Inhaltsverzeichnis

Tobias Sommer, Edens Garten

E-Book

ISBN: 978-3-903061-02-6

 

© 2012, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten

 

 

Lektorat: Daniela Jungmeyer

Umschlag und Satz: Jürgen Schütz

Umschlagfoto: Jan Bender

 

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-13-7

www.septime-verlag.at

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Tobias Sommer

 

wurde 1978 in Schleswig-Holstein geboren. Er veröffentlichte Erzählungen und Gedichte in Anthologien und Einzelpublikationen. Seine Lyrik und Prosa wurde mit Preisen und Stipendien ausgezeichnet. 2011 erschein sein erster Roman Dritte Haut. 2012 erschein sein zweiter Roman Edens Garten. 2014 erhielt er Tobias Sommer eine Nominierung für den Ingeborg-Bachmann-Preis. 2015 erscheint mit Jagen 135 sein dritter Roman.

 

 

Klappentext

 

Sebastian Eden lebt mit Lena in einer spießigen Vorstadtsiedlung. Die Beziehung scheint perfekt, bis er hört, wie Lena im Schlaf einen Männernamen stöhnt. Er installiert heimlich eine Kamera im Schlafzimmer, um einen Beweis in Händen zu halten, wenn sie erneut im Schlag ihren Geliebten verrät. Beim Sichten der Aufnahmen macht er allerdings eine böse Entdeckung

Edens Garten ist die Geschichte eines Mannes, der um die Liebe seiner Frau kämpft und riskiert, alles zu verlieren, sogar den Verstand.

 

»Sommer beweist, wie man literarisch anspruchsvoll schreiben kann und zugleich packend«.

Stefan Sprang, Märkische Allgemeine

 

 

Tobias Sommer

Edens Garten

Roman | Septime Verlag

 

 

 

 

 

 

 

Für Jule und Marla

 

 

 

 

 

 

 

Ist es nicht so, dass es im Augenblick des Erwachens

am meisten von einem zu erzählen gibt?

Peter Handke

»Die Unvernünftigen sterben aus«

 

 

 

 

 

Kapitel I

 

 

 

Ich zerstörte mit einem Wimpernschlag alle Traumgestalten und schwankte durch unser Haus. Lena versperrte mir den Weg zum Eisfach, das Licht aus dem Kühlschrank unterstrich ihre bleiche Haut, die dunklen Augenränder und das Pechschwarz ihrer Haare, jede Farbnuance war künstlich und gewollt, als machte sie sich auf zu einem Death-Metal-Konzert und nicht zum Treffen der europäischen Außenminister. Lena drückte Filterpapier in unsere Kaffeemaschine, löffelte das Pulver aus einem Meter Höhe dazu und schaute dabei aus dem Fenster, statt zu zählen, trällerte sie einen Song der Toten Hosen, sie sang mit tiefen, kratzenden Tönen, he rides and he rides, he looks through his window, what does he see? Sie war textsicher, und nicht nur das, sie übersetzte ihre Lieblingslieder in zehn Sprachen, sie erzählte gerne, mit den Rock- und Punksongs ihrer Jugend in einem Vorort von Budapest hätte sie das Dolmetschen gelernt und den Job in Brüssel bekommen. Für Lena war diese Erklärung, obgleich übertrieben und falsch, zu schön, um sie zu verschweigen, sie war überzeugt: Hätte sie nicht den staatlichen Bildungsweg bis zum Erbrechen verfolgt, wäre sie die tonangebende Frontfrau einer Rockband geworden, ihren Vorbildern war sie auf jeden Fall treu geblieben.

Ihr Blick zeigte mir, sie hatte letzte Nacht Sex, auch wenn er nur in ihren Gehirnzellen stattgefunden hatte, der Höhepunkt hatte sich in ihren Augen festgezurrt. Unsere Oberschenkel und Hüften berührten sich, Lena antwortete mit der zweiten Strophe, he sees the bright and hollow sky, he sees the stars come out tonight. Ich nahm ihren Geruch auf, bevor er sich mit dem Kaffeearoma vermischen konnte, der Duft der vergangenen Nacht war weggespült, ihre Lotion überdeckte alles, Patschuli und eine Überdosis Cassis.

Lena beobachtete vom Küchenfenster aus den beginnenden Tag, sie suchte nach Sternstraßen oder Regenwolken und strich gedankenverloren mit den Fingern durch ihre kurzen Haare, die Stoppeln zeigten mithilfe von Gelspray in alle Himmelsrichtungen, Lena sagte grundlos, wusstest du, noch heute kann man Neil Armstrongs Fußabdruck auf dem Mond sehen.

Wenn er wirklich oben war, ich sah in einen planetenlosen Himmel, morgens um 6.00 Uhr, hast du gut geschlafen?, ich küsste Lena auf die Wange und entschied mich für ein Glas Aspirinwasser mit drei Eiswürfeln.

Hervorragend, ich durfte von oben herab auf die Erde staunen, erklärte sie, ich war nicht auf dem Mond, aber auf einem Hochhaus, ich balancierte auf Fensterbänken und genoss den Ausblick, sie zählte den sechsten Löffel Pulver in die Filtertüte, aber auch der Blick über die Schulter in die Innenräume war unverschämt anmaßend, wenn du verstehst, was ich meine, die Zimmer glichen einem Erlebnispark.

Ich habe von unendlich vielen Nagetieren in unserem Garten geträumt, schwindelte ich, sie sind die Bäume und Mauern hochgekrabbelt, in Wirklichkeit: Ich hatte ebenfalls Sex, ungewollt, im Traum mit unserer Nachbarin. Lena schlürfte ihren ungesüßten, brühend heißen Kaffee, wir erzählten uns morgens oft von unseren Träumen, erotische Details verriet ich grundsätzlich nicht, Lena hingegen, so hatte ich zumindest das Gefühl, verschwieg alles nicht Erotische. Sie liebte es, ihre Träume in spanischer oder französischer Sprache auszuschmücken, und an den sprachlichen Möglichkeiten haperte es nie, schon von Berufs wegen. Wir haben zusammen für den internationalen Übersetzerdienst der Europäischen Union gearbeitet, wir übersetzten in winzigen Kabinen die Reden und Gegenreden der Staatsminister, wir waren die Stimmen aus dem Off, die die Sätze von Störungen trennten, von verbalen und nonverbalen Behinderungen, die oft genug von den Rednern im Plenarsaal geplant waren, denn jedes Statement schien strategisch und diente der Destruktion der gegnerischen Argumente. Mich widerte diese Verlogenheit an, ich brauchte in meiner Übersetzerkabine nur Sekunden, um die Phrasen, die immer gleichen Phrasen, der Politiker zu erkennen, Worthülsen, die die Normgröße einer Banane, eine Weltwirtschaftskrise oder eine Massenvernichtung rechtfertigen sollten, und hin und wieder sogar einen Seitensprung, nach drei Jahren hatte ich meine Konsequenzen gezogen und Brüssel verlassen.

Vielleicht waren die Nagetiere ein Zeichen, ich schaltete das Radio ein und nahm mir einen Becher mit Kaffee, ein versteckter Hinweis, wir sollten uns endlich mal dem Garten widmen.

Träume sind ja bekanntlich unterdrückte Sehnsüchte, Lena begutachtete ihre nachtschwarzen Fingernägel.

Wieso unterdrückte Sehnsucht, grübelte ich, nach was sehnt sie sich, ich müsste es wissen, okay, sie ist fünfunddreißig und zehn Jahre jünger als ich, aber wir sind bereits seit vier Jahren verheiratet. Sie hat alles, den Job, den sie wollte, die finanziellen Spielräume, um sich ihre Wünsche (die in der Regel aus dem Kauf von Schallplattenraritäten bestanden) zu erfüllen, wir haben das Haus gekauft, auf ihren Wunsch hin mit einem Innenpool und einer Sauna, Frauen sind nach der Sauna am schönsten, hatte sie, um mich zu überreden, ein finnisches Sprichwort zitiert, sie bekam das, was sie wollte, weil wir es uns leisten konnten, Kinder wollte sie nicht, wir waren vermutlich das einzige Ehepaar in unserer Vorstadtsiedlung ohne Nachwuchs, und wir waren die Einzigen mit einem verwilderten Garten.

Ich werde mich um den Garten kümmern, selbst ist der Mann.

Du hast die Zeit dafür, Lena spielte mit ihrem Handy, die Titelmelodie einer amerikanischen Fernsehserie vermischte sich mit einem Popsong aus den Radiolautsprechern, oder hast du Aufträge?

Einige Übersetzungen ins Polnische für ein neues Reiseunternehmen in Oberkirch, nichts Besonderes, das hat Zeit.

Ich habe keine Zeit, Lena blinzelte auf das Zifferblatt ihrer Armbanduhr, mein Flieger nach Brüssel startet in zwei Stunden, aber du, sie starrte auf ihr Handydisplay. Ich habe Zeit, seit meinem Entschluss, meine Dolmetscherkarriere gegen ein überschaubares Einzelunternehmen einzutauschen.

Streue doch Rattengift, Lena holte Unterlagen aus einem Lederetui, raschelte mit dem Papier, als wolle sie nicht Daten abgleichen, sondern unser Ungeziefer mithilfe von Lärm vertreiben.

Die Nachbarskinder, ich deutete mit einem Kopfnicken aus dem Fenster.

Die futtern alles, Lena verdrehte amüsiert die Augen, wenn die schon keine Äpfel und Radieschen in unserem Garten klauen können, sie erhöhte die Lautstärke des Radios, der Sprecher verkündete die Top-News des Tages: Deutsche Geisel im Irak noch immer nicht frei.

Auf anderen Kontinenten werden Menschen verschleppt und erdrosselt, stichelte Lena, und die Außenminister meinen, sie müssten diese Woche über eine europäische Verfassung debattieren.

Noch lebt sie, ich schlug die Tageszeitung auf, drei Gestalten mit grauen Filzsäcken über den Köpfen fielen in mein Blickfeld, um den mittleren Kopf war ein Packband geschnürt.

Noch, Lena klopfte mit dem Finger auf das Wort ›Lösegeld‹, sie winkte ab, das wäre auf Nummer sicher. Ich überlegte, ob sie das Rattengift oder die Lösegeldzahlungen meinte. Sie nahm zwei Äpfel aus einem Obstkorb, legte ihren Tagesproviant in einen in Form von Wellenmuster designten Plastikbehälter, diese Schüssel, ›Tupper Eleganzia‹, ein Relikt von Wohngemeinschaften vor meiner Zeit mit Lena, wirkte in den Händen dieser Frau, die sich zu Luxus hingezogen fühlte und doch jegliche Form von Spießbürgertum ablehnte, wie ein Fremdkörper. Es ist dieser Widerspruch, schoss es in meinen Kopf, als müsste ich mir nach all den Jahren selbst erklären, warum ich diese Frau liebe.

Ich muss los, die Vorbereitungen für das Meeting warten, das erbärmliche Drumherum, verkrampftes Lächeln, Küsschen links und rechts, immer wieder Small Talk, du weißt schon. Ich kannte den Stress, der sie erwartete, ahnte jedoch nicht, ob sie es in der Tat als Belastung empfand, was treibst du sonst noch so in Brüssel?

Was ich treibe?, lachte Lena und in ihrem Lachen unterschwellig eine Kampfansage.

Ich werde hemmungslos und bis zur Besinnungslosigkeit buckeln, ich werde es mit den Außenministern von dreiundzwanzig Nationen treiben, zumindest mit zwanzig, ich habe latente Kopfschmerzen.

Wenn die Pflicht ruft, ich mochte ihren Humor, sie konnte sich jeden Scherz leisten, sie gab den Kollegen und Vorgesetzten das Gefühl, sie sei unentbehrlich, besonders der Männerwelt in unserem Job gab sie dieses Empfinden, das imponierte mir. Sie war konkurrenzlos und trug unter der offiziellen Kostümjacke ein T-Shirt, auf dem der Teufel hingerichtet wurde, von der Band Iron Maiden persönlich.

Lena zog ihren Parka über die Schultern und die Fellkapuze über den Kopf, die Mähne aus synthetischem Bärenfell legte einen Bogen um ihre Wangen, ich wollte sie berühren, die wuscheligen Zotteln und ihr kindliches Gesicht, vergiss nicht das Rasenmähen, kam sie mir zuvor und verließ das Haus.

Ich hörte das Einrasten des Autoschlosses von ihrem VW Bulli, einem Caravelle Syncro, dreiundzwanzig Jahre alt und TÜV-untauglich. Lena fuhr im zweiten Gang von der Auffahrt weg, und Independent-Rock dröhnte aus den Musikboxen der Heckablage. Ich ging in die Küche zurück, betrachtete das Geiselfoto der doppelseitigen Reportage, albtraumhaft, das Bild funktionierte wie arrangiert, was sollte es auch anderes sein als inszeniert. In meinen Gedanken hantierte einer der Geiselnehmer in einer Höhle in den Bergen, außerhalb der Festmauer der Stadt Arbil, mit seiner Kamera, brüllte, seine Glaubensbrüder und die Gefangene sollen enger zusammenrücken, die Köpfe und die Gewehrkolben und die Panzerfaust und der Strick, alles müsse enger zusammen, die Formate der Boulevardpresse sind kleiner als man denkt, in großen Lettern über dem Bild: ›Archäologin im Irak weiterverkauft?‹

Ich lüftete mein Arbeitszimmer, es roch nicht nach klimatisierter Luft wie meine ehemaligen Arbeitsplätze in Brüssel und Straßburg, es war ein Plastikgestank, der mich umgab, als stiege ich in einen Neuwagen. Ich hatte vor drei Tagen die Verpackung aufgerissen, hastig, wie ein Kind sein Geburtstagsgeschenk aufreißt, aber kein Kind wünscht sich ein Hightech-Teleskopstativ. Das Dreibein stand vor dem Fenster, Fetzen von Folie und Pappe lagen verteilt auf dem Boden. Ich fixierte meine Kamera mit den Klemmschellen und nahm unser Nachbarhaus in Augenschein. Unsere Nachbarn, die vierköpfige Familie Klaasmeier, besaßen das gleiche Haus, ohne Sauna und Schwimmbecken. Ich hatte den Eindruck, alle Häuser in diesem Neubaugebiet waren nach dem deckungsgleichen Grundriss gebaut worden, überall sah man die standardisierten Fensterrahmen und Türblätter und Regenrinnen und die immer gleichen zinnoberroten Dachziegel, kein Garten größer als hundert Quadratmeter und keiner ohne Gartenzwerg, eine Kolonie aus Wichteln mit Angelruten und Schrotflinten. Die Lattenzäune gingen nahtlos von einem Grundstück zum anderen über und nur einer von siebenundzwanzig Gärten war heruntergekommen, es kam auf die kleinen, gewagten Unterschiede an. Ich zoomte den Briefkasten näher heran, im Fokus das Namensschild auf dem rund gebogenen Blech: ›Willkommen bei Familie Karl, Luise, Leon und Annabelle Klaasmeier (Betteln und Hausieren wird strafrechtlich verfolgt!)‹, darunter ein Aufkleber in altdeutscher Kurrentschrift: ›Dr. Klaasmeier, Rechtsanwalt für Internationales Steuerrecht, wir beraten Sie gern.‹ Ich dachte über das Wort ›wir‹ nach, wie könnte unser Nachbar uns beraten, sollten wir unser Geld in einem Beneluxstaat anlegen, würde er einer EU-Mitarbeiterin dazu raten? Mein Kameraauge erfasste Leon, er spielte mit einem Lederball, drehte sich dabei mit der Fußspitze auf dem Ball um die eigene Achse, als wüsste er um seinen Beobachter, die Beflockung seines Deutschlandtrikots war lesbar in meine Richtung gestreckt, die Nummer dreiundzwanzig, der deutsche Kapitän. Der Junge schoss den Ball senkrecht nach oben, ließ ihn auf der Stirn aufkommen, und bevor das Leder auf dem Rasen landete, schob er seine Fußspitze dazwischen, er hielt sein Spielzeug gekonnt in der Luft. Wie alt war er, fragte ich mich, das konnte nicht Leon sein, als wir unsere Nachbarn vor zwei Jahren nach unserem Einzug eingeladen hatten, war ihr Kleinster noch mit einem Babytragetuch um den Bauch der Mutter gebunden gewesen, und heute trippelte er mit dem Ball, als nehme er ein Bewerbungsvideo für die Bundesliga auf. Der Junge klatschte in seine viel zu großen Fußballhandschuhe, ich konnte durch den Fensterspalt das Klatschen hören, laut und deutlich, ich fuhr den Fokus nach links. Die Mutter des Hauses streckte mir ihr Hinterteil in die Kamera, der hautenge Jeansstoff ihrer verwaschenen Latzhose offenbarte alle Konturen schonungslos – Luise Klaasmeier, warum habe ich von dir geträumt? Sie hing mit einer Gelassenheit, die mich von einer zweifachen Mutter erstaunte, die nassen Kleidungsstücke auf, Schlafanzüge, Tangas, Hemden mit Firmenlogos und eine Mickymaus-Jacke. Herr Klaasmeier parkte vor dem Gartentor, spurtete aus seinem Mercedes, so flink hatte ich meinen Nachbarn, der mit seiner Körperfülle in unserem Pool mit Sicherheit alle Wellnessdüsen blockieren würde, nicht erwartet, seine Frau blickte nicht auf, warf eine Unterhose in den Wäschekorb zurück und ging mit ihrem Mann ins Haus. Als Herr Klaasmeier eine Viertelstunde später wieder aus dem Haus trat, massierte er sich die Handballen, ich rätselte, was er vergessen haben könnte, und filmte die Poren seines rasierten Kinns. Der Junge rief nach einem Torwart, Mann gegen Mann, aber das Familienoberhaupt hatte bereits die Fahrertür zugeschlagen. Ich drehte die Kamera vom Fenster weg, das Gerät war ausgeschaltet, ich wollte keinen juristischen Prozess mit unserem Nachbarn riskieren, Karl hätte gewusst, sich zu wehren, gegen einen rechtlosen Eingriff in die Privatsphäre. Das Telefon klingelte, zischte einen nostalgisch-schrillen Ton durch unser Haus.

Sebastian Eden, meldete ich mich und wartete, Rauschen, ich hörte den Anrufer atmen, ein tiefes, männliches Schnaufen, auf dem Display leuchtete: unbekannter Teilnehmer.

Äh, Entschuldigung, ich dachte ...

Sie haben den Anschluss von Familie Eden gewählt, wen möchten Sie denn sprechen?

Ich hatte jemand anderen erwartet, verzeihen Sie die Störung, einen angenehmen Tag noch.

Bevor ich etwas erwidern konnte, legte er auf. Ich hatte jemand anderen erwartet, war eine merkwürdige Reaktion, urteilte ich, die Stimme erinnerte mich an einen Kollegen aus Brüssel, mir fiel jedoch sein Name nicht ein. Wollte er vielleicht Lena sprechen, aber warum sagte er es nicht? Ich ging zurück ins Arbeitszimmer und schaltete meinen Laptop ein, eine virtuelle Wiesenlandschaft strahlte nach drei Sekunden grün auf dem Bildschirm, zwischen den Grasbergen tauchten sekündlich mehr Icons auf, in einem comichaft reduzierten Stil gezeichnete Videokassetten und Kameras, unter den Zeichen waren Buchstaben und Daten notiert, ich entschied mich für ›Ikea – Bauhaus des kleinen Mannes Januar 2002‹. Während mein Computer einen Videofilm abspielte und mir vertraute Kommoden und Regale zeigte, rutschte mein Blick über den Bildschirmrand zu meinem Sofa hin. Das knallbunte Stück mit dem Flockmuster stammte nicht von dem schwedischen Großkonzern, mein Vater hatte es westlich der österreichischen Kalkalpen bei einem Familienbetrieb gekauft, es passte nicht zu meiner Büroeinrichtung, trotzdem konnte ich mich nicht davon trennen. Eine Wolldecke lag zerwühlt auf der Polsterung. Zwischen den Sofafarben störte ein Fleck das Gesamtbild, beim genauen Betrachten: eine Herrensocke. Ich zog sie aus der Besucherritze, sie baumelte schlaff wie ein benutztes Kondom in meiner Hand, es war nicht meine Socke, und sie gehörte auch nicht in Lenas Kleiderschrank, auf dem Bündchen, in roten Buchstaben gestickt: ›Mens Sport‹. Ich richtete meinen Kopf vom Sofa weg zum Fenster, der Junge war verschwunden und die Wäsche aufgehängt, die langen Unterhosen flatterten im Westwind, als wollten sie mir auf die Schulter klopfen, Kämpfen ist Männersport, ich klammerte mich an das Stativ, zählte langsam bis zehn und wendete meinen Kopf zurück zur Fundstelle. Ein Rotweinfleck verunstaltete das linke Sitzkissen, meine Finger fühlten den Fleck, wobei ich wusste, er war gegen Salz resistent und vor Jahren getrocknet. Ich schielte unter das Sofa und entdeckte Lenas BH, meine Finger strichen über die gelöcherte Stoffoberfläche der Körbchen. Zwischen dem Sofa und der Wand wartete ein Umzugskarton auf seine Entsorgung, die Habseligkeiten aus meinem Büro in Brüssel, Europäische Gesetzestexte, Wandkalender von 1998-2000 und mein Abschiedsgeschenk, ein Fußball vom belgischen Erstligisten St. Lüttich. Jemand hatte das Klebeband vom Pappdeckel gelöst und wieder lieblos auf die Öffnung geklebt. Ich ging einen Schritt nach vorne, drückte mit der Faust den Klebestreifen auf den Karton, bis ich den Durchbruch schaffte. Ich schlug ein zweites Loch in den Deckel und ein drittes, was soll in der Kiste Interessantes sein, motzte ich, nichts, Dinge, die keinen Wert mehr haben, weil ich aufgegeben habe, würde Lena sagen, weil ich versagt habe, ich schleuderte die Decke über ungezählte Einschläge.

Ein Klopfgeräusch mischte sich in meinen Gehörgang, als würde vor der Hauswand ein Torwandschießen veranstaltet, aber der Blick aus dem Fenster zeigte weiterhin einen menschenleeren Garten. In meinem Arbeitszimmer waren, um ein dreidimensionales Klangbild zu erzeugen, fünf Lautsprecher installiert, und als ich begriffen hatte, es pochte aus einer dieser Boxen, erkannte ich auf dem Computerbildschirm die Aufnahme von zerkratzten, gelben, orangen und weißen Ikea-Wäscheboxen. Ich hatte vor Wochen versucht, alle Gegenstände in unserem Haus, die das typisch schwedische Design zeigten, mit der Kamera zu erfassen, und ich hatte, um dem Video eine akustische Untermalung zu geben, mit der flachen Hand gegen die Plastikschalen getrommelt, Menschen haben komische Hobbys, musste ich zugeben, und oft sind ihre Leidenschaften noch komischer. Ich betätigte die Stopptaste, der Film erstarrte in leuchtenden Regenbogenfarben, ein schiefer Turm aus Eierbechern kurz vor dem Fall. Ich bugsierte den Cursor auf meinen E-Mail-Briefkasten, in dem sich die Mitteilungen der letzten zwei Jahre sammelten, unter ihnen fünfzig ungelesene, die allesamt in unseren Nachbarländern abgeschickt wurden, neue Post gab es nicht. Ich schrieb Lenas Anschrift in das Adressfeld, sie wird auf dem Flughafen EuroAirport Basel-Mulhouse-Freiburg sitzen und einen zweiten, nicht ganz so stark dosierten Kaffee trinken und den Rauch der ersten Zigarette des Tages inhalieren, sie wird in einer Zeitung lesen, in der FAZ oder in einer Zeitschrift für Sprachwissenschaftler oder für Musikstudenten oder für Kosmopoliten, für sie sind Informationen das wichtigste Gut (neben Koffein, Nikotin und Rockmusik), deshalb wird sie ihre E-Mails nicht erst im Büro abrufen, kein Zeitverlust, immerzu unterwegs und online. Mein Blick wanderte hilflos durch den Raum, das Corpus Delicti hatte sich nach einem unkontrollierten Wurf um unsere Stehlampe gewickelt, es umschloss den Lampenständer aus detailliert geschnitzten Holzhexen, die auf ihren Feuerstäben zum Lampenschirm eilten. Wir hatten das Einzelstück in einem Trödelladen auf Island gekauft, laut der staatlichen Elfenbeauftragten war es der einzige Antikhandel in Reykjavík, der im Sortiment Druidenrömertöpfe und Originalhandwerkzeug der isländischen Waldgeister führte. Lena wollte diese Lampe unbedingt, wir hatten gewettet, wen die Figuren darstellten, die Hexen von Salem oder von Blair (Lenas Antworten) oder Gundel Gaukeley (meine Antwort), die Wette blieb offen. Lena hatte dem Verkäufer, da wir nicht genug Isländische Kronen im Portemonnaie hatten, unsere T-Shirts zum Tausch angeboten, was aussichtslos war, aber Lenas Verhandlungsgeschick war nicht zu unterschätzen, und nach fünf Minuten hatten wir das Geschäft mit blanker Brust und einer Hexenlampe unter dem Arm verlassen. Diese Geschichte war es, dachte ich, sie sorgte heute noch auf Feiern für Unterhaltung, denn auf den Shirts waren keine Feen oder Hexen abgedruckt, im Gegenteil, auf der Brust war abgebildet: das verrückt grinsende Covergesicht der Satirezeitschrift ›MAD‹, in Gestalt eines Feuergottes und Inquisitors, der Feind aller Hexen, what – me worry? Ich entschloss mich, Lena nicht von unserer Stehlampe zu schreiben, ich konnte ihr gar nichts schreiben, ich tippte eine simple Frage: ›Warum?‹ Ich wiederholte das Interrogativpronomen, ›warum, warum liegt eine verdreckte Herrensocke auf meinem Sofa?‹ Ich schob den Mauszeiger auf den Senden-Button, umkreiste die Schaltfläche und klickte, meine Frage verschwand ins weltweite Netz und zum Vorschein kam: eine vielfarbige Ikea-Welt. Lena verstand meine Begeisterung für Kunstvideos nicht, auf Kinolänge von Quentin Tarantino oder Wim Wenders würde ich es akzeptieren, scherzte sie, Lenas Interesse galt durchaus der Gegenwartskunst, sie würde sich als Künstlerin für Actionpainting oder Neo-Dadaismus oder Performancekunst entscheiden, keine bewegungsarmen Bilder, keine tonlosen Digitalaufnahmen. Ich besuchte vor Jahren eine Ausstellung in der Schweiz, Videokünstler aus zehn Nationen stellten ihre Arbeiten vor, im ersten Ausstellungsraum um mich herum auf überdimensionalen Leinwänden die Nachtaufnahme eines Ateliers, die Kamera schwenkte mit einer Laufzeit von dreihundertsechzig Minuten von einer Seite zur anderen, als wollte der Künstler im Licht einer Taschenlampe jede Einzelheit seiner Arbeitsstätte protokollieren. An eine Wand projiziert die Intention des Künstlers, er hatte in seinem Arbeitszimmer Mäusekot entdeckt, danach seine Kameras platziert und die folgenden Nächte aufgezeichnet, um den unerwünschten Gast (ohne künstlerischen Hintergedanken, aber mit Tötungsabsichten) zu entlarven. Ich hatte zwischen Maurerbütten und Keilrahmen und auf unordentlichen Schreibtischunterlagen nach dem Eindringling gesucht, dabei war ich es, der Zuschauer, der ins fremde Haus eindrang, meine Augen hatten sich auf jeden Schatten, jede eingebildete Bewegung minutenlang konzentriert, ich konnte nicht wegsehen, trotz meines Ekels vor Mäusen und Ratten. Ich hatte neben Französisch und Portugiesisch fünf Semester Kunst im öffentlichen Raum studiert, es war immer mein Anliegen gewesen, mich neben meiner Übersetzertätigkeit der Kunst produktiv zu widmen. Ich kaufte mir einen Monat nach meinem Schweizbesuch eine Kamera, und ein Jahr darauf nahm ein Freund von mir, Marek, ein Galerist aus München, meine Filme in Auftrag, eine Geste unter Freunden, gleichwohl, meine neue Leidenschaft war gefunden.

Registrierung des Alltäglichen, hätte ich meine Filmdatei nennen können, der Ikea-Erfinder Ingvar Kamprad wollte ein Design, welches für jeden Menschen erschwinglich war, ein demokratisches Design, wie er es nannte, und ich hatte mich gefragt, wodurch unterscheidet es sich von dem nicht erschwinglichen? Mein Film zeige das Konsumverhalten auf, wie Martin Parrs Bilderserie ›Point of Sale‹, meinte Lena, oder Slotawas ›Mannheimer Bestandsaufnahme‹, mehr nicht. Mehr nicht?, hatte ich nachgehakt, geschätzter Marktwert bestimmt sechzig Euro und ein MAD-Shirt; der Abspann von meinem Film zeigte die schwarze Salatschüssel ›Charmör‹ neben unserer Stehlampe.

Ich kontrollierte sekündlich meinen Posteingang, vergeblich, Lena wird in einer Boeing 707 sitzen und ihr zweites Frühstück zu sich nehmen – Cola light, ein eingeschweißtes Sandwich und eine Handvoll Türkischen Pfeffers. Ich ging ins Badezimmer, band mir vor dem Spiegel meine Haare zu einem Zopf, ich fuhr mit der Hand über die unreine Haut in meinem Gesicht und dachte an die Zahl Fünf. Die Geisel war seit fünf Wochen im Irak, ihr Zustand sei den Umständen entsprechend gut, hieß es, und ich fragte mich, wie diese Umstände aussähen, ungefiltertes Wasser, keine Seife, keine Rasierklingen, dafür ein Jagdmesser, aber kein Rasierschaum, ich musste schmunzeln, bis in meine Erinnerungen das Bild der Kapuzenträger fiel.

Eine Frauenstimme ertönte aus meinem Arbeitszimmer:

Sie haben eine neue Nachricht.

Ich eilte an meinen Schreibtisch, auf dem Bildschirm eine Frage, die nichts anderes als eine Suggestivfrage sein konnte.

›Wollen Sie die Nachricht jetzt lesen?‹

Logisch will ich die Nachricht lesen, jetzt:

›Socke? Sebastian, deine vor drei Jahren getragenen Marathonsocken aus Brüssel? Die braucht niemand mehr zu waschen.‹

Marathonsocken, ich schaute auf den Lampenständer, der Kopf der untersten Hexe beulte sich unter dem abgewetzten Nylonstoff, war das meine Socke?

Ich schrieb:

›Schwarz. Meine Sportsocken sind weiß. Alle.‹

 

Ohne Einkaufszettel, ohne eine Idee, was im Haushalt fehlen könnte, verließ ich das Haus und betrat nach einem absichtlichen Umweg von einer Stunde einen Supermarkt. Ich blieb vor einem Zeitungsständer stehen, blätterte in einem Magazin über Fototechnik, sobald ich eine Seite umgeblättert hatte, waren die Abbildungen der vorherigen Seiten aus meinem Gedächtnis verschwunden. Ich schlenderte durch den Laden, Nackensteaks, Rotwurstringe und Bauchfleischspieße flogen in meinen Einkaufswagen, Grillgut für ein Jahr.

Wer grillt denn bei diesem Wetter? Luise Klaasmeier stand vor mir, auf ihren Wangen fingerdick ultraviolettes Puder, die Linien ihrer Lippen mit pinkem Gloss glatt gestrichen, wenn sie lächelte, verzog sich das Make-up, zeigte Risse und die Unebenheiten ihrer Haut, keine Chemie dieser Welt könnte ihre Karpfenglucksaugen und die Buckelpiste auf ihrer Nase, eine Anfahrt der schwierigsten Kategorie, retuschieren. Sie war nicht schön, und ehrlich betrachtet, fand ich sie auf den ersten Blick abstoßend, und in meinem Traum hatte ich nur einen Blick riskiert, bevor ich meinen Körper um ihren schlang.

Elektrogrill, antwortete ich, das geht immer.

Gartenarbeit, sie hielt eine Jätekralle auf Augenhöhe, irgendeine von den Vorstadtgören turnt ständig mit Stollenschuhen über unseren Rasen, zwanzig Schlaglöcher, sie formte mit ihren bordellrot lackierten Fingern einen fast perfekten Kreis, durch den sie wie ein herumalberndes Kind linste, ihre Augenfarbe war lichtblau. Sie sah aus wie Frauen in Roadmovies, ausgelaugt nach einer Drogennacht. Ich verriet ihr nicht, dass ich die Fratze des Übeltäters hätte filmen können, den Rechtsstreit vorbeugend, auf gute Nachbarschaft, und wenn ich noch Dolmetscher mit Leib und Seele gewesen wäre, hätte ich mir im Geiste folgende Rangliste notiert: Vorstadtgören, Vorstadtbengel, Vorstadtjungs, Vorstadtversager, Vorstadtmenschen.

Lena geht fremd, wollte ich ihr erst recht nicht ins Ohr flüstern, stell dir vor, in meinem Arbeitszimmer lag eine stinkende Männersocke; und als könnte Luise meine Gedanken lesen, warf sie zwei Paar schneeweiße Socken in ihren Wagen.

Karl fährt seit Monatsbeginn Rennrad, mal etwas anderes, ihn über Trittfrequenzen und Kalorienwerte philosophieren zu hören, sie dehnte den Polyesterstoff auseinander, testete, ob die günstigere Kindergröße ausreichte.

Und nicht immer das Gefasel über Doppelbesteuerungsabkommen, über die Problematik grenzüberschreitender Sachverhalte, äffte sie ihn nach, der Ehrgeiz, sie trommelte auf ihren Bauchansatz, jetzt will er es wissen, wurde auch Zeit, sie musterte die fehlende Wölbung auf meinem Pullover, du läufst bestimmt regelmäßig.

Zweimal pro Woche für den nächsten Marathon, ich ging zwei Schritte hinter ein Regal, als könnte ich den Blicken meiner Nachbarin ausweichen, ich fand keinen Punkt ihres Körpers, den ich intensiver hätte begaffen wollen, was habe ich mir im Traum nur dabei gedacht? Ich träumte von vielen Frauen, von Angela Merkel und von der Moderatorin der Zwanziguhrnachrichten und von der minderjährigen Freundin eines Tennisprofis, aber mit keiner hatte ich Sex. Lena sagte einmal, interessant wird es erst, wenn man eine Person im Traum zum ersten Mal sieht, wie kann sich ein nie zuvor gesehenes Gesicht in unser Unterbewusstsein schleichen?

Marathon, lachte Luise, so viel Kondition hat er nicht, noch lange nicht, sie wählte aus dem Kühlregal die Quarkspeise mit dem niedrigsten Fettanteil, und mit einer raschen Körperdrehung, die ich ihr nicht zugetraut hatte, befand sie sich über der Tiefkühltruhe.

Gesunden Spinat für den Froster brauchen wir noch.

Spinat, ich verabscheute Spinat, diese giftgrünen, borretschähnlichen Blätter, und allein der Name, er hörte sich in alle Sprachen widerwärtig an, spinach, spenat, spinanzie.

Neben den Bioprodukten in ihrem Einkaufswagen: ein Sechserträger Mineralwasser und zwei Flaschen Wodka. Luise verfolgte meinen Blick auf das Hochprozentige, sagte, das ist ein super Sonderangebot, drei Euro.

Das ist wirklich billig, erwiderte ich und meinte nicht den Schnaps.

Ist Lena wieder unterwegs?

Sie ist in Brüssel, antwortete ich, wo sollte sie auch sonst sein, bei ihrem Liebhaber?

Die Lena, stets on Tour, Luise zog die Silben in die Länge, Le-na, wie ein Passwort, welches man nur langsam genug sprechen müsste, Luise blickte mich an, neugierig, als warte sie auf eine Antwort, eine Antwort, die eine Ungeheuerlichkeit offenbart. Ich nickte höflich und verständlich zum Abschied und bewegte mich zur Registrierkasse, der Abstand zwischen uns wurde nicht größer; als ich meine Ware auf das Laufband legte, spürte ich ihren Atem an meinen Nackenhärchen.

Lena hatte überhaupt kein Gepäck bei sich.

Es war keine Feststellung, die den Luftzug in meinem Nacken verstärkte, es war eine ernst gemeinte Frage.

Beobachtest du uns?

Wir, betonte sie, beobachten euch nicht.

Hatte sie meine Videokamera gesehen, und wenn schon, es war lediglich ein Testlauf gewesen, Lena verstaut alles, was sie braucht, in einer Aktentasche, erklärte ich, es klang wie ein Friedensangebot, Frieden gegen was?

Das Reisen fällt ihr leicht, behauptete ich, und beinahe hätte ich gesagt, das Loslassen fällt ihr leicht. Lenas Appartement in Brüssel war komplett und zweckgerecht ausgestattet, sie benötigte bei ihren Dienstreisen nicht viel, ihren MP3-Player, ihr Mobiltelefon und ihre schlanke Ledermappe, die sie, wie die Fußballprofis nach dem Training ihre Kulturbeutel, elegant unter dem Arm trug. Lena beschrieb sich nach unserem Einzug als Rucksacktouristin im Einfamilienhaus, Rucksacktouristin, hatte sie gesagt, heute kam mir die Bedeutung dieses Wortes wie eine Bedrohung vor, ein Hinweis auf etwas, was womöglich nicht mehr aufzuhalten war.

Luise bestand darauf, mich mit ihrem Stadtauto mitzunehmen, du läufst genug, glaubte sie, der Innenraum des Zweisitzers war im Retrolook gestylt, Chromimitate und kreisrunde Tachoanzeigen. Ich gurtete mich in die Sportsitze, und sofort war die Befürchtung da, der Gurt würde sich bei der kleinsten Unregelmäßigkeit im Asphalt in meinen Hals schnüren. Meine Nachbarin kurvte mich ohne Schnittwunden durch Freiburg, an der Altstadt und am Fußende des Schlossberges, einem Ausläufer der Vorbergzone, vorbei, wir umrundeten unsere Siedlung, als wäre es eine mittelalterliche Burg, die nur von einer Seite Einlass gewährte, eine zweispurige Schnellstraße als Schlossgraben, nach zehn rasanten Fahrminuten erreichten wir unser Ziel. Ich versuchte in diesen zehn Minuten in Gedanken systematisch vorzugehen, wenn Lena einen Liebhaber hatte, wird eine Socke nicht das alleinige Beweisstück sein, es musste Spuren geben, mir blieben, bis Lena wieder zu Hause war, noch achtundvierzig Stunden.

Ein Faltblatt ragte aus unserem Briefkasten, ›In An Absolut World (Machines Amplify Your Creativity)‹ stand auf der Wurfsendung, Wodka für zwei Euro neunundneunzig. Wo sich ihre Stammkunden tummeln, wissen die Supermarktketten, weil wir registriert sind, würde Lena begründen, sie besitzt aus Prinzip keine Kundenkarten. Ich zählte, ohne dass ich es wollte, die Jacken an unserer Garderobe, vier, meine Ersatzsportjacke, ein Regencape und zwei Jeansjacken von Lena, auf dem Regal darunter standen unsere Schuhe, in Reih und Glied, sieben Paare. Ihr Arbeitsplatz, erinnerte ich mich, war stets akkurat, alles andere – ihre Zweitwohnung, ihre Ausdrucksweise (zu unüberlegt, gerade in ihrer Position), ihre unkonventionelle Kleiderwahl – schien sich jedem Planungszwang zu widersetzen, aber ein Doppelleben muss man planen, war es ein Doppelleben, das Lena führte, war es ein Seitensprung, war überhaupt irgendetwas passiert? Der Blick in mein Büro steigerte in mir die Unruhe vor Arbeit, die, aufgeschoben und vergessen, auf mich wartete. Die Lüftung meines Notebooks ratterte, meine Kamera blinkte einsatzbereit und die Socke lag noch dort, wo ich sie vor Stunden hingeschleudert hatte. Ich ging in jedes Zimmer, und bevor ich den ersten Schritt in einen Raum machte, holte ich tief Luft, es roch nach überheizten Altbauwohnungen, dabei war unser Haus Baujahr 2000. Ich versuchte, die Räume zu betrachten wie mit dem Blick in niemals Betretenes, es musste Hinweise geben, zumindest etwas Nichtmaterielles; als mein Auto im letzten Jahr aufgebrochen wurde und ich die zerstreuten Taschentücher, Parkzettel und CD-Hüllen sondierte, und ich mit Gewissheit sagen konnte, es wurde nichts entwendet, war trotz allem das schaurige Empfinden in mir, etwas Wesentliches ist abhandengekommen. Die Mittagssonne teilte das Badezimmer, links der Marmorwaschtisch, rechts im Halbschatten unsere Badewanne mit der Duschkabine, ich berührte das Kondenswasser auf den Glaswänden, an meinen Fingerkuppen ein herber, aber wohlbekannt weiblicher Duft. Die Tuben, Dosen und Flakons auf den Regalen standen dort seit unserem Einzug, kein Gegenstand, der nicht dazugehörte, ich schämte mich für meine Schnüffelei, war es wirklich die Gewissheit, die ich suchte? Ich ging ins Wohnzimmer, sammelte die Reste vom Vorabend ein, zerlesene Zeitungen, Studentenfutter, Colaflaschen, ich schlug mit der Handkante mittig auf die Sofakissen, ich klopfte Staub und Krümel von den Sitzflächen, die fehlende, zweite Socke entdeckte ich nicht. Ich schaltete den Fernseher ein, Papst Johannes Paul II sprach zu einer Menschenmasse, die in einer ausgelassenen Art jubelte und tanzte, wie ich es vor Jahren in einer Dokumentation über den Christopher Street Day in Berlin gesehen hatte. Karol Józef Wojtyła predigte auf seiner Kanzel von Nächstenliebe und Zuversicht, wir brauchen einen Raum, der frei ist von permanentem Bombardement durch Bilder, am unteren Bildschirmrand die etwas andere Übersetzung, ein Laufband, auf dem globales Gottvertrauen in der Sprache der Börsianer dargestellt wurde, die Frankfurter Börsendaten, bestehend aus Zahlen und Kapitalismuskürzeln. Lena und ich besaßen keine Aktien, unser Kapital waren unser Eigenheim und unsere Reisen, wir spekulierten nicht auf Gewinn, unser Nachbar würde uns dafür belächeln. Ich räumte ein Kölschglas, in dem noch ein Schluck Cola schwappte, vom Tisch, und im Fortgehen setzte ich das Glas an meine Lippen, Kohlensäure kribbelte auf meiner Zungenspitze widerlich süß, als hätte jemand Brausepulver in das Getränk geschüttet. Ich stellte das Glas in die Spüle, diverse Plastikschalen, das halbe Eleganzia-Set, warteten auf den Abwasch. Ich betrachtete die grellen Farben, ein mögliches Video, dachte ich, Marek hatte mir versprochen, die Filme werden zusammen mit Videoarbeiten vom Turner-Prize-Träger Douglas Gordon ausgestellt, da gehören sie auch hin, hatte er behauptet, wir hatten uns beide angesehen, wie sich Schulfreunde ansehen, die sich gegenseitig ohne Scheu veralbern können. Das wollen die Gäste meiner Galerien, hatte er gesagt, die glaubwürdige Bildwirklichkeit, Authentizität ist das Zauberwort, flechte dem Ersichtlichen Nichtersichtliches ein, und wenn es nur Geister sind. Wie ich einen Geist zwischen die Ikeaprodukte mogeln sollte, wusste ich nicht, ich erkannte, die Schüsseln benötigten keinen Spuk, sondern dringend Wasser.

Wohin würde ich einen One-Night-Stand verführen, stets in sichere Gefilde, nicht in das eigene Familienheim, und wenn doch, nicht auf die Couch, nicht ins Ehebett, auf keinen Fall ins Ehebett, ich würde mich für den Pool entscheiden.

Wann waren wir zum letzten Mal in unserem Schwimmbecken gewesen?

Ich stieg die Treppen hinunter in den Keller, ich liebte es, wenn sich Chlor mit dem unreinen Wasser zu diesem eigenen Schwimmbadgeruch verbindet und in die Schleimhaut der Nase zieht und mich an Urlaub und beheizte Außenpoolanlagen erinnert. Ich schlüpfte aus meinen Schuhen und Socken, erzeugte mit dem großen Zeh Wellen, die sich im Becken ausdehnten, in das abgestandene Wasser Figuren zeichneten und in mir die Lust auf einen Kopfsprung weckten. Einfach eintauchen. Meine Klamotten landeten achtlos auf dem Fliesenboden, ich ging zwei Schritte zurück und sprang mit dem Kopf zuerst ins Becken. Die Wassertemperatur von neunzehn Grad war ertragbar und die Tiefe mit teilweise drei Metern ausreichend, um abzutauchen, um die Luft bis zum Machbaren anzuhalten. Da unser Grundstück ein leichtes Gefälle aufwies, ermöglichten die Kellerfenster einen Blick ins Freie, im Pool treibend konnte ich von unten auf die Dachspitze von unserem Nachbarhaus schauen, keine Gardinen und auch keine Pflanzen behinderten die Sicht. Und wenn alle Häuser in unserer Umgebung identisch gebaut wurden, kombinierte ich, wird der Raum unter dem Dach des Nachbarhauses nicht genutzt werden können – wir hatten nur einen knappen Meter Raumhöhe unter dem Giebel zur Verfügung. Ich konnte Luise beobachten, wie sie vor dem Fenster hin und her hopste, als tanzte sie Cha-Cha-Cha-Figuren, über ihrem Top ein glitzerndes Seidentuch, sie ließ sich rückwärts fallen, die ›Tote Frau‹ beim Rock ’n’ Roll; bevor ich erahnen konnte, wer sie auffing, schnellte sie wieder nach oben. Je länger ich ihren Bewegungen folgte, umso mehr outeten sie sich als Gymnastikübungen. Ich schwamm kopfüber nach unten, bis meine Finger sich vom Poolboden abstoßen konnten; als ich auftauchte, war meine Nachbarin verschwunden, auf ihrem Fenstersims eine Flasche mit einem isotonischen Sportgetränk. Ich entschied mich, das Becken zu verlassen, und als wollte mich jemand warnen, hörte ich, kaum dass ich die erste Stufe der Leiter erreicht hatte, einen Schrei. Es war keine Warnung und auch kein Hilferuf, es war der lautstarke Wunsch, meine Aufmerksamkeit nach draußen zu locken. Luise zappelte mit ihrer Flasche, ihre Lippen formten Wörter, die nicht an mein Ohr drangen. Ich wertete ihr Gehampel als freundlichen Gruß, grüßte zurück und schwamm zügig aus ihrem Sichtfeld. Vielleicht erwarten dich jetzt auch wilde Träume, dachte ich, auf jeden Fall bedarf es keiner Vorstellungskraft mehr für dich, dir deinen Nachbarn nackt vor Augen zu führen, Luise, spanne nur, wenn du wüsstest, letzte Nacht in meinem Traum lagen wir zusammen im Meer, wir hatten es miteinander getrieben, rücksichtslos, bis dein Kopf unter den Wellen verschwand. Ich trocknete mich ab, der Frotteestoff scheuerte auf meiner Haut, wie laut musste Luise geschrien haben, um die Glasscheiben und die Entfernung mit ihrem Schrei zu überwinden, ich rieb mit dem Tuch über meine Haare, so heftig, dass ich kein anderes Geräusch als das Rascheln meines Handtuches wahrnehmen konnte.

Mein Handy war aus meiner Hosentasche gefallen, ich drehte das Gerät, es war funktionstüchtig und zeigte mir eine neue Nachricht an:

›Stinksocke, Meeting wurde verschoben, wie immer mies geplant, bin heute Abend zurück.‹

Mies geplant, was war mies, war sie lieber in Brüssel als zu Hause? Ich balancierte das Telefon auf meinem Daumen, bis es das Gleichgewicht verlor und auf den Fliesen aufschlug. Ich erinnerte mich an unseren Makler, er trug sein Handy lässig an seinem Ledergürtel, er knipste fleißig Fotos von den Wohnobjekten, die uns interessierten, er fotografierte nicht nur die Wohnräume und Gärten, sondern auch Lena und mich, Lena vor einer Geschirrspülmaschine, Lena bei der Sitzprobe auf einem ›Stressless Sessel‹, Lena mit ausgestreckten Armen in einem britisch angelegten Steingarten. Ich fragte mich, ob die Fotos noch immer auf der SIM-Karte gespeichert waren, ein rumorendes Gefühl in meinem Magen glaubte die Antwort zu kennen. Mies geplant, die Außenminister von Frankreich oder von den Niederlanden werden ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht haben, aus einem dreitägigen Liebesurlaub wurde für Lena eine langweilige Dienstreise, ich ging zurück ins Wohnzimmer, Wasser tropfte von meinen Haaren, und meine nassen Füße hinterließen eine Spur auf dem Wollfaserteppich. Die Börsenkurse waren der Wettervorhersage gewichen, ein Tiefhochdruck breitete sich vom Süden in den Norden Europas aus, der Moderator redete ununterbrochen, zeigte wie ein Hochschullehrer mit einem Stab auf die Wetterkrisengebiete, Freiburg vergrub sich unter regenschwarzen Gewitterwolken. Auch die Wetteraussichten für Brüssel und Straßburg luden nicht zu einem Wochenendtrip ein, wann war ich zuletzt dort, dienstlich oder privat, vor einem Jahr, oder vor zwei, ich konnte es nicht sagen, aber eines verstand ich, Lena konnte sich sicher sein. Sie musste nicht befürchten, ich könnte sie auf frischer Tat ertappen, wenn sie …, ich brach meinen Gedanken ab und schaltete den Fernseher aus, mit einem gezielten Fußtritt. Eines wollte sich nicht in meinen Verdacht einfügen, warum schleppte sie ihren Liebhaber in unsere Wohnung, weshalb dieses Risiko? Oder war das der Kick, den sie brauchte, zuzutrauen wäre es ihr. Ich zupfte das Laken und die Bezüge vom Ehebett, die Vorstellung, ein Parasit könnte sich darin gesuhlt haben, löste einen Brechreiz in meiner Kehle aus. Unter der Bettwäsche schlichen Absonderungen von Schweiß und Fäulnisbakterien in meine Nase, hatte ich nichts Besseres zu tun, ärgerte ich mich, ich könnte englische Verträge ins Deutsche übersetzen, endlich an meinen Videos arbeiten, Marek würde sich freuen, ich schaute aus dem Fenster, auf die wartende Gartenarbeit. Ich katapultierte das Bettzeug in unsere Müllbehälter, unter Missachtung des Europäischen Abfallkataloges alles in eine Tonne, Leinenfasern, Plastikknöpfe und menschliche Rückstände. Ich stopfte den Müll zusammen, er wölbte sich unter meinen Händen zu einem festen, stattlichen Ballen. Ich schlug den Stoff mit der Faust tief in das Behältnis, die Fingerknöchel röteten sich, unter der Haut ein Netz aus pochenden Adern. Ich prügelte weiter, mit der Erkenntnis, den Feind nicht verwunden zu können.

 

Man sagt, Gartenarbeit sei gut für die Beruhigung der Nerven, und in diesem Sinne rammte ich den Spaten in den trockenharten Sandboden. Ich hatte Mühe, mich durch den Untergrund zu kämpfen, ich löste mit der Metallkante Wurzeln und Unkraut vom Mutterboden, und nach fünf Minuten war mein T-Shirt verschwitzt. Mein Herz pumpte in einem Wettlauf ohne Ziel Blut in meinen Kreislauf. Auch eine Form von Beruhigung, empfand ich, denn mit zunehmender Ermüdung wurden die Grübeleien in meinem Kopf weniger, die geistige Arbeit wurde durch körperliche ersetzt, bis ich ehrgeizig und stumpf vor mich hin schuftete und keinen Gedanken an Socken oder Parasiten verschwendete. Und mit jedem Quadratmeter, den ich umgegraben oder wenigstens in irgendeiner Form verändert hatte, stellte ich mir vor, welche Blumen ich aus dem Winterschlaf gelockt hatte, Märzglöckchen, Nachthyazinthen, Elfenschuh oder ein Tausendschön. Ich hatte die Gewächse in einem Gartenratgeber gesehen, ich konnte mich nur vage an die Abbildungen erinnern, aber ihre Namen waren für mich in ihrer Sprache aneinandergereiht schön wie die Gedichte der Impressionisten. Jungfernherz hatte sich der Sprachenliebhaber in mir eingeprägt, ich rief mir den Garten meiner Eltern ins Gedächtnis und suchte dort Blumen, die dieser Namen würdig wären. Meine Mutter begann im Februar, erinnerte ich mich, mit den Vorbereitungen, Samen vorkultivieren, Sprösslinge pikieren, und die Rosen, hörte ich sie schimpfen, die Rosen müssten unbedingt geschnitten werden. Meine Mutter war mit ihren zweiundsiebzig Jahren noch rüstig, die Gartenarbeiten erledigte sie in Eigenregie, sogar das wöchentliche Mähen mit einem Aufsitzrasenmäher und das jährliche Umgraben von fünfzig Quadratmeter großen Beeten überließ sie nicht ihrem Lebensgefährten.

Ab Mitternacht werden Kopflampen ausgegeben, Lena streichelte über meine Haare, meine Augen hatten sich mit dem sturen Blick auf den Humus und auf das Geäst den Lichtverhältnissen angepasst, wie lange war ich schon im Garten? Ein Schatten tippelte vor meiner Nase von einem Fuß auf den anderen und erläuterte, ich habe die Maschine um 21.30 Uhr genommen, das Meeting startet erst in vier Tagen, diese Hornochsen, wieder alles mies geplant.

Mies geplant, also, ich hatte den Spaten gegen eine handliche Kombihacke eingetauscht, ich erklärte Lena, ob sie wollte oder nicht, mein Arbeitsgerät, auf der einen Seite einen Metallschaber für den rabiaten Einschnitt und auf der anderen den Dreizack für tiefe Furchen.

Sie sah mich an und schüttelte den Kopf, ich kannte diese Geste und den Gedanken, der dahintersteckte: Sebastian, verschwende nicht dein Leben, mach was!

Ich muss schlafen, sagte sie, es klang wie der Schlusssatz eines Streits, kein Diskussionsspielraum, bis hierhin und nicht weiter – aber für mich gab es einen gewaltigen Spielraum zum Diskutieren.

Ich bin todmüde, verdeutlichte sie und machte sich auf den Weg ins Haus, wovon bist du todmüde, wollte ich ihr hinterher brüllen, aber ich schwieg, die Antwort blieb zwischen uns und in meiner Hand ein Universalwerkzeug.

Meine Frau zuckte um ihr Leben, als ich in der Nacht neben ihr erwachte, sie zuckte, so wie man zuckt, wenn man im Traum einen Kampf ausficht, oder wenn man mit dem Nachbarn schläft.

Lenasprich deutlich.FrankDich will ich.