Natalie Woillez


Emma


oder der weibliche Robinson


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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-033-9


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Zwölftes Kapitel



Welches Herz, wenn auch noch so verdorben, hat nicht freudig geschlagen, bei'm Ton der heimatlichen Glocken, der Glocken, die freundlich über seiner Wiege klangen, die der Welt den neuen Bürger anmeldeten und die ersten Schläge seines Herzens hörten, die der ganzen Nachbarschaft die heilige Freude seines Vaters verkündeten, die Schmerzen und das noch unaussprechlichere Entzücken der Mutter! Alles spiegelt sich in den Zauberträumen, in die der heimatlichen Glocken Klang uns wiegt: Religion, Familie, Vaterland, die Wiege und das Grab, Vergangenheit und Zukunft.


Man denkt sich leicht, mit welchem Interesse Emma diese Erzählung anhörte und welche Gefühle von Dank ihr Herz erfüllten, gegen die edlen Freunde, die ihr den Vater erhalten hatten; aber keiner derselben wollte die Äusserungen ihres Dankes annehmen, denn jeder teilte zu sehr ihr Glück, um dafür belohnt sein zu wollen.

Es liegt so etwas Entzückendes darin, die anzusehen, die man glücklich gemacht hat, daß der gute Capitain nicht aufhören konnte, Emma und ihren Vater zu betrachten und mit neuen Beweisen seiner Zuneigung zu überhäufen. Seine zuvorkommende Sorge ließ nicht nach während der ganzen Reise: jeder Tag brachte ein neues Fest, zu Emma's und ihrer Gefährtin Freude erfunden.

Sobald sie in die Rhede von Buenos Aires eingelaufen waren, wurde jede von ihnen mit allem Nötigen ausgestattet, um vor dem Ausschiffen auf passende Weise erscheinen zu können, und eine geschmackvolle Kleidung ersetzte das Gewand der Wüste. Henriette war ganz außer sich über diese Umwandlung, aber während sie alle diese Wunder erstaunte, hatten ihre Freunde neue Verluste zu beweinen.

Der Verwandte, zu dem sie wollten, hatte seit vier Jahren schon sein Leben beschlossen und Herr von Surville, der diesen Tod herzlich betrauerte, konnte nicht eher in das hinterlassene Erbe eintreten, als nachdem er Förmlichkeiten erfüllt hatte, die viele Zeit erforderten.

Endlich trat er in den Besitz nicht allein der reichen Ländereien seines Verwandten, sondern auch bedeutender Summen, die klug auf mehreren Banken Europas verteilt waren, und mit unendlicher Freude überzeugte er sich, daß er mit geringer Schwierigkeit den größten Teil seines Reichtums nach dem schönen Lande schaffen könnte, wo seine Tochter geboren war, und wohin ihn selbst Erinnerungen riefen, die seinem Herzen immer teuer geblieben waren. "Dort, sagte er, wird Emma wahrhaft glücklich werden, aber ich will meinen Plan noch verbergen, bis ich ihn ausführen kann; denn das Glück das man hofft, ist oft viel schöner als das, das man erreicht."

Emma erfuhr also nichts von den andern Vorkehrungen die ihr Vater traf, ja sie war sogar weit entfernt etwas davon zu ahnden. Sie hatte durch die Trennung von ihrem Vater soviel gelitten, daß sie sich jetzt in seinem Besitze unmöglich anders als glücklich fühlen konnte, mochten sie wohnen wo sie wollten. Doch trugen sie ihre Gedanken immer hin nach den Tagen ihrer Kindheit, und dann stand, wie in ihrer Einsamkeit, das Bild von ihrer Mutter Grab vor ihr, die Bäume unter welchen sie gesessen und die grünen Wiesen auf welchen sie mit Azor sich herumgetrieben hatte, und ein Seufzer stahl sich aus ihrem Busen ... o Vaterland! dein Name ist kein leerer Klang: Emma fühlte es an den schnelleren Schlägen ihres Herzens, als sie an das schöne Frankreich dachte. Aber sie bemühte sich, die geliebte Erinnerung zu verwischen, um nur allein dem Glück leben zu können, das sie wirklich besaß.

Henriette, so lange die Gefährtin ihres Unglücks, teilte nun auch ihr Glück, denn alle Schritte, ihren Vater zu entdecken, waren fruchtlos geblieben; er hatte Buenos Aires verlassen ohne eine Spur seines spätern Aufenthalts zu geben und Emma, obgleich das Unglück ihrer Freundin beweinend, konnte sich doch einer geheimen Freude nicht enthalten, daß sie sich jetzt nicht von ihr trennen durfte.

Endlich hatte Herr von Surville seine Geschäfte beendigt. Don Antonio und der Geistliche waren ihrem weitern Berufe gefolgt und seine wilden Freunde waren, beladen mit Geschenken, die sein Andenken gewiß lang unter den guten Insulanern erhielten, nach ihrer Heimat zurückgekehrt.

Ein Schiff ging unter Seegel, das Emma, mit ihrem Vater, Dominicho und Azor bestieg. Sie wußte jetzt daß sie nach Frankreich gingen und ihr ganzes Wesen strahlte in unaussprechlichem Entzücken.

"Welche Freude! wenn das fremde Ufer so immer weiter sich entfernt! rief sie aus, als das Schiff mit Pfeilschnelle hinschoß; gebe Gott seinen Seegen zu dieser Heimfahrt, die ich wohl sehnlich wünschte, aber nicht zu hoffen wagte."

Dies Gebet ward erhört; die Überfahrt war die glücklichste, bald sah sie die Küste von Brest wieder, die sie sechs Jahre früher so ungern verlassen hatte.

"Nur Eugenie und Cecilie fehlen noch, rief sie aus, in einigen Augenblicken werden wir auch sie sehen."

Bald lief das Schiff in den Hafen ein, und Herr von Surville, um ihrer und seiner Ungeduld zu genügen, überließ Dominicho die Sorge für die Ausschiffung seiner Effecten und begab sich mit Emma zu dem Kaufmanne, der sie früher so verbindlich aufgenommen hatte. Emma flog mehr als sie ging durch die Straßen von Brest, und doch wäre sie jeden Augenblick gerne stille gestanden, denn sie hörte ihre Muttersprache, sie sah wieder Mitbürger, und hatte in einer Einöde gelebt.

Endlich kamen sie an das Haus des Kaufmanns, aber Türen und Läden sind verschlossen; Herr von Surville klopft an; eine alte Frau, die alte Dienerin des Hauses öffnet!

"Wo ist eure Herrschaft?"

"Meine Herrschaft? Ach! Herr, Ihr wißt es also nicht ... Der arme Mann! er konnte seinem Kummer nicht widerstehen; seine Geschäfte gingen mit jedem Tage schlechter er zahlte zwar noch alles vor seinem Tode; aber die armen Fräulein! sie arbeiten jetzt, um ihre Mutter zu ernähren"

"Wo wohnen sie?" rief Emma aus.

"In jenem Hause dort, rechter Hand, bei der Leinwandhändlerin, die sie aus Mitleid in einem Dachstübchen wohnen läßt..."

Vater und Tochter wollten nicht mehr weiter hören; sie traten in's Haus der Leinwandhändlerin, stiegen die Treppen hinan, bis unter's Dach. Die Türe des Stübchens stand offen; eine Frau, mit Gramentstellten Zügen liegt auf einem elenden Bette ausgestreckt, an dem zwei schwarz gekleidete Mädchen arbeiten. Beide weinten.

"Liebe Eugenie! liebe Cecilie! eure Freundin, eure Emma will mit euch weinen", rief sie aus, indem sie den Schwestern, eines nach der andern, um den Hals fiel."

Es war das erste mal, daß den Unglücklichen der Trost wurde, das Elend in Schutz genommen zu sehen; denn das Unglück hat wenig Freunde, und seit dem Verlust ihres Vermögens war ihnen nur ein kaltes, beleidigendes Mitleid zu Teil geworden.

Am andern Tage war alles um sie her verändert; das Haus der Leinwandhändlerin war zu verkaufen, Herr von Surville kaufte es und setzte die Wittwe mit ihren beiden Töchtern darein. Wie dankte ihm Emma für diese Wohltat, welches Glück empfand sie, als ihre Freundinnen das garstige Dachstübchen verließen und ein schönes und bequemes Haus bezogen, wo ihre Tätigkeit ihnen ein anständiges Auskommen sicherte!

Es stimmte mit Herrn von Survilles Geschäften überein, daß er sich einige Zeit in Brest aufhielt, und Emma fand zu viel Vergnügen in der Gesellschaft der beiden Schwestern, als daß sie sich über diesen verlängerten Aufenthalt beschwert hätte. Endlich, nach einem Monat, kam Dominicho, der eine Reise gemacht hatte, mit freudigem Gesicht zurück und die Abreise ward auf den folgenden Tag festgesetzt.

Nach ihrem Landgut ging jetzt die Reise, und Emma's Abschied von ihren Freundinnen war diesmal weit weniger traurig als das erste mal.

Zwischen ihrem Vater und der jungen Waise sitzend, nannte sie ihr mit unaussprechlicher Freude alle Orte, durch die sie fuhren. Es war ihr Vaterland! ihr liebes Vaterland, nach dem sie sich so sehr gesehnt hatte! Wie süß waren nun alle Gedanken, wie schön erschien ihr das Leben.

Am Morgen des zweiten Tages verließ die junge Reisende den Wagen um ein wenig frische Luft zu schöpfen. Sie wußte nicht wo sie waren, aber die Gegend war so schön, so lachend, daß sie nicht müde werden konnte sie zu bewundern. Plötzlich ertönte von weitem der Klang einer Glocke; Emmahorchte; ihr Herz schlug ungestüm: "das ist die Glocke von unserem Kirchturme! rief sie aus, Vater! wie glücklich machst du dein Kind!" Vater und Tochter weinten Tränen der unaussprechlichsten Freude und eilten dem geliebten Dörfchen zu, wohin Dominicho mit Henriette folgte. Bald sahen sie die Kirche und erkannten jede Hütte wieder, in welcher ihre bescheidene Wohltätigkeit einst Dankestränen Unglücklicher hatte fließen machen. Sie erblickten den Kirchhof, das Grab, wo eine Mutter, eine teure Gattin ruhte, und diesem Grabe brachten sie die erste Weihe, den ersten Ausdruck aller Gefühle, die ihre Seele bewegten; "meine Mutter! rief Emma aus, hier sind wir wieder! und küßte den Stein, auf den Dominicho einst ihre Wiege gestellt hatte.

"Kommt, kommt, mahnte sie endlich ihr alter Freund, nicht mehr dem Kummer euch überlassen, Gott so gut gegen uns gewesen!

"Wohin führst du uns," fragte ihn Emma, als er dem Schloss zuging, weißt du auch, ob man uns einlassen wird?

"Wenn nicht wissen, daß gut aufgenommen werden, antwortete der gute Schwarze, auch nicht dahin führen; mit diesen Worten öffnete er eine kleine Türe in den Park, wo bereits die Pächterin, bei welcher Emma ihre ersten Tage zugebracht hatte, und viele andere Bewohnerinnen des Dorfes auf sie warteten und sie mit lautem Zuruf bewillkommten."

Emma, obgleich sie ihre Freude teilte, fürchtete dennoch, die Herren des Schlosses möchten darüber aufgebracht werden; aber ihr Vater beruhigte sie: "fürchte nichts, sagte er, es gibt hier keine andere Herren mehr als uns, dieses Gut ist unser; Dominicho und ich, wir wollten dich überraschen, seine Reise während unseres Aufenthalts in Brest hatte keinen andern Zweck."

Bei diesen Worten fiel Emma ihrem Vater auf's Neue um den Hals. "Fürwahr! rief sie aus, dies ist zu viel Glück!"

Dies Glück war wirklich groß; aber wenn Gott belohnt, so tut er es immer mit vollen Händen, und die fromme Emma hatte ihr Glück verdient, durch ihre Geduld und Ergebung im Unglück, und durch die Tugend, die sie im Glück bewies.

 

 

Inhalt




Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

 

 

 

Erstes Kapitel



Wachet, Eltern, mit Sorgfalt über die erste Erziehung eurer Kinder; diese zarten Pflanzen tragen einst Früchte, und diese Früchte werden eure Freude.


Der Aufstand der Neger gegen die Weißen, der im Jahre 1791 in St. Domingo ausbrach, hatte auch Herrn von Surville genötigt, seine schöne Besitzung die er ererbt, und in einem Zeitraume von zehn Jahren zu einer der blühendsten in der Umgegend erhoben hatte, der Wut seiner zahlreichen Sklaven Preiß zu geben.

Ein Flüchtling vom heimatlichen Boden, die Erinnerung an die blutigen Szenen, deren Zeuge er gewesen war, im gebeugten Herzen, und ohne eine andere Unterstützung als eine gute Erziehung und gründliche Kenntnis des Ackerbaus, kam er nach Frankreich, um die Hilfe einiger alten Freunde seiner Familie anzusprechen, welche ihm auch eine Stelle als Verwalter eines, von seinem Eigentümer schon lange vernachläßigten, herrschaftlichen Gutes nicht weit Bloisverschafften.

Schwerlich hätte Herr von Surville, nach dem Unglück, das ihn betroffen hatte, eine seinem Geschmack und seinen Gewohnheiten mehr zusagende Lage finden können. Da das ihm übertragene Gut sehr vernachläßigt war, und von seinem Herrn beinahe nie besucht wurde, so blieb ihm freie Hand, jede nützliche Verbesserung zu treffen, so daß er sich bald, in angenehmer Selbsttäuschung, mitten in seine reichen Pflanzungen auf St. Domingo zurückversetzt glauben konnte. Ein Neger, mit Namen Dominicho, sein Retter im Augenblicke der Gefahr, der ihm nach Frankreich gefolgt war, erhöhte noch diese Täuschung, indem er keine Mühe sparte, um den weitlaufen Garten des Schlosses, welche seiner Aufsicht anvertraut waren, jenen ähnlich anzupflanzen, welche einst die lachend" Wohnung seines Herrn umgeben hatten.

Dieser heiratete eine junge Waise, welche, wie er, vom heimatlichen Boden vertrieben war, und wenn auch diese Verbindung seine Glücksumstände nicht verbesserte, so verscheuchte sie doch alle traurigen Erinnerungen und machte den lieblichsten Hoffnungen Platz. So erschöpft sich das Leben in Extremen, welche die Zukunft bald in die düstersten Farben, bald im Glanz des schönsten Tages zeigen.

In seinen Mitteln sich für gesichert haltend, und als Gatte des liebenswürdigsten, tugendhaftesten Weibes, vergaß Herr von Surville beinahe, daß ein Unglück ihn bereits betroffen habe, und ein anderes ihn noch treffen könne: ach, es ist so süß, an die Dauer des gegenwärtigen Glücks zu glauben! Doch das seine sollte nur Augenblicke währen. Nach einem Jahre starb seine Frau an der Geburt einer Tochter, die sie kaum noch segnend an ihre Brust drücken konnte, und der unglückliche Vater, gebeugt von der Gewalt dieses neuen Schlages, erkrankte so schwer, daß man beinahe ein ganzes Jahr hindurch das unschuldige Geschöpf von ihm entfernt halten mußte, das dem Gegenstande seiner Zärtlichkeit das Leben gekostet hatte.

So ward Emma, dies ist der Name, den er seinem Kind gab, schon von ihrer Geburt an zu jener traurigen Abgeschiedenheit verurteilt, welche die Vorsehung ihr zum Los bestimmt hatte, und wenn es wirklich wahr ist, was nur schwer sich bezweifeln läßt, daß die Eindrücke nie verschwinden, welche das Herz in zarter Kindheit empfing, so mußte ihr Charakter notwendig jene schwermütige Färbung annehmen, welche die ersten Tage ihres Lebens bezeichnet.

Um durch ihre Gegenwart ihres Vaters Verzweiflung nicht zu steigern, ward sie von den Ärzten in ein abgelegenes Gartenhaus verbannt, wo Niemand um sie war, als eine Bäuerin und ein armer, häßlicher, grämlicher Neger. Ihre Amme, über welche Dominicho die Aufsicht führte, befriedigte zwar alle ihre Bedürfnisse, aber diese Frau, welche nur der Reiz einer großen Belohnung vermocht hatte, sich ihren eigenen Kindern zu entziehen, reichte ihrem Säuglinge nur ungerne die Brust, die von rechtswegen ihrem Jüngstgebornen gehört hätte. So war ihre Sorgfalt für Emma fern von jener zarten, mütterlichen Bekümmerniß, welche so notwendig ist, zur glücklichen Entwicklung des Kindes. Keine Liebkosung, kein Lächeln erfreute die arme Kleine; alles um sie her war kalt und traurig; der Tod, der bei ihrer Geburt schon den Vorsitz geführt hatte, schien sie für immer in seine düsteren Schatten gehüllt zu haben.

Der gute Schwarze, dessen kummervolles Gesicht und häßliche Züge das Kind anfänglich zum Weinen brachten, wachte nichts desto weniger mit väterlichem Interesse für dasselbe, und war untröstlich, seinem unglücklichen Herrn das einzige Wesen nicht nahe bringen zu dürfen, das ihn noch an das Leben zu ketten vermochte.

"Herr nicht immer so bleiben, schluchzte er oft an Emmas Wiege, nicht möglich sein, oder Dominicho vor Schmerzen sterben ... Arme Kleine! so sanft, so schön, ihrer Mutter so ähnlich, ein großer Trost für ihn sein; Kind immer so wohl tun des Vaters Herzen. Ich ihm zeigen, gewiß ihm zeigen, und er mir nachher danken!"

So entwarf Dominicho tausend Pläne, um das liebliche Kind, dem er selbst so sehr zugetan war, ihrem Vater vor Augen zu bringen.

Dennoch gingen auf diese Weise zehn Monate hin, ohne daß er es gewagt hätte, die Vorschriften der Ärzte zu überschreiten, welche jeden Tag das Verbot erneuerten, von ihrem Kranken, dessen Organe durch den ungeheuren Schmerz den er erlitten, auf's Äußerste angegriffen waren, Alles zu entfernen, was seine Ruhe hätte stören können.

Indessen war Emma, die anfangs sehr schwächlich gewesen war, ein gesundes und blühendes Kind geworden; ihre Kräfte wuchsen zusehends, und ihre Glieder bekamen eine Stärke und Rundung, die sie gewiß auch Dominicho verdankte, der, seit er den Entschluß gefaßt hatte, seinen kleinen Pflegling ihrem Vater zu zeigen, keinen Tag versäumt hatte, ihre Kräfte durch neue Übungen zu stärken.

Er hatte das Kind auch das Wort Papa aussprechen gelehrt, und wenn es oft mehrmals dasselbe wiederholt hatte, so konnte der gute Alte seinen Kummer vergessen, und mit freudigem Händeklatschen ausrufen: "So recht, lieb Kind; gut Herr doch noch glücklich werden."

Als er endlich den Augenblick zur Ausführung seines Vorhabens für günstig hielt, so ließ er Emma von ihrer Amme auf's Schönste putzen, einschläfern und vorsichtig in einen Korb legen. So nahm er das Kind, und trug sie auf den Gottesacker, wo, wie er wußte, ihr Vater seit einigen Tagen jeden Morgen hinkam, um an dem Grabe seiner verlorenen Gattin zu weinen.

Dominicho, der vorher gekommen war, setzte das Kind an dem Grabsteine nieder, kniete zu ihm hin und rief mit bewegter Stimme: "Arme Kleine, Mutter dein für immer hier schlafen, aber ihr Geist zu gut Herrn für dich sprechen; er dein hold Lächeln sehen und getröstet sein."

Hierauf verbarg er sich hinter dem Monumente, und erwartete mit Ungeduld die Ankunft des Herrn von Surville, der endlich am Eingange des Kirchhofes erschien.

Sein Gang war langsam, wie der eines Mannes, den Krankheit und tiefer Kummer gebeugt haben; seine Wangen blaß und eingefallen, sein Haar vor der Zeit gebleicht; sein ganzes Wesen zeigte deutlich, was er schon gelitten hatte, und was er noch litt, bei'm Anblicke des Grabes, unter dem seine geliebte Gattin schlummerte. Auf die Knie geworfen, begann er zu beten, da erblickt er ein Kind, schön wie der Tag!

"Himmel!" ruft der unglückliche Gatte. "Papa!" antwortet das erwachende Kind. Da stürzt auch Dominicho hervor: "klein Töchterlein Euch gehören", ruft er mit halb erstickter Stimme, zu seines Herrn Füßen hingeworfen, "ich Euch gebracht haben, zum Troste; o, lieb Kind nimmer entfernen!"

Ein krampfhaftes Zittern bemächtigt sich Herrn, von Survilles: dies Grab, der Engel, der ihm lächelnd die kleinen Händchen entgegenstreckt und des treuen Dieners Worte, dies Alles stürmt auf seine Seele ein, und doch ist er weniger unglücklich. Das erste Mal seit seiner Gattin Tod empfindet er eine andere Regung als die des Schmerzes; an den schnelleren Schlägen seines Herzens, an seiner Freude bei'm Anblicke des lieblichen Kindes, das so lange von ihm entfernt gewesen war, und das er jetzt mit heißer Zärtlichkeit in seine Arme schließt, fühlt er, daß er Vater ist.

"Kind meiner Louise, ruft er aus, ich bin strafbar gegen dich; von Schmerz übermannt, habe ich dich in der Wiege verstoßen, aber hier, auf dem Grabe deiner Mutter, verspreche ich dir Ersatz für mein Unrecht."

Sich hierauf an den vor Freude trunkenen Schwarzen wendend, sprach er: "du hast mich, guter Dominicho, mir selber wieder gegeben, ich verdanke dir unendlich viel! Aber verlassen wir diesen Ort, die Luft, die hier weht, taugt nicht für Emma." Dies sprechend, nahm er das Kind auf seine Arme, und trug es nach dem Schloss, das Emma seit ihrer Geburt nicht wieder erblickt hatte.

Nicht beschreiben lassen sich die Gefühle des Herrn von Surville, als die Amme, welche der Schwarze herbestellt hatte, dem Kind die Brust reichte; er gedachte der zärtlichen Mutter, die es verloren, und dieser Gedanke zerriss ihm das Herz; doch allmählich wichen seine schmerzhaften Empfindungen freudigen Gefühlen, die seine Seele bis jetzt noch nicht gekannt hatte.

Es ist so unendlich beglückend, das unschuldige Wesen, das uns das Leben verdankt, unter unsern Augen wachsen und gedeihen zu sehen! Welches kummervolle Herz schlägt nicht leichter bei seinem ersten Lächeln, bei'm ersten Lallen des geliebten Kindes!

Bald verlor sich jener Anflug von Traurigkeit, die sich in Emma's ganzem Wesen ausgesprochen hatte, und machte einer jugendlichen Heiterkeit Platz, die ihre Züge verschönte und belebte; doch war jetzt schon, mitten durch ihre kindliche Fröhlichkeit, jenes zarte, tiefe Gefühl zu bemerken, welches später den Grundzug ihres Charakters bildete.

Gegen jeden Leidenden übte Emma diese schätzbare Tugend, und ohne uns in die Einzelnheiten ihrer ersten Kindheit einzulassen, bemerken wir bloß, daß ihr Vater, sobald er ihren Verstand sich entwickeln sah, keine Gelegenheit vorbeiließ, sie am den guten Werken Teil nehmen zu lassen, die er trotz seiner beschränkten Lage, dennoch auszuüben die Mittel fand. Während er sie gewöhnte, das Unglück zu bemitleiden, lehrte er sie auch, dasselbe zu unterstützen, indem er sie oft selbst in die Wohnungen der Armut führte. Zwar erkauften Vater und Tochter stets nur um den Preis eigener Entbehrungen ein Lächeln der Zufriedenheit auf dem Gesicht eines Unglücklichen; aber diese Entbehrungen waren für Beide eine Quelle so reinen Genusses, daß sie sich dafür gerne noch mehrere auferlegt hätten.

So begann Emma's Erziehung mit der Zeit, wo ihr Denkvermögen anfing, zu erwachen. Ihr Vater, der ganz die richtige Ansicht hatte, suchte sie vor Allem vor den gewöhnlichen Schwächen und Fehltritten der Kindheit zu verwahren, welche so oft auf das reifere Alter mit übergehen, weil sie nicht zeitig genug bekämpft wurden. Nie legte er dem Kind Zwang an in der natürlichen Äußerung seiner Gefühle, aber er suchte diese Gefühle durch Beispiel und Weckung des Nachdenkens zu regeln, so daß weder Schmerz, noch Furcht, noch Freude die Oberhand über dieselben erhielt.

Er machte Emma mit dem Nützlichen jedes Gegenstandes, der ihm neu auffiel, durch Versuche bekannt, die er vor ihren Augen damit anstellte, oder, wenn dies unmöglich war, durch kurze und genaue Erklärungen, welche ihre lebhafte Einbildungskraft mit unglaublicher Leichtigkeit auffaßte, und die sich tief in ihr Gedächtnis einprägten.

So lernte sie schon mit dem zehnten Jahre die Namen aller Pflanzen kennen, die ihr Vater in den weiten Gärten des Schlosses bebauen ließ. Mit Liebe immer noch an seinem Vaterland hängend, hatte sich Herr von Surville eine Menge dort wachsender Pflanzen zu verschaffen gewußt, und es gewährte ihm großes Vergnügen, die Eigentümlichkeiten derselben seinem Kind zu erklären.

Mit dem größten Interesse hörte Emma diesen Unterricht, der stets unter freiem Himmel gegeben wurde, und welchem der gute Neger gewöhnlich beiwohnte, der immer etwas Merkwürdiges von seiner Heimat, oder von den Ländern, wo er sonst gewesen war, oder über welche er hatte sprechen hören, zu erzählen wußte.

Wenn dieser unterhaltende Unterricht, der nie länger währte, als so lange er Emma Freude zu machen schien, beendigt war, so nahm Herr von Surville eine geographische Karte vor, und zeigte ihr die Orte, über die sie so eben gesprochen hatten, erzählte ihr mit wenigen Worten die Geschichte ihrer Bewohner, und bereitete sie so auf neue Kenntnisse vor, mit welchen er ihren Geist bereichern wollte.

Auf dieselbe Weise leitete der fromme Vater, der jeden Tag aus der Übung seiner Pflichten den einzigen, wahren Trost des Unglücks und der Trauer schöpfte, den religiösen Unterricht des Kindes ein, und unterließ nie, alle Reichtümer der Natur, die er es bewundern ließ, auf Rechnung der göttlichen Güte zu schreiben.

"Gott, der uns erschaffen hat, teure Emma, sagte er oft, hat alle diese Dinge zu unserem Besten und unserem Vergnügen so gemacht; seine unerschöpfliche Güte hat für unsere geringsten Bedürfnisse gesorgt, und der Mensch, der von seinen unermeßlichen Wohltaten keinen Gebrauch macht, oder der es unterläßt, ihm dafür zu danken und sich derselben würdig zu zeigen, verdiente, daß er sie ihm entzöge, und ihn zugleich der Vernunft beraubte, mit der er ihn begabt hat."

So lernte Emma, indem sie den Schöpfer aus seinen erhabenen Werken kennen lernte, zu gleicher Zeit ihm dienen und den Zoll der Liebe und Dankbarkeit entrichten, den wir ihm schuldig sind für all' das Gute, womit er uns überhäuft hat.

"Er hört dich, er sieht dich, er liest in deinem tiefsten Herzen, sprach der gute Vater; trachte, daß deine Handlungen, deine Worte, und Gedanken sich nie vor ihm verbergen dürfen."

Bei einer solchen Erziehung mußte Emma notwendig große Fortschritte machen; auch war sie mit zwölf Jahren bereits ein kleines Wunder von Frömmigkeit, von Vernunft, von Sanftmut und Wissen. Bekannt mit den verschiedenen Erzeugnissen der Erde und beinahe allen zur Erhaltung des Lebens nötigen Gegenständen, hatte sie gelernt, denselben einen ganz andern Wert beizulegen, als Kinder von ihrem Alter dies gewöhnlich tun. An Gebet, Nachdenken und Lernen gewöhnt, fand sie ihr größtes Vergnügen darin, und in körperlichen Übungen, welche ihr ihr Vater und Dominicho schon vom zartesten Alter an gleichsam zum Bedürfnisse gemacht hatte.

Ein Hund, mit Namen Azor, welchen sie von Dominicho erhalten hatte, trug ebenfalls viel zur Entwicklung ihrer körperlichen Kräfte bei. Dieser Hund, von der Neuländer-Race, begleitete sie auf allen ihren Spaziergängen, und zeigte sich so gelehrig, daß sie oft weite Streifereien in die benachbarten Ländereien mit ihm machte und jede Müdigkeit über dem Vergnügen vergaß, welches ihr seine Geschicklichkeit und Folgsamkeit gewährten.

Außerdem hatte ihr Dominicho noch andere Unterhaltungen zu verschaffen gewußt, worunter sich auch ein Bogen mit schönen Pfeilen befand, welchen sie bald mit großer Geschicklichkeit zu gebrauchen wußte. Nicht minderes Vergnügen gewährte ihr ein niedliches Vogelhaus, dessen Bewohner sie mit großer Sorgfalt pflegte, und das ihr mit jedem Tage neue Unterhaltung darbot.

Mit solchen Genüssen wechselten Zeichnen und Musik ab, in welchen beiden Talenten Herr von Surville sich auszeichnete. Von ihm unterrichtet, wußteEmma, von der Natur mit einer starken und wohlklingenden Stimme begabt, bald ihre kleinen Lieder geschmackvoll mit der Gitarre zu begleiten, und nicht weniger die lieblichsten Landschaftsstücke zu zeichnen.

In Näharbeiten machte sie die wenigsten Fortschritte, weil sie hierin Niemand zur Lehrerin haben konnte als eine alte Haushälterin im Schloss, welche selbst nur geringe Kenntnisse in dieser Kunst besaß; aber Emma fand, je älter sie wurde, so viel Geschmack daran, daß sie es bald auch in dieser Hinsicht andern jungen Mädchen von ihrem Alter gleich tat.

SurvilleEmma