nur.

Carlene zog eine Grimasse und schüttelte den Kopf. „Nein, das wäre nichts für mich“, platzte sie heraus. Ihre Stimme klang so ablehnend, als hätte Lenore ihr eine Arbeit bei dem Arzt angeboten.

Lenore reagierte auf diese Worte mit einem Lächeln. Sie hatte schon da gemerkt, dass es mit Carlene wenigstens nie langweilig werden würde.

„Aber ich sage immer: Man muss eben das machen, was man kann“, hatte Carlene hinzugefügt. Dann folgte eine detaillierte Schilderung, wie sie das zu einem Keilriemen umfunktionierte Seil befestigt, den Knoten mit einem Nagelknipser bearbeitet hatte und dann zweiunddreißig Kilometer bis zur nächsten Tankstelle gefahren war. „Wenn man weiß, wie so was funktioniert, kann man es auch reparieren, stimmt’s?“ Ihr Gesicht hatte sich so verzogen, dass es beinahe wie das eines Clowns ausgesehen hatte, was es aber fast ständig tat.

Lenore wusste bei vielem zwar nicht wie es funktionierte, aber sie lernte dazu. Schon nach wenigen Wochen hatte sie von Carlene eine Menge gelernt. Nachdem Lenore sich erst einmal an ihr ungewöhnliches Erscheinungsbild gewöhnt hatte, hatte sie einen Blick hinter die Fassade der aufgedonnerten Singlemama werfen können. Carlene hatte wirklich ein gutes Herz. Lenore wurde bewusst, was für ein Glück sie hatte. Trotz der großen Gegensätze waren sie Freundinnen geworden, und Lenore war überaus dankbar für diese Freundschaft.

„Das wird eine tolle Sache“, hatte Carlene begeistert gemeint, als Lenore sie gefragt hatte, ob sie Scott nach der Schule betreuen könne. „Derek ist in derselben Klasse, von daher ist das gar kein Problem. Während des Unterrichts putze ich das Kirchengebäude, und dann nehme ich nach der Schule einfach beide Jungs mit nach Hause.“

Lenore beobachtete Scott, der auf dem Bordstein vor ihrer Wohnung saß und sehnsüchtig auf seinen Freund wartete. Derek war ein halbes Jahr älter als Scott, und dieser Altersunterschied machte ihn automatisch zu einem Helden. Die beiden Jungen waren inzwischen unzertrennlich. Scott mochte auch seine neue Tagesmutter, weil sie völlig zwanglos mit ihnen umging. Sie setzte ihnen Grenzen, räumte ihnen aber auch einen gewissen Freiraum ein, wobei sie Letzteres wörtlich nahm.

„Ich gehe jeden Tag mit ihnen in den Park. Dort können sie sich austoben. Das schont meine Möbel“, hatte Carlene ihrer neuen Freundin erklärt. Die beiden Frauen und ihre Söhne hatten sich sogar schon getroffen, um sich gemeinsam einen Film anzusehen. Sie waren in die Vormittagsvorstellung von Oliver & Co. gegangen und hatten dabei so viel Spaß gehabt, dass sie sofort den heutigen Ausflug geplant hatten. „Ich zeige dir, wo ich am liebsten einkaufe“, hatte Carlene angeboten. Wieder warf Lenore einen Blick aus dem Fenster. Sie hoffte, dass Carlenes roter Kombi endlich auftauchen würde. Dann sah sie auf die Uhr. Carlene war erst zehn Minuten zu spät dran. Es könnte also noch länger dauern. Sie zog ihren Mantel wieder aus und sah sich die Broschüre an, die Dr. Ashland ihr gegeben hatte. Es handelte sich um das Programm eines im Norden der Stadt gelegenen Colleges.

„Es gibt dort einen Studiengang für Krankenpflege“, hatte er gesagt und sie mit hochgezogenen Augenbrauen angesehen. „Und wenn Sie wollen, können Sie nach anderthalb Jahren an die Universität wechseln und dort einen akademischen Abschluss machen. Sie sollten sich das überlegen. Sie haben eine natürliche Begabung für diesen Beruf.“

Lenore war vor Verlegenheit rot geworden, als sie dieses Lob gehört hatte. Die Arbeit in der Arztpraxis machte ihr Freude. Dr. Ashland sagte, ihm gefalle ihre ruhige und besonnene Art im Umgang mit den Patienten. Sie scheine immer zu wissen, wer von ihnen etwas härter angepackt und wer etwas sanfter behandelt werden müsse. Aber am besten gefiel Lenore bei ihrer Arbeit das Gefühl, endlich etwas wirklich Sinnvolles zu tun. Wenn verletzte oder kranke Kinder zu Dr. Ashland kamen, machte er sie wieder gesund. Und auch sie konnte den kleinen Patienten helfen, selbst wenn sie nur ihre Körpergröße und ihr Gewicht notierte, ihre Temperatur maß oder die Anweisungen des Arztes weitergab. Sie kam jeden Tag müde, aber zufrieden nach Hause. Ihre Arbeit war zwar anstrengend, aber sie wusste, dass sich diese Mühe lohnte. Wieder warf sie einen Blick auf das Vorlesungsverzeichnis. Eine seltsame Unruhe erfasste sie, denn das hier war etwas ganz anderes. Sie war sich nicht sicher, ob sie wieder die Schulbank drücken könnte. Allein die Anmeldung am College kam ihr wie ein unüberwindlicher Berg vor.

„Sie können sich die Arbeit so einteilen, dass Sie die Kurse besuchen können“, hatte ihr Dr. Ashland vorgeschlagen. „Mir ist schließlich auch geholfen, wenn Sie diese Ausbildung machen, weil Sie mir dann in der Praxis mehr Arbeit abnehmen können. Außerdem reicht das Gehalt einer Sprechstundenhilfe auf die Dauer nicht aus, wenn Sie vernünftig für Ihren Sohn sorgen wollen.“

Da hatte er natürlich recht, aber in letzter Zeit hatte sich ihre finanzielle Situation ein bisschen entspannt. Daniel hatte Scott letzte Woche einen Brief geschickt. In dem Umschlag hatten ein paar Zeilen an sie gelegen und ein Scheck über einen Geldbetrag, der höher war als alles, was Lenore innerhalb eines Jahres verdienen konnte. Zuerst hatte Lenore befürchtet, dass Daniel in zweifelhafte Geschäfte verstrickt sein könnte, aber dann hatte sie seine Erklärung gelesen. Habe eine gute Rolle bekommen. Werde noch mehr schicken. In Liebe, Daniel.

In Liebe, Daniel. Sie hatte die Zähne zusammengebissen und gespürt, wie ihr Blut in Wallung kam. Der Schmerz über die Trennung von Daniel war in letzter Zeit einer kaum zu bändigenden Wut gewichen. Sie hatte den Scheck eingereicht, Daniels Brief in den Mülleimer geworfen und ihren Zorn hinuntergeschluckt. Diesen Aufruhr ihrer Gefühle konnte sie jetzt nicht brauchen. Sie würde sich ihrer hilflosen Wut ein andermal stellen müssen.

Ein roter Farbfleck auf dem Parkplatz riss Lenore aus ihren Gedanken. Carlene war endlich da. Lenore ging hinaus und schloss die Wohnungstür hinter sich ab. Als sie bei Carlenes Auto ankam, saß Scott schon auf dem Rücksitz. Carlene kontrollierte gerade, dass er sich auch richtig angeschnallt hatte, und winkte Lenore dann zur Begrüßung zu. „Zuerst fahren wir zum See. Dort hat die St.-Vincent-Stiftung einen Wohltätigkeitsladen, und die haben ganz anständige Sachen.“

„Klingt gut“, erwiderte Lenore. Während sie sich anschnallte, unterdrückte sie ein Schmunzeln. Carlene hielt nicht viel von den Möbeln, die in ihrer Wohnung standen.

„Kann sie dieses Zeugs loswerden?“, hatte Carlene Mr Caputo gefragt.

„Klar“, hatte dieser mit dem für ihn typischen strahlenden Lächeln geantwortet. Er schien sich nichts aus Carlenes abfälliger Bemerkung zu machen. „Ich stelle die Möbel einfach auf den Speicher.“

„Ich hab kein Geld für neue Möbel“, hatte Lenore protestiert. Damals hatte sie den Scheck von Daniel noch nicht bekommen.

„Dort, wo ich einkaufe, kannst du dir alles leisten“, hatte Carlene ihre Freundin beruhigt.

Lenore fragte sich einen Moment lang, was Daniel wohl davon halten würde, wenn er erführe, dass sie in einem Wohltätigkeitsladen einkaufen wollte. Aber vielleicht wäre ihm das auch gleichgültig, solange niemand wusste, woher die Möbel kamen. Daniel war es immer wichtig gewesen, einen guten Eindruck zu machen. Für ihn war es die Hauptsache, dass die Fassade stimmte. Wieder biss Lenore die Zähne zusammen. Sie atmete tief durch und widmete sich dann wieder ihrer Freundin.

„Also gibt es in diesem Laden gute Möbel?“, fragte sie.

Carlene nickte. „Auf jeden Fall sind die besser als das Zeugs, das du jetzt hast. Wenn man sich mit so einem Ramsch umgibt, muss man ja depressiv werden.“

„Ich bin nicht depressiv“, erwiderte Lenore bissig. Vielleicht wurden diese Worte ja dadurch wahr, dass sie sie laut aussprach. Aber Carlene hörte ihr gar nicht zu. Stattdessen griff sie in ihre Handtasche, wandte sich auf ihrem Sitz um und reichte den beiden Jungen je eine Zuckerstange. Ihr Auto zog dabei immer weiter nach links und blieb nur mit Mühe in der Spur. Lenore wollte schon das Lenkrad packen, aber in diesem Moment setzte sich Carlene wieder gerade hin, und das Auto kehrte auf die Mitte der Spur zurück.

„Was ist denn los?“, fragte sie empört.

„Nichts.“ Lenore unterdrückte ein Schmunzeln und griff nach der Zuckerstange, die Carlene ihr hinhielt.

Zuckerstangen. Lenore schüttelte den Kopf. Es war kaum zu fassen, dass Weihnachten vor der Tür stand. Scott sollte am Tag danach erneut seinen Vater besuchen. Dieser Gedanke stimmte sie schlagartig traurig, ohne dass sie genau wusste, warum. Sie hatte nichts dagegen, dass ihr Sohn ein paar Tage bei seinem Vater verbrachte, ganz im Gegenteil. Nimm mich mit, rief es in ihrem Inneren. Aber sofort schrie eine andere, ebenso starke Stimme hasserfüllte Worte, wie ein verletztes und wütendes Kind. Wieder schüttelte sie den Kopf und verdrängte die bösen Gedanken. Ihre Gefühle waren in Aufruhr und ihre Gedanken widersprüchlich und turbulent. Nur über eines war sie sich im Klaren: Sie verspürte kein Verlangen, Weihnachten zu feiern, aber Scott zuliebe musste sie gute Miene zum bösen Spiel machen.

Carlene fuhr auf den Parkplatz des riesigen Wohltätigkeitsladens und parkte das Auto. Sobald sie das Gebäude betreten hatten, merkte Lenore, dass ihre Freundin recht gehabt hatte. Hier konnte man wahre Schätze finden, wenn es einem nichts ausmachte, dass sie vorher jemand anderem gehört hatten. Sie sah einen Couchtisch aus Mahagoni und dazu passende Beistelltischchen. Die Möbelstücke waren nur leicht abgenutzt. Dann entdeckte sie zwei schöne alte Porzellanlampen, die Carlene zufolge nur neue Schirme brauchten.

„Ich kann dir neue Kabel einziehen, falls die Lampen nicht brennen“, bot sie an. „Und für zwei fünfzig das Stück kannst du nicht viel falsch machen. Ach, schau mal“, ergänzte sie und hielt einen Satz weißer Keramikbecher hoch. Auf den Tassen waren die Umrisse eines Nikolausgesichts zu sehen. Sie fuhr mit dem Fingernagel über die Farbe. Der abgesplitterte Nagellack auf ihrem Daumennagel wirkte genauso fleckig wie die Wangen des Nikolaus. „Wenn du die Farbe abrubbelst, hast du einen schicken weißen Becher. Das ist doch clever, oder?“

„Stimmt“, erwiderte Lenore. Carlene nickte bedächtig und stellte alle sechs Becher in Lenores Einkaufswagen. Es folgte ein Kranz aus künstlichem Immergrün, den sie an ihre Wohnungstür hängen könnte. „Du brauchst ein bisschen Weihnachtsstimmung“, erklärte sie. „Wenn du nicht genug Geld hast, kann ich zahlen.“

„Ich habe genug Geld“, sagte Lenore. Carlenes unbeholfene Freundlichkeit wärmte ihr das Herz. „Ich brauche aber einen echten Baum. Ohne den ist nicht richtig Weihnachten.“ Warum sagte sie so etwas? Vor ein paar Sekunden hatte sie das Fest gar nicht feiern wollen.

„Da hast du recht“, pflichtete Carlene ihr bei. Sie lächelte zufrieden. „Christbaumschmuck findest du dort drüben hinter den Haushaltswaren.“

Lenore folgte Carlenes Wegbeschreibung und sah sich den Weihnachtsschmuck an. Plötzlich war ihr Interesse geweckt. Sie entdeckte drei Schachteln mit Christbaumkugeln aus den fünfziger Jahren. Bevor sie den Laden verließen, fiel ihr Blick noch auf eine schwarze Hose und einen roten Pullover. Beide Kleidungsstücke wären ideal für Scotts Besuch bei seinem Vater. Wenn er etwas Extravagantes braucht, kann Daniel ihm das kaufen, dachte sie mürrisch. Nach einer ersten Schocksekunde schüttelte sie fassungslos den Kopf. Sie war verblüfft, wie gehässig sie auf einmal sein konnte. Die Feindseligkeit gegenüber ihrem früheren Lebensgefährten umgab sie wie ein dicker Panzer.

„Du hast echte Schnäppchen gemacht“, rief Carlene begeistert und riss Lenore aus ihren hasserfüllten Gedanken. „Und in einem Monat denkst du nicht einmal mehr daran, dass es gebrauchte Sachen sind.“

Lenore nickte zustimmend. Sie würde alles gründlich desinfizieren und die Kleidungsstücke mehrmals durchwaschen. Aber letztlich würde Carlene recht behalten. Niemand würde etwas merken. Die Kleider würden nach Weichspüler duften, die polierten Möbel würden glänzen und der Christbaumschmuck weihnachtliche Stimmung verbreiten. Carlene rauchte auf dem Rückweg zum Auto schnell eine Zigarette. Bevor sie einstieg, zertrat sie die Kippe mit dem Absatz ihres Schuhs.

„Du solltest wirklich nicht rauchen“, schimpfte Lenore.

„Ja, ich weiß.“ Carlenes Stimme klang reumütig. „Aber ich rauche nur draußen oder im Bad. Und dann lasse ich stundenlang das Fenster offen stehen. Am Montag höre ich zum zigsten Mal damit auf.“

Auf dem Rückweg zu Carlenes Wohnung hielten sie noch bei einem Supermarkt, kauften Zutaten für Pizza und Buttertoffee und ein Sechserpack Limonade. Dann liehen sie sich zwei Videos für die Kinder aus. Sie entschieden sich für Wie der Grinch Weihnachen gestohlen hat und Frosty, der Schneemann. Während sie das Essen zubereiteten, plauderten und lachten die beiden Frauen miteinander, und die Kinder sahen sich die Filme an. Später gingen die beiden Jungen in Dereks Zimmer, um dort zu spielen. Lenore und Carlene tranken Kaffee, aßen die Buttertoffees und redeten weiter. Der Fernseher lief im Hintergrund leise weiter und diente den beiden Frauen als Geräuschkulisse.

„Jetzt müssen wir aber los“, meinte Lenore schließlich, als es schon fast zweiundzwanzig Uhr war. Carlene holte ihre Autoschlüssel und rief nach den beiden Jungen. Während Lenore das Geschirr zusammenstellte, endeten im Fernsehen die Nachrichten und ein Werbetrailer wurde ausgestrahlt. Lenore hörte eine vertraute Stimme, aber das, was sie sagte, ergab keinen Sinn. Daniel sagte: „Einspruch, hohes Gericht.“

Lenore drehte sich abrupt um und starrte auf den Bildschirm. Ihre Lippen verzogen sich zu einem unausgesprochenen „Oh“, während sie zu verstehen versuchte, was sie da sah. Daniel sah gut aus. Der dunkle Anzug, den er trug, passte ihm wie angegossen. Plötzlich wurde ihr klar, woher das viele Geld kam und warum Daniel so selbstsicher weitere Geldsendungen angekündigt hatte.

In diesem Augenblick kam Carlene zurück ins Wohnzimmer, gefolgt von Scott und Derek.

„Mensch, das ist ja Papa!“, rief Scott laut. „Das ist mein Papa!“

Carlenes Blick wanderte von Scott zum Bildschirm. Dann sah sie fragend Lenore und wieder den Fernseher an.

Lenore nickte schweigend.

„Das ist der Typ, den du verlassen hast?“, fragte Carlene und zeigte auf den Bildschirm.

Wieder nickte Lenore. In der Schlussszene des Einspielers stritt Daniel sich mit einer weiteren Filmfigur, der schönen Hauptdarstellerin. Lenore erwartete, dass Carlene sie auslachen oder der Lüge bezichtigen würde, aber die andere Frau starrte schweigend auf den Bildschirm, bis der Werbetrailer endete. Dann drehte sie sich zu Lenore um.

„Oh“, sagte sie bloß. Lenore sah Carlenes Augen aufblitzen. Sie hatte in nur wenigen Sekunden alles verstanden.

* * *

Weihnachten kam und ging vorüber. Bei Lenore wollte sich keine rechte Freude einstellen, aber sie war auch nicht traurig. Sie musste am Tag davor und am Tag danach arbeiten, wofür sie dankbar war. Am Morgen des Weihnachtstages packte Scott seine Geschenke aus. Mr Caputo hatte Lenore, Scott und Edie nach dem Gottesdienst zum Essen eingeladen. Es gab Truthahn.

„Das ist aber lieb von Ihnen“, sagte Mr Caputo, als er Lenores Geschenk auspackte. Sie hatte ihm ein Schreibset gekauft. Scott hatte in der Schule für Mr Caputo und Edie Rentiere gebastelt, deren Tierkörper aus Wäscheklammern bestanden. Die Geweihe waren aus Pfeifenreinigern gemacht.

„Wie schön“, freute sich Mr Caputo. Dann übergab er Lenore und Scott je ein Geschenk. Scott riss das Päckchen sofort auf und entdeckte darin eine komplette Ausstattung zum Malen, mit Wachsmalfarben, Buntstiften, Filzstiften und Zeichenpapier. Lenore nahm sich mehr Zeit beim Öffnen. Sie fragte sich, was wohl in der Schachtel sein könnte.

„Sie haben mich mal um ein paar Kochrezepte gebeten“, sagte ihr Vermieter schließlich verlegen.

Lenore schlug das Geschenkpapier sorgfältig auseinander. Ihr Blick fiel auf eine kleine Holzkiste, und als sie den Deckel abhob, sah sie Rezeptkarten mit den leckeren Gerichten, für die Mr Caputo berühmt war. Zuoberst lag das Rezept für Hähnchen mit Polenta. Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie legte die Arme um den älteren Mann und drückte ihn fest an sich. Er tätschelte ihr sanft die Schulter.

„Ich hab nie Kochen gelernt“, brachte sie schließlich heraus, als sie ihre Emotionen wieder im Griff hatte.

„Kein Mensch kommt auf die Welt und kann gleich alles“, entgegnete Mr Caputo. Lenore fand es seltsam, dass der ältere Mann denselben Satz gebrauchte wie Edie, als sie ihr von der freien Stelle bei Dr. Ashland erzählt hatte. „Ich kann es Ihnen beibringen.“

Edies Geschenk war ein behutsamer Anstoß: Es war ein in Leder gebundener Terminkalender. „Ich hoffe, du kannst ihn verwenden, um alle deine Termine unter einen Hut zu bekommen“, sagte sie. Auf ihre dezente Art warb sie damit für die Entscheidung, die Lenore bald treffen musste. „Aus dir wird bestimmt eine hervorragende Krankenschwester.“ Ihre Stimme klang aufmunternd.

Scott freute sich riesig über die neuen Playmobilfahrzeuge, die Edie ihm geschenkt hatte, und auch Edie schien ihrerseits über Lenores Geschenk hocherfreut zu sein. Es war ein winziger Rahmen aus silbernem Filigran, den Lenore in einem Antiquitätenladen in der Nähe der Kirche gefunden hatte. Das antike Stück hatte mehr gekostet, als sie eigentlich hätte ausgeben wollen, aber sie war sich sicher gewesen, dass es Edie gefallen würde.

Der Tag verging schneller als erwartet. Sie ging um dieselbe Zeit schlafen wie Scott, weil sie sich sagte, dass sie schließlich am nächsten Morgen früh aufstehen müsse, um ihn zum Flughafen zu bringen. Aber insgeheim wollte sie nur nicht allein in ihrem winzigen Wohnzimmer sitzen, den Christbaum anstarren und an das Weihnachtsfest vom letzten Jahr denken.

Am nächsten Morgen brachte sie Scott zum Flughafen und ging zur Arbeit. Als sie von dort nach Hause kam, rief sie Leslie an und wünschte ihrer Schwester frohe Weihnachten. Sie ließ sich die neue Telefonnummer ihrer Mutter geben, hinterließ eine Nachricht auf deren Anrufbeantworter, und dann gehörte Weihnachten für sie der Vergangenheit an – bis zum nächsten Jahr. Nach drei Tagen kam Scott wieder zurück. In seinem Koffer steckte ein weiterer Scheck. Lenore wusste schon, wofür sie das Geld diesmal verwenden würde: Mit dieser Summe könnte sie ihre verringerte Arbeitszeit ausgleichen. Den Rest würde sie für Studiengebühren und Bücher verwenden, denn sie hatte sich entschlossen, tatsächlich noch einmal die Schulbank zu drücken. Diese Entscheidung tat ihrer Seele gut, da die Angst vor dem Unbekannten so groß war, dass sie sie von ihrer Traurigkeit und ohnmächtigen Wut ablenkte.

Bis zum ersten Tag des Wintertrimesters hatte sich ihre erbärmliche Angst in eine Mischung aus Aufregung und Beunruhigung verwandelt, wobei die Aufregung nur um Haaresbreite die Oberhand gewann. Sie fuhr zum Campus, stellte ihr Auto auf dem Studentenparkplatz ab und stieg aus. Die leinene Tragetasche, in der ihre brandneuen Bücher und das mitgebrachte Mittagessen steckten, lastete schwer auf ihrer Schulter. Mit Hilfe des Lageplans, den sie bei der Einführungsveranstaltung bekommen hatte, fand Lenore fast mühelos das Gebäude für die medizinischen Kurse und Vorlesungen. Sie war frühzeitig gekommen, und so mischte sie sich unter die Studenten, die vor dem Hörsaal herumstanden.

„Hallo.“ Die Stimme gehörte einer Frau mit kurz geschnittenem braunen Haar, die höchstens einen Meter fünfzig groß war. „Sieht ganz so aus, als ob wir zu den älteren Studenten gehören“, fügte sie hinzu.

Lenore war verblüfft. Sie schätzte die Frau auf über vierzig, aber Lenore selbst war doch erst vierundzwanzig. Sie fühlte sich gar nicht alt.

„Ja, sieht ganz so aus“, stimmte sie der anderen Studentin dennoch zu und folgte ihr in den Hörsaal.

Sie setzten sich hinter die seltsam geformten Schreibpulte, die in dem modernen, etwa einhundert Studenten fassenden Saal standen.

Lenore nahm ihr Notizbuch aus der Tasche und schrieb „5. Januar 1989, Fach: Anatomie und Physiologie“ hinein. Dann zögerte sie, legte ihren Bleistift hin und sah sich um. Allmählich füllte sich der Saal. Ein junger Mann ließ sich auf den Platz vor ihr fallen. Er trug ein T-Shirt mit dem Namen einer Musikgruppe, von der sie noch nie im Leben gehört hatte. Eine junge Frau, deren dichtes, lockiges Haar unter einer Baseballkappe versteckt war, setzte sich neben ihn.

Als der Dozent den Raum betrat, wurde es dunkel. Auf einer großen Leinwand erschien eine Animation einer Zelle. Nach und nach kamen noch mehr Studenten in den Saal, jedes Mal, wenn sich die Tür öffnete und wieder schloss, schien das Licht von draußen auf das Bild.

„Anatomie und Physiologie sind lediglich Begriffe für Chemie und Physik, angewandt auf den menschlichen Körper“, erklärte der Dozent. Für Lenore begann eine aufregende Zeit.

* * *

Am nächsten Morgen stand sie auf, als es noch dunkel war, machte sich einen Kaffee, holte ihre Bücher und setzte sich an den Küchentisch, den Carlene und sie bei einem weiteren Ausflug gefunden hatten, diesmal in einer Goodwill-Zweigstelle. Der Tisch war aus massivem Eichenholz. Er hatte zwar ein paar Kratzer, aber ansonsten war er stabil und erfüllte seinen Zweck.

Lenore schlug ihr Lehrbuch über Anatomie und Physiologie auf und begann mit dem Abschnitt über Zellbiologie. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass das alles gar nicht so schwer sein konnte, aber ihre Schulzeit lag schon länger zurück. Der Dozent hatte es ernst gemeint, als er Chemie und Physik erwähnt hatte. Es genügte nicht, die Namen der Zellteile auswendig zu lernen. Seine Studenten sollten die chemische Zusammensetzung der Zellmembranen kennen, die elektrische Aufladung der Zell-Ionen und eine Menge anderer Fakten, die sie in der Schule nicht gelernt hatte. Lenore war froh, dass sie sich für einen Wiederholungskurs in Chemie eingeschrieben hatte. Nach der Lektüre der ersten Seiten des Lehrbuches war ihr nur zu deutlich bewusst, wie dringend sie eine Auffrischung ihres Wissens brauchte.

Sie blätterte das Buch durch und machte sich auf dem neben ihr liegenden Block Notizen. Dann versuchte sie zu verstehen, worum es bei Konzentrationsgradienten, ionischen und Elektronenpaarbindungen ging, warum sich solche Verbindungen bildeten und wieder lösten, wie sie das Verhalten der Zelle beeinflussten und auf die Abwehrkräfte eines Menschen wirkten. Lenore spürte, wie eine leichte Panik in ihr aufstieg. Das würde sie niemals lernen, geschweige denn verstehen. Du bist zu alt für so was, warnte sie eine innere Stimme. Warum hast du überhaupt mit dieser Ausbildung angefangen? Such dir doch lieber eine Stelle als Kellnerin. Zu was anderem taugst du sowieso nicht. Diese anklagende Stimme klang wie eine Kreuzung aus der ihrer Mutter und der ihrer Schwester.

Mit einem energischen Kopfschütteln starrte Lenore an die gegenüberliegende Wand. Dann versuchte sie bewusst zu atmen, wie damals bei der Geburt von Scott. Ein, aus, ein, aus. Langsam hob und senkte sich ihre Brust. Alles würde gut. Sie würde es schaffen. Es war nicht zu schwer.

„Eins nach dem anderen, alles schön der Reihe nach.“ Sie wiederholte halblaut diesen Rat, den Edie ihr gegeben hatte. Wenn Lenore an das Chaos in Edies Büro dachte, erschien es ihr allerdings so, als halte sie selbst sich nicht unbedingt an diese Worte. Lenore musste lächeln. Allein der Gedanke an Edie wirkte beruhigend auf sie. Wieder widmete sie sich den Lehrbüchern. Die Zeit verging wie im Flug, und dann musste sie Scott wecken.