Zeit des Sturms

Andrzej Sapkowski

Zeit des Sturms

Roman

Aus dem Polnischen von Erik Simon

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Andrzej Sapkowski

Andrzej Sapkowski ist Wirtschaftswissenschaftler, Literaturkritiker und Schriftsteller.

Er lebt in Łódź. Seine Fantasy-Serie über den Hexer Geralt hat Millionenauflagen erreicht und Fans weltweit.

Über das Buch

»Der Hexer namens Geralt von Riva?«

Die Frage hatte eins von drei schwarz gekleideten Individuen gestellt, die leise an den Tisch getreten waren.

»Das bin ich.«

»Im Namen des Gesetzes bist du verhaftet.«

 

Das Königreich Kerack wird von Thronstreitigkeiten erschüttert. Als der Hexer Geralt von Riva dort eintrifft, wird er auf Betreiben einer Gruppe von Zauberern unter der Führung der schönen Koralle verhaftet. Geralt wird gezwungen, im Auftrag der Zauberer einen Dämon zu jagen, der in Menschengestalt grässliche Massaker verübt. Mithilfe seines Freundes Rittersporn nimmt Geralt den Kampf auf, der dadurch noch erschwert wird, dass dem Hexer seine wertvollen Schwerter gestohlen wurden …

Impressum

Neuausgabe 2020

Veröffentlicht 2015 bei

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 2013 Andrzej Sapkowski

Titel der polnischen Originalausgabe:

›Sezon Burz. Wiedźmin‹

(Niezależna Oficyna Wydawnicza NOWA sp. z o.o., Warschau)

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Artwork used with permission from Netflix, Inc.

© 2015 der deutschsprachigen Ausgabe:

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Aus Shakespeares ›Kaufmann von Venedig‹ und ›Richard II.‹

wird nach August Wilhelm von Schlegels Übersetzung zitiert,

aus Shakespeares ›Coriolanus‹ nach der von Dorothea Tieck,

aus Viktor Pelewins Roman ›Das heilige Buch der Werwölfe‹

nach Andreas Tretners Übersetzung.

Die Zitate aus den Werken Carlos Castanedas folgen

der Übersetzung von Thomas Lindquist.

Umschlaggestaltung und Illustration: Isabelle Hirtz, Inkcraft

in Zusammenarbeit mit Melanie Korte, Inkcraft und Oswin Neumann

Kartengestaltung: Melanie Korte, Inkcraft

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook 978-3-423-42609-1 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-26266-8

 

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ISBN (epub) 9783423426091

Von Ghoulen und Geistern

Und langbeinigen Biestern

Und allem, was des Nachts rumort

Erlöse uns, lieber Gott!

 

Als »Kornische Litanei« bekanntes Bittgebet aus dem 14./15. Jahrhundert

 

 

Es heißt, dass der Fortschritt das Dunkel lichtet. Doch immer, immer wird es die Dunkelheit geben. Und immer wird es im Dunkel das Böse geben, immer wird es im Dunkel Zähne und Klauen, Mord und Blut geben. Immer wird es Dinge geben, die des Nachts rumoren. Und wir Hexer sind dazu da, ihnen das Rumoren zu verleiden.

 

Vesemir von Kaer Morhen

Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

 

Friedrich Nietzsche,

Jenseits von Gut und Böse

 

 

In einen Abgrund zu blicken halte ich für kompletten Schwachsinn. Es gibt auf der Welt eine Menge Dinge, die es eher verdienen, dass man in sie blickt.

 

Rittersporn,

Ein halbes Jahrhundert Poesie

DAS ERSTE KAPITEL

Er lebte nur, um zu töten.

Er lag auf dem sonnenerwärmten Sand.

Er spürte die Vibrationen, die von den an den Boden gepressten behaarten Fühlern und Borsten übertragen wurden. Obwohl die Vibrationen noch weit entfernt waren, spürte Idr sie deutlich und genau, er konnte danach nicht nur die Richtung und das Tempo bestimmen, mit dem sich das Opfer bewegte, sondern auch sein Gewicht. Für die meisten solcherart jagenden Raubtiere hatte das Gewicht der Beute eminente Bedeutung – Anschleichen, Angriff und Verfolgung bedeuteten Energieverlust, der vom Energiewert der Nahrung ausgeglichen werden musste. Die meisten Raubtiere von der Art Idrs verzichteten auf einen Angriff, wenn die Beute zu klein war. Nicht aber Idr. Idr existierte nicht, um zu fressen und sich fortzupflanzen. Nicht zu diesem Zweck war er erschaffen worden.

Er lebte, um zu töten.

Vorsichtig die Beine bewegend, kroch er aus der Stubbenhöhle und über einen morschen Baumstamm hinweg, überwand mit drei Sätzen den Windbruch, huschte wie ein Geist über eine Wiese, verschwand im farnbewachsenen Waldrand, tauchte ins Dickicht ein. Er bewegte sich schnell und lautlos, bald laufend, bald springend wie ein riesiger Grashüpfer.

Er warf sich in das trockene Gehölz, presste sich mit dem segmentierten Bauchpanzer an den Boden. Die Vibrationen des Untergrunds wurden immer deutlicher. Die Impulse, die Idr mit Tasthaaren und Borsten aufnahm, formten sich zu einem Bild. Zu einem Plan. Idr wusste bereits, von woher er sich dem Opfer nähern, an welcher Stelle er ihm den Weg abschneiden, wie er es zur Flucht zwingen würde, wie er sich mit einem langen Sprung von hinten auf es stürzen, aus welcher Höhe er mit den rasiermesserscharfen Mandibeln zuschlagen und schneiden würde. Schon ließen die Vibrationen und Impulse in ihm die Freude aufkommen, die er fühlen würde, wenn sich das Opfer unter seinem Gewicht wände, die Euphorie, die ihm der Geschmack heißen Blutes bereiten würde. Die Lust, die er empfinden würde, wenn ein Schmerzensschrei die Luft zerrisse. Er zitterte sacht, während er Zangen und Beinscheren öffnete und schloss.

Die Vibrationen des Bodens waren sehr deutlich und nun auch zu unterscheiden. Idr wusste schon, dass es mehrere Opfer waren, wahrscheinlich drei, vielleicht vier. Zwei erschütterten den Boden auf gewöhnliche Weise, die des dritten deuteten auf geringe Masse und Gewicht hin. Das vierte jedoch – falls es überhaupt ein viertes gab – rief unregelmäßige, schwache und vage Vibrationen hervor. Idr erstarrte, reckte die Antennen übers Gras, untersuchte die Luftbewegungen.

Schließlich signalisierten die Erschütterungen des Bodens, worauf Idr gewartet hatte. Die Opfer trennten sich. Eins, das kleinste, blieb zurück. Das vierte aber, jenes undeutliche, verschwand. Es war ein falsches Signal gewesen, ein Trugecho. Idr ignorierte es.

Die kleine Beute entfernte sich noch weiter von den Übrigen. Der Boden erzitterte stärker. Und näher. Idr spannte die hinteren Beine, stieß sich ab und sprang.

 

Das kleine Mädchen schrie durchdringend. Statt zu fliehen, stand es starr da. Und schrie ohne Unterlass.

 

Der Hexer stürzte zu ihm hin und zog im Sprung das Schwert. Und sogleich wurde ihm klar, dass etwas nicht stimmte. Dass er sich hatte täuschen lassen.

Der Mann, der den Wagen mit Reisig zog, schrie auf und flog vor den Augen des Hexers gut einen Klafter in die Höhe, und es sprühte reichlich Blut aus ihm. Er stürzte herab, nur um sogleich wieder emporgeschleudert zu werden, diesmal in zwei Stücken, aus denen Blut schoss. Er schrie nicht mehr. Jetzt war es die Frau, die durchdringend schrie, wie ihre Tochter erstarrt und vor Angst gelähmt.

Obwohl er nicht glaubte, dass es ihm gelingen würde, vermochte der Hexer sie zu retten. Er sprang hinzu und stieß die blutbespritzte Frau mit ganzer Kraft vom Weg in den Wald, ins Farnkraut. Und er erkannte augenblicklich, dass er abermals einer Täuschung aufgesessen war. Einer List. Denn schon löste sich eine graue, flache, vielfüßige und unglaublich schnelle Gestalt vom Wagen und dem ersten Opfer. Hin zu dem zweiten Opfer. Zu dem noch immer mit dünner Stimme kreischenden Mädchen. Geralt stürmte ihm nach.

Hätte sie sich nicht vom Fleck bewegt, dann wäre er zu spät gekommen. Das Mädchen bewies jedoch Geistesgegenwart und stürzte in wilder Flucht davon. Das graue Ungeheuer hätte sie trotzdem rasch und mühelos eingeholt – hätte sie eingeholt, getötet und wäre umgekehrt, um auch die Frau zu ermorden. So wäre es gekommen, wäre nicht der Hexer zugegen gewesen.

Er holte das Ungeheuer ein, sprang und drückte dabei mit dem Absatz eins der vielen Beine nieder. Wäre er nicht sofort zurückgeschnellt, hätte er sein eigenes Bein verloren – das graue Geschöpf bog sich mit unheimlicher Geschwindigkeit zurück, und seine sichelförmigen Beißzangen klappten zusammen, verfehlten ihn um Haaresbreite. Ehe der Hexer das Gleichgewicht wiedererlangt hatte, stieß sich das Ungeheuer vom Boden ab und griff an. Geralt verteidigte sich mit einem reflexartigen, ausholenden und ziemlich chaotischen Schwerthieb, stieß das Ungeheuer zurück. Schaden hatte er ihm nicht zugefügt, aber die Initiative gewonnen.

Er sprang vor, führte einen Streich schräg von oben, um den Panzer auf dem flachen Kopf-Brust-Stück aufzubrechen. Ehe das betäubte Geschöpf zu sich kam, schlug er ihm mit dem zweiten Hieb die linke Mandibel ab. Das Ungeheuer stürzte sich auf ihn, fuchtelte mit den Pfoten, versuchte ihn mit der verbliebenen Mandibel wie ein Stier aufzuspießen. Der Hexer schlug ihm auch diese zweite ab. Mit einem raschen Schlag zurück trennte er eine der Beinscheren ab. Und hieb wieder auf das Kopfstück ein.

 

Endlich dämmerte es Idr, dass er sich in Gefahr befand. Dass er fliehen musste. Er musste fliehen, weit fort, sich irgendwo verkriechen, verstecken. Er lebte nur, um zu töten. Um zu töten, musste er sich regenerieren. Er musste fliehen … fliehen …

 

Der Hexer ließ ihn nicht entkommen. Er holte ihn ein, trat das hintere Körpersegment nieder, hieb weit ausholend von oben her zu. Diesmal gab der Panzer des Kopf-Brust-Teils nach, aus dem Riss spritzte und quoll eine dicke grünliche Brühe. Das Ungeheuer warf sich herum, seine Beine zerwühlten das Erdreich.

Geralt schlug mit dem Schwert zu und trennte diesmal den flachen Kopf ganz vom Rest.

Er atmete schwer.

In der Ferne donnerte es. Ein Windstoß und der rasch dunkelnde Himmel kündigten ein heranziehendes Gewitter an.

 

Albert Smulka, der neu ernannte Gemeindevorsteher, erinnerte Geralt schon bei der ersten Begegnung an eine Kohlrübe – er war rundlich, ungewaschen, dickhäutig und alles in allem ziemlich uninteressant. Mit anderen Worten, er unterschied sich nicht allzu sehr von anderen Beamten auf Gemeindeebene, mit denen der Hexer früher zu tun hatte.

»Es stimmt also«, sagte der Vorsteher. »Dass gegen Ungemach nichts besser hilft als ein Hexer.«

»Jonas, mein Vorgänger«, fuhr er nach einer Weile fort, als seitens Geralts jede Reaktion ausblieb, »hat dich über den grünen Klee gelobt. Dabei hab ich ihn für einen Lügner gehalten. Will sagen, ich hab ihm nicht vollends geglaubt. Ich weiß, wie Dinge sich zum Märchen auswachsen können. Vor allem bei ungebildetem Volk, bei dem gibt’s alle naselang mal ein Zeichen, mal ein Wunder, mal irgendeinen Hexer mit übermenschlichen Kräften. Und siehe da, wie sich zeigt, ist’s die reinste Wahrheit. Dort in dem Wald hinterm Flüsschen sind jede Menge Leute umgekommen. Und weil dort der kürzeste Weg zur Stadt durchführt, sind sie auch da langgegangen, die Trottel … Zum eigenen Schaden. Ohne auf Warnungen zu hören. Jetzt sind solche Zeiten, wo man sich lieber nicht in Einöden rumtreibt, lieber nicht durch Wälder läuft. Überall Ungeheuer, überall Menschenfresser. In Temerien, auf den Tukai-Höhen, ist erst kürzlich eine schreckliche Sache passiert, da hat irgendein Waldgespenst fünfzehn Leute in einer Köhlersiedlung umgebracht. Hornfeld hieß die Siedlung. Du hast sicherlich davon gehört. Nein? Aber es ist wahr, der Schlag soll mich treffen. Sogar die Schwarzkünstler haben danach in Hornfeld eine Untersuchung angestellt. Aber was soll das Gerede. Wir hier in Ansegis sind jetzt sicher. Dank dir.«

Er nahm eine Schatulle aus der Kommode, legte ein Blatt Papier auf den Tisch, tauchte die Feder ins Tintenfass.

»Du hast versprochen, dass du das Biest tötest«, sagte er, ohne aufzublicken. »Hast also keine leeren Versprechungen gemacht. Bist ehrlich für einen Vagabunden … Und diesen Leuten hast du das Leben gerettet. Dem Weib und dem Mädel. Haben sie sich wenigstens bei dir bedankt? Sind vor dir niedergekniet?«

Haben sie nicht, dachte der Hexer verbissen. Weil sie noch nicht vollends zu sich gekommen waren. Und ich werde hier wegreiten, ehe sie zu sich kommen. Ehe sie begreifen, dass ich sie als Köder benutzt habe, weil ich in verständlicher Selbstüberschätzung geglaubt habe, ich könnte alle drei retten. Ich werde wegreiten, ehe das Mädchen das erfasst, ehe sie begreift, dass sie durch meine Schuld eine Halbwaise ist.

Er fühlte sich schlecht. Sicherlich lag das an den Elixieren, die er vor dem Kampf eingenommen hatte. Sicherlich.

»Dieses Monstrum« – der Vorsteher streute Sand auf das Papier, schüttelte ihn dann auf den Fußboden – »ist ein wahres Ekel. Ich habe einen Blick auf das Aas geworfen, als sie es brachten … Was war das denn?«

Geralt war sich dessen nicht sicher, wollte das aber nicht zugeben. »Ein Arachnomorph.«

Albert Smulka bewegte die Lippen beim vergeblichen Versuch, das Wort zu wiederholen. »Pah, soll’s heißen, wie’s will, zum Kuckuck mit ihm. Hast du’s mit diesem Schwert erledigt? Mit dieser Klinge? Kann ich mir die mal anschauen?«

»Kannst du nicht.«

»Ha, weil’s gewiss verzaubert ist. Und bestimmt teuer … Ein hübsches Stückchen … Aber wir schwätzen hier, und die Zeit verrinnt. Der Vertrag ist erfüllt, Zeit zum Bezahlen. Aber erst die Formalitäten. Quittiere auf der Rechnung. Das heißt, mal ein Kreuzchen oder sonst ein Zeichen hin.«

Der Hexer nahm das Blatt Papier, das ihm hingehalten wurde, und wandte sich zum Licht um.

»Schaut ihn euch an.« Der Vorsteher schüttelte grinsend den Kopf. »Kann er etwa lesen?«

Geralt legte das Papier auf den Tisch, schob es zu dem Beamten hinüber. »Da hat sich«, sagte er ruhig und leise, »ein kleiner Irrtum in das Dokument geschlichen. Wir hatten fünfzig Kronen vereinbart. Die Rechnung ist über achtzig ausgestellt.«

Albert Smulka faltete die Hände, stützte das Kinn darauf. »Das ist kein Irrtum«, sagte er, ohne die Stimme zu senken. »Das ist eher ein Beweis für Respekt. Du hast ein schreckliches Untier getötet, das war bestimmt keine leichte Arbeit … Die Summe wird also niemanden wundern …«

»Ich verstehe nicht.«

»Von wegen. Spiel nicht das Unschuldslamm. Willst du mir weismachen, dass Jonas, als er im Amt war, dir nicht solche Rechnungen ausgestellt hat? Ich nehm Gift drauf, dass er …«

»Dass er was?«, fiel ihm Geralt ins Wort. »Dass er die Rechnung überhöht hat? Und die Differenz, um die er das königliche Schatzamt behumst hat, halbe-halbe mit mir geteilt?«

»Halbe-halbe?« Der Vorsteher verzog den Mund. »Keine Übertreibungen, Hexer, keine Übertreibungen. Sonst könnte jemand denken, du bist wunder wie wichtig. Von der Differenz bekommst du ein Drittel. Zehn Kronen. Für dich ist das auch so eine große Zugabe. Mir steht mehr zu, schon allein von Amts wegen. Staatsbeamte müssen wohlhabend sein. Je wohlhabender ein Staatsbeamter ist, umso größer das Prestige des Staates. Ich hab dieses Gerede schon über. Unterschreibst du die Rechnung oder nicht?«

Regen trommelte aufs Dach, draußen goss es wie aus Eimern. Aber es donnerte nicht mehr, das Gewitter zog ab.

Interludium

Zwei Tage später

»Bitte sehr, verehrte Dame«, sagte mit einem Kopfnicken Belohun, der König von Kerack. »Bitte sehr. Dienerschaft! Einen Sessel!«

Das Spiegelgewölbe des Zimmers wurde von einem Fresko geziert, das ein Segelschiff inmitten von Wogen, Tritonen und Hippocampi darstellte, dazu Geschöpfe, die an Hummer erinnerten. Das Fresko auf einer der Wände indes war eine Weltkarte. Eine Karte, die, wie die Koralle längst festgestellt hatte, absolut fantastisch war, fast ohne Bezug zur tatsächlichen Lage der Länder und Meere. Aber hübsch und geschmackvoll.

Zwei Pagen schleppten einen schweren geschnitzten Sessel heran und stellten ihn hin. Die Zauberin setzte sich, legte die Hände so auf die Lehnen, dass ihre rubinbesetzten Armbänder gut zu sehen waren und nicht unbemerkt blieben. Auf dem kunstvoll frisierten Haar trug sie noch ein kleines Rubindiadem und im tiefen Dekolleté ein Rubincollier. Alles eigens für die königliche Audienz. Sie wollte Eindruck machen. Und das tat sie. König Belohun machte Stielaugen, sei es wegen der Rubine oder wegen des Dekolletés.

Belohun, der Sohn Osmyks, war sozusagen König in der ersten Generation. Sein Vater hatte mit Seehandel ein ziemlich bedeutendes Vermögen zusammengebracht, ein wenig wohl auch mit Seeraub. Nachdem er die Konkurrenz erledigt und die Küstenschifffahrt der Region monopolisiert hatte, ernannte sich Osmyk zum König. Der Akt der eigenmächtigen Krönung war im Grunde nur die förmliche Feststellung des Status quo und traf daher weder auf größere Vorbehalte noch auf Widerspruch. Im Laufe der vorangegangenen privaten Kriege und Kleinkriege hatte Osmyk Grenz- und Kompetenzfragen mit seinen Nachbarn Verden und Cidaris geordnet. Man wusste nun, wo Kerack anfing, wo es endete und wer darin herrschte. Und wenn er herrschte, war er folglich ein König, und dieser Titel gebührte ihm. Titel und Herrschaft gingen auf natürliche Weise vom Vater auf den Sohn über, also wunderte sich niemand, dass nach Osmyks Tod sein Sohn den Thron bestieg. Freilich hatte Osymk noch mehr Söhne gehabt, wohl ihrer vier, doch alle hatten auf ihr Anrecht auf die Krone verzichtet, einer anscheinend sogar freiwillig. Daher herrschte Belohun schon seit gut zwanzig Jahren in Kerack und zog gemäß der Familientradition Gewinn aus Schiffsbau, Seetransport, Fischerei und Piraterie.

Jetzt aber, auf dem erhöhten Thron, angetan mit einem Zobelkalpak, das Zepter in der Hand, hielt er Audienz. Majestätisch wie ein Mistkäfer auf einem Kuhfladen.

»Die ehrenwerte und von uns wohlgelittene Frau Lytta Neyd«, begrüßte er die Koralle. »Unsere geliebte Zauberin Lytta Neyd hat geruht, Kerack abermals einen Besuch abzustatten. Und gewiss abermals für länger?«

»Die Seeluft bekommt mir.« Die Koralle schlug provozierend die Beine übereinander und ließ ein Schühchen mit modischem Absatz sehen. »Mit Euer Majestät gnädiger Erlaubnis.«

Der König ließ den Blick über die neben ihm sitzenden Söhne schweifen. Beide lang wie Bohnenstangen, ganz ungleich dem Vater, der knochig und sehnig war, aber nicht mit besonders hohem Wuchs imponieren konnte. Auch untereinander sahen sie nicht wie Brüder aus. Der ältere, Egmund, rabenschwarz; Xander, nicht viel jünger, fast albinohaft blond. Beide betrachteten Lytta ohne Sympathie. Offensichtlich missbehagte ihnen das Privileg, demzufolge Zauberer in Gegenwart des Königs sitzen durften und in Sesseln an der Audienz teilnahmen. Das Privileg war jedoch allgemein gültig, und niemand durfte es missachten, der als zivilisiert gelten wollte. Belohuns Söhne wollten unbedingt dafür gelten.

»Die gnädige Erlaubnis«, ließ sich Belohun langsam vernehmen, »wird erteilt. Unter einem gewissen Vorbehalt.«

Die Koralle hob die Hand und musterte ostentativ ihre Fingernägel. Das sollte zu verstehen geben, dass sie auf Belohuns Vorbehalte pfiff. Der König verstand die Anspielung nicht. Und falls er sie verstand, verbarg er das geschickt.

»Es ist uns zu Ohren gekommen«, fauchte er zornig, »dass die ehrenwerte Frau Neyd Weibern, die keine Kinder kriegen wollen, magische Elixiere zukommen lässt. Und denen, die schon schwanger sind, hilft sie, die Frucht loszuwerden. Aber wir hier in Kerack halten derlei Prozeduren für unmoralisch.«

»Das, worauf eine Frau ein naturgegebenes Recht hat«, erwiderte die Koralle trocken, »kann ipso facto nicht unmoralisch sein.«

»Eine Frau« – der König straffte seine magere Gestalt auf dem Thron – »hat das Recht, von einem Mann nur zwei Geschenke zu erwarten: für den Sommer eine Schwangerschaft und für den Winter Latschen aus dünnem Leinen. Das eine wie das andere Geschenk dient dazu, die Frau im Haus zu verankern. Denn das Haus ist der einer Frau angemessene, ihr von der Natur vorgeschriebene Ort. Eine Frau mit dickem Bauch und Nachkommen am Schürzenzipfel wird sich vom Haus nicht entfernen und nicht auf dumme Gedanken kommen, und das sichert dem Mann den Seelenfrieden. Ein Mann mit Seelenfrieden kann hart arbeiten, um Reichtum und Wohlbefinden seines Herrschers zu mehren. Ein Mann, der im Schweiße seines Angesichts rastlos arbeitet, ohne sich um seine Ehe sorgen zu müssen, kommt auch nicht auf dumme Gedanken. Aber wenn einer Frau jemand einredet, sie könne Kinder kriegen, wann sie will, und wenn sie nicht will, brauche sie auch nicht, wenn ihr noch dazu jemand flüstert, wie sie es anstellen soll, und ihr ein Mittel zusteckt, dann, ehrenwerte Dame, beginnt die gesellschaftliche Ordnung zu bröckeln.«

»So ist es«, warf Prinz Xander ein, der schon lange auf eine Gelegenheit wartete, sich einzuschalten. »Genau so ist es!«

»Eine Frau, die keine Mutter sein will«, fuhr Belohun fort, »eine Frau, die nicht von ihrem Bauch, von Wiege und Windeln im Haushalt festgehalten wird, unterliegt alsbald der Begierde, das ist ja offensichtlich und unvermeidlich. Wenn dann aber der Mann seine innere Ruhe und sein seelisches Gleichgewicht verliert, fängt in seiner bisherigen Harmonie plötzlich etwas zu knirschen und zu stinken an, ha, dann zeigt sich, dass es gar keine Harmonie gibt und keine Ordnung. Vor allem die Ordnung, auf der die alltägliche Plackerei beruht. Und dass die Früchte dieser Plackerei ich ernte. Und von solchen Gedanken ist es nur noch ein Schritt bis zu Unruhen. Zu Insurrektion, Aufruhr, Revolte. Hast du verstanden, Neyd? Wer den Weibern Mittel gibt, die eine Schwangerschaft verhüten oder ihre Unterbrechung ermöglichen, der vernichtet die gesellschaftliche Ordnung, der stachelt zu Attentaten und Aufständen an.«

»So ist es«, warf Xander ein. »Stimmt!«

Lytta gab nichts auf die gespielte Autorität und das herrische Gebaren Belohuns; sie wusste nur zu gut, dass sie als Zauberin unantastbar war und der König nichts als reden konnte. Sie verkniff es sich jedoch, ihn eingehend darauf hinzuweisen, dass es in seinem Reich schon lange knirschte und stank, dass man die Ordnung darin mit der Lupe suchen konnte und dass die Einwohner statt Harmonie höchstens eine Harmonika kannten. Und dass der Versuch, Frauen, Mutterschaft oder aber deren Vermeidung da hineinzuziehen, nicht nur von Frauenfeindlichkeit zeugte, sondern auch von Schwachsinn.

»In deinen langen Ausführungen«, erklärte sie stattdessen, »kehrte beharrlich das Motiv der Vermehrung von Reichtum und Wohlergehen wieder. Ich kann dich bestens verstehen, denn mein eigenes Wohlergehen liegt mir ebenfalls außerordentlich am Herzen. Und um nichts in der Welt werde ich auf etwas verzichten, das mir dieses Wohlergehen sichert. Ich halte dafür, dass eine Frau das Recht hat, Kinder zu bekommen, wenn sie will, und keine Kinder, wenn sie keine will, aber ich werde mich deswegen nicht streiten, letzten Endes kann das jeder sehen, wie es ihm passt. Ich weise nur darauf hin, dass ich mir die medizinische Hilfe für Frauen bezahlen lasse. Das ist eine ziemlich wesentliche Quelle meiner Einkünfte. Wir haben freie Marktwirtschaft, König. Misch dich bitte schön nicht in die Quellen meiner Einnahmen ein. Denn diese sind, wie du wohl weißt, auch die Einkünfte des Kapitels und der ganzen Bruderschaft. Und die Bruderschaft reagiert ausgesprochen böse auf Versuche, ihre Einkünfte zu schmälern.«

»Versuchst du, mir zu drohen, Neyd?«

»Woher denn. Mehr noch, ich erkläre mich zu weitgehender Hilfe und Zusammenarbeit bereit. Wisse, Belohun, wenn es infolge der von dir verübten Ausbeutung und Räuberei in Kerack zu Unruhen kommt, wenn hier, hochtrabend gesprochen, das Banner des Aufstandes weht, wenn der aufrührerische Mob heranzieht, um dich hier herauszuzerren, zu entthronen und gleich danach an einem trockenen Ast aufzuhängen …, dann kannst du auf meine Bruderschaft zählen. Auf die Zauberer. Wir werden dir zu Hilfe kommen. Wir werden Revolte und Anarchie nicht zulassen, denn auch uns kommen die nicht zupass. Beute also aus und vermehre den Reichtum. Vermehre ihn ruhig. Und störe nicht andere dabei. Darum bitte ich sehr, und dazu rate ich eindringlich.«

»Du rätst?«, plusterte sich Xander auf und fuhr vom Sessel hoch. »Du rätst? Unserem Vater? Unser Vater ist König! Könige hören keine Ratschläge, Könige befehlen!«

Belohun runzelte die Stirn. »Setz dich, Sohn, und sei still. Und du, Zauberin, spitz die Ohren. Ich habe dir etwas zu sagen.«

»Nun?«

»Ich nehme mir ein neues Frauchen … Siebzehn Jahre … Ein Kirschlein, sag ich dir. Ein Kirschlein in Sahne.«

»Gratuliere.«

»Ich tu das aus dynastischen Erwägungen. Aus Sorge um die Thronfolge und die Ordnung im Staat.«

Egmund, der bislang wie ein Grab geschwiegen hatte, warf den Kopf hoch. »Die Thronfolge?«, knurrte er, und Lytta entging nicht das böse Funkeln in seinen Augen. »Was für eine Thronfolge? Du hast sechs Söhne und acht Töchter, Bankerte eingerechnet! Reicht dir das nicht?«

»Du siehst es selbst.« Belohun winkte mit der knochigen Hand ab. »Du siehst es selbst, Neyd. Ich muss mich um die Thronfolge kümmern. Soll ich das Reich und die Krone jemandem hinterlassen, der so mit seinem Vater spricht? Zum Glück lebe und herrsche ich noch. Und ich gedenke lange zu herrschen. Wie gesagt, ich heirate …«

»Und?«

»Falls …« Der König kratzte sich hinterm Ohr, blickte Lytta unter gerunzelten Brauen hervor an. »Falls sie … also mein neues Frauchen … sich wegen dieser Mittel an dich wendet … Ich verbiete dir, ihr welche zu geben. Denn ich bin gegen solche Mittel! Weil sie unmoralisch sind!«

»Wir können uns so einigen.« Die Koralle lächelte bezaubernd. »Wenn sich dein Kirschlein deswegen an mich wendet, gebe ich ihr nichts. Versprochen.«

Belohuns Miene hellte sich auf. »Das verstehe ich. Na bitte, wie leicht wir uns einigen können. Die Grundlagen sind gegenseitiges Verständnis und beiderseitige Wertschätzung. Sogar unterscheiden muss man sich hübsch ordentlich.«

»So ist es«, warf Xander ein. Egmund fuhr hoch, fluchte leise.

»Im Rahmen von Wertschätzung und Verständnis« – die Koralle wickelte eine rote Haarsträhne um den Finger, schaute nach oben zur Decke – »sorge ich mich ebenfalls um Harmonie und Ordnung in deinem Staat … Ich habe da eine bestimmte Information. Eine vertrauliche Information. Ich verabscheue Denunziation, aber Betrug und Verbrechen noch mehr. Es geht nämlich, mein König, um schamlose Veruntreuung von Geldern. Es gibt Leute, die dich zu bestehlen versuchen.«

Belohun beugte sich auf dem Thron vor, und sein Gesicht bekam einen wölfischen Ausdruck. »Wer? Die Namen!«

Kerack, Stadt im nördlichen Königreich Cidaris, an der Mündung des Flusses Adalatte. Vormals Hauptstadt des eigenständigen Königreichs K., welches infolge von unfähigen Regenten und des Erlöschens der herrschenden Linie niederging, an Bedeutung verlor und von den Nachbarn aufgeteilt und einverleibt wurde. Hat einen Hafen, einige Fabriken, einen Leuchtturm und ca. 2000 Einwohner.

 

Effenberg und Talbot,

Encyclopaedia Maxima Mundi, Bd. VIII

DAS ZWEITE KAPITEL

In der Bucht ragte ein Wald von Masten auf, sie war voller weißer und bunter Segel. Die größeren Schiffe lagen auf der vom Vorgebirge und einem Wellenbrecher gedeckten Reede. Im Hafen selbst waren an den hölzernen Molen kleinere und kleinste Fahrzeuge vertäut. Auf den Stränden war fast der ganze freie Platz mit Booten belegt. Oder mit den Resten von Booten.

Am äußersten Ende des Vorgebirges erhob sich, von den weißen Wogen der Brandung umtost, ein Leuchtturm aus weißen und roten Ziegeln, ein renoviertes Überbleibsel aus der Zeit der Elfen.

Der Hexer drückte kurz den Sporn gegen die Flanke der Stute. Plötze hob den Kopf, blähte die Nüstern, als freue auch sie sich über den Geruch des Meeres, den der Wind herantrug. Vorangetrieben, ging sie zügig durch die Dünen, hin zu der nun schon nahen Stadt.

Die Stadt Kerack, die Metropole des gleichnamigen Königreichs, die auf beiden Ufern im Mündungsgebiet des Flusses Adalatte lag, war in drei benachbarte, deutlich voneinander unterschiedene Zonen unterteilt.

Auf dem linken Ufer der Adalatte befand sich der Hafenkomplex mit Docks und dem Zentrum von Industrie und Handel, wozu Werften und Werkstätten gehörten wie auch Fuhrunternehmen, Magazine und Lagerhäuser, Märkte und Basare.

Auf dem gegenüberliegenden Flussufer, dem Palmyra genannten Gelände, drängten sich die Buden und Hütten der Armen und des Arbeitsvolks, die Häuser und Kramläden der Kleinhändler, Schlachthöfe und Fleischbänke sowie zahlreiche Schenken und Kaschemmen, die sich wohl erst nach Einbruch der Dämmerung füllten. Denn Palmyra war auch ein Ort der Zerstreuungen und verbotenen Lüste. Ziemlich leicht, wusste Geralt, konnte man hier auch das Geldsäckel verlieren oder einen Messerstich zwischen die Rippen bekommen.

Weiter vom Meer entfernt, lag auf dem linken Ufer hinter einer hohen Palisade das eigentliche Kerack, ein Viertel von engen Gassen zwischen den Häusern reicher Kaufleute und Financiers, zwischen Faktoreien, Bank- und Leihhäusern, Schuster- und Schneidergeschäften, Läden und Lädchen. Hier befanden sich auch Herbergen und Vergnügungslokale der Oberklasse, darunter Etablissements, die zwar genau dasselbe wie im Hafenviertel Palmyra anboten, das aber zu weitaus höheren Preisen. Das Zentrum des Viertels bildete ein rechteckiger Markt, umringt von Rathaus, Theater, Gericht, Zollverwaltung und den Häusern der Stadtelite. Mitten vor dem Rathaus stand auf einem Sockel das grässlich von Möwen beschissene Denkmal des Stadtgründers, König Osmyk. Das war offensichtlich Schwindel; die Stadt am Meer hatte schon lange bestanden, ehe Osmyk weiß der Teufel woher hier zugewandert war.

Weiter oben, auf einer Anhöhe, stand das königliche Schloss. Die Form war recht untypisch, denn es handelte sich um einen ehemaligen Tempel, der um-und ausgebaut worden war, nachdem ihn die Priester verlassen hatten, von dem kompletten Desinteresse seitens der Bevölkerung zur Verzweiflung getrieben. Von dem Tempel war sogar ein Glockenturm geblieben, und auf Geheiß des derzeit in Kerack herrschenden Königs Belohun wurde die große Glocke täglich um Mittag und – zweifellos den Untertanen zum Tort – um Mitternacht geschlagen.

Die Glocke ertönte, als der Hexer zwischen die ersten Hütten von Palmyra ritt.

Palmyra stank nach Fisch, Wäsche und Garküche, auf den Straßen herrschte entsetzliches Gedränge, der Hexer brauchte eine Menge Zeit und Geduld, um durchzureiten. Er atmete auf, als er endlich die Brücke erreichte und aufs linke Ufer der Adalatte hinüberritt. Das Wasser roch übel und trug Schaumflocken, eine Wirkung der flussaufwärts gelegenen Gerberei. Nun war es nicht mehr weit bis zur Straße, die zu der palisadenumgrenzten Stadt führte.

Er ließ das Pferd in einem Stall vor der Stadt, bezahlte für zwei Tage im Voraus und gab dem Stallknecht ein Trinkgeld, um Plötze eine gute Pflege zu sichern. Er lenkte seine Schritte zum Wachhaus. Kerack konnte man nur durch das Wachhaus betreten, nachdem man sich einer Kontrolle und den zugehörigen unangenehmen Prozeduren unterzogen hatte. Diese Notwendigkeit missbehagte dem Hexer, doch er verstand ihren Zweck – die Bewohner der Stadt hinter der Palisade hielten nicht viel von dem Gedanken, Gäste aus dem Hafenviertel von Palmyra könnten zu Besuch kommen, insbesondere in Gestalt von Matrosen aus fremden Gegenden.

Er trat in das Wachgebäude, ein Blockhaus, in dem sich, wie er wusste, die Wachstube befand. Er glaubte zu wissen, was ihn erwartete. Er irrte sich.

Er hatte in seinem Leben viele Wachstuben besucht. Kleine, mittlere und große, in nahen und ganz fernen Weltgegenden, die mehr, weniger oder gar nicht zivilisiert waren. Alle Wachstuben der Welt stanken nach Moder, Schweiß, Leder und Urin wie auch nach Eisenzeug und den Schmiermitteln zu seiner Konservierung. In der Wachstube von Kerack war es ähnlich. Genauer gesagt, wäre es ähnlich gewesen, wenn nicht die üblichen Wachstubengerüche ein schwerer, atemberaubender, bis zur Decke reichender Furzgestank überdeckt hätte. Auf dem Speiseplan der Besatzung der hiesigen Wachstube herrschten zweifellos Hülsenfrüchte wie Erbsen, Bohnen und Linsen vor.

Die Besatzung indes bestand durchweg aus Damen. Es waren ihrer sechs Frauen. Sie saßen am Tisch und waren mit dem Mittagsmahl befasst. Alle Damen schlürften gefräßig aus Tonschüsseln etwas, das in einer dünnen Paprikasoße schwamm.

Die größte von den Wächterinnen, anscheinend die Kommandantin, schob die Schüssel weg und stand auf. Geralt, der immer gemeint hatte, es gebe keine hässlichen Frauen, sah sich plötzlich gezwungen, diese Ansicht zu revidieren.

»Waffen auf die Bank!«

Wie alle Anwesenden war die Wächterin kahl geschoren. Die Haare waren schon wieder ein wenig gewachsen und bildeten auf dem Schädel ein unordentliches Muster von Stoppeln. Unter der aufgeknöpften Weste und dem aufgeschnürten Hemd schauten Bauchmuskeln hervor, die an einen großen, schnurumwickelten Rollschinken denken ließen. Die Bizepse der Wächterin, um bei Vergleichen aus dem Fleischerhandwerk zu bleiben, hatten die Ausmaße von Schweineschinken.

»Leg die Waffen auf die Bank!«, wiederholte sie. »Bist du taub?«

Eine ihrer Untergebenen, noch immer über die Schüssel gebeugt, lüpfte den Hintern und furzte laut und anhaltend. Ihre Kameradinnen brüllten vor Lachen. Geralt fächelte sich mit dem Ärmel Luft zu.

Die Wächterin schaute auf seine Schwerter. »He, Mädels! Kommt mal her!«

Die »Mädels« standen ziemlich widerwillig auf, reckten sich. Wie Geralt bemerkte, waren sie alle in einem recht freizügigen und legeren Stil gekleidet, vor allem aber so, dass sie mit der Muskulatur prunken konnten. Eine trug eine kurze lederne Hose mit an den Nähten aufgetrennten Hosenbeinen, damit die Schenkel hineinpassten. Als Kleidung für den Oberkörper dienten ihr hauptsächlich kreuzweise verlaufende Riemen.

»Ein Hexer«, stellte sie fest. »Zwei Schwerter. Ein stählernes und ein silbernes.«

Eine andere, wie alle hochgewachsen und breitschultrig, kam näher, zog ungeniert Geralts Hemd auseinander, packte das Silberkettchen und holte das Medaillon hervor.

»Ein Zeichen hat er«, bestätigte sie. »Da ist ein Wolf drauf, mit gebleckten Zähnen. Ist also wirklich ein Hexer. Lassen wir ihn durch?«

»Die Vorschrift verbietet’s nicht. Die Schwerter hat er abgegeben …«

»Eben«, schaltete sich Geralt mit ruhiger Stimme in das Gespräch ein. »Habe ich. Beide werden, wie ich annehme, in einem bewachten Depot verwahrt? Zur Rückgabe gegen eine Quittung? Die ich gleich erhalten werde?«

Grinsend umringten ihn die Wächterinnen. Eine stieß ihn wie versehentlich an. Eine andere furzte laut. »Da hast du deine Quittung!«

»Ein Hexer! Ein gedungener Ungeheuerschlächter! Aber die Schwerter hat er hergegeben! Sofort! Gehorsam wie ein Hosenscheißer!«

»Den Pimmel würde er bestimmt auch hergeben, wenn man’s ihm sagt.«

»Dann sagen wir’s ihm doch! Was, Mädels? Soll er ihn aus der Hose rausholen!«

»Sehen wir uns an, was Hexer so für Pimmel haben!«

»Schluss damit«, blaffte die Kommandantin. »Genug gealbert, ihr Mösen. Gonschorek, zu mir! Gonschorek!«

Aus dem Nebenzimmer erschien ein ältliches Individuum mit schütterem Haar; der Mann trug einen graubraunen Umhang und eine Wollmütze. Sobald er ins Zimmer trat, begann er zu husten, setzte die Mütze ab und fächelte sich damit Luft zu. Wortlos nahm er die riemenumwickelten Schwerter und bedeutete Geralt, ihm zu folgen. Der Hexer zögerte nicht. In dem Gasgemisch, das die Wachstube erfüllte, begannen die Darmgase schon deutlich zu überwiegen.

Der Raum, in den sie gingen, wurde von einem soliden Eisengitter geteilt. Das Individuum im Umhang machte sich mit einem großen Schlüssel am Schloss zu schaffen. Der Mann hängte die Schwerter an eine Reihe Haken neben andere Schwerter, Säbel, Dolche und Jagdmesser. Er schlug ein abgegriffenes Registerbuch auf, kritzelte lange und langsam darin herum, wobei er unablässig hustete und um Atem rang. Schließlich überreichte er Geralt die ausgeschriebene Quittung.

»Ich gehe davon aus, dass meine Schwerter hier sicher sind? Unter Verschluss und Bewachung?«

Schwer atmend und schnaufend, schloss das graubraune Individuum das Gitter ab, zeigte ihm den Schlüssel. Geralt fand das nicht überzeugend. Jedes Gitter konnte man aufbrechen, und die Klangeffekte der Flatulenzen der Damen waren geeignet, einen Einbruchsversuch zu übertönen. Doch ihm blieb keine Wahl. Er musste in Kerack erledigen, weswegen er hergekommen war. Und die Stadt schleunigst wieder verlassen.

 

Die Gastwirtschaft beziehungsweise – wie das Schild vermeldete – Osteria »Natura Rerum« befand sich in einem nicht allzu großen, aber geschmackvollen Gebäude von Zedernholz unter einem Strohdach und einem hoch aufragenden Schornstein. Die Vorderfront zierte ein Vordach mit Säulen, zu dem eine Treppe führte, welche von ausladenden Aloen in Holzkübeln gesäumt wurde. Aus dem Lokal wehten Küchendüfte heran, hauptsächlich nach gegrilltem Fleisch. Die Düfte waren derart einladend, dass die »Natura Rerum« dem Hexer sogleich als Garten Eden erschien, eine Insel der Glückseligen, wo Milch und Honig fließen.

Rasch erwies sich, dass dieses Eden – wie jedes andere auch – bewacht wurde. Es hatte seinen Zerberus, einen Wächter mit Flammenschwert. Geralt hatte Gelegenheit, ihn in Aktion zu sehen. Der Zerberus, ein untersetzter, aber kräftig gebauter Kerl, vertrieb vor seinen Augen einen schmächtigen jungen Mann vom Garten der Lüste. Der junge Mann protestierte – er schrie und gestikulierte, was den Zerberus sichtlich aufregte.

»Du hast Hausverbot, Muus. Und du weißt das genau. Also verzieh dich. Ich sag es nicht noch mal.«

Der junge Mann wich rasch genug von der Treppe zurück, um einem Stoß auszuweichen. Er war, wie Geralt bemerkte, frühzeitig kahl geworden; die schütteren und langen blonden Haare begannen erst in der Nähe des Scheitels, was alles in allem einen ziemlich abstoßenden Eindruck machte.

»Ich scheiß auf euer Verbot!«, schrie der junge Mann in sicherer Entfernung. »Ihr tut mir keinen Gefallen! Ihr seid nicht die Einzigen, ich gehe zur Konkurrenz! Wichtigtuer! Parvenüs! Schild vergoldet, aber immer noch Dreck an den Stiefeln! Und für mich seid ihr weiter nichts als genau dieser Dreck! Und Scheiße bleibt Scheiße!«

Geralt war etwas beunruhigt. Der junge Mann mit der Halbglatze war zwar eine unangenehme Erscheinung, wirkte jedoch alles in allem wie ein Herr, vielleicht nicht reich, aber jedenfalls eleganter als er selbst. Wenn also Eleganz ein maßgebliches Kriterium war …

»Und wo willst duhin, sag?«, unterbrach die kalte Stimme des Zerberus seinen Gedankenfluss. Womit sich die Befürchtungen bestätigten. »Das ist ein exklusives Lokal!«, fuhr der Zerberus fort und versperrte die Treppe. »Verstehst du die Bedeutung des Wortes? Das ist so eine Art von ›ausgeschlossen‹. Für manche.«

»Warum für mich?«

»Nicht der Rock ziert den Menschen.« Der zwei Stufen höher stehende Zerberus konnte auf den Hexer herabschauen. »Du, Fremder, bist für diese Volksweisheit eine wandelnde Illustration. Dein Rock ziert dich nicht im Geringsten. Vielleicht zieren dich irgendwelche anderen verborgenen Eigenschaften, dem will ich nicht nachgehen. Ich wiederhole, das ist ein exklusives Lokal. Wir dulden hier keine Leute, die angezogen sind wie Banditen. Und keine Bewaffneten.«

»Ich bin nicht bewaffnet.«

»Aber du siehst aus, als ob du es wärst. Lenke deine Schritte also gefälligst woandershin.«

»Lass das, Tarp.«

In der Tür des Lokals war ein bräunlicher Mann in einem Samtwams erschienen. Seine Brauen waren buschig, sein Blick durchdringend und die Adlernase von beachtlicher Größe.

»Offensichtlich«, belehrte die Adlernase den Zerberus, »weißt du nicht, mit wem du es zu tun hast. Du weißt nicht, wer uns beehrt.«

Das andauernde Schweigen des Zerberus zeugte davon, dass er es tatsächlich nicht wusste.

»Geralt von Riva. Der Hexer. Dafür bekannt, dass er die Menschen beschützt und ihnen das Leben rettet. Wie vor einer Woche hier in unserer Gegend, in Ansegis, als er eine Mutter mit Kind gerettet hat. Und ein paar Monate vorher hat er in Cizmar, wie weithin bekannt ist, eine menschenfressende Leucrota getötet, wobei er selbst verwundet wurde. Wie könnte ich jemandem, der einem solch ehrbaren Beruf nachgeht, den Zutritt zu meinem Lokal verwehren? Im Gegenteil, ich freue mich über solch einen Gast. Und ich fühle mich geehrt, dass er mir einen Besuch abstatten will. Herr Geralt, die Osteria ›Natura Rerum‹ heißt Euch auf ihrer Schwelle willkommen. Ich bin Febus Ravenga, der Eigentümer dieses bescheidenen Etablissements.«

Der Tisch, an dem ihn der Maître platzierte, war mit einem Tischtuch bedeckt. Alle Tische in der »Natura Rerum« – größtenteils besetzt – waren das. Geralt konnte sich nicht entsinnen, wann er zum letzten Mal in einer Gastwirtschaft Tischtücher gesehen hatte.

Obwohl er neugierig war, blickte er sich nicht um, denn er wollte nicht als Provinzler und Einfaltspinsel erscheinen. Die spätere Beobachtung ließ jedoch eine bescheidene, aber geschmackvolle und erlesene Einrichtung erkennen. Erlesen – wenngleich nicht immer geschmackvoll – war auch die Kundschaft, zum überwiegenden Teil, soweit er es einschätzen konnte, Kaufleute und Handwerker. Es gab Schiffskapitäne, wettergegerbt und bärtig. Es fehlte nicht an farbenprächtig gekleideten Herren aus dem Adel. Es roch auch angenehm und auserlesen: nach gebratenem Fleisch, Knoblauch, Kümmel und viel Geld.

Er spürte einen Blick auf sich. Wenn er beobachtet wurde, meldeten seine Hexersinne das sofort. Er schaute hin, aus dem Augenwinkel und diskret.

Ihn beobachtete – ebenfalls sehr diskret, für einen gewöhnlichen Sterblichen unmerklich – eine junge Frau mit fuchsroten Haaren. Sie gab vor, voll und ganz mit ihrem Gericht beschäftigt zu sein – etwas, das appetitlich aussah und selbst aus der Ferne verlockend roch. Der Stil und die Körpersprache ließen keinen Zweifel. Nicht für einen Hexer. Er hätte wetten können, dass es eine Zauberin war.

Der Maître riss ihn mit einem Räuspern aus den Gedanken und der Nostalgie, die ihn plötzlich erfasst hatte. »Heute«, verkündete er feierlich und nicht ohne Stolz, »empfehlen wir Kalbshaxe, in Gemüse gedünstet, mit Pilzen und Bohnen. Gebackenen Lammrücken mit Eierfrüchten. Speckseite in Bier mit kandierten Pflaumen. Gebratene Wildschweinschulter mit Apfelmus. Entenbrust aus der Pfanne, serviert mit Rotkohl und Moosbeeren. Kalmare in Zichorie mit weißer Soße und Weintrauben. Seeteufel vom Rost in Sahnesoße, serviert mit gedünsteten Birnen. Und wie üblich unsere Spezialitäten: Gänsekeule in Weißwein mit einer Auswahl von auf der Herdplatte gebackenem Obst und Steinbutt in karamelisierter Tinte vom Tintenfisch, serviert mit Krebsschwänzen.«

»Wenn du Fisch magst« – am Tisch war, wer weiß, wann und wie, Febus Ravenga aufgetaucht –, »dann empfehle ich dir wärmstens den Steinbutt. Vom Fang heute Morgen, wie sich von selbst versteht. Stolz und Ruhm unseres Küchenchefs.«

»Also den Steinbutt in Tinte.« Der Hexer kämpfte in sich den irrationalen Wunsch nieder, gleich mehrere Speisen zu bestellen – er wusste, dass das von schlechtem Geschmack gezeugt hätte. »Danke für den Rat. Ich spürte allmählich schon die Qual der Wahl.«

»Welchen Wein«, fragte der Maître, »belieben der Herr zu bestellen?«

»Bitte wählt etwas Passendes aus. Ich verstehe nicht viel von Wein.«

Febus Ravenga lächelte. »Kaum jemand versteht etwas von Wein. Aber ganz wenige geben es zu. Keine Angst, wir werden etwas nach Sorte und Jahrgang Passendes aussuchen, Herr Hexer. Ich will nicht weiter stören und wünsche guten Appetit.«

Der Wunsch sollte nicht in Erfüllung gehen. Geralt bekam auch keine Gelegenheit, festzustellen, welchen Wein man für ihn ausgewählt hatte. Auch der Geschmack von Steinbutt in Tinte vom Tintenfisch sollte an diesem Tag ein Rätsel für ihn bleiben.

Die rothaarige Frau machte plötzlich Schluss mit der Diskretion, suchte seinen Blick. Sie lächelte. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es ein boshaftes Lächeln war. Ihn schauderte.

»Der Hexer namens Geralt von Riva?«

Die Frage hatte eins von drei schwarz gekleideten Individuen gestellt, die leise an den Tisch getreten waren.

»Das bin ich.«

»Im Namen des Gesetzes bist du verhaftet.«

Welch Urteil soll ich scheun, tu ich kein Unrecht?

 

William Shakespeare,

Der Kaufmann von Venedig

DAS DRITTE KAPITEL

Die Geralt vom Amt zugeteilte Verteidigerin vermied es, ihm in die Augen zu blicken. Mit einer Hartnäckigkeit, die einer besseren Sache wert gewesen wäre, blätterte sie in der Aktenmappe. Akten waren wenige darin. Genau genommen, zwei. Die Frau Anwältin lernte sie wohl auswendig. Um beim Plädoyer zu glänzen, wie er hoffte. Doch das, argwöhnte er, war eine eitle Hoffnung.

»Im Arrest« – die Frau Anwältin blickte endlich auf – »hast du zwei Mitgefangene zusammengeschlagen. Warum?«

»Primohabe ich ihre sexuellen Angebote zurückgewiesen, sie wollten partout nicht begreifen, dass Nein Nein heißt. Secundoschlage ich gern Leute zusammen. Tertioist das eine falsche Anschuldigung. Sie haben sich selber verletzt. An den Wänden. Um mir etwas anzuhängen.«

Er sprach langsam und gleichgültig. Nach einer Woche im Gefängnis war er völlig gleichgültig geworden.

Die Verteidigerin schloss die Mappe. Um sie sogleich wieder aufzuschlagen. Worauf sie ihre kunstvolle Frisur richtete.

»Die Geschlagenen«, seufzte sie, »scheinen keine Klage zu erheben. Konzentrieren wir uns also auf die öffentliche Anklage. Der Assessor des Gerichtshofes klagt dich eines schweren Verbrechens an, das mit strenger Strafe bedroht ist.«

Na, klar doch, dachte er, während er sich in Betrachtungen der Schönheit der Frau Anwältin erging. Er fragte sich, in welchem Alter sie in die Zauberinnen-Schule eingetreten war. Und in welchem Alter sie sie verlassen hatte.

Beide in Betrieb befindlichen Lehranstalten für Zauberer – die für Männer in Ban Ard und die für Frauen in Aretusa auf der Insel Thanedd – brachten außer Absolventen und Absolventinnen auch Ausschuss hervor. Trotz des engmaschigen Siebes der Aufnahmeprüfungen, die grundsätzlich die hoffnungslosen Fälle aussondern sollten, fand erst in den ersten Semestern die wahre Auswahl statt und brachte jene zum Vorschein, die sich hatten tarnen können. Diejenigen, für die sich Denken als unangenehme und bedrohliche Erfahrung erwies. Die heimlichen Dummköpfe, Faulpelze und geistigen Blindgänger beiderlei Geschlechts, die in Magieschulen nichts zu suchen hatten. Das Problem dabei war, dass es sich bei jenen meist um Sprösslinge von Personen handelte, die gut betucht waren oder aus anderen Gründen als wichtig galten. Nachdem man sie von der Schule geworfen hatte, musste man mit dieser schwierigen Jugend irgendetwas anfangen. Bei den aus Ban Ard herausgeworfenen jungen Burschen war das nicht schwierig – sie gingen in die Diplomatie, ihnen standen Armee, Flotte und Polizei offen, für die Dümmsten blieb die Politik. Der magische Abfall in Gestalt des schönen Geschlechts war sichtlich schwerer zu verwerten. Wiewohl ausgesondert, hatten die Fräuleins doch die Schwelle der Zauberinnenschule überschritten und im einen oder anderen Maße von der Magie gekostet. Der Einfluss der Zauberinnen auf die Herrscher und alle Sphären des politisch-wirtschaftlichen Lebens war zu stark, als dass die Fräuleins unversorgt gelassen worden wären. Man besorgte ihnen einen sicheren Hafen. Sie traten in den Dienst der Gerechtigkeit. Sie wurden Rechtsanwältinnen.

Die Verteidigerin schloss die Mappe. Worauf sie sie öffnete.

»Ich empfehle, sich schuldig zu bekennen«, sagte sie. »Dann können wir auf ein milderes Strafmaß rechnen …«

»Wozu soll ich mich bekennen?«, fiel ihr der Hexer ins Wort.

»Wenn das Gericht fragt, ob du dich schuldig bekennst, sagst du Ja. Ein Schuldbekenntnis wird als mildernder Umstand gewertet.«

»Und wie willst du mich dann verteidigen?«

Die Frau Anwältin klappte die Mappe zu. Als sei es der Deckel einer Truhe.

»Gehen wir. Das Gericht wartet.«

Das Gericht wartete. Denn aus dem Gerichtssaal wurde gerade der vorhergehende Delinquent abgeführt. Er wirkte, wie Geralt feststellte, nicht besonders erfreut.