Rainer Mekelburg

 

 

Wesen der Edda

 

Was die Edda bisher verschwieg

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Twilight-Line Verlag GbR

Redaktion Kryptozoologie

Hauptstrasse 131

D-63829 Krombach

 

www.twilightline.com

www.kryptozoologie.net

 

ISBN: 978-3-941122-69-7
eBook-Edition

 

© 2011 Twilight-Line Verlag GbR

Alle Rechte vorbehalten.

 


Inhaltsverzeichnis

 

 

Vorwort

 

Die rätselhaften Quellen

 

Das Geheimnis der fehlenden Tiere

 

Die Wale und Walhall

 

Heimdall

 

Die 9 Wellen

 

Die Ran

 

Die Zyklopen im Eis

 

Das Kuckucksei: Sleipnir

 

Anmerkungen

 

 

 


Vorwort

 

Die aktuelle Entwicklung in der Beurteilung der Edda stagniert, als echte weiterführende Forschung lässt sich bereits seit Jahrzehnten keine Schrift zu diesem Thema mehr bezeichnen. Meist handelt es sich dabei nur um dokumentierende Kompendien, die sich allenfalls in Details an Interpretationen wagen. Eine Ursache hierfür liegt sicher in der Natur der Edda selbst begründet. Der Text, speziell der Lieder-Edda, präsentiert sich dem Einsteiger als ein wahres Sammelsurium scheinbar zusammenhangsloser Anekdoten und Episoden aus dem Reich der Götter, wie ein Mosaik, dessen Motiv bis zum letzten Teilchen nur verschwommen wahrnehmbar ist. Zusätzlich erschweren eine Fülle von Eigennamen und Genealogien den Zugang, besonders diese stellen aber neben den alten Texten selbst eine sehr wertvolle Verständnishilfe dar. Auch die komplizierten verschlungenen Spielregeln der Dichtkunst, denen die Skalden verpflichtet waren, ja in denen sie zeitweilig geradezu schwelgten, so das Verfahren, Gegenstände und Geschöpfe mit sogenannten Kenningar zu versehen, welche quasi poetisch umschreibenden Beinamen entsprechen, erleichtert nicht gerade den Zugang zu den Texten. Außerdem darf davon ausgegangen werden, dass in der Überlieferung Lücken klaffen, einige Passagen sind so bruchstückhaft, dass hier fehlende Lieder vorausgesetzt werden können.

 

Im Rahmen meiner ganz privaten Forschungen zur altnordischen Mythologie verdichteten sich eines Tages urplötzlich aus anfangs zögerlichen Verdachtsmomenten sehr unerwartete Sachverhalte, bestimmte Gottheiten betreffend. Das Gefühl, auf Dinge gestoßen zu sein, nach denen vorher noch nie jemand gesucht hatte, war ausgesprochen anregend und fruchtbar für neue Ansatzpunkte zur Interpretation der alten Schriften. Neben den allseits bekannten Deutungsmöglichkeiten, die sich für die Edda wie für jedes andere Werk aus längst vergangenen Tagen anbieten, so etwa eine metaphorische, eine historische oder vielleicht eine psychologische Sicht, eröffnete sich etwas wie ein bisher unbeschrittener Pfad hinter die Fassade eines Mythos, in dunkle, noch ältere Schichten, der Religionsforschung wohl bisher im Großen und Ganzen entgangen und am besten noch als „kryptozoologisch“ zu bezeichnen.

 

Die vorliegende Arbeit setzt etwas Querdenken voraus und die Fähigkeit, sich von manch vorgefasster Meinung zu trennen. Zum Ausgleich winken neue Gefilde zwischen den Seiten eines alten Buches, dessen Reichtum wahrscheinlich nie komplett erfasst werden kann. Für den Verfasser dieser kleinen Schrift war es persönlich ein großes Vergnügen, dieses Tor in eine irgendwie andere Edda aufzustoßen und ich hoffe, dass die folgenden Kapitel auch künftigen Forscherherzen als lohnende Anregung für ihr persönliches Schaffen dienen und eine kleine Freude bereiten können. Um nach Möglichkeit auch noch zu eigenen Lebzeiten mit dieser Arbeit abzuschließen, war ich gezwungen, auf die Beantwortung sämtlicher Fragen, die sich aus den ungewöhnlichen Zusammenhängen der hier vorgestellten Theorien ergeben, vorerst zu verzichten.

 

Für all jene Sachverhalte, die es mir vielleicht nicht vergönnt war, sie allgemeinverständlich genug zu formulieren, möchte ich die Worte des französischen Paläontologen Albert Gaudry anführen, der um 1890 zu seinem Forschungszweig schrieb[68]: „Noch ist die Wissenschaft zu wenig fortgeschritten und wir gleichen Bauleuten, welche ein großes Gebäude errichten wollen, aber noch warten müssen, da noch nicht genug Material auf den Bauhof geschafft ist, und die sich einstweilen damit begnügen, hie und da Steine, die in das Fundament des zukünftigen Werkes eingemauert werden sollen, zusammenzuschleppen. Trotzdem wird vielleicht das Wenige, was wir bieten, doch, wie ich hoffe, dazu beitragen, unserer Wissenschaft einen neuen Reiz zu verleihen, denn der unendliche Wunderreichtum der Welt blendet, überwältigt, aber er langweilt niemals.“


Die rätselhaften Quellen

 

Unter dem Namen „Edda“ werden heute im Wesentlichen zwei verschiedene literarische Sammlungen verstanden, deren älteste bekannte Handschriften aus dem Island des 13. Jahrhunderts vorliegen. Eine umfangreiche Sammlung stabreimender Texte wird im aktuellen Sprachgebrauch unter dem Namen Lieder-Edda zusammengefasst, hier finden sich Götter- und Heldenlieder, die beiden ehemaligen Bezeichnungen Ältere Edda oder Sämund-Edda stellten sich später als irreführend und sachlich falsch heraus.

 

Daneben gibt es auch eine Zusammenstellung der alten Mythen in prosaischer Form, die sogenannte Jüngere- oder Snorri-Edda, welche von ihrem Autoren, dem altisländischen Skalden, Schriftgelehrten und Staatsmann Snorri Sturluson, im Vorwort seines Buches direkt Edda genannt wird, wörtlich: „Dieses Buch heißt Edda“, der Autor verfasste es „für junge Skalden, welche die Sprache der Dichtung lernen und ihren Wortschatz mit alten Ausdrücken vermehren oder das, was in alten Gedichten verhüllt (dunkel) ausgedrückt ist, verstehen können möchten. Sie sollen dies Buch zur Wissensbereicherung und Unterhaltung studieren, und nicht soll man diese Erzählungen vergessen oder zu widerlegen versuchen, indem man aus der Dichtung die alten Umschreibungen entfernt, die von den Hauptdichtern verwendet worden sind. Christenmenschen sollen aber nicht an heidnische Götter und auch nicht an die Wahrheit dieser Erzählungen auf eine andere Weise glauben als so, wie hier zu Anfang des Buches dargelegt ist.“ (Skaldskaparmal 1) [03]

 

Der letzte Satz wurde häufig als distanzierende Stellungsnahme Snorris der heidnisch-germanischen Welt gegenüber beurteilt, diente aber vermutlich eher dazu, ihn vor dem Vorwurf der Gotteslästerung zu bewahren, um unbeschadet sein Werk fortführen zu können.

 

Beide Kompendien greifen auf einen gemeinsamen Fundus zurück, kennen aber jeweils auch Motive, die der anderen Sammlung unbekannt sind. Es gilt als gesichert, dass die Erzählungen zum überwiegenden Teil der ursprünglichen Heimat der isländischen Kolonisten entstammen, wozu in der Hauptsache weite Teile der Bevölkerung Altskandinaviens zu zählen sind, zu den überwiegend norwegischen Auswanderern gesellten sich wohl auch Dänen, Schweden und Bewohner der britischen Inseln. Die Mythen selbst bestanden zu diesem Zeitpunkt in ihren Inhalten sicher schon recht lange und tradieren nicht ausschließlich Gedankengut des skandinavischen Raumes, vielmehr sind wohl in starkem Umfang auch Einflüsse und Vorstellungen benachbarter Nord- und Ostseeanwohner zu erkennen.

 

Schon der von Snorri gewählte Buchtitel Edda stellt die Bearbeiter der Thematik vor ein Problem, der Begriff bezeichnet im Altnordischen die Urgroßmutter, Skaldskaparmal 68: „Schnur heißt die Frau des Sohnes, Schwiegermutter heißt die Mutter des Mannes. Es gibt ferner Mutter, Amma (Großmutter), drittens Edda (Urgroßmutter).“ [03]

 

Eine Person namens Edda taucht nur ein einziges Mal in sämtlichen Texten auf, und zwar in recht unspektakulärem Zusammenhang im „Lied von Rig“ (Rigsthula), welches schildert, wie der Gott Heimdall unter dem Namen Rig in menschlicher Gestalt für die Erschaffung der verschiedenen Stände der Gesellschaft verantwortlich zeichnet, in vereinfachter Darstellung lassen sich diese in Knechte, Bauern sowie Adlige unterteilen.

 

Natürlich ist es naheliegend, sich romantisch verklärt vorzustellen, dem Autoren Snorri wäre es darum gegangen, sein Werk etwa im Sinne „Was die Großmutter zu erzählen wusste“ zu nennen, den meisten Interpreten seiner Arbeit scheint dies aber eher zu profan, zumal Snorri das bereits erwähnte Rigsthula in seiner Sammlung gar nicht verwertet.

 

 

Früher vermutete man den Ursprung des Wortes im Namen des Landsitzes Oddi. Dieser war die Residenz des oben erwähnten Sämund, und auch Snorri verbrachte viele Jahre an diesem Ort. Neben der Fantasielosigkeit in der Namensfindung, die man hier Snorri unterstellen müsste (man versinnbildliche sich einmal zum Vergleich, Homer hätte seine Epen Odyssee oder Ilias nach seinem Geburtsort benannt, oder Ovids Metamorphosen würden „Roma“ heißen), ist auch die sprachliche Verschiebung von Oddi zu Edda kaum nachzuvollziehen, ein „Odda“ oder „Eddi“ wären hier wohl eher zu erwarten gewesen.

 

Auch die Ableitung des Buchtitels aus Odr, dem altnordischen Begriff für die „Dichtkunst“, vor vielen Jahrzehnten von einigen Philologen als Anregung für die Herkunft vermutet, lässt sich unter grammatikalischen Bedingungen nicht bewerkstelligen, darüber hinaus fehlt für eine weitere Verwendung des Wortes in diesem Sinne jeglicher literarische Beleg.

 

Für dieses seit langem diskutierte, aber zugegebenermaßen eher harmlose Rätsel der Edda, könnte es jedoch auch eine ganz andere, überraschende und vernünftige Lösung geben.

 

Obwohl er im orthodoxen Sinne nicht studiert hatte, verfügte Snorri als gebildeter Mann natürlich über dementsprechende Latein - sowie Griechischkenntnisse, die Arbeiten und Aufzeichnungen seines Vorgängers Sämund, welcher eine Priesterausbildung genossen hatte (von einer eigentlichen Ausübung seines Amtes kann wohl kaum die Rede sein), waren ihm sicher bestens vertraut und wohlbekannt. Sucht man in diesen gelehrten Sprachen nach Entsprechungen für den Begriff (Ur)Großmutter, stolpert man im Etymologischen Duden [01] unter dem veralteten Begriff „Ahn“ schnell über Folgendes: „Mit mittelhochdeutsch an(e), althochdeutsch ano „Vorfahre, Großvater“ sind z. B. (elementar) verwandt griechisch annis „Großmutter“ und lateinisch anus „altes Weib“.

 

Kurioserweise fast gleichlautend sind aber auch die Begriffe für „im Jahre“, nämlich „Anno“: „Übernommen aus dem Ablativ von lateinisch annus „Jahr“ (vgl. Annalen)“, sowie „Annalen“: „(geschichtliche) Jahrbücher, chronologisch geordnete Geschichtswerke; im 18. Jh. aus gleichbedeutend lat. (libri) annales entlehnt. Zu lat. Annus „Jahr“.

 

Es scheint sich hier tatsächlich um eines jener berüchtigten Wortspiele zu handeln, ein geradezu klassisches Merkmal und Stilmittel der altnordischen Dichtung, die es liebte, mit dem Motiv des Gleichklangs von Worten zu spielen. Snorri selbst widmete diesem speziellen Kunstgriff in seinen Anweisungen zur Skaldenkunst und im Strophenverzeichnis viel Raum.

 

Die Wahl des Titels Edda scheint in erster Linie darauf zu basieren, dass Snorri nach dem Vorbilde antiker Gelehrsamkeit seinem Werk rein äußerlich den Anstrich von Historizität verleihen wollte. Der nahen Verwandtschaft und dem Gleichklang der lateinischen sowie griechischen Worte für Jahre und Großmutter ist es wohl zu verdanken, dass der Autor sich bei der Übersetzung des für diese Literatur geläufigen Begriffs „annales“ (obwohl es sich im strengsten Sinne natürlich um Mythologie handelt und nicht vordergründig um Geschichte) für die Großmuttervariante entschied; und es ist wohl kaum davon auszugehen, dass Snorri dieser kleine Unterschied entgangen war, und er nicht ganz genau wusste, was er tat.

 

Allerdings wäre es natürlich ein noch viel größeres und spannenderes Kuriosum, wenn der Name „Edda“ schlichtweg auf einer Verwechslung der beiden Begriffe aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse basieren würde, ein wohl einzigartiger Vorgang in der Literaturgeschichte, und, um Snorris Seelenfrieden und Reputation zu bewahren, ist zu sagen, dass sich der wahre Sachverhalt dieser Angelegenheit wohl nie komplett aufklären lässt.


Das Geheimnis der fehlenden Tiere

 

Eine Reihe von Tieren werden in der Edda erwähnt, teils sind diese Lebewesen Attribute von Göttern, teils sind sie Bestandteile der fortlaufenden Handlung. Überaus häufig dienen sie als Reittier oder sie ziehen die Wagengespanne ihrer Besitzer, wobei manchmal unklar bleibt, um welche Geschöpfe es sich wirklich handelt. So ist zum Beispiel kaum glaubhaft, dass die Zugtiere des Wagens eines Gottes ursprünglich kleiner gedacht wurden als dieser selbst, ansonsten würde er wohl wenig majestätisch wirken; wie bei den Böcken des Thor, worunter man bei Formung des Mythos wohl kaum Ziegen verstand. Da kommen doch eher Rothirsch, Elch oder Rentier in Betracht. Gleiches gilt für Freyas Katzen. Hier sind wohl weniger Felis lynx und Felis silvestris (Luchs und Wildkatze) zu sehen, sondern ein sibirischer Leo tigris oder sogar frühe Fossilienfunde von Leo spelaeus zur Erklärung des Mythos heranzuziehen.

 

Auffällig zurückhaltend äußern sich die alten Schriften allerdings zu den etwas größeren Geschöpfen der Umwelt und des Entstehungsraumes dieser Mythologie. So liest man außer schmalen Anmerkungen zur Skaldensprache beispielsweise gar nichts über das dominante Raubtier in Europas Norden, den Braunbären Ursus arctos, geschweige denn über seinen noch etwas mächtigeren Vettern, den Eisbären Thalassarctos maritimus, dessen Existenz zumindest durch den Handel mit Fellen und den damit verbundenen Erzählungen bekannt gewesen sein muss. Sein Verbreitungsgebiet dürfte vor einigen tausend Jahren ja sogar noch viel größer als heute gewesen sein, insbesondere in sehr weit zurückliegenden Zeiten, als der Eisrand deutlich weiter südlich verlief.

 

Auch andere große Tiere sucht man vergebens, weder Elch noch Moschusochse oder Wisent finden Erwähnung, Vielfraß, Luchs und Sibirischer Tiger scheinen völlig unbekannt gewesen zu sein, für eines der beeindruckendsten Wildrinder der Vergangenheit, den Auerochsen Bos primigenius, hat die Edda allenfalls die kurze Gesion-Episode zu bieten, überhaupt spielt das in indogermanischen Mythen ansonsten überaus wichtige Rind lediglich eine Nebenrolle, in einem Falle immerhin als Stammmutter der ersten Asen in Gestalt der Kuh Audhumla.

 

Der Wolf Canis lupus genießt einen ganz sonderbaren Status; während sich andere Völker des Nordens bemühen, seine Erwähnung zu vermeiden, wimmelt es in der Edda geradezu von ihnen. Überwiegend sind sie stark negativ belegt, so verfolgen und verschlingen verschiedene Wölfe Sonne und Mond, ein Mythos, der wohl aus der Deutung von Gestirnsverfinsterungen hervorging. Weitere Beispiele bewachen den Zugang zur Unterwelt oder bekämpfen die Götter bei Ragnarök, dem mythischen Ende und Neubeginn der Welt. Grundsätzlich stehen alle der „riesischen“ Schicht nahe, und hier besonders dem Loki, der meistens als Vater dieser Kreaturen gilt, aber auch Odins Geri und Freki werden keine Schoßhündchen gewesen sein. Das beide, eigentlich in Konkurrenz stehenden Gottheiten sich der gleichen Attributtiere bedienen, ist ein ungewöhnlicher mythologischer Zug, der vorerst noch der Deutung harrt.

 

Was für die Fauna des Festlandes gilt, betrifft in noch viel stärkerem Maße die Bewohner des Meeres. Außer einer reichlich kurzen Erwähnung im Hymirlied der Lieder-Edda werden die gewaltigsten Bewohner aller Zeiten auf diesem Planeten, nämlich die Wale, keines Wortes gewürdigt, sieht man wieder einmal von Snorris geringen Erläuterungen ab, der die Wale im Skaldskaparmal 25 angehängten Vers 178 mit der Kenning „Widblindis Keiler“ versieht und weiter ausführt: „Widblindi war ein Riese und angelte auf hoher See Wale wie Fische.“ [03]

 

Die beiläufige Erwähnung verwundert umso mehr, als ja wohl ausgerechnet diese Lebewesen seit grauer Vorzeit bekannt gewesen sein dürften und eine überaus wichtige Quelle für Rohstoffe aller Art darstellten. Buchstäblich jedes Teil dieser kolossalen Meeressäuger war zu verwenden, darüber hinaus bei den größeren Spezies natürlich in gigantischen Mengen schlagartig vorhanden, man denke nur einmal an die rund 120 Tonnen Fleisch, Fett, Haut und Knochen eines Blauwals. Zusätzlich boten diese und andere Kolosse noch ganz besondere Geschenke und Spezialitäten der Natur, die im Sinne des Jägers und Sammlers auch bei Landtieren geschätzt wurden, zum Beispiel das kostbare Elfenbein vieler Zahnwalspezies, so etwa beim Pottwal oder dem geheimnisumwitterten Narwal. Ebenfalls der Pottwal ist auch Lieferant einer trüben Flüssigkeit namens Walrath, die an der Luft zu einer wachsartigen Masse erstarrt. Diese Substanz ist ein wichtiger Rohstoff für die Herstellung von Ölen und Salben und war auch schon im Altertum hoch geschätzt. Das bedeutet, dass beim Fang oder Zufallsfund eines solchen Giganten des Meeres schlagartig viele hundert Liter eines Stoffes zur Verfügung standen, zu dessen Herstellung andere Völker, ohne traditionellen Walfang oder lohnende Beute vor der eigenen Haustür, erst durch langwierige Verfahren gelangten, etwa durch das mühselige Auspressen ölhaltiger Früchte wie der Olive. Oder man denke an die aufwendige (und oftmals schmerzhafte) Gewinnung kleinster Mengen an Bienenwachs, das vor allem von den frühen Bronzeschmieden zur Anfertigung ihrer Modelle gebraucht wurde. Auch die anderen großen Meeressäuger und Vertreter anderer Gruppen, wie der Haie, werden seltsamerweise mit dem gleichen Schweigen behandelt, obwohl sie hier oben im Norden noch nicht einmal extra harpuniert werden mussten, um das Überleben zu erleichtern.

 

Gerade die Zufallsfunde angeschwemmter Kadaver oder gestrandeter lebender Exemplare dürften im Einzelfall bereits von Urzeit an das Schicksal ganzer Stämme entscheidend beeinflusst haben, und boten darüber hinaus auch ausreichende Gelegenheit, sich mit den anatomischen Details dieser Lebensformen auf das Ausführlichste auseinanderzusetzen.

 

 

Die Wale und Walhall

 

Allenfalls in Form von Kenningar, dann jedoch relativ häufig, findet sich in der Edda das Wort „Wal“. So lässt sich unter anderem das weite Meer mit Hilfe dieser Tiere umschreiben, bekannt sind dichterische Bezeichnungen wie „Walland“ und „Walhaus“, oder „Walfirst“ für die Meeresoberfläche (zum Beispiel in Skaldskaparmal 25, Vers 124). Neben der bereits im obigen Kapitel erwähnten Kenning „Widblindis Keiler“ für die Wale führt Snorri auch den Begriff „Feld der Wale“ für das Meer an, übrigens direkt unmittelbar nach umfangreichen Schilderungen für Umschreibungen des wertvollen Goldes, vielleicht liegt hier nebenbei eine Anspielung auf die kommerzielle Wertschätzung der Tiere vor. Beliebt sind auch Wortkombinationen wie „Landwal“, um die Riesen zu bezeichnen, so in Skaldskaparmal 22: „Nieder ließ kampflust´ger Landwalherrscher dann sich“ (die Verse handeln vom Riesenbeherrscher Thiassi) oder „Felsendelphine“ bzw. „Klipptümmler“ (zum Beispiel Skaldskaparmal 18, im angefügten Vers 81).

 

Die Kenning „Talwal“ kann offenbar sogar als Umschreibung für eine Schlange benutzt werden (siehe im Skaldskaparmal 30 angefügten Vierzeiler 140). So dürften sich denn auch relativ häufig, vor allem in sehr alten Schilderungen von ungeheuerlichen Meeresschlangen Bezeichnungen für die Wale erhalten haben, hier wäre in einem anderen Kulturkreis zum Beispiel auch an den Leviathan der Bibel zu denken.

 

Der Umstand, dass dieses Wort auch Riesen beschreiben kann, lässt im Umkehrschluss stark vermuten, es könnte sich bei der einen oder anderen Riesendarstellung, besonders in den Schilderungen von Meeresriesen, durchaus um dichterische Versatzstücke für diese, auch heute noch gerne poetisch so bezeichneten, wasserbewohnenden Säugetiere handeln. Der Etymologische Duden hält zum Stichwort „Wal“ bereit: „Wal, (Walfisch): Die Herkunft des altgermanischen Tiernamens mhd. sowie ahd. wal, niederl. wal[visch], englisch whale, schwedisch val ist nicht sicher geklärt. Vielleicht besteht Verwandtschaft mit altpreußisch kalis „Wels“ und mit lat. squalus „Meeresfisch“. Mit „Wal“ verwandt ist der unter „Wels“ behandelte Fischname.“

 

Trotz der ungeklärten Herkunft des Wortes dürfte es nicht verfehlt sein, dieses zu den Verben „wallen“ (man beachte auch den Beinamen „Waller“ für den Wels) und „wälzen“ zu stellen, hier liest man erläuternd: „wallen: „sprudeln, bewegt fließen“, das westgermanische Verb, mhd. und ahd. wallan, altenglisch weallan, gehört zur indogermanischen Wurzel – uel „drehen, winden, wälzen“. Vgl. aus anderen idg. Sprachen altindisch valati „wendet sich, dreht sich“, griechisch eilein „drehen, winden“, lat. voluere „rollen, wälzen, drehen“, russisch volna „Welle“. Zu dieser auch weitergebildeten und erweiterten idg. Wurzel gehören ferner die unter „Welle“ und „wühlen“ behandelten Wörter.“ [01]

Überraschend wirkt immer wieder die Tatsache, dass dieses Wort scheinbar auch in ganz anderem Zusammenhang gebraucht werden kann. So ist „Walvater“ eine recht geläufige Umschreibung für Odin, zum Beispiel in Hymirlied 24 (mit Walvaters Sohn ist hier der Donnergott Thor gemeint, der dem „Fenrisbruder“, nämlich der Midgardschlange, den Garaus machen will, indem er ihr auf „Haares Berg“, den Schädel, schlägt):

 

„Mit dem Hammer hieb auf des Haares Berg Walvaters Sohn dem Wolfsbruder“

 

Die dem Walvater Odin anheim fallenden Toten des Schlachtfeldes sind die Waltoten (välr), zum Beispiel in Grimnismal 18 oder Skaldskaparmal 2, Vers 10 [03]:

 

„Auf dem Sand lagen Waltote, geweiht dem Einäugigen,

dem Gatten der Frigg; Wir freuten uns dessen.“

 

Diese werden ihm von den Walküren zugeführt und kehren als Einherier in Walhall ein.

 

Zum Ursprung dieser Worte nun liest man unter dem verwandten „Walstatt“: „Kampfplatz, Schlachtfeld“; Der erste Bestandteil der Zusammensetzung ist das im nhd. untergegangene Substantiv mhd. und ahd. wal „Kampfplatz“, altenglisch wael „Walstatt, Gefallene“, altisl. valr „Toter auf dem Kampfplatz“. Es ist verwandt mit tocharisch wäl „sterben“ und mit der baltischen Sippe von litauisch Veles „geisterhafte Gestalten der Verstorbenen“. Weiterhin gehören diese Wörter wohl zu der indogerm. Wurzel – vel „an sich reißen, rauben, ritzen, verwunden, töten“, vgl. lat. vellere „rupfen“, vulnus „Wunde“, altirisch fuil „Blut“. Weitere Zusammensetzungen mit demselben ersten Bestandteil sind Walhall und Walküre.“ [01]

 

Es wird also deutlich, dass die „von Odin Erwählten“ und die „Waltiere“ starke sprachliche Gemeinsamkeiten aufweisen, hinter beiden Begriffen verbergen sich sehr offensichtlich auserwählte Opfer, diese wälzen sich auf dem jeweiligen Kampfplatz in ihrem eigenen Blut zu Tode. Wenn irgendetwas der Bezeichnung „Schlachtfeld“ wahrhaftig gerecht wird, dann ist es wohl der Schauplatz des frühen Walfangs. Wer einmal in einer Dokumentation über traditionellen Walfang indigener Völker die Bilder vom Töten und Zerlegen dieser Kolosse gesehen hat, wird diese wohl nicht so schnell vergessen. Gerade die in Buchten oder Fjorden gefangenen Gruppen kleinerer Spezies verwandeln bei dem unvermeidlichen anschließenden Gemetzel das Wasser in ein Meer aus Blut. Es entspräche durchaus der Tradition archaischer Jägervölker, den Geist ihrer Beute auch in sprachlichen Zusammenhängen zu ehren.

 

Dann stellt sich die Frage, welcher der sich hinter diesem Blutbad verbergenden Begriffe der ältere gewesen sein mag. Eines ist wohl ganz klar, das Lebewesen Wal ist sicherlich länger bekannt als die organisierte Konfliktbewältigung unter zwei Völkern mit Waffengewalt, mit anderen Worten, der Walfang ist sicher älter als Krieg. Natürlich sind Dinge wie Mord und Totschlag genau so alt wie die Menschheit selbst, aber der Gedanke, das Vokabular dieser vergleichsweise unspektakulären Stammesfehden der allerfrühesten Vorzeit könnte auf das wahrhaftige Gemetzel namens „Walfang“ übertragen worden sein, mutet doch äußerst unrealistisch an. Auch die Tatsache, dass ein verwandtes Substantiv „Welle“ für „gewundenes Wasser“ angewandt wird, spricht wahrscheinlich eher für eine Herkunft aus dem nassen Element, ansonsten würde man die Worte „Hügel“ oder „Berg“ für aufgeworfene Erdmassen wohl nicht extra erfunden haben.

 

Vielleicht sind die Parallelen in beiden Begriffen ein Echo urältester Herkunft zur Zeit ihrer Ausformung. Sollten solche Worte wie Walhall etc. aus der Sprache von Küstenbewohnern, Fischern und Seefahrern in die Mythologie und weitere Bereiche geistiger Kultur eingegangen sein, ist es naheliegend, diese mächtigen Tiere nicht nur mit Riesen, sondern sogar mit Göttern in Verbindung zu bringen. Das folgende Kapitel unternimmt den Versuch, hier vielleicht die allerletzten Spuren zu sichern und damit letztendlich auch zu verdeutlichen, wie alt diese Mythen wirklich sein können und wie wenig wir bisher noch darüber wissen.

 

 

 

Heimdall

 

„Heimdall ist eine rätselhafte Gestalt. Was von ihm überliefert ist, klingt märchenhaft. Das Dunkel, das über ihm schwebt, war bisher noch nicht befriedigend zu lichten. Eine Hauptschwierigkeit, mit welcher die Erklärung zu kämpfen hat, liegt in den mangelhaften Nachrichten über sein Wesen und die mit ihm verknüpften Sagen. Von letzteren sind nur unverständliche Auszüge und Anspielungen bekannt. Es fällt schon schwer, nur die breiteren Grundlagen dieser Überreste mit annähernder Wahrscheinlichkeit zu erschließen; sie mit Sicherheit auf ihren Ursprung zurückzuführen ist vollends unmöglich.“

 

Diese Zeilen von Wolfgang Golther, vor mehr als einem Jahrhundert geschrieben, schildern immer noch vortrefflich den Stand der Forschung zu diesem alten Mythos. Der in der Sekundärliteratur eher nachlässig behandelte, geheimnisumwitterte Gott Heimdall wird von späteren Bearbeitern, so bei von Ström [12], als Rahmengott bezeichnet, in gewisser Weise hält er die Handlung zusammen. Gleich in den ersten Zeilen der Völuspa, des wichtigsten Liedes der Edda, wird er erwähnt, die Seherin wendet sich in der Einleitung an ihre Zuhörer und bezeichnet alle Menschen als Nachkommen Heimdalls, wohl bezugnehmend auf seine Rolle als Ständeschöpfer unter dem Synonym „Rig“ (siehe oben: „Die rätselhaften Quellen“):

 

„Gehör heisch ich heiliger Sippen,

hoher und niederer Heimdallssöhne.

Du willst, Walvater, dass wohl ich künde,

was alter Mären der Menschen ich weiß.“

 

Auch am Ende, dem finalen Höhepunkt der Erzählungen der Edda, spielt er eine wichtige Rolle. Er warnt die Götter bei Ragnarök vor ihrem Untergang und führt das letzte Gefecht mit dem Erzfeind Loki, wobei sich beide gegenseitig töten. Die Rolle des Wächters der Götter ist seine eigentliche Aufgabe, weitere Einzelheiten über diese archaische Wesenheit lesen sich in der Jüngeren Edda, zum Beispiel in Skaldskaparmal 8 folgendermaßen: „Wie umschreibt man Heimdall? Man nennt ihn den Sohn der neun Mütter oder den Wächter der Götter – wie oben berichtet – oder den Weißen Asen, Lokis Feind, Freyas Halsbandsucher. „Heimdalls Haupt“ ist ein Schwert, man erzählt, er sei mit einem Manneshaupt entzweigehauen worden. Davon handelt der Heimdallsspruch, und seitdem heißt ein Haupt Heimdalls Schicksal, wie ein Schwert Mannes Schicksal heißt. Heimdall ist der Besitzer Gulltopps; er ist der Besucher der Waga – Schäre und des Singa – Steins, als er den Handel mit Loki hatte um das Brisingenhalsband; er heißt auch Windlee (vindhler). Ulf, Uggis Sohn, in der Hausdrapa, erzählt jene Geschichte ausführlich, und dort ist davon die Rede, dass sie (Heimdall und Loki) in Seehundsgestalt waren, er ist auch ein Sohn Odins.“

 

Die dunklen Pfade, auf denen die Skaldensprache mitunter wandeln kann, machen es also möglich, Heimdalls Haupt „Schwert“ zu nennen, die rätselhafte Passage, welche die Grundlage für diesen merkwürdigen Schwertmythos des Gottes liefert, lautet in einer etwas anderen als bereits oben zitierten Version: „Heimdalls Schwert heißt „Haupt“; so ist gesagt, dass er von einem Manneshaupte durchbohrt ward. Davon ist in Heimdalls Zauberliede gesagt, und dann wird „Haupt“ der Tod Heimdalls genannt; denn das Schwert ist des Mannes Tod.“

 

Dazu bemerkt Herrmann[10] wohl ganz zutreffend: „In den Worten „Heimdall fiel durch ein Manneshaupt“ wurde der Eigenname „Haupt“, der den Namen des Schwertes enthielt, nicht nur appellativisch gefasst, sondern die Spielerei wurde durch den Zusatz „eines Mannes“ auf die Spitze getrieben und dadurch fast unverständlich gemacht; gemeint war aber der Untergang des Gottes durch sein eigenes lichtes Schwert.“

 

Nebenher offenbart sich in obiger Passage bereits einiges zu der scheinbar uralten Feindschaft zwischen Heimdall und Loki; wir erfahren, dass beide Gottheiten auch in nichtmenschlicher Gestalt auftreten können, während Loki in ergänzenden Texten als Seehund (rein) bezeichnet wird, besitzt Heimdall Robbengestalt (selalikjum) [12].

Interessante Details sind ebenso Gylfaginning 27 zu entnehmen: