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INHALT

 

 

 

ÜBERBLICK

IN VIELFALT VEREINT

Psychophysik, Behaviorismus, kognitive Wende: Die Seelenkunde hat eine bewegte Geschichte. Die Psychologiehistoriker Gabriela Sewz und Helmut E. Lück von der Fernuniversität Hagen präsentieren im Zeitraffer die Entwicklung des Fachs als akademisch-wissenschaftliche Disziplin

DENKEN

VOM GEISTESBLITZ GETROFFEN

Aha-Erlebnisse bescheren uns plötzliche Einsichten. Entscheidend daran beteiligt: das Unbewusste

INTERVIEW

KATRINA, RITA UND DIE HÄNGEMATTE

Menschen sind gute Problemlöser. Warum sie dennoch an manchen Herausforderungen scheitern, verrät der Psychologe Joachim Funke

 

GEGEN JEDE LOGIK

Die wenigsten Urteile fällen wir logisch korrekt. Denn Vorwissen und falsche Fährten führen uns schnell aufs Glatteis

INTERVIEW

ZUM IRREN GEBOREN

Der Psychologe Chris Frith glaubt: Das Gehirn irrt ständig – und das ist gut so!

 

IQ 2.0

Elektronische Medien bestimmen unseren Alltag. Womöglich sind sie auch mit dafür verantwortlich, dass die durchschnittliche Intelligenz der Menschen zunimmt

SPEZIAL GEDÄCHTNIS

MORGEN WAR EINMAL

Wie stellen Sie sich die Zukunft vor? Kommt ganz darauf an, was Sie aus der Vergangenheit behalten haben! Denn wie wir uns das Gestern vergegenwärtigen, prägt laut Forschern auch unser Bild vom Morgen

 

NÄCHTLICHES GEFÜHLSKINO

Wer sich einmal so richtig ärgert, bekommt oft zu hören, er solle erst einmal eine Nacht darüber schlafen – dann sehe die Welt schon wieder anders aus. Experimente zeigen allerdings: Ein traumreicher Schlummer verstärkt unser Gedächtnis für emotional aufwühlende Details

FÜHLEN

DAS KULI-KOMPLOTT

Wie schnell wir einen Text begreifen, hängt auch von unserer Stimmung ab. Klarer Fall: Unser Denken kommt nicht ohne Gefühle aus – und umgekehrt

 

WIR SIND, WAS WIR FÜHLEN

Was genau sind Emotionen? Antworten auf diese überraschend kniffelige Frage geben Psychologen seit mehr als 100 Jahren. Ein Überblick über die wichtigsten Modelle

 

STRESSIGE LEKTIONEN

Psychische Belastungen machen vergesslich. Manchmal bringen sie unser Gedächtnis aber auch erst so richtig auf Trab. Die Lernforscher Mathias Schmidt und Lars Schwabe ergründen, wie und wann Stress das Merkvermögen beeinflusst

 

DIE MACHT DER GUTEN GEFÜHLE

Optimisten sind nicht nur besser gegen Schicksalsschläge gewappnet – sie leben auch länger. Ein Ausflug in die Gefilde der Positiven Psychologie

HANDELN

KÖNNTE, MÜSSTE, WOLLTE

Eine wichtige Erkenntnis von Motivationsforschern lautet: Was Menschen zu wollen glauben, deckt sich oft nicht mit dem, was sie in Experimenten als wahre Wünsche offenbaren. Um Letztere ans Tageslicht zu bringen, entwickeln Psychologen immer ausgeklügeltere Strategien

 

DER UPS-FAKTOR

Häufig unterlaufen uns Versprecher gerade dann, wenn wir sie besonders vermeiden wollen. Die bewusste Anstrengung, etwas nicht zu sagen, erhöht das Risiko des Ausplauderns vor allem in Stresssituationen. Solche »ironischen Fehler« sind ein Paradebeispiel für die Fallstricke der geistigen Kontrolle

 

DIE GRENZEN DER GLEICHZEITIGKEIT

Chefs schätzen Mitarbeiter, die verschiedenste Aufgaben parallel bearbeiten. Doch wie effizient ist Multitasking wirklich?

 

IMPRESSUM

GLOSSAR-REGISTER

 

 

 

 

Ein Sonderheft von

 

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Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung aus dem Verlag Spektrum der Wissenschaft

 

 

Herausgeber:
Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Chefredakteur: Prof. Dr. phil. Dipl. Phys. Carsten Koenneker M.A.
Verantwortlicher Redakteur: Steve Ayan
Slevogtstr. 3-5, 69126 Heidelberg
www.spektrum.de

EDITORIAL

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Steve Ayan ist Diplompsychologe und G&G-Redakteur.
ayan@gehirn-und-geist.de

SEELENKUNDE KOMPAKT

Die Psychologie hat es in sich. Kaum eine andere Wissenschaft kann mit einer so großen Fülle von Gegenständen, Theorien und Forschungsansätzen aufwarten. Kein Wunder, steht doch alles, was unser Erleben und Handeln betrifft, im Visier der Seelenkundler – von den Grundprinzipien der Wahrnehmung bis hin zur Jogurtwahl im Supermarkt.

Diese Vielfalt ist Segen und Fluch zugleich: Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich zu Beginn meines Studiums reichlich verwirrt auf das Sammelsurium der Modelle und Methoden blickte. Damals hätte ich mir ein Kompendium zu schnellen Orientierung über aktuelle Forschungsfragen gewünscht. Umso mehr freut es mich, Ihnen nun ein solches vorstellen zu können.

Herzlich willkommen zu unserer neuen fünfteiligen Heftserie »Basiswissen«! In den bis 2012 erscheinenden Ausgaben versammeln wir wichtige Überblicksartikel vergangener Ausgaben von Gehirn&Geist – jeweils im Wechsel aus dem Gebiet der Psychologie und der Hirnforschung. Im ersten Heft geht es um fundamentale Fragen des geistigen Lebens: Lesen Sie zum Beispiel, worauf unser Talent zum kreativen Problemlösen beruht, wie Forscher die breite Palette der Gefühle ordnen oder was Menschen wirklich antreibt.

Natürlich kann ein Magazin von knapp 100 Seiten nicht die gesamte Bandbreite der allgemeinen Psychologie abdecken. Doch wer die hier enthaltenen Beiträge renommierter Forscher und Fachjournalisten aufmerksam liest und das neu konzipierte, umfangreiche Glossar von Schlüsselbegriffen nutzt, lernt auf leicht verständliche Weise zentrale Themen des Fachs kennen – ob fürs Studium, die berufliche Weiterbildung oder zur privaten Horizonterweiterung.

Eine spannende Lektüre mit vielen Aha-Effekten wünscht
Ihr

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ÜBERBLICK | SCHULEN DER PSYCHOLOGIE

In Vielfalt vereint

Die »Wissenschaft vom Erleben und Verhalten« hat in den vergangenen 150 Jahren nicht nur unser Menschenbild entscheidend mitgeprägt. Auch sie selbst wurde immer wieder neu erfunden. Der Blick zurück zeigt: Die eine Psychologie hat es nie gegeben.

VON HELMUT E. LÜCK UND GABRIELA SEWZ

Wer nach dem Zweiten Weltkrieg in der jungen Bundesrepublik Psychologie studierte, hörte von seinen akademischen Lehrern unisono, das Fach habe unter dem Nationalsozialismus einen rapiden Niedergang erlebt. Schließlich waren viele bedeutende Vertreter in die Emigration getrieben, die Psychoanalyse gleich ganz verboten worden. Tatsächlich hat das Niveau der psychologischen Theorie und Forschung im Hitler-Deutschland stark gelitten. Ideologisch verbrämt sollte das Fach nach Auffassung einiger Professoren seinen Teil dazu beitragen, das nazistische Menschenbild und den Rassengedanken zu festigen.

Doch als akademische Disziplin und als Profession haben die Nazis die Psychologie sogar gestärkt! Die erste Diplomstudienordnung des Fachs wurde 1941 erlassen. Eine geregelte Ausbildung sollte gewährleisten, dass das Knowhow und die Methoden von Psychologen dem NS-Staat in vielfältiger Weise zugutekommen – Psychodiagnostische Tests und Auswahlverfahren sollten etwa helfen, die am besten geeigneten Kandidaten für die Wehrmacht zu finden.

Das Beispiel zeigt: Ein Blick zurück lehrt viel darüber, wie und warum die Entwicklung der Psychologie stets auch politischen und gesellschaftlichen Einflüssen unterlag – und immer noch unterliegt. Allerdings ist das Interesse von Psychologen für die bewegte Vergangenheit ihres Fachs allgemein nicht sehr groß. In Deutschland gehört Psychologiegeschichte, anders als in vielen Ländern, nicht zu den Prüfungsfächern an den Universitäten, und es gibt dafür auch keine eigenen Lehrstühle.

Dieser »blinde Fleck« resultiert mindestens zum Teil aus dem besonderen Selbstverständnis der akademischen Psychologie. Sie orientiert sich von jeher stark an den Naturwissenschaften und somit an den gerade aktuellen Forschungstrends. Zur Auseinandersetzung mit früheren Theorien und Modellen nahm man sich da oft wenig Zeit.

Für gewöhnlich wird die Geburtsstunde des Fachs auf das Jahr 1879 datiert. Damals richtete der Physiologe Wilhelm Wundt (1832–1920) als Professor für Philosophie an der Universität Leipzig ein kleines Laboratorium ein. Sein Ziel war es, die Philosophie durch psychologische Forschung auf eine solidere Grundlage zu stellen.

Doch schon früher hatten andere versucht, die Gesetze der Wahrnehmung empirisch zu erforschen. So begründete Gustav Theodor Fechner (1801–1887) mit der Psychophysik eine einflussreiche Tradition, die das menschliche Sinnesempfinden in Zahlen und Formeln zu fassen versuchte.

Eine ihrer wichtigsten Errungenschaften ist das Fechner’sche Gesetz, wonach unser subjektives Empfinden eines Reizes wie etwa die Lautstärke eines Tons oder die Schwere eines Gewichts nicht – wie man annehmen könnte – proportional zur physikalischen Reizstärke anwächst, sondern logarithmisch. Wird ein relativ leiser Ton lauter, so nehmen wir diesen Unterschied viel stärker wahr, als wenn ein bereits deutliches Brummen noch mehr anschwillt. Fechner beschrieb diesen Zusammenhang erstmals mathematisch exakt. Mit großer Experimentierfreude vermaßen die frühen Psychologen den menschlichen Wahrnehmungsapparat und zogen weit reichende Schlüsse daraus.

Zwei Dinge begünstigten die Entstehung einer experimentellen Psychologie in Deutschland: zum einen der Fortschritt und das Prestige der Physiologie, die so renommierte Forscher wie Hermann von Helmholtz (1821–1894) und Emil du Bois-Reymond (1818–1896) geprägt hatten; zum anderen das damals populäre »positivistische« Wissenschaftsverständnis.

Der Positivismus ist eine von dem Franzosen Auguste Comte (1798–1857) geprägte philosophische Denkrichtung, der zufolge wissenschaftliche Erkenntnis nur nach dem »positiv Gegebenen«, also nach den sichtbaren Fakten, möglich sei. Der Siegeszug der Ingenieur- und Naturwissenschaften, technische Erfindungen wie die elektrische Kraftmaschine oder das Telefon, aber auch die Evolutionslehre von Charles Darwin (1809–1882) ließen diesen Ansatz viel versprechend erscheinen. Eine empirisch-positivistische Seelenkunde – im Gegensatz zum bloß gedanklichen Spekulieren – eroberte Ende des 19. Jahrhunderts die Hörsäle und Gelehrtenzirkel. Vor allem in den USA wurde die junge Psychologie stark vom Positivismus geprägt.

So eng das Projekt einer experimentellen Bewusstseinspsychologie auch mit Wilhelm Wundt verknüpft ist, schon dieser selbst war der Meinung, dass sich höhere Denkvorgänge im Labor allein nicht befriedigend erforschen ließen. Dies sei vielmehr Aufgabe der Völkerpsychologie, deren Ausarbeitung Wundt mehr als zwei Jahrzehnte seines Lebens widmete. Sie sollte die sozialen und kulturellen Einflüsse erkunden, denen die Werte und »Denkungsarten« des Menschen unterliegen.

Inzwischen ist dieser Ansatz nahezu vergessen und wirkt allenfalls in Teilen der vergleichenden Kulturanthropologie nach. Die von Wundt eher nebenbei betriebene experimentelle Forschung erwies sich dagegen als zukunftsweisend.

Das Individuum als Störfaktor

Bereits Wundt hatte bei seinen Experimenten bemerkt, dass verschiedene Personen Aufgaben durchaus unterschiedlich lösen. Darin sah er jedoch nur Störfaktoren, die den Blick auf die allgemeinen Prinzipien der Seele verstellten, weshalb er ihnen keine weitere Aufmerksamkeit schenkte.

Anders der Brite Francis Galton (1822–1911), ein Cousin Darwins: Lange vor der Wende zum 20. Jahrhundert interessierte sich Galton besonders für individuelle Differenzen zwischen Menschen. Wie und warum unterschieden sich Personen hinsichtlich ihrer Sehschärfe, ihrer Reaktionsschnelligkeit oder ihres Denkvermögens? Und wie hingen diese Merkmale zusammen?

Galton suchte geradezu zwanghaft nach geeigneten Messverfahren – und gilt heute als Schöpfer des Begriffs »Test«. 1883 eröffnete er in London ein kleines Büro, in dem sich Passanten gegen Entgelt »testen« lassen konnten. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich den Erfolg von Galtons Psychometrie auszumalen: nicht nur als ernsthafte Wissenschaft, sondern auch als amüsantes Gesellschaftsspiel!

Eine Reihe von Wundts Kollegen und Schülern versuchte ebenfalls mit Hilfe teils aufwändiger technischer Apparaturen praktische Fragen zu beantworten: Wie behält man Gedächtnisinhalte am besten? Was unterscheidet einen kranken Geist vom gesunden? Wie wirkt Koffein auf die geistige Leistungsfähigkeit? Wie lassen sich Arbeitsprozesse effizienter gestalten? Die angewandte Psychologie oder »Psychotechnik« – ein Begriff, den der Hamburger Psychologe William Stern (1871–1938) prägte – drang schnell in viele Bereiche des Lebens vor.

Man entwarf Eignungstests für Schüler oder Berufsanwärter, prüfte die Verlässlichkeit von Zeugenaussagen oder die Tauglichkeit technischer Geräte und gestaltete Arbeitsplätze. Mit immer neuen Methoden wurden Sorgfalt, Genauigkeit, Ausdauer und andere Merkmale von Bewerbern im Staatsdienst, in der Wirtschaft oder im Sport beurteilt. Die Alltagsprobleme der aufstrebenden Industriegesellschaft wurden so zu einer Haupttriebfeder der Psychologie – und blieben es bis heute.

Ganz andere Schwerpunkte setzte eine weitere einflussreiche Strömung des 20. Jahrhunderts: die Psychoanalyse. Zwar wurden Sigmund Freuds Schriften nach Erscheinen der »Traumdeutung« (1899) rasch populär. Die meisten akademischen Psychologen geißelten das psychoanalytische Ideengebäude jedoch als spekulativ und nicht überprüfbar. Vor allem der sexuelle Gehalt der Freud’schen Theorie vom Ödipuskomplex oder Penisneid stieß auf heftige Ablehnung.

Die Kluft zwischen Anhängern und Gegnern der Tiefenpsychologie war dabei nicht nur inhaltlicher, sondern auch institutioneller Art: Die Psychoanalyse war überwiegend von praktizierenden Ärzten entwickelt worden – allen voran natürlich Freud selbst. Akademische Psychologen wie Karl Bühler (1879–1963), der an der Universität Wien lehrte, waren Gegner der Tiefenpsychologie.

Noch heute staunt so mancher Studienanfänger nicht schlecht, wenn er erfährt, an der Universität spiele die Psychoanalyse keine Rolle. Dennoch hat psychoanalytisches Gedankengut in viele Teilgebiete und Nachbarfächer Eingang gefunden. Die Psychoanalyse ist eine der wichtigsten psychotherapeutischen Schulen – es scheint also schon deshalb geboten, sich näher mit ihr zu befassen.

Pioniere wie Fechner, Wundt oder Stern betrachten wir heute wie selbstverständlich als Psychologen, doch waren sie fast ausnahmslos Professoren für Philosophie – manchmal noch in Verbindung mit Pädagogik. Und sie fühlten sich auch im wahrsten Sinn als »Geisteswissenschaftler«. Ein typisches psychologisches Institut oder Seminar sah damals etwa so aus: Es gab einen Hochschullehrer, ein oder zwei Assistenten, eine Hand voll Hilfskräfte, einige Geräte und eine kleine Seminarbibliothek. Die Doktoranden widmeten sich experimentellen Studien zu Bewusstsein, Wahrnehmung oder Gedächtnis, manchmal auch Fragen der psychischen Entwicklung oder der Unterscheidung verschiedener Charaktertypen. Der Professor hielt Vorlesungen oder Seminare und veröffentlichte Artikel in philosophischen Journalen.

Die starke institutionelle Bindung zur Geisteswissenschaft galt auch noch für die Generation von Psychologen während der Weimarer Republik – der Ära der psychologischen Schulen. In den 1920er und 1930er Jahren entstammte der typische Psychologiestudent der gehobenen Mittelschicht. Auffällig war schon damals der vergleichsweise hohe Frauenanteil.

Die bekanntesten psychologischen Institute waren neben Leipzig und Berlin das in Göttingen, wo die Wundt’sche Tradition der experimentellen Bewusstseinspsychologie fortgeführt wurde, sowie die Würzburger Schule, die von Oswald Külpe (1862–1915) geprägt worden war. Zu den dort bevorzugten Methoden, den Gesetzen des Geistes auf die Spur zu kommen, zählte das »laute Denken«: Man stellte Probanden verschiedene Denkaufgaben oder logische Rätsel, zu denen sie den jeweiligen Lösungsweg beschreiben sollten. Mit ihrer Denkpsychologie per Introspektion (Selbstbeobachtung) betrieb die Würzburger Schule eine Art »experimentelle Erkenntnisphilosophie«.

Wie halten es angehende Psychologen mit Gehirn, Willensfreiheit und Glaube?

Dieser Frage ging Jochen Fahrenberg von der Universität Freiburg 2006 in einer umfangreichen Untersuchung nach. Zusammen mit seinen Kollegen befragte er insgesamt 563 Psychologiestudierende an sieben deutschen Hochschulen. Fazit: Den angehenden Seelenkundlern liegt das naturwissenschaftlich orientierte Forschungsprogramm eher fern.

So vertraten über die Hälfte der Befragten hinsichtlich des Leib-Seele-Problems eine dualistische Position. Unser subjektives Erleben sei nicht auf Hirnprozesse reduzierbar, vielmehr stellten Geist und Materie zwei eigenständige »Seinsprinzipien« dar. Mehr als 40 Prozent der Befragten sehen keine so strikte Trennung zwischen Bewusstsein und Neurophysiologie – sie erscheinen ihnen vielmehr als gleichberechtigte, komplementäre Beschreibungsweisen. Nur vier Prozent der Studienteilnehmer outeten sich als »Epiphänomenalisten«. Ihnen zufolge ist das psychische Erleben des Menschen lediglich ein Begleiteffekt von Hirnprozessen.

 

Auch die Argumente, mit denen manche Hirnforscher den freien Willen zur Illusion erklärten, überzeugen nur knapp ein Drittel der angehenden Psychologen. Laut Fahrenberg offenbart dieses Ergebnis einen Nachholbedarf: Die Professoren sollten mehr über philosophische Grundannahmen mit ihren Studierenden diskutieren. Auch neige der akademische Nachwuchs im Fach Psychologie insgesamt weniger zum streng naturwissenschaftlichen Denken als die meisten Hochschullehrer.

 

Obwohl sich die angehenden Psychologen in Jochen Fahrenbergs Befragung skeptisch gegenüber neurowissenschaftlichen Erklärungen zeigten, messen sie diesen durchaus hohe praktische Bedeutung bei. Die große Mehrheit der Studierenden glaubt, dass die jeweiligen Ansichten über das Verhältnis von Gehirn und Bewusstsein oder die Determiniertheit des Willens sich zukünftig in der Psychotherapie auswirken.

 

Die befragten Studierenden zeigten sich offen für spirituelle und religöse Fragen. So glaubten sechs von zehn Teilnehmern an eine geistige Existenz nach dem Tod, an einen tieferen »Sinn des Lebens« mehr als drei Viertel. Einem rein vernunftorientierten Zugang zum Menschen erteilte die Mehrheit hingegen eine Absage, und dass der Ratio wesentliche Lebensbereiche verschlossen blieben, bejahten sogar 89 Prozent.

 

(Fahrenberg, J.: Was denken Studierende der Psychologie über das Gehirn-Bewusstsein-Problem, über Willensfreiheit, Transzendenz und den Einfluss philosophischer Vorentscheidungen auf die Berufspraxis? In: Journal für Psychologie 14, S. 302–330, 2006)

In Frankfurt fanden sich zudem schon vor dem Ersten Weltkrieg Forscher zusammen, die das Bewegungssehen untersuchten und als ganzheitlichen Prozess beschrieben. Zu ihnen gehörten Max Wertheimer, Kurt Koffka und Wolfgang Köhler, heute als Begründer der Gestaltpsychologie bekannt.

»Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile«, so lässt sich das Kredo dieser Forschungsrichtung zusammenfassen. Wollte man zu Wundts Zeiten noch Bewusstseinsprozesse in ihre einzelnen Bestandteile – ihre »Elemente« – zerlegen, so stand hier nun der ganzheitliche Aspekt unserer Wahrnehmung im Vordergrund. Einfaches Beispiel: Sehen wir etwa eine Reihe von Glühlampen nacheinander aufleuchten, so können wir uns des Eindrucks einer Bewegung nicht erwehren. Es scheint, als würde das Licht »wandern«. Auch viele andere optische Täuschungen zeugen davon, dass unsere Wahrnehmung übergeordneten Gestaltprinzipien folgt.

Einsichten in die »Black Box«

Wertheimers Arbeit über das produktive Denken – zum Teil inspiriert von Gesprächen mit Albert Einstein – avancierte zu einem Meilenstein der frühen Kognitionsforschung; Koffka untersuchte unter anderem Gestaltphänomene bei Kindern sowie kulturelle Unterschiede; Köhler schließlich leitete von 1914 bis 1920 die »Preußische Anthropoidenstation« auf Teneriffa. Die Intelligenzleistungen der von ihm untersuchten Schimpansen faszinierten ihn derart, dass er die Einsicht ins Zentrum seiner psychologischen Erklärungen stellte.

Koffka emigrierte bereits vor 1933 in die USA, kurz darauf folgten Wertheimer und ein weiterer wichtiger Psychologe, der Berliner Kurt Lewin. Im Jahr 1935 verließ dann auch Wolfgang Köhler Deutschland, nachdem ihm die Nazi-Übergriffe auf sein Institut unerträglich geworden waren. Er blieb der einzige nichtjüdische Hochschullehrer der Psychologie, der nach der Machtübernahme 1933 öffentlich gegen die nationalsozialistischen Rassengesetze protestierte.

Der gestaltpsychologische Begriff der Einsicht stand in scharfem Gegensatz zum Behaviorismus, der fast zeitgleich in den USA aufkam. Die Vertreter dieser Schule, allen voran die Amerikaner John B. Watson (1878–1958) und später Burrhus Frederic Skinner (1904–1990), wollten auf jegliche Spekulation über nicht direkt beobachtbares Verhalten verzichten.

Alles, was sich im Kopf abspielte, erklärten sie zur Black Box – einem wissenschaftlich prinzipiell unzugänglichen Bereich. Untersuchbar sei hingegen lediglich sichtbares Verhalten. So wurden Reiz-Reaktions-Muster zu dem bevorzugten Erklärungsprinzip der Behavioristen. Hierzu stellten sie in ihren Laborexperimenten etwa Ratten oder Tauben vor verschiedene Lernaufgaben und beobachteten, wie die Tiere sie lösten, wenn sie entsprechend belohnt oder bestraft wurden. Viele behavioristische Versuchsparadigmen, etwa das Konditionieren auf bestimmte Reize, lassen sich auch auf den Menschen übertragen.

So kann man beispielsweise den Lidschlussreflex – also das automatische Zwinkern, wenn ein Luftstoß aufs Auge trifft – mit dem Klingeln eines Glöckchens verbinden. Treten Luftstoß und Läuten mehrfach geleichzeitig auf, so genügt bald schon der Ton allein, um den Reflex auszulösen.

Das Verdienst der Behavioristen lag in der Entwicklung und Überprüfung brauchbarer Lerntheorien. Allerdings rief ihr Ansatz natürlich auch Kritiker auf den Plan: Viele Psychologen bezweifelten, dass man das menschliche Seelenleben mit Konditionierungsexperimenten allein erschöpfend beschreiben könne.

Modelle über »innere« Prozesse wie Einstellungen, Vorurteile und Motivation eröffneten häufig tiefere Einsichten, die über bloße Reiz-Reaktions-Muster hinausgingen. Der Begriff Behaviorismus wurde daher in den 1970er und 1980er Jahren geradezu zum Schimpfwort.

Als kognitive Wende ging dieser Perspektivwechsel in die Psychologielehrbücher ein. Die »Black Box« im Kopf schien nun doch nicht mehr so unergründlich zu sein. Mittels überprüfbarer Theorien sollte es vielmehr gelingen, der menschlichen Informationsverarbeitung auf die Spur zu kommen. So etwa bei der Untersuchung kognitiver Zuschreibungen oder Attributionen: Ob beispielsweise ein Lehrer das Versagen eines Schülers auf mangelnde Begabung oder Faulheit zurückführt, macht ganz offenbar einen großen Unterschied.

Zwischen helfen und messen

Der Konflikt zwischen Geistes- und Naturwissenschaft blieb für die Psychologie bis in die Gegenwart beherrschend. So ist sie von jeher eine Wissenschaft mit (mindestens) zwei Gesichtern: Zum einen versuchen ihre Vertreter, den Menschen zu verstehen und ihm bei seiner individuellen Lebensbewältigung zu helfen – etwa durch das Deuten von biografischen Ereignissen, Träumen oder im therapeutischen Gespräch. Zum anderen wollen Psychologen etwa mittels Fragebögen oder Tests Gemütslagen erfassen oder durch Methoden wie Elektroenzephalografie (EEG) oder bildgebende Verfahren subjektives Erleben und Hirnprozesse miteinander in Beziehung setzen.

Dies ist Gegenstand der bislang jüngsten Teildisziplin, der Neuropsychologie. Hier scheint sich nun der Kreis zu den Anfängen der akademischen Psychologie zu schließen: Bereits Fechner und Wundt verknüpften objektive physikalische Maße mit psychologischen Größen wie der Empfindungsstärke. Stark verfeinerte Techniken ermöglichen es Neuropsychologen heutzutage, geistigen Prozessen im Gehirn nachzuspüren – um daraus neue, tragfähigere Erklärungsmodelle abzuleiten.

Die Suche nach den grundlegenden Gesetzen menschlichen Verhaltens dominiert die Psychologie. Diese erhebt aber auch den Anspruch, praktisch und gesellschaftlich relevantes Wissen zu liefern. Die Zeit der unversöhnlichen Schulen und Strömungen scheint zwar überwunden zu sein – dennoch bestimmt immer noch ein breites Spektrum von Ansätzen das Bild etwa in der Psychotherapie, aber auch in der Forschung.

Viele verschiedene Praktiken konkurrieren miteinander, und oft drängt sich der Eindruck wechselnder Moden auf. Doch tun Psychologen gut daran, auch die Sichtweisen anderer Fachkollegen in ihre Arbeit miteinzubeziehen. Ein Blick in die Geschichte kann hierbei wertvolle Dienste leisten.

Helmut E. Lück ist Professor für Psychologie sozialer Prozesse an der Fernuniversität Hagen. Gabriela Sewz ist dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig.

LITERATURTIPPS

Lück, H. E., Miller, R. (Hg.): Illustrierte Geschichte der Psychologie. Beltz, Weinheim 2006.

Pioniere und Strömungen der Seelenkunde in Wort und Bild

Walach, H.: Psychologie. Wissenschaftstheorie, philosophische Grundlagen und Geschichte. Kohlhammer, Stuttgart, 2. Auflage 2009.

Vertiefendes Fachbuch

DENKEN | EINSICHT

Vom Geistesblitz getroffen

Heureka! Psychologen sprechen von Einsicht, wenn wir plötzlich etwas begreifen. Die spontane Erkenntnis trifft den am schnellsten, der ein Problem ganz anders betrachtet als üblich.

VON GÜNTHER KNOBLICH UND MICHAEL ÖLLINGER

Herr Einstein – wie haben Sie das gemacht?«, löcherte Max Wertheimer den Schöpfer der Relativitätstheorie 1916. Der Gestaltpsychologe wollte herausfinden, wie ein Mensch denkt, dessen Geniestreiche die klassische Mechanik aus den Angeln hoben: Verfügte Einstein über ein größeres Wissen als andere, dachte er logischer – oder war alles nur Zufall?

Der Physiker berichtete dem Psychologen, dass er sich beim Nachdenken über Raum, Zeit und Geschwindigkeit oft vorgestellt hatte, auf einem Lichtstrahl zu reiten. Oder neben ihm herzulaufen. Er habe sich auch gefragt, ob das Licht stehen bleibt, wenn man selbst in Lichtgeschwindigkeit nebenherläuft.

Skurril – doch womöglich genau das Geheimnis von Einsteins Erfolg. Jahrelang hatte der gebürtige Ulmer nachgegrübelt, ohne weiterzukommen. Seine Intuition sagte ihm, dass am überkommenen physikalischen Weltbild etwas nicht stimmte – nur was? Dann plötzlich packte er das Problem in einem Gedankenexperiment an der richtigen Stelle: Wenn zwei Blitze gleichzeitig, jedoch in einiger Entfernung voneinander in ein Bahngleis einschlagen – können wir dies dann überhaupt als gleichzeitig wahrnehmen?

Ja, vorausgesetzt wir stehen genau gleich entfernt von den beiden Einschlagstellen. Rasen wir aber in einem Zug zwischen den beiden Blitzen dahin, sehen wir den einen ganz kurz vor dem anderen – auch wenn wir uns genau in der Mitte zwischen den Einschlagorten befinden.

Unsere Beobachtung ist also nicht nur davon abhängig, wann wir uns wo befinden, es kommt zudem darauf an, ob wir uns bewegen. Von »Gleichzeitigkeit« lässt sich demnach nur in Abhängigkeit davon sprechen, wie wir uns relativ zum beobachteten Geschehen bewegen. Der Begriff der Gleichzeitigkeit verliert seine absolute Bedeutung. Mit diesem Aha-Erlebnis krempelte Einstein unsere Auffassung von Raum und Zeit um und begründete die Relativitätstheorie.

Und er befruchtete die gestaltpsychologische Forschung zum Thema Einsicht – also dem schlagartigen Erkennen, das so manchem Fortschritt in der Wissenschaft vorausgeht. Wertheimer wusste, dass Einsteins Einsicht zwar zweifelsohne mit dessen Wissen über Physik und seinem logischen Denkvermögen zu tun hatte.

Entscheidend war aber dessen Fähigkeit, physikalische Sachverhalte anders zu sehen als üblich und sich dabei von Grundsätzen zu lösen, die bis dahin als unumstößlich gegolten hatten. Kurz: Einstein beherrschte es meisterlich, Probleme umzustrukturieren.

Originalität für jedermann

Die Gestaltpsychologen Max Wertheimer, Wolfgang Köhler, Karl Duncker und Kurt Koffka wendeten den Begriff der Umstrukturierung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber nicht nur auf geniale Ideen und bahnbrechende Erfindungen an. Sie waren vielmehr davon überzeugt, dass es sich dabei um einen fundamentalen Denkprozess handelt, der es jedem Menschen erlaubt, zu originellen Einsichten zu gelangen. Einsichten fügen Puzzleteile eines Problems schlagartig richtig zusammen – so dass daraus eine »gute Gestalt« entsteht, ein Begriff, der einer ganzen psychologischen Schule ihren Namen gab.

Aber ab den 1950er Jahren – die Gestaltpsychologen waren längst verstaubte Klassiker – wandten sich die Erforscher des Denkens anderen Phänomenen zu. Sie waren fasziniert von kognitiven Prozessen, die ähnlich wie beim Computer Schritt für Schritt ablaufen, also nicht sprunghaft und unvorhersehbar wie ein Aha-Erlebnis. Erst seit den 1980er Jahren hat sich die Kognitionspsychologie wieder der Einsichtsforschung angenommen – und bis heute zahlreiche neue Einsichten gewonnen.