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Die Seele des Menschen.
Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen

(The Heart of Man. Its Genius for Good and Evil)

Erich Fromm
(1964a)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel

Erstveröffentlichung unter dem Titel The Heart of Man. Its Genius for Good and Evil 1964 bei Harper and Row in New York 1964 als Band 12 der Religious Perspectives, geplant und herausgegeben von Ruth Nanda Anshen. Eine deutsche Übersetzung von Harry Maor erschien 1968 unter dem Titel Das Menschliche in uns. Die Wahl zwischen Gut und Böse beim Diana Verlag in Zürich. Für die Erich Fromm-Gesamtausgabe wurde von Liselotte und Ernst Mickel eine neue Übersetzung angefertigt und das Buch nach Absprache mit Erich Fromm unter dem Titel Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen 1979 von der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart neu herausgebracht. – In der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, hg. von Rainer Funk, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, ist das Buch in Band II (S. 159-268) enthalten.
Sämtliche Ergänzungen des Herausgebers sowie auch seine editorischen Anmerkungen sind in [eckige Klammern] gesetzt, ebenso die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden.

© 1964, 1980 Erich Fromm; © 1981 The Estate of Erich Fromm;
für diese digitale Ausgabe © 2015 The Estate of Erich Fromm

Der Autor

autor

Erich Fromm, Psychoanalytiker, Sozialpsychologe und Autor zahlreicher aufsehenerregender Werke, wurde 1900 in Frankfurt am Main geboren. Der promovierte Soziologe und praktizierende Psychoanalytiker widmete sich zeitlebens der Frage, was Menschen ähnlich denken, fühlen und handeln lässt. Er verband soziologisches und psychologisches Denken. Anfang der Dreißiger Jahre war er mit seinen Theorien zum autoritären Charakter der wichtigste Ideengeber der sogenannten „Frankfurter Schule“ um Max Horkheimer.

1934 emigrierte Fromm in die USA. Dort hatte er verschiedene Professuren inne und wurde 1941 mit seinem Buch „Die Furcht vor der Freiheit“ weltbekannt. Von 1950 bis 1973 lebte und lehrte er in Mexiko, von wo aus er nicht nur das Buch „Die Kunst des Liebens“ schrieb, sondern auch das Buch „Wege aus einer kranken Gesellschaft“. Immer stärker nahm der humanistische Denker Fromm auf die Politik der Vereinigten Staaten Einfluss und engagierte sich in der Friedensbewegung.

Die letzten sieben Jahre seines Lebens verbrachte er in Locarno in der Schweiz. Dort entstand das Buch „Haben oder Sein“. In ihm resümierte Fromm seine Erkenntnisse über die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Am 18. März 1980 ist Fromm in Locarno gestorben.

Der Herausgeber

herausgeber

Rainer Funk (geb. 1943) promovierte über die Sozialpsychologie und Ethik Erich Fromms und war von 1974 an Fromms letzter Assistent. Fromm vererbte dem praktizierenden Psychoanalytiker Funk seine Bibliothek und seinen wissenschaftlichen Nachlass. Diese sind jetzt im Erich Fromm Institut Tübingen untergebracht, siehe www.erich-fromm.de.

Darüber hinaus bestimmte er Funk testamentarisch zu seinem Rechteverwalter. 1980/1981 gab Funk eine zehnbändige, 1999 eine zwölfbändige „Erich Fromm Gesamtausgabe“ heraus. Die Texte dieser Gesamtausgabe liegen auch der von Funk mit editorischen Hinweisen versehenen „Edition Erich Fromm“ als E-Book zugrunde.

Impressum

E-Book-Ausgabe 2015
Edition Erich Fromm erschienen bei Open Publishing Rights GmbH, München
© 1964, 1980 Erich Fromm / © 1981 The Estate of Erich Fromm;
für diese digitale Ausgabe © 2015 The Estate of Erich Fromm
für die Edition Erich Fromm © 2015 Rainer Funk
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Sarah Borchert, München
ISBN 978-3-95912-004-3

Vorwort

Dieses Buch greift Gedankengänge auf, die ich bereits in einigen meiner früheren Bücher behandelt habe, und versucht sie weiterzuentwickeln. Das Buch Die Furcht vor der Freiheit (1941a) befasst sich mit dem Problem der Freiheit im Zusammenhang mit dem Sadismus, dem Masochismus und der Destruktivität; inzwischen haben mich klinische Erfahrungen und theoretische Überlegungen zu einem, wie ich meine, tieferen Verständnis der Freiheit wie auch der verschiedenen Arten von Aggression und Destruktivität geführt. Ich vermag jetzt zwischen verschiedenen Formen der Aggression zu unterscheiden, die direkt oder indirekt im Dienst des Lebens stehen, und der bösartigen Form der Destruktivität, der Nekrophilie, bei welcher es sich um eine echte Liebe zu Totem handelt, die das Gegenteil der Biophilie ist, der Liebe zum Leben und zu Lebendigem.[1] In Psychoanalyse und Ethik (1947a) habe ich das Problem der ethischen Normen erörtert, die auf unserer Kenntnis der menschlichen Natur und nicht auf Offenbarung oder auf Gesetzen und Konventionen beruhen, die vom Menschen geschaffen wurden. Im vorliegenden Buch verfolge ich dieses Problem weiter und beschäftige mich speziell mit dem Wesen des Bösen und mit der Wahl zwischen Gut und Böse. Schließlich ist das Buch in gewissem Sinn auch ein Gegenstück zu Die Kunst des Liebens (1956a). Während dort die Liebesfähigkeit des Menschen das Hauptthema war, ist es hier seine Fähigkeit zu zerstören, sein Narzissmus und seine inzestuöse Fixierung. Obgleich die Erörterung der Nicht-Liebe den größten Teil dieses Buches einnimmt, habe ich doch auch das Problem der Liebe in einem neuen, umfassenderen Sinn – nämlich im Sinn der Liebe zum Leben – wieder aufgegriffen. Ich versuche zu zeigen, dass die Liebe zum Lebendigen mit der Unabhängigkeit und der Überwindung des Narzissmus ein „Wachstumssyndrom“ bildet, im Gegensatz zu dem aus der Liebe zum Toten, der inzestuösen Symbiose und dem bösartigen Narzissmus gebildeten „Verfallssyndrom“.

Aber nicht nur meine klinischen Erfahrungen, sondern auch die gesellschaftliche und politische Entwicklung der letzten Jahre hat mich zur Untersuchung dieses Verfallssyndroms veranlasst. Immer drängender wird die Frage, weshalb trotz allen guten Willens und obwohl wir uns der Folgen eines Atomkriegs bewusst sind, die Versuche [II-162] ihn abzuwenden so schwach sind im Vergleich zur Größe der Gefahr und Wahrscheinlichkeit eines Krieges. Gehen doch atomares Wettrüsten und kalter Krieg unvermindert weiter. Diese Sorge hat mich veranlasst, das Phänomen der Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber in einer immer stärker mechanisierten Industriewelt zu untersuchen. In dieser Welt wird der Mensch zu einem Ding, was dazu führt, dass er dem Leben mit Angst und Gleichgültigkeit, wenn nicht gar mit Hass gegenübersteht. Überdies sehen wir uns durch die heutige Neigung zur Gewalttätigkeit, wie sie zum Beispiel in der Jugendkriminalität und in den politischen Morden zum Ausdruck kommt, vor die Aufgabe gestellt, als ersten Schritt auf dem Weg zu einer Änderung nach einer Erklärung zu suchen. Es erhebt sich die Frage, ob wir uns auf eine neue Barbarei zu bewegen – selbst wenn es nicht zu einem Atomkrieg kommen sollte – oder ob eine Renaissance unserer humanistischen Tradition möglich ist.

Neben der Behandlung dieser Probleme möchte ich in diesem Buch das Verhältnis meiner psychoanalytischen Vorstellungen zu Freuds Theorien klarstellen. Ich war nie einverstanden, wenn man mich einer neuen „Schule“ der Psychoanalyse zuordnete, mag man sie nun als „kulturelle Schule“ oder als „Neo-Freudianismus“ bezeichnen. Ich bin der Überzeugung, dass viele dieser neuen Schulen zwar wertvolle Einsichten entwickelt, aber auch viele der wichtigsten Entdeckungen Freuds dabei wieder verdeckt haben. Ganz gewiss bin ich kein „orthodoxer Freudianer“. Tatsächlich ist ja eine jede Theorie, die sich innerhalb von sechzig Jahren nicht ändert, aus eben diesem Grund nicht mehr die ursprüngliche Theorie des Meisters; sie ist eine versteinerte Wiederholung, und als Wiederholung ist sie dann in Wirklichkeit eine Entstellung.[2]

Freud hat seine grundlegenden Entdeckungen in einem ganz bestimmten philosophischen Bezugssystem konzipiert, nämlich dem des mechanistischen Materialismus, zu dem sich die meisten Naturwissenschaftler zu Beginn unseres Jahrhunderts bekannten. Meiner Meinung nach erfordert die Weiterentwicklung von Freuds Gedanken ein anderes philosophisches Bezugssystem, nämlich das des dialektischen Humanismus. Ich versuche, in diesem Buch zu zeigen, dass Freuds weltanschauliche Prämissen seiner größten Entdeckungen, Ödipuskomplex, Narzissmus und Todestrieb im Wege standen und dass diese Entdeckungen, wenn man sie davon befreit und in einen neuen Bezugsrahmen herüber nimmt, überzeugender und bedeutungsvoller werden.[3] [II-163]

Ich glaube, dass das Bezugssystem des Humanismus mit seiner paradoxen Mischung aus schonungsloser Kritik, kompromisslosem Realismus und rationalem Glauben eine fruchtbare Weiterentwicklung des Werks ermöglichen wird, zu dem Freud die Fundamente gelegt hat.

Noch eine weitere Bemerkung: Ich habe in diesem Buch großenteils auf die klinische Dokumentation verzichtet, wenngleich die dargelegten Gedanken sämtlich auf meiner klinischen Arbeit als Psychoanalytiker (und bis zu einem gewissen Grad auch auf meiner Beschäftigung mit gesellschaftlichen Prozessen) beruhen. Diese klinische Dokumentation möchte ich einem größeren Werk vorbehalten, das sich mit der Theorie und Therapie der humanistischen Psychoanalyse beschäftigen wird.[4]

Zum Schluss möchte ich mich noch bei Paul Edwards für seine kritischen Anregungen zu dem Kapitel über Freiheit, Determinismus und Alternativismus bedanken.

Erich Fromm

Inhaltsverzeichnis

1 Der Mensch – Wolf oder Schaf?

Viele sind der Ansicht, die Menschen seien Schafe; viele andere halten sie für reißende Wölfe. Beide Seiten können für ihren Standpunkt gute Argumente vorbringen. Wer die Menschen für Schafe hält, braucht nur darauf hinzuweisen, dass sie sich leicht dazu bringen lassen, die Befehle anderer auszuführen, und dies selbst dann, wenn es für sie selbst schädlich ist; dass sie ihren Führern immer wieder in den Krieg folgen, der ihnen nichts einbringt als Zerstörung; dass sie jedem Unsinn Glauben schenken, wenn er nur mit dem gehörigen Nachdruck vorgebracht und von Inhabern der Macht bekräftigt wird – von den schroffen Drohungen der Priester und Könige bis zu den sanften Stimmen der mehr oder weniger geheimen Verführer. Es scheint, dass die meisten Menschen so leicht beeinflussbar sind wie halbwache Kinder und dass sie bereit sind, sich jedem willenlos auszuliefern, der mit drohender oder einschmeichelnder Stimme eindringlich genug auf sie einredet. Ein Mensch mit einer Überzeugung, die so stark ist, dass er dem Widerstand der Menge trotzt, ist die Ausnahme und nicht die Regel und wird oft noch von späteren Jahrhunderten bewundert, von den eigenen Zeitgenossen aber meist verlacht.

Auf eben dieser Annahme, dass die Menschen Schafe seien, haben die Großinquisitoren und Diktatoren ihre Machtsysteme aufgebaut. Und eben diese Überzeugung, dass die Menschen Schafe seien und daher Führer brauchten, die für sie die Entscheidungen treffen, hat den Führern oft die ehrliche Überzeugung verliehen, dass sie geradezu eine moralische – wenn auch gelegentlich tragische – Pflicht erfüllten, wenn sie den Menschen gaben, was sie wollten: wenn sie die Führung übernahmen und ihnen die Last der Verantwortung und der Freiheit abnahmen.

Wenn aber die meisten Menschen Schafe sind, wie kommt es dann, dass sie ein so völlig anderes Leben führen als Schafe? Die Geschichte der Menschheit ist mit Blut geschrieben; es ist eine Geschichte nie abreißender Gewalttaten, denn fast immer hat man sich die anderen mit Gewalt gefügig gemacht. Hat Talaat Pascha Millionen von Armeniern allein umgebracht? Hat Hitler Millionen von Juden allein umgebracht? Hat Stalin Millionen seiner politischen Gegner allein umgebracht? Nein. Diese Männer standen nicht allein; sie verfügten über Tausende, die für sie töteten, für sie folterten und die es nicht nur willig, sondern sogar mit Vergnügen taten. Stoßen wir [II-165] nicht überall auf die Unmenschlichkeit des Menschen – bei seiner erbarmungslosen Kriegsführung, bei Mord und Vergewaltigung, bei der rücksichtslosen Ausbeutung des Schwächeren durch den Stärkeren? Und wie oft begegnen die Seufzer der gemarterten und leidenden Kreatur tauben Ohren und verhärteten Herzen! Aus all dem zog ein Denker wie Hobbes den Schluss: homo homini lupus – der Mensch ist seinem Mitmenschen ein Wolf. Heute folgern viele von uns daraus, dass der Mensch von Natur bösartig und destruktiv sei, dass er ein Mörder sei, den nur die Angst vor noch stärkeren Mördern von seiner Lieblingsbeschäftigung abhalte.

Und doch wirken die von beiden Seiten vorgebrachten Argumente nicht überzeugend. Wir mögen zwar persönlich einigen potentiellen oder notorischen Mördern und Sadisten begegnet sein, die es an Skrupellosigkeit mit Stalin und Hitler aufnehmen konnten, aber es waren doch Ausnahmen und nicht die Regel. Sollen wir tatsächlich annehmen, dass wir selbst und die meisten Durchschnittsmenschen Wölfe im Schafspelz sind, und dass unsere „wahre Natur“ zum Vorschein kommen wird, sobald wir die Hemmungen ablegen, die uns bisher gehindert haben, uns wie wilde Tiere zu verhalten? Man kann das zwar schwer widerlegen, aber ganz überzeugend ist es auch nicht. Im täglichen Leben gibt es häufig Gelegenheiten zur Grausamkeit und zum Sadismus, die man wahrnehmen könnte, ohne dass man Angst vor Vergeltung haben müsste; trotzdem lassen sich viele nicht darauf ein; ganz im Gegenteil reagieren sie mit Abscheu, wenn sie auf Grausamkeit und Sadismus stoßen.

Gibt es dann vielleicht eine andere, bessere Erklärung für diesen merkwürdigen Widerspruch? Lautet vielleicht die einfache Antwort, dass eine Minderheit von Wölfen Seite an Seite mit einer Mehrheit von Schafen lebt? Die Wölfe wollen töten; die Schafe wollen tun, was man ihnen befiehlt. So bringen die Wölfe die Schafe dazu zu töten, zu morden und zu erwürgen, und die Schafe tun es, nicht etwa weil es ihnen Freude macht, sondern weil sie folgen wollen; und darüber hinaus müssen die Mörder noch Geschichten erfinden, die von ihrer gerechten Sache, von der Verteidigung der bedrohten Freiheit, von der Rache für mit dem Bajonett erstochene Kinder, von vergewaltigten Frauen und von verletzter Ehre handeln, um die Mehrheit der Schafe dazu zu bringen; sich wie Wölfe zu verhalten. Diese Antwort klingt plausibel, doch lässt sie immer noch viele Zweifel bestehen. Besagt sie nicht, dass es sozusagen zwei menschliche Rassen gibt – die der Wölfe und die der Schafe? Außerdem stellt sich die Frage, woher es kommt, dass sich die Schafe so leicht dazu verführen lassen, sich wie Wölfe aufzuführen, wenn es nicht in ihrer Natur liegt, selbst dann, wenn man ihnen die Gewalttätigkeit als heilige Pflicht hinstellt. Vielleicht ist das, was wir über die Wölfe und Schafe gesagt haben, doch nicht haltbar? Vielleicht trifft es doch zu, dass die wesentliche Eigenschaft im Menschen das Wölfische ist, und dass die meisten das nur nicht so offen zeigen? Oder handelt es sich vielleicht gar nicht um eine Alternative? Ist der Mensch vielleicht sowohl Wolf als auch Schaf – oder ist er weder Wolf noch Schaf?

Die Antwort auf diese Fragen ist heute von ausschlaggebender Bedeutung, wo die Nationen zur Vernichtung ihrer „Feinde“ den Einsatz gefährlichster Zerstörungswaffen erwägen und sich offenbar nicht einmal durch die Möglichkeit abschrecken lassen, dass sie bei der Massenvernichtung selbst mit untergehen könnten. Wenn wir [II-166] überzeugt sind, dass der Mensch von Natur aus zur Zerstörung neigt, dass das Bedürfnis, Gewalt anzuwenden, tief in seinem Wesen verwurzelt ist, dann wird unser Widerstand gegen die ständig zunehmende Brutalisierung immer schwächer werden. Warum sollte man sich den Wölfen widersetzen, wenn wir alle Wölfe sind, die einen mehr und die anderen weniger?

Die Frage, ob der Mensch Wolf oder Schaf ist, ist nur die zugespitzte Formulierung einer Frage, die in einem weiteren und allgemeineren Sinn zu den grundlegenden Problemen des theologischen und philosophischen Denkens in der westlichen Welt gehört: Ist der Mensch seinem Wesen nach böse und verderbt, oder ist er seinem Wesen nach gut und fähig, sich zu vervollkommnen? Das Alte Testament steht nicht auf dem Standpunkt, dass der Mensch grundsätzlich verderbt ist. Adams und Evas Ungehorsam gegen Gott wird nicht als Sünde bezeichnet; wir finden nirgends einen Hinweis darauf, dass dieser Ungehorsam den Menschen verderbt gemacht habe. Im Gegenteil ist dieser Ungehorsam die Vorbedingung dafür, dass der Mensch sich seiner selbst bewusst wurde und dass er fähig ist, sich für etwas zu entscheiden, sodass dieser erste Akt des Ungehorsams letzten Endes der erste Schritt des Menschen auf dem Weg zur Freiheit ist. Es scheint so, als wäre dieser Ungehorsam sogar in Gottes Plan beschlossen gewesen; denn nach Auffassung der Propheten ist der Mensch gerade dadurch, dass er aus dem Paradies vertrieben wurde, in die Lage versetzt worden, seine Geschichte selbst zu gestalten, seine menschlichen Kräfte zu entwickeln und als voll entwickeltes Individuum mit seinem Mitmenschen und der Natur zu einer neuen Harmonie zu gelangen, die an die Stelle der früheren Harmonie tritt, als der Mensch noch kein Individuum war. Ganz sicher geht der messianische Gedanke der Propheten davon aus, dass der Mensch nicht grundsätzlich verderbt ist und ohne einen besonderen Gnadenakt Gottes errettet werden kann.

Freilich ist damit nicht gesagt, dass seine Anlage zum Guten auch unbedingt den Sieg davontragen wird. Wenn der Mensch Böses tut, wird er selbst auch böser. So „verhärtet“ sich das Herz des Pharao, weil er immer weiter Böses tut; es verhärtet sich so sehr, dass schließlich ein Punkt erreicht ist, an dem für ihn keine Umkehr und keine Buße mehr möglich ist. Das Alte Testament enthält mindestens ebenso viele Beispiele von Übeltätern wie von Gerechten und nimmt nicht einmal so erhabene Gestalten wie König David aus. Nach Auffassung des Alten Testaments besitzt der Mensch beide Fähigkeiten- die zum Guten und die zum Bösen- und er muss zwischen Gut und Böse, Segen und Fluch, Leben und Tod wählen. Gott greift nicht einmal in diese Entscheidung ein; er hilft, indem er seine Boten, die Propheten, schickt, um die Menschen zu lehren, wie sie das Gute verwirklichen und das Böse erkennen können, und um zu warnen und zu protestieren.[5] Aber nachdem dies geschehen ist, bleibt der Mensch mit seinen „beiden Trieben“ sich selbst überlassen, dem Trieb zum Guten und dem zum Bösen, und er allein muss sich entscheiden.

Die christliche Entwicklung verlief anders. Im Verlauf der Entwicklung der christlichen Kirche entstand die Auffassung, dass Adams Ungehorsam Sünde war, und zwar eine so schwere Sünde, dass durch sie seine Natur und gleichzeitig die aller seiner Nachkommen verdorben wurde, sodass der Mensch sich aus eigener Anstrengung nun nicht mehr aus dieser Verderbtheit befreien kann. Nur ein Gnadenakt Gottes, [II-167] das Erscheinen Christi, der für die Menschen starb, kann die Verderbtheit des Menschen tilgen und die, welche sich zu Christus bekennen, erlösen.[6]

Allerdings blieb das Dogma von der Erbsünde in der Kirche keineswegs unwidersprochen. Pelagius griff es an, drang aber nicht durch. In der Renaissance bemühten sich die Humanisten innerhalb der Kirche es abzuschwächen, wenngleich sie es nicht direkt bekämpfen oder widerlegen konnten, wie es zahlreiche Ketzer taten. Luther war allerdings noch radikaler in seiner Überzeugung von der angeborenen Schlechtigkeit und Verderbtheit des Menschen, während Denker der Renaissance und später der Aufklärung einen drastischen Schritt in entgegengesetzter Richtung wagten. Letztere behaupteten, alles Böse im Menschen sei nur die Folge äußerer Umstände, und der Mensch habe daher in Wirklichkeit gar nicht die Möglichkeit der Wahl. Sie meinten, man brauche nur die Umstände zu ändern, aus denen das Böse erwächst, und das ursprüngliche Gute im Menschen werde fast automatisch zum Vorschein kommen. Diese Auffassung hat auch das Denken von Marx und seinen Nachfolgern beeinflusst. Der Glaube, dass der Mensch im Grunde gut sei, entsprang einem neuen Selbstvertrauen, das sich der Mensch durch die ungeheuren wirtschaftlichen und politischen Fortschritte seit der Renaissance erworben hatte. Umgekehrt hat der moralische Bankrott des Westens, der mit dem Ersten Weltkrieg begann und über Hitler und Stalin, über Coventry und Hiroshima zur gegenwärtigen Vorbereitung der universalen Vernichtung führte, bewirkt, dass die Neigung des Menschen zum Bösen wieder stärker betont wurde. Dies war an sich eine gesunde Gegenreaktion gegen die Unterschätzung des angeborenen Potenzials des Menschen zum Bösen; es diente aber nur allzu oft dazu, all die lächerlich zu machen, die noch nicht ihren Glauben an den Menschen verloren hatten, indem man ihre Auffassung missverstand und gelegentlich sogar absichtlich verzerrte.

Auch mir hat man unberechtigterweise oft vorgeworfen, ich unterschätze das Potenzial des Menschen zum Bösen. Ich möchte betonen, dass mir ein solch sentimentaler Optimismus fernliegt. Wer eine lange klinische Erfahrung als Psychoanalytiker besitzt, dürfte kaum geneigt sein, die destruktiven Kräfte im Menschen zu unterschätzen. Er sieht diese Kräfte bei schwerkranken Patienten am Werk und erlebt hier, wie ungeheuer schwierig es ist, ihnen Einhalt zu gebieten oder ihre Energie in konstruktive Bahnen zu lenken. Auch dürfte es allen, die den explosiven Ausbruch des Bösen und der Zerstörungswut seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs miterlebt haben, genauso schwerfallen, die Macht und Intensität der menschlichen Destruktivität zu übersehen. Es besteht jedoch die Gefahr, dass das Gefühl der Ohnmacht, das den Menschen – den Intellektuellen wie den Durchschnittsmenschen – heute immer stärker ergreift, dazu führen könnte, dass er sich eine neue Version von der Verderbtheit und Erbsünde zu eigen macht und sie zur Rationalisierung der defätistischen Ansicht benutzt, dass der Krieg als Folge der Destruktivität der menschlichen Natur unvermeidbar sei. Eine derartige Ansicht, die sich gelegentlich mit ihrem exquisiten Realismus brüstet, ist aus zwei Gründen unrealistisch. Erstens besagt die Intensität destruktiver Strebungen keineswegs, dass sie unüberwindlich oder auch nur dominant seien. Der zweite Irrtum liegt in der Prämisse, dass Kriege in erster Linie das Ergebnis psychologischer Kräfte seien. Es erübrigt sich, auf diesen Trugschluss des [II-168] „Psychologismus“ bei der Erklärung gesellschaftlicher und politischer Probleme näher einzugehen. Kriege entstehen durch die Entscheidung politischer, militärischer und wirtschaftlicher Führer, um auf diese Weise Land, Bodenschätze und Handelsvorteile zu gewinnen, um sich gegen eine wirkliche oder angebliche Bedrohung der Sicherheit ihres Landes durch eine andere Macht zu verteidigen, oder auch um ihr persönliches Prestige zu erhöhen und Ruhm für sich zu ernten. Diese Männer unterscheiden sich nicht vom Durchschnittsmenschen: Sie sind egoistisch und kaum bereit, zugunsten anderer auf einen persönlichen Vorteil zu verzichten, aber sie sind weder grausam noch bösartig. Wenn solche Menschen – die im normalen Leben wahrscheinlich mehr Gutes als Böses bewirken würden – in Machtstellungen kommen, in denen sie über Millionen befehlen und über die schlimmsten Vernichtungswaffen verfügen, so können sie ungeheuren Schaden anrichten. Im bürgerlichen Leben hätten sie vielleicht einen Konkurrenten zugrunde gerichtet; in unserer Welt mächtiger und souveräner Staaten (dabei bedeutet „souverän“: keinem moralischen Gesetz unterworfen, das die Handlungsfreiheit des souveränen Staates einschränken könnte) können sie die ganze menschliche Rasse ausrotten. Der normale Mensch mit außergewöhnlicher Macht ist die Hauptgefahr für die Menschheit – nicht der Unhold oder der Sadist. Aber genauso wie man Waffen braucht, um einen Krieg zu führen, so braucht man auch die Leidenschaften des Hasses, der Empörung, der Destruktivität und Angst, wenn man Millionen dazu bringen will, ihr Leben aufs Spiel zu setzen und zu Mördern zu werden. Diese Leidenschaften sind die notwendigen Vorbedingungen für das Führen von Kriegen; sie sind nicht deren Ursache, genauso wenig wie Kanonen und Bomben als solche schon die Ursache von Kriegen sind. Viele meinen, ein Atomkrieg unterscheide sich in dieser Hinsicht von einem traditionellen Krieg. Jemand, der nur auf einen Knopf drückt und auf diese Weise Atombomben auslöst, von denen jede Hunderttausende töten kann, wird dabei kaum dasselbe Erlebnis des Tötens haben wie früher ein Soldat, der sein Bajonett oder ein Maschinengewehr dazu benutzte. Aber selbst wenn das Abfeuern einer Atomrakete im Bewusstsein des Betreffenden nur als gehorsame Ausführung eines Befehls erlebt wird, so bleibt doch die Frage, ob nicht in tieferen Schichten der Persönlichkeit doch destruktive Impulse oder wenigstens eine tiefe Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben vorhanden sein müssen, damit eine solche Handlung überhaupt möglich wird.

Ich werde drei Phänomene herausgreifen, die meiner Meinung nach der bösartigsten und gefährlichsten Form menschlicher Orientierung zugrunde liegen: die Liebe zum Toten, den bösartigen Narzissmus und die symbiotisch-inzestuöse Fixierung. Zusammengenommen bilden diese drei Orientierungen das „Verfallssyndrom“, welches den Menschen dazu treibt, um der Zerstörung willen zu zerstören und um des Hasses willen zu hassen. Ich werde aber auch das „Wachstumssyndrom“ behandeln, das aus der Liebe zum Lebendigen (im Gegensatz zur Liebe zum Toten), aus der Liebe zum Menschen (im Gegensatz zum Narzissmus) und aus der Unabhängigkeit (im Gegensatz zur symbiotisch-inzestuösen Fixierung) besteht. Nur bei wenigen Menschen ist eines dieser beiden Syndrome voll entwickelt. Aber es gibt keinen Zweifel darüber, dass jeder Mensch in der einen oder anderen von ihm gewählten Richtung voranschreitet: in Richtung auf das Lebendige oder auf das Tote, zum Guten hin oder zum Bösen.

2 Verschiedene Formen der Gewalttätigkeit[7]

Wenn sich dieses Buch auch hauptsächlich mit den bösartigen Formen der Destruktivität befasst, möchte ich doch zunächst einige andere Formen der Gewalttätigkeit behandeln. Ich habe nicht etwa vor, sie erschöpfend zu erörtern, ich glaube jedoch, dass die Beschäftigung mit weniger pathologischen Manifestationen der Gewalttätigkeit zu einem besseren Verständnis der schwer pathologischen und bösartigen Formen der Destruktivität verhelfen kann. Die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Typen der Gewalttätigkeit basiert auf dem Unterschied zwischen ihren jeweiligen unbewussten Motivationen, denn nur wenn wir die unbewusste Dynamik des Verhaltens verstehen, können wir auch das Verhalten selbst, seine Wurzeln, seinen Verlauf und die Energie, mit der es geladen ist, begreifen.[8]

Die normalste und am wenigsten pathologische Form ist die spielerische Gewalttätigkeit. Wir finden sie dort, wo man sich ihrer bedient, um Geschicklichkeit vor Augen zu führen und nicht um Zerstörung anzurichten, dort wo sie nicht von Hass oder Destruktivität motiviert ist. Für diese spielerische Gewalttätigkeit lassen sich Beispiele vieler Art anführen, von den Kriegsspielen primitiver Stämme bis zur Kunst des Schwertkampfes im Zen-Buddhismus: Bei all diesen Kampfspielen geht es nicht darum, den Gegner zu töten; selbst wenn dieser dabei zu Tode kommt, so ist es sozusagen sein Fehler, weil er „an der falschen Stelle gestanden hat“. Natürlich beziehen wir uns nur auf den idealen Typ solcher Spiele, wenn wir behaupten, dass bei der spielerischen Gewalttätigkeit ein Zerstörungswille nicht vorhanden sei. In Wirklichkeit dürfte man häufig unbewusste Aggression und Destruktivität hinter den explizit festgelegten Spielregeln finden. Aber selbst dann ist die Hauptmotivation, dass man seine Geschicklichkeit zeigt, und nicht, dass man etwas zerstören will.

Von weit größerer praktischer Bedeutung als die spielerische Gewalttätigkeit ist die reaktive Gewalttätigkeit. Darunter verstehe ich die Gewalttätigkeit, die bei der [II-170] Verteidigung des Lebens, der Freiheit, der Würde oder auch des eigenen oder fremden Eigentums in Erscheinung tritt. Sie wurzelt in der Angst und ist aus eben diesem Grund vermutlich die häufigste Form der Gewalttätigkeit; diese Angst kann real oder eingebildet, bewusst oder unbewusst sein. Dieser Typ der Gewalttätigkeit steht im Dienste des Lebens und nicht des Todes; sein Ziel ist Erhaltung und nicht Zerstörung. Er entspringt nicht ausschließlich irrationalen Leidenschaften, sondern bis zu einem gewissen Grad vernünftiger Berechnung, weshalb dabei Zweck und Mittel auch einigermaßen zueinander im Verhältnis stehen. Man hat eingewandt, von einer höheren geistigen Warte aus gesehen sei das Töten – selbst zum Zweck der Selbstverteidigung – niemals moralisch gerechtfertigt. Aber die meisten, die diese Überzeugung vertreten, räumen ein, dass die Anwendung von Gewalt zur Verteidigung des Lebens ihrem Wesen nach doch etwas anderes ist als die Gewalttätigkeit, die der Zerstörung um ihrer selbst willen dient.

Sehr oft beruht das Gefühl bedroht zu sein und die daraus resultierende reaktive Gewalttätigkeit nicht auf realen Gegebenheiten, sondern auf einer Manipulation des Denkens; politische und religiöse Führer reden ihren Anhängern ein, sie seien von einem Feind bedroht, und erregen auf diese Weise die subjektive Reaktion reaktiver Feindseligkeit. Daher ist auch die Unterscheidung zwischen gerechten und ungerechtfertigten Kriegen, die von kapitalistischen und kommunistischen Regierungen genauso vertreten wird wie von der römisch-katholischen Kirche, höchst fragwürdig, da gewöhnlich jede Partei es fertigbringt, ihre Position als Verteidigung gegen einen Angriff hinzustellen.[9] Es hat kaum einen Angriffskrieg gegeben, den man nicht als Verteidigungskrieg hinstellen konnte. Die Frage, wer mit Recht von sich sagen konnte, dass er sich verteidigte, wird gewöhnlich von den Siegern entschieden und manchmal erst viel später von objektiveren Historikern. Die Tendenz, jeden Krieg als Verteidigungskrieg hinzustellen, zeigt zweierlei: Erstens lässt sich die Mehrheit der Menschen, wenigstens in den meisten zivilisierten Ländern, nicht dazu bewegen zu töten und zu sterben, wenn man sie nicht vorher davon überzeugt hat, dass sie es tun, um ihr Leben und ihre Freiheit zu verteidigen; zweitens zeigt es, dass es nicht schwer ist, Millionen von Menschen einzureden, sie seien in Gefahr angegriffen zu werden und müssten sich daher verteidigen. Diese Beeinflussbarkeit beruht in erster Linie auf einem Mangel an unabhängigem Denken und Fühlen und auf der emotionalen Abhängigkeit der allermeisten Menschen von ihren politischen Führern. Falls diese Abhängigkeit vorhanden ist, wird so gut wie alles, was mit Nachdruck und Überzeugungskraft vorgebracht wird, für bare Münze genommen. Die psychologischen Folgen sind natürlich die gleichen, ob es sich um eine angebliche oder um eine wirkliche Bedrohung handelt. Die Menschen fühlen sich bedroht und sind bereit, zu ihrer Verteidigung zu töten und zu zerstören. Den gleichen Mechanismus finden wir beim paranoiden Verfolgungswahn, nur handelt es sich da nicht um eine Gruppe, sondern [II-171] um einen einzelnen. Aber in beiden Fällen fühlt sich der Betreffende subjektiv bedroht und reagiert aggressiv. Ein anderer Typ der reaktiven Gewalttätigkeit ist jene, die durch Frustration erzeugt wird. Aggressives Verhalten findet sich bei Tieren, Kindern und Erwachsenen, wenn bei ihnen ein Wunsch oder ein Bedürfnis unbefriedigt bleibt (vgl. J. Dollard et al., 1939). Ein solches aggressives Verhalten stellt einen, wenn auch oft vergeblichen, Versuch dar, sich das, was einem vorenthalten wird, mit Gewalt zu verschaffen. Es handelt sich dabei zweifellos um eine Aggression im Dienst des Lebens und nicht um der Zerstörung willen. Da die Frustration von Bedürfnissen und Wünschen bis zum heutigen Tag in den meisten Gesellschaften eine allgemeine Erscheinung war und ist, besteht kein Grund, sich darüber zu wundern, dass Gewalttätigkeit und Aggression ständig entstehen und sich äußern.

Mit der aus Frustration resultierenden Aggression verwandt ist die aus Neid und Eifersucht entstehende Feindseligkeit. Sowohl Eifersucht als auch Neid sind eine spezielle Art der Frustration. Sie gehen darauf zurück, dass B etwas besitzt, was A gern haben möchte, oder dass B von einer Person geliebt wird, deren Liebe A begehrt. In A erwacht dann Hass und Feindseligkeit gegen B, der das bekommt, was A haben möchte und nicht haben kann. Neid und Eifersucht sind Frustrationen, die dadurch noch verschärft werden, dass A nicht nur das, was er sich wünscht, nicht bekommt, sondern auch, dass jemand anderes statt seiner in den Genuss kommt. Die Geschichte von dem ohne eigene Schuld ungeliebten Kain, der seinen bevorzugten Bruder erschlägt, und die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern sind klassische Beispiele für Eifersucht und Neid. Das psychoanalytische Schrifttum enthält eine Fülle von klinischen Daten über diese Phänomene.

Ein weiterer Typ, der zwar mit der reaktiven Gewalttätigkeit verwandt, aber dem Pathologischen bereits um einen Schritt näher ist, ist die rachsüchtige Gewalttätigkeit. Bei der reaktiven Gewalttätigkeit geht es darum, eine drohende Schädigung zu verhüten, weshalb diese Art der biologischen Funktion des Überlebens dient. Bei der rachsüchtigen Gewalttätigkeit dagegen ist die Schädigung bereits geschehen, sodass die Gewaltanwendung nicht mehr die Funktion der Verteidigung besitzt. Sie hat die irrationale Funktion, auf magische Art das, was in der Realität geschehen ist, wieder ungeschehen zu machen. Wir finden die rachsüchtige Gewalttätigkeit sowohl bei Einzelpersonen wie auch bei primitiven und zivilisierten Gruppen. Analysieren wir den irrationalen Charakter dieses Typs von Gewalttätigkeit, so können wir noch einen Schritt weitergehen. Das Rachemotiv steht im umgekehrten Verhältnis zur Stärke und Produktivität einer Gruppe oder eines Individuums. Der Schwächling und der Krüppel besitzt keine andere Möglichkeit, seine zerstörte Selbstachtung wiederherzustellen, als nach der lex talionis („Auge um Auge, Zahn um Zahn“) Rache zu nehmen. Dagegen hat der produktiv lebende Mensch dieses Bedürfnis nicht oder nur kaum. Selbst wenn er verletzt, beleidigt oder verwundet wurde, vergisst er eben durch die Produktivität seines Lebens das, was ihm in der Vergangenheit angetan wurde. Seine Fähigkeit, etwas zu schaffen, erweist sich als stärker als sein Verlangen nach Rache. Die Richtigkeit dieser Analyse lässt sich beim Einzelnen wie auch auf gesellschaftlicher Ebene leicht mit empirischen Daten belegen. Aus dem psychoanalytischen Material geht hervor, dass der reife, produktive Mensch weniger von der [II-172] Rachsucht motiviert ist als der Neurotiker, dem es schwerfällt, ein ausgefülltes, unabhängiges Leben zu führen, und der oft dazu neigt, seine gesamte Existenz um seiner Rache willen aufs Spiel zu setzen. Bei schweren psychischen Erkrankungen wird die Rache zum beherrschenden Lebenszweck, da ohne diese Rache nicht nur die Selbstachtung, sondern auch das Selbstgefühl und das Identitätserleben zusammenzubrechen drohen. Ebenso ist festzustellen, dass in den rückständigen Gruppen (im ökonomischen oder kulturellen und emotionalen Bereich) das Rachegefühl (zum Beispiel für eine nationale Niederlage) am stärksten zu sein scheint. So ist das Kleinbürgertum, dem es bei den Industrievölkern am schlechtesten geht, in vielen Ländern der Hauptherd der Rachegefühle, wie es ja auch der Hauptherd der rassistischen und nationalistischen Gefühle ist. Mit einem „projektiven Fragebogen“[10] könnte man leicht eine Korrelation zwischen der Intensität der Rachegefühle und der wirtschaftlichen und kulturellen Verarmung feststellen. Schwieriger dürfte es sein, die Rache bei primitiven Gesellschaften richtig zu verstehen. Bei vielen primitiven Gesellschaften finden wir intensive, ja sogar institutionalisierte Rachegefühle und -modelle, und die gesamte Gruppe fühlt sich zur Rache verpflichtet, wenn einem ihrer Mitglieder ein Schaden zugefügt worden ist. Hier dürften zwei Faktoren eine entscheidende Rolle spielen. Der erste entspricht ziemlich genau dem oben erwähnten: Es ist die Atmosphäre psychischer Armut, die in der primitiven Gruppe herrscht, welche die Rache zu einem unentbehrlichen Mittel macht, den Verlust wieder auszugleichen. Der zweite Faktor ist der Narzissmus, eine Erscheinung, auf die ich im vierten Kapitel ausführlich zu sprechen komme. Hier möchte ich mich auf die Feststellung beschränken, dass in der primitiven Gruppe ein so intensiver Narzissmus herrscht, dass jede Herabsetzung ihres Selbstbildes sich so verheerend auswirkt, dass unausweichlich eine starke Feindseligkeit entsteht.

Eng verwandt mit der Gewalttätigkeit aus Rache ist eine weitere Art der Destruktivität, welche auf die Erschütterung eines Glaubens zurückzuführen ist, zu der es oft im Leben eines Kindes kommt. Was ist hier unter „Erschütterung eines Glaubens“ zu verstehen?

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