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Edition Humanistische Psychologie

Hg. Anna und Milan Sreckovic


 

 

 

Der Autor

Irvin D. Yalom ist Emeritus für Psychiatrie an der School of Medicine der Stanford University. Er wurde unter anderem 1974 mit dem Edward-Strecker-Prize für psychiatrische Versorgung und Behandlung und 1979 mit dem Foundation’s Fund Prize in Psychiatry der American Psychiatric Association for Research ausgezeichnet. Von seinen Monographien und Aufsätzen sind zahlreiche auch ins Deutsche übersetzt worden. Neben seinen fachwissenschaftlichen Büchern hat er sehr erfolgreich in zahlreichen Sprachen belletristische Texte über Psychotherapie veröffentlicht, die ihn auch als Bestsellerautor einem breiten Publikum auf der ganzen Welt bekannt gemacht haben (›Commonwealth Club of California Gold Medal for best fiction 1993‹ für den Roman When Nietzsche Wept). Er wurde vor kurzem in den USA zu einem der drei wichtigsten lebenden Psychotherapeuten gewählt und ist Träger des Internationalen Sigmund-Freud-Preises für Psychotherapie 2009 des World Council for Psychotherapy (WCP).

  Irvin D. Yalom EXISTENZIELLE PSYCHOTHERAPIE Mit einem Vorwort des Autors: »25Jahre Existenzielle Psychotherapie« und einem Interview mit Irvin Yalom von Ulfried Geuter: »Sich berühren lassen« E H P– 2010

 

 

Inhalt

Danksagung

Vorwort des Autors: 25 Jahre Existenzielle Psychotherapie

1. Kapitel: Einführung

Existenzielle Therapie: Eine dynamische Psychotherapie

Die existenzielle Orientierung: Fremd, aber seltsam vertraut

Das Feld existenzieller Psychotherapie

Existenzielle Therapie und die akademische Gemeinschaft

I. Teil: TOD

2. Kapitel: Leben, Tod und Angst

Die Interdependenz von Leben und Tod

Tod und Angst

Die Unaufmerksamkeit gegenüber dem Tod in der Theorie und Praxis der Psychotherapie

Freud: Angst ohne den Tod

3. Kapitel: Der Todesbegriff bei Kindern

Das verbreitete Interesse von Kindern am Tod

Der Todesbegriff: Entwicklungsstufen

Todesangst und die Entwicklung der Psychopathologie

Die Todeserziehung von Kindern

4. Kapitel: Tod und Psychopathologie

Todesangst: Ein Paradigma der Psychopathologie

Besonderheit

Der letzte Retter

Auf dem Weg zu einer integrierten Sicht der Psychopathologie

Schizophrenie und die Furcht vor dem Tod

Ein existenzielles Paradigma der Psychopathologie: Forschungsbefunde

5. Kapitel: Tod und Psychotherapie

Der Tod als Grenzsituation

Der Tod als ursprüngliche Quelle der Angst

Probleme der Psychotherapie

Lebensbefriedigung und Todesangst: Eine therapeutische Stütze

Todes-Desensibilisierung

II. Teil: FREIHEIT

6. Kapitel: Verantwortung

Verantwortung als eine existenzielle Angelegenheit

Vermeidung der Verantwortung: Klinische Erscheinungsformen

Übernahme von Verantwortung und Psychotherapie

Verantwortungsbewusstheit nach amerikanischer Art – oder: Wie man sich um sein eigenes Leben kümmert, selbst Regie führt, zuerst an sich denkt und es schafft

Verantwortung und Psychotherapie: Forschungsbefunde

Grenzen der Verantwortung

Verantwortung und existenzielle Schuld

7. Kapitel: Wollen

Verantwortung, Wollen und Handlung

Zum klinischen Verständnis des Willens: Rank, Farber, May

Der Wille und klinische Praxis

Wunsch

Entscheidung – Wahl

Vergangenheit versus Zukunft in der Psychotherapie

III. Teil: ISOLATION

8. Kapitel: Existenzielle Isolation

Was ist existenzielle Isolation?

Isolation und Beziehung

Existenzielle Isolation und interpersonale Psychopathologie

9. Kapitel: Existenzielle Isolation und Psychotherapie

Eine Anleitung zum Verständnis zwischenmenschlicher Beziehungen

Den Patienten mit der Isolation konfrontieren

Isolation und die Begegnung zwischen Patient und Therapeut

IV. Teil: SINNLOSIGKEIT

10.Kapitel: Sinnlosigkeit

Das Problem des Sinns

Der Sinn des Lebens

Sinnverlust: Klinische Implikationen

Klinische Forschung

11. Kapitel: Sinnlosigkeit und Psychotherapie

Warum brauchen wir Sinn ?

Psychotherapeutische Strategien

EPILOG

Sich berühren lassen. Der Romanautor und Psychotherapeut Irvin Yalom im Gespräch mit Ulfried Geuter

Anmerkungen

Personen- und Sachregister

Für Marilyn – aus jedem erdenklichen Grund

Für Marilyn – aus jedem erdenklichen Grund

Danksagung

Viele haben mir bei meiner Arbeit geholfen, und ich bin nicht in der Lage, ihnen allen zu danken. An diesem Buch habe ich mehrere Jahre geschrieben, und meine Schuldigkeit geht über die Grenzen meines Gedächtnisses hinaus. Rollo May und Dagfinn Follesdal waren außergewöhnlich wichtige Lehrer und Führer für mich. Viele Kollegen lasen und kritisierten das ganze Manuskript oder Teile davon: Jerome Frank, Julius Heuscher, Kent Bach, David Spiegel, Alex Comfort, James Bugental, Marguerite Lederberg, Michael Bratman, Mitchell Hall, Alberta Siegel, Alvin Rosenfeld, Herbert Leidermann, Michael Norden und viele Psychiatriepatienten von Stanford. Ihnen allen gilt mein Dank.

Ich bin Gardner Lindzey und dem Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences gegenüber verpflichtet, weil sie mir bei meinen Studien während meines Stipendienjahres von 1977-1978 ideale Bedingungen gewährten. Ich bin der Universität von Stanford sehr dankbar, die mir während meiner gesamten Karriere die Möglichkeiten akademischen Lebens großzügig zur Verfügung gestellt hat: intellektuelle Freiheit, materielle Unterstützung und hoch qualifizierte professionelle Kollegen. Ich bin auch Thomas Gonda, dem Vorsitzenden der Abteilung für Psychiatrie, sehr dankbar dafür, dass er administrative Aufgaben weitgehend von mir fern hielt; und Marjorie Crosby für ihre Unterstützung und Ermutigung. Phoebe Hoss gewährte ausgezeichnete redaktionelle Hilfe. Dies ist ein langes Buch, und jedes Wort von jedem Entwurf – angefangen von den ersten Skizzen bis zum fertigen Manuskript – wurde von meiner Sekretärin Bea Mitchell getippt, deren Geduld, Engagement und Fleiß kaum je während der vielen Jahre, in denen wir zusammen arbeiteten, nachließen. Meine Frau Marilyn bestärkte mich nicht nur ununterbrochen, sondern beriet mich, wie bei all meinen früheren Büchern, in inhaltlichen und schriftstellerischen Fragen auf unschätzbare Weise.

Vorwort zur vierten deutschen Auflage: »25 Jahre Existenzielle Psychotherapie«1

Wenn mich Leser fragen, welches meiner Bücher mir am liebsten ist, fällt mir die Antwort nicht leicht. Wie die meisten Autoren bin ich meist in das Buch verliebt, das ich gerade schreibe. Aber wenn ich wüsste, dass ich meine Feder für immer niederlegen müsste, würde ich wohl antworten, dass ich besonders stolz auf das Buch Existenzielle Psychotherapie bin. Es war am schwersten zu schreiben; ich habe jahrelang lesen müssen, bis ich in der Lage war, es zu Papier zu bringen – übrigens im Wortsinn: Ich habe es nämlich mit Bleistift auf gelbes, blau liniertes Papier geschrieben – das war kurz vor der Einführung der Textverarbeitung, und tippen konnte ich auch nicht.

Ich weiß noch genau, wie ich mich bei meinem alten Freund Alex Comfort, dem Schriftsteller, beklagte, ich könne einfach den Anfang nicht finden. Ich erzählte, dass ich jahrelang unaufhörlich gelesen und viele Philosophie-Seminare an der Universität Stanford besucht hätte und trotzdem blockiert sei. Alex Comfort kannte sich mit den Problemen des Schreibens aus; er hat neben Joy of Sex, das ihn berühmt gemacht hat, über fünfzig weitere Bücher geschrieben – medizinische und geriatrische Abhandlungen, Romane und auch einige Gedichtbände. Er hörte geduldig zu und sagte dann: »Dein Thema ist so groß, dass du mit dem Lesen nie fertig wirst. Ich mache dir einen Vorschlag: Hör auf zu lesen und fang an zu schreiben! Morgen!« Diesen Rat habe ich befolgt und gleich am nächsten Morgen mit dem Schreiben angefangen – und dann jeden weiteren Morgen, dreieinhalb Jahre lang.

Existenzielle Psychotherapie war ein Wendepunkt in meiner Laufbahn als Autor. Vorher hatte ich über eine Reihe von Themen geschrieben, die nachfolgenden Bücher dagegen waren fast ausschließlich Variationen verschiedener Motive aus diesem Buch. Was ich dort geschrieben und skizziert habe, bildet den Fokus aller weiteren Bücher, aber die Form hat sich verändert. Nachdem Existenzielle Psychotherapie erschienen war, wurde mir klar, dass sich die subjektiven Reaktionen auf die Wechselfälle des Lebens in fachlicher Prosa nur unzureichend beschreiben lassen, und ich habe mich wie viele existenzielle Denker vor mir entschieden, die Konfrontation mit den existenziellen Fakten des Lebens in einer anschaulicheren literarischen Form zu beschreiben.

Existenzielle Psychotherapie ist also die Quelle, sozusagen die Mutter all der Romane, Geschichten und Leitfäden für Kliniker, die ich seit 1980 geschrieben habe, und aus diesem Buch sind andere entstanden wie Die Liebe und ihr Henker, Die Reise mit Paula, Die rote Couch, Und Nietzsche weinte, Die Schopenhauer-Kur.

Von Zeit zu Zeit habe ich darüber nachgedacht, Existenzielle Psychotherapie zu überarbeiten, aber dann schien es mir absurd, Material zu bearbeiten, das sich mit den zeitlosen Quellen des Leidens beschäftigt – Leiden, das die Menschen seit dem Entstehen der Selbstbewusstheit erleben. Doch so zeitlos das Thema auch sein mag, der Autor ist es nicht. Wenn ich den Text überarbeiten sollte, dann würde ich das mit aufnehmen, was ich in den Jahren seit der Veröffentlichung gelernt habe: weitere Einzelheiten aus der psychotherapeutischen Praxis und über die großen Leistungen von Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche, zwei Philosophen, die für mich sehr wichtig geworden sind.

Die Fragen und Kommentare der Leser, die mich im Lauf der Jahre erreicht haben, haben mich bewogen, bestimmte Aspekte aus der Praxis der existenziellen Psychotherapie deutlicher zu machen, die ich im Text nur angerissen und nicht ausgeführt habe. Besonders häufig werde ich gefragt: Wo gibt es die besten Ausbildungsprogramme für existenzielle Psychotherapie? Mir ist bei dieser Frage nicht wohl: ich benutze heute den Begriff »existenzielle Psychotherapeuten« nur sehr selten und spreche lieber von »existenziell sensiblen«, »existenziell orientierten« oder »existenziell gestimmten« Therapeuten. Ich glaube nicht, dass existenzielle Therapie eine eigenständige, unabhängige ideologische Schule sein kann. Man kann angehende Therapeuten nicht von Anfang an zu existenziellen Therapeuten ausbilden, sondern sollte ein volles, abgerundetes psychotherapeutisches Ausbildungsprogramm durch existenzielle Sensibilität quasi veredeln.

Dafür ein anschauliches Beispiel: Vor kurzem kam Felix, ein fünfzigjähriger Zahnarzt, zu mir in Behandlung, der nach dem Tod eines nahen Freundes unter anhaltender chronischer Todesangst litt. Er wurde fast jede Nacht von Todesängsten überschwemmt und hatte viele Aktivitäten (wie Autofahren, Skifahren und Schwimmen) aufgegeben, weil sie ihm zu gefährlich schienen. Bei der Exploration von Todesängsten, so habe ich festgestellt, sind Nietzsches Bemerkungen über die Vollendung des eigenen Lebens und den richtigen Zeitpunkt des Sterbens ausgesprochen nützlich. Ich glaube, dass es zwischen Todesangst und erfülltem Leben einen Zusammenhang gibt: je größer das ungelebte Leben, desto größer die Verzweiflung. Also fragte ich Felix, ob er das Gefühl habe, sein Leben ganz gelebt zu haben, oder ob er ungelebtes Lebens in sich spüre.

Felix ging auf diese Frage ein und sprach lange über seine brachliegende Kreativität. Obwohl er ein begabter Maler war, hatte er seit Jahren nichts mehr gemalt. Auf die Frage nach dem Grund für diese Vernachlässigung seines kreativen Selbst antwortete er: »Zu viel zu tun, zu beschäftigt mit Geld verdienen!« Doch wie ich bald erfuhr, verdiente er mehr Geld, als er brauchte. Die weitere Exploration ergab, dass die Triebkraft dahinter eine implizite Konkurrenz mit seiner Frau – ebenfalls Zahnärztin – war, die sich um die Frage drehte, wer mehr verdiente.

»Was würden Sie über diesen Lebensplan denken, wenn Ihr Leben jetzt zu Ende wäre?« fragte ich.

»Verheerend«, antwortete er, »ein weggeworfenes Leben«.

Die nächste Phase unserer Arbeit konzentrierte sich auf seine Ehe, auf die anhaltenden Auseinandersetzungen und die Unzufriedenheit mit seiner Frau und mit anderen wichtigen Frauen aus seiner Vergangenheit und Gegenwart. Danach untersuchten wir seine tiefe Neigung, über andere zu ›richten‹ – über mich, über alle Menschen in seiner Umgebung. Diese Untersuchung führte zurück zu der Unfähigkeit zu malen – er schien Angst vor Kritik zu haben und nicht bereit zu sein, die Grenzen seiner Kreativität auszuloten, sondern wollte die Vorstellung potenzieller Größe bewahren.

Was ich damit sagen will, ist, dass bei diesem Patienten wie bei fast allen anderen die therapeutische Exploration einer existenziellen Angst den Weg zu einer Reihe interpersonaler und innerpsychischer Bereiche gebahnt hat. Der Therapeut muss in der Lage sein, den Patienten dorthin zu begleiten, wo der Weg hinführt.

Noch ein paar Worte über die Alltagspraxis einer existenziell gestimmten Therapie: Obwohl ich das Buch für ein Fachpublikum geschrieben habe, haben viele Patienten, die es gelesen haben (meist solche mit einer tödlichen Erkrankung), gesagt, sie hätten von dem existenziellen Ansatz profitiert. Aber zur Psychotherapie gehört in der Regel mehr als nur die Vermittlung von Inhalten.

Wie sieht existenzielle Psychotherapie in der Praxis wirklich aus? Will man diese Frage beantworten, muss man auf den »Inhalt« und auf den »Prozess« achten, also auf die beiden wichtigen Aspekte des therapeutischen Diskurses. »Inhalt« heißt genau das – die exakten Worte, die gesprochen, die wesentlichen Themen, die angesprochen werden. »Prozess« bezieht sich auf eine ganz andere und ungeheuer wichtige Dimension: auf die interpersonale Beziehungzwischen Patient und Therapeut. Wenn wir nach dem »Prozess« einer Interaktion fragen, meinen wir: Was sagen die Worte (und das nonverbale Verhalten) über das Wesen der Beziehung zwischen den an der Interaktion beteiligten Parteien aus?

Wenn wir also meine Therapiesitzung beobachten, welchen Inhalt und welchen Prozess können wir dann erkennen? Betrachten wir zunächst den Inhalt: Hier wird der Beobachter oft vergeblich auf ausführliche, explizite Diskussionen über Tod, Freiheit, Sinn oder existenzielle Einsamkeit warten. Ein solcher existenzieller Inhalt wird nur für einige (aber nicht alle) Patienten in einigen (aber nicht in allen) Phasen der Therapie wichtig sein. Ein effektiver Therapeut sollte nie versuchen, Diskussionen über einzelne inhaltliche Bereiche zu erzwingen: Therapie darf nicht theorie-, sondern muss beziehungsgeleitet sein.

Betrachten wir jetzt den Prozess. Achtet man in denselben Sitzungen auf einen charakteristischen, aus einer existenziellen Orientierung abgeleiteten Prozess, wird man etwas ganz anderes erkennen: Eine erhöhte Sensibilität für existenzielle Fragen hat großen Einfluss auf das Wesen der Beziehung von Therapeut und Patient und berührt jede einzelne Therapiesitzung. Denn Therapeut und Patient sind mit denselben Lebenstatsachen konfrontiert und müssen beide die Angst bewältigen, die aus den vier existenziellen Fragen entsteht, die in diesem Buch beschrieben werden. Es gibt hier kein wir (die Therapeuten) und sie (die Leidenden). Es ist uns gemeinsam, wir sind Reisegefährten – oder, wie Schopenhauer sagt: Leidensgefährten –, und die Grundlagen effektiver Therapie sind tiefe Fürsorge und Empathie für unsere Patienten und die Schaffung einer echten Begegnung.

Denken Sie daran: In der existenziell sensiblen Therapie gibt es eine dynamische adaptive Spiralbewegung zwischen Inhalt und Prozess. Das alte Sprichwort: Es ist die Beziehung, die heilt, gilt für den existenziellen genauso wie für jeden anderen psychotherapeutischen Ansatz. Aber die existenziellen Fakten des Lebens sind eine Richtschnur für eine tiefere, reichere Beziehung zu denen, die unsere Hilfe suchen. Und wenn eine solche Beziehung erst einmal da ist, kann der Patient nicht nur die Basis seines persönlichen Lebens – seine Geschichte und seinen Alltag – tiefer erkunden, sondern auch die Basis seiner Existenz.

Irvin D. Yalom, 2005

1. Kapitel: Einführung

Vor vielen Jahren meldeten sich einige Freunde und ich zu einem Kochkurs an, der von einer armenischen Matrone und ihrem betagten Diener gegeben wurde. Da sie kein Englisch sprach und wir kein Armenisch, war die Unterhaltung nicht einfach. Sie lehrte durch Demonstration; wir schauten zu (und versuchten fleißig, ihre Rezepte eins zu eins zu verstehen), während sie eine Reihe wunderbarer Auberginen- und Lammgerichte zubereitete. Aber unsere Rezepte waren unvollkommen, und so sehr wir uns auch bemühten, wir konnten ihre Gerichte nicht nachahmen. »Was war es«, fragte ich mich, »das ihrer Kochkunst dieses besondere Etwas gab?« Die Antwort entzog sich mir, bis ich eines Tages, als ich besonders aufmerksam beobachtete, was in der Küche vor sich ging, unsere Lehrerin mit großer Würde und Überlegtheit ein Mahl zubereiten sah. Sie übergab es ihrem Diener, der es wortlos in die Küche zum Ofen trug und ohne zu zögern eine Handvoll ausgewählter Gewürze und Zutaten nach der anderen hineinwarf. Ich bin überzeugt, dass jene heimlichen »Zugaben« den ganzen Unterschied ausmachten.

An diesen Kochkurs erinnere ich mich, wenn ich über Psychotherapie nachdenke, besonders wenn ich an die entscheidenden Zutaten erfolgreicher Therapie denke. Formale Texte, Zeitschriftenaufsätze und Vorlesungen beschreiben Therapie als exakt und systematisch, mit sich sorgfältig abzeichnenden Stadien, strategisch technischen Interventionen, methodischer Entwicklung und Wiederauflösung von Übertragung, Analyse der Objektbeziehungen und als ein sorgfältiges rationales Programm von Interpretationen, die Einsichten ermöglichen. Aber ich glaube wirklich, dass der Therapeut das »Eigentliche« hineinwirft, wenn niemand zuschaut.

Aber welches sind diese »Zugaben«, diese flüchtigen, außerplanmäßigen Extras? Sie existieren außerhalb der formalen Theorie, über sie wird nicht geschrieben, sie werden nicht ausdrücklich gelehrt. Die Therapeuten sind sich ihrer oft nicht bewusst; aber jeder Therapeut weiß, dass er oder sie es nicht erklären kann, warum viele Patienten Fortschritte machen. Die entscheidenden Zutaten sind schwer zu beschreiben, noch schwerer zu definieren. Ist es überhaupt möglich, solche Qualitäten wie Mitgefühl, »Präsenz«, Fürsorge, sich selbst öffnen, den Patienten auf einer tiefen Ebene berühren oder diese flüchtigste Qualität von allen – Weisheit – zu definieren und zu lehren?

Einer der ersten aufgezeichneten Fälle moderner Psychotherapie zeigt sehr anschaulich, wie Therapeuten diese Extras selektiv außer Acht lassen.1 (Spätere Beschreibungen von Therapien sind weniger brauchbar in dieser Hinsicht, weil sie so besessen von der richtigen Durchführung der Therapie waren, dass die außerplanmäßigen Manöver in den Fallberichten ausgelassen wurden.) 1892 behandelte Sigmund Freud erfolgreich ein Fräulein Elisabeth von R., eine junge Frau, die an psychogenen Gehschwierigkeiten litt. Freud erklärte diesen therapeutischen Erfolg ausschließlich mit seiner Technik der Abreaktion, der Aufhebung der Verdrängung bestimmter schädlicher Wünsche und Gedanken. Aber wenn man Freuds Aufzeichnungen studiert, ist man erstaunt von der Vielfalt seiner anderen therapeutischen Handlungen. Zum Beispiel beauftragte er Elisabeth, das Grab ihrer Schwester zu besuchen und bei einem jungen Mann vorbeizuschauen, den sie attraktiv fand. Um ihr Leiden zu erleichtern, »bekümmerte« er sich »freundschaftlich um gegenwärtige Verhältnisse«2 der Patientin und »suchte in solcher Absicht« Kontakt zu ihrer Familie: Er befragte die Mutter der Patientin und »bat sie inständig«, eine Möglichkeit der Kommunikation mit der Patientin zu eröffnen und ihr von Zeit zu Zeit zu erlauben, ihren Kummer auszusprechen. Er erfuhr von der Mutter, dass Elisabeth keine Chance hatte, den Mann ihrer verstorbenen Schwester zu heiraten, und teilte dies seiner Patientin mit. Er half dabei, das finanzielle Durcheinander der Familie zu klären. Ein anderes Mal drängte Freud Elisabeth, mit ruhiger Gelassenheit der Tatsache ins Auge zu sehen, dass die Zukunft für jeden unvermeidlicherweise unsicher ist. Er tröstete sie wiederholt, indem er ihr versicherte, dass sie nicht für unerwünschte Gefühle verantwortlich sei und dass der Grad an Schuld und Reue, die sie für diese Gefühle empfand, ein überzeugender Beweis ihres hochmoralischen Charakters sei. Als Freud schließlich nach Beendigung der Therapie hörte, dass Elisabeth zu einem privaten Tanzvergnügen gehen würde, verschaffte er sich eine Einladung, so dass er sie »in einem lebhaften Tanz vorbei wirbeln« sehen konnte. Man muss sich wirklich fragen, welches von Freuds Extras, die zweifellos wirkungsvolle Interventionen darstellten, Fräulein von R. halfen; sie aus der Theorie auszuklammern heißt, dem Irrtum Tür und Tor zu öffnen.

Es ist meine Absicht, in diesem Buch einen Zugang zur Psychotherapie vorzuschlagen und zu erläutern – eine theoretische Struktur und eine Reihe von Techniken, die aus dieser Struktur hervorgehen – der einen Rahmen für viele der Extras in der Therapie bereitstellt. Das Etikett für diesen Zugang, »existenzielle Psychotherapie«, widersetzt sich einer prägnanten Definition, denn die Grundlagen der existenziellen Orientierung sind nicht empirisch, sondern zutiefst intuitiv.

Ich werde zuerst eine formale Definition anbieten, und dann werde ich im gesamten übrigen Buch diese Definition erläutern:

Existenzielle Psychotherapie ist ein dynamischer Zugang zur Therapie, der sich auf die Gegebenheiten konzentriert, welche in der Existenz des Individuums verwurzelt sind.

Ich bin überzeugt davon, dass die große Mehrheit der erfahrenen Therapeuten, ganz gleich, ob sie einer anderen ideologischen Ausrichtung anhängen, viele der existenziellen Einsichten verwenden, die ich beschreiben werde. Die Mehrheit der Therapeuten ist sich beispielsweise der Tatsache bewusst, dass das Verständnis von unserer Endlichkeit oft eine bedeutende innere Verschiebung der Perspektive auslösen kann; dass es die Beziehung ist, die heilt; dass die Patienten von Entscheidungssituationen gequält werden; dass ein Therapeut Katalysator für den »Willen« des Patienten zum Handeln ist; und ebenso, dass die Mehrzahl der Patienten an Sinnverlust in ihrem Leben leidet.

Aber der existenzielle Ansatz ist mehr als ein subtiler Akzent oder eine implizite Perspektive, die die Therapeuten unwissentlich verwenden. Während meiner Vorlesungen für Therapeuten über verschiedene Themen fragte ich immer wieder: »Wer von Ihnen betrachtet sich als existenziell ausgerichtet?« Ein hoher Anteil der Zuhörerschaft, gewöhnlich mehr als fünfzig Prozent, antwortete zustimmend. Aber wenn diese Therapeuten gefragt wurden, »Was ist der existenzielle Ansatz?«, fanden sie es schwierig zu antworten. Die Sprache, die von Therapeuten verwendet wird, um irgendeinen therapeutischen Ansatz zu beschreiben, war nie berühmt für ihre Griffigkeit oder schlichte Klarheit; aber keine von all den therapeutischen Ausdrucksweisen kann mit der existenziellen in ihrer Vagheit und Verwirrung konkurrieren. Die Therapeuten assoziieren den existenziellen Ansatz mit solchen in sich unpräzisen und offensichtlich beziehungslosen Begriffen wie »Authentizität«, »Begegnung«, »Verantwortung«, »Wahl«, »humanistisch«, »Selbstaktualisierung«, »sich zentrieren«, »im Sinne Sartres« und »im Sinne Heideggers«; und viele Experten für geistige Gesundheit haben ihn lange Zeit für eine verworrene, »sanfte«, irrationale und romantische Orientierung gehalten, die, statt ein »Ansatz« zu sein, einen Freibrief für Improvisation gibt, damit undisziplinierte und ungenaue Therapeuten »ihr eigenes Ding machen können«. Ich hoffe, zeigen zu können, dass solche Schlussfolgerungen ungerechtfertigt sind, dass der existenzielle Ansatz ein wertvolles, effektives psychotherapeutisches Paradigma ist, das ebenso rational, in sich schlüssig und systematisch ist wie irgendein anderes.

Existenzielle Therapie: Eine dynamische Psychotherapie

Existenzielle Psychotherapie ist eine Form von dynamischer Psychotherapie. »Dynamik« ist ein Begriff, der im Bereich psychischer Gesundheit häufig verwendet wird – wie in »Psychodynamik«; und wenn man eines der grundlegenden Merkmale des existenziellen Ansatzes verstehen will, ist es notwendig, Klarheit über die Bedeutung dynamischer Therapie zu gewinnen. »Dynamisch« hat sowohl allgemeinsprachliche als auch therapeutische Bedeutungen. Im allgemeinen Verständnis hat »dynamisch« (von griech. dunasthi = Stärke, Kraft haben) die Konnotation »Energie«, »Bewegung« (ein »dynamischer« Fußballspieler oder Politiker, »Dynamo«, »Dynamit«); aber das ist nicht seine therapeutische Bedeutung, denn wenn sie es wäre, welcher Therapeut würde dann zugestehen, dass er undynamisch – das heißt langsam, träge, stagnierend, unbeweglich ist? Nein, der Begriff findet eine spezifisch technische Verwendung, die das Konzept von »Kraft« beinhaltet. Freuds wesentlicher Beitrag zum Verständnis des Menschen ist sein dynamisches Modell psychischer Funktionsweisen – ein Modell, welches postuliert, dass es Kräfte gibt, die innerhalb des Individuums in Konflikt miteinander stehen, und dass Gedanken, Gefühle und Verhalten, sowohl adaptiver als auch psychopathologischer Art, das Resultat dieser miteinander in Konflikt stehenden Kräfte sind. Darüber hinaus – und das ist wichtig – existieren diese Kräfte auf verschiedenen Ebenen der Bewusstheit; einige von ihnen sind tatsächlich völlig unbewusst.

Die Psychodynamik eines Individuums beinhaltet deshalb die verschiedenen unbewussten und bewussten Kräfte, Motive und Befürchtungen, die in ihr oder ihm wirksam sind. Die dynamischen Psychotherapien gründen auf diesem dynamischen Modell psychischer Funktionsweisen.

So weit, so gut. Existenzielle Therapie, wie ich sie beschreiben werde, passt bequem in die Kategorie der dynamischen Therapie. Aber wenn wir fragen, Welche Kräfte (und Befürchtungen und Motive) stehen in Konflikt miteinander? Was ist der Inhalt dieses internen bewussten und unbewussten Kampfes? Dies ist der Punkt, an dem sich die dynamische existenzielle Therapie von der Gemeinschaft der anderen dynamischen Therapien löst. Existenzielle Therapie gründet auf einer radikal abweichenden Sichtweise der spezifischen Kräfte, Motive und Befürchtungen, die im Menschen interagieren.

Die präzise Eigenart der tiefsten inneren Konflikte ist niemals leicht zu identifizieren. Der Kliniker, der mit einem gestörten Patienten arbeitet, ist selten in der Lage, den grundlegenden Konflikt in seiner ursprünglichen Form zu untersuchen. Stattdessen beherbergt der Patient eine unendliche Fülle von Besorgnissen: Die ursprünglichen Besorgnisse sind tief verborgen, überkrustet mit vielen Schichten von Repression, Verleugnung, Verschiebung und Symbolisierung. Der klinische Forscher muss sich mit einem klinischen Bild auseinandersetzen, dessen Fäden so vielfältig ineinander verwickelt sind, dass eine Entwirrung schwierig ist. Um die ursprünglichen Konflikte zu erkennen, muss man viele Zugänge wählen: tiefes Nachdenken, Träume, Alpträume, das Aufblitzen tiefer Erfahrungen und Einsichten, psychotische Äußerungen und das Studium von Kindern. Ich werde diese Zugänge zu gegebener Zeit untersuchen, aber vorerst mag eine stilisierte schematische Darstellung hilfreich sein. Ein kurzer Überblick über drei kontrastierende Ansichten vom prototypischen innerpsychischen Konflikt des Individuums – die Freudsche, die Neo-Freudianische und die existenzielle – veranschaulicht in der Gegenüberstellung die existenzielle Sichtweise der Psychodynamik.

Freudsche Psychodynamik

Nach Freud wird das Kind von instinkthaften Kräften beherrscht, die ihm angeboren sind und die sich wie ein Farnwedel während des psychosexuellen Entwicklungszyklus entfalten. Es gibt Konflikte an mehreren Fronten: duale Instinkte (Ich-Instinkte versus libidinöse Instinkte oder in der zweiten Theorie, Eros versus Thanatos) stehen einander gegenüber; die Instinkte kollidieren mit den Anforderungen der Umwelt und später mit denen der internalisierten Umwelt – dem Über-Ich; für das Kind ist es erforderlich, zwischen dem inneren Drang nach unmittelbarer Befriedigung und dem Realitätsprinzip, das ein Verzögern der Befriedigung verlangt, zu vermitteln. Das instinktgetriebene Individuum steht daher im Krieg mit einer Welt, die die Befriedigung von angeborenen aggressiven und sexuellen Bedürfnissen verhindert.

Neo-Freudianische (interpersonale) Psychodynamik

Die Neo-Freudianer – besonders Harry Stack Sullivan, Karen Horney und Erich Fromm – präsentieren eine andere Ansicht vom Grundkonflikt des Individuums. Statt instinktgetrieben und vorprogrammiert zu sein, ist das Kind ein Wesen, welches, abgesehen von angeborenen neutralen Eigenschaften wie Temperament und Aktivitätsniveaus, vollkommen von kulturellen und zwischenmenschlichen Umgebungen geformt wird. Das Grundbedürfnis des Kindes ist Sicherheit – zwischenmenschliche Akzeptanz und Anerkennung –, und die Qualität der Interaktion mit bedeutsamen Erwachsenen, die ihm Sicherheit verschaffen, determiniert seine Charakterstruktur. Obwohl das Kind nicht von Instinkten beherrscht wird, hat es dennoch ein hohes Maß an angeborener Energie, Neugier, einer Unschuld des Körpers, einem ihm innewohnenden Wachstumspotenzial und an einem Wunsch nach dem ausschließlichen Besitz geliebter Erwachsener. Diese Eigenschaften stimmen nicht immer mit den Forderungen der es umgebenden bedeutsamen Erwachsenen überein, und der Grundkonflikt besteht zwischen diesen natürlichen Wachstumsneigungen und dem Bedürfnis des Kindes nach Sicherheit und Anerkennung. Wenn ein Kind unglücklicherweise Eltern hat, die so sehr in ihren eigenen neurotischen Kämpfen verstrickt sind, dass sie weder Sicherheit geben noch autonomes Wachstum ermutigen können, dann gibt es ernsthafte Konflikte. In solch einem Kampf gibt es immer einen Kompromiss zugunsten der Sicherheit und zuungunsten des Wachstums.

Existenzielle Psychodynamik

Die existenzielle Position hebt eine andere Art Grundkonflikt hervor: Weder einen Konflikt mit unterdrückten instinkthaften Antrieben noch einen mit internalisierten bedeutsamen Erwachsenen, sondern stattdessen einen Konflikt, der aus der Konfrontation des Individuums mit den Gegebenheiten der Existenz hervorgeht. Und ich meine mit »Gegebenheiten« der Existenz bestimmte letzte Dinge, bestimmte intrinsische Eigenschaften, die ein Teil, und zwar ein unausweichlicher Teil der Existenz des menschlichen Wesens in der Welt sind.

Wie entdeckt man die Natur dieser Gegebenheiten? In einer Hinsicht ist die Aufgabe nicht schwierig. Die Methode ist tiefes persönliches Nachdenken. Die Bedingungen sind einfach: Einsamkeit, Stille, Zeit und das Frei-Sein von alltäglichen Ablenkungen, mit denen jeder von uns seine oder ihre3 Erlebniswelt füllt. Wenn wir die alltägliche Welt wegwischen oder »im Zaum halten« können, wenn wir über unsere »Situation« in der Welt tiefgehend nachdenken, über unsere Existenz, unsere Grenzen, unsere Möglichkeiten, wenn wir den Grund erreichen, der unter jedem anderen Grund liegt, dann begegnen wir unvermeidlich den Gegebenheiten der Existenz, den »Tiefenstrukturen«, die ich von jetzt an als »letzte Dinge« (ultimate concerns) bezeichnen werde. Dieser Prozess des Nachdenkens wird oft durch bestimmte tiefgehende Erfahrungen ausgelöst. Diese »Grenz«-Situationen, wie sie oft genannt werden, schließen solche Erfahrungen mit ein wie die Begegnung mit dem eigenen Tod, eine bedeutende, nicht mehr rückgängig zu machende Entscheidung oder den Zusammenbruch eines grundlegenden sinngebenden Schemas.

Dieses Buch handelt von vier letzten Dingen: Tod, Freiheit, Isolation und Sinnlosigkeit. Die Begegnung des Individuums mit jeder dieser Tatsachen des Lebens stellt den Inhalt des existenziellen dynamischen Konflikts dar.

Tod. Die offensichtlichste, am leichtesten zu verstehende letzte Angelegenheit ist der Tod. Wir existieren jetzt, aber eines Tages werden wir aufhören zu sein. Der Tod wird kommen, und es gibt kein Entfliehen vor ihm. Es ist eine schreckliche Wahrheit, und wir antworten auf sie mit tödlicher Panik. »Alles«, in Spinozas Worten, »bemüht sich darum, auf seinem eigenen Dasein zu bestehen«4; und ein existenzieller Kernkonflikt ist die Spannung zwischen der Bewusstheit von der Unausweichlichkeit des Todes und dem Wunsch weiterzuexistieren.

Freiheit. Ein anderes der letzten Dinge, ein weit weniger leicht zugängliches, ist die Freiheit. Gewöhnlich halten wir die Freiheit für einen eindeutig positiven Begriff. Hat das menschliche Wesen sich nicht während der gesamten uns überlieferten Geschichte nach Freiheit gesehnt und danach gestrebt? Aber die Freiheit ist aus der Perspektive des letzten Grundes an Furcht gebunden. In ihrer existenziellen Bedeutung heißt »Freiheit« die Abwesenheit von äußeren Strukturen. Im Gegensatz zur alltäglichen Erfahrung betritt (und verlässt) das menschliche Wesen kein wohlgeordnetes Universum mit einem ihm innewohnenden Plan. Das Individuum hat vielmehr die völlige Verantwortung – im Sinne von Urheberschaft – für seine oder ihre eigene Welt, den eigenen Lebensentwurf, für Entscheidungen und Handlungen. »Freiheit« in diesem Sinn hat eine erschreckende Bedeutung: Sie bedeutet, dass es unter uns keinen Grund gibt – nichts, eine Leere, einen Abgrund. Der Zusammenprall zwischen unserer Begegnung mit der Grundlosigkeit und unserem Wunsch nach Grund und Struktur ist eine existenzielle Schlüsseldynamik.

Existenzielle Isolation. Eine dritte letzte Angelegenheit ist die Isolation – nicht die zwischenmenschliche Isolation, mit der sie begleitenden Einsamkeit oder die innerpersonale Isolation (Isolation von Teilen unserer selbst), sondern eine grundlegende Isolation, sowohl von anderen Geschöpfen als auch von der Welt – die jede andere Isolation noch unterläuft. Ganz gleich, wie nahe wir uns kommen können, es bleibt eine letzte unüberbrückbare Kluft; jeder von uns betritt seine Existenz allein und muss wieder allein von ihr scheiden. Der existenzielle Konflikt ist daher die Spannung zwischen unserer Bewusstheit von unserer absoluten Isolation und unserem Wunsch nach Kontakt, nach Schutz, unserem Wunsch, ein Teil von etwas Größerem zu sein.

Sinnlosigkeit. Eine vierte letzte Angelegenheit oder Gegebenheit der Existenz ist die Sinnlosigkeit. Wenn wir sterben müssen, wenn wir unsere eigene Welt schaffen, wenn jeder von uns letztlich allein in einem gleichgültigen Universum ist, welchen Sinn hat dann das Leben? Warum leben wir? Wie sollen wir leben? Wenn es keinen vorbestimmten Plan für uns gibt, dann muss jeder von uns seinen eigenen Sinn im Leben konstruieren. Aber kann der Sinn, den wir uns selbst geben, stabil genug sein, um unser eigenes Leben zu tragen? Dieser existenzielle dynamische Konflikt rührt von dem Dilemma eines sinnsuchenden Geschöpfes her, das in ein Universum hineingeworfen ist, das keinen Sinn hat.

Existenzielle Psychodynamik: Allgemeine Merkmale

»Die existenzielle Psychodynamik« bezieht sich daher auf diese vier Gegebenheiten, diese letzten Dinge, und auf die bewussten und unbewussten Befürchtungen und Motive, die von ihnen erzeugt werden. Der dynamische existenzielle Ansatz behält die grundlegende dynamische Struktur bei, wie sie von Freud entworfen wurde, ändert aber den Inhalt radikal. Die alte Formel wird durch eine neue ersetzt (s. Abb.).

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Beide Formeln gehen davon aus, dass Angst die Triebkraft für Psychopathologie ist; dass sich psychische Operationen, einige bewusst und einige unbewusst, entwickeln, damit wir mit der Angst umgehen können; dass diese psychischen Operationen (Abwehrmechanismen) die Psychopathologie ausmachen; und dass sie, obwohl sie Sicherheit verschaffen, unausweichlich das Wachstum und die Erfahrung beschränken. Ein wesentlicher Unterschied zwischen diesen beiden dynamischen Ansätzen ist, dass Freuds Sequenz am »Trieb« ansetzt, während ein existentielles Konzept an der Bewusstheit und der Angst ansetzt. Der Therapeut hat, wie Otto Rank wusste,7 weit mehr Einwirkungsmöglichkeit, wenn er den Menschen in erster Linie als ein angstvolles Leidwesen ansieht, statt als eines, das von den Instinkten getrieben wird.

Diese vier letzten Dinge – Tod, Freiheit, Isolation, Sinnlosigkeit – machen den Korpus existenzieller Psychodynamik aus. Sie spielen eine außerordentlich wichtige Rolle auf jeder Ebene der psychischen Organisation des Individuums und haben höchste Bedeutsamkeit für die klinische Arbeit. Sie stellen auch das zentrale Organisationsprinzip dar; die vier Teile dieses Buches werden sich jeweils mit einem dieser letzten Dinge befassen und jeweils dessen philosophische, psychopathologische und therapeutische Implikationen erforschen.

Existenzielle Psychodynamik: Die Frage nach der Tiefe

Ein weiterer Hauptunterschied zwischen der existenziellen Dynamik und der Freudschen oder Neo-Freudianischen Dynamik betrifft die Definition von »Tiefe«. Für Freud bedeutete Erforschung immer Ausgrabung. Mit der Bedachtsamkeit und Geduld eines Archäologen legte er die vielschichtige Psyche frei, bis er auf das Grundgestein stieß, eine Schicht fundamentaler Konflikte, die die psychologischen Überreste der frühesten Ereignisse im Leben des Menschen waren. Tiefster Konflikt bedeutete frühester Konflikt. Freuds Psychodynamik ist also entwicklungsmäßig bedingt, und »grundlegend« oder »primär« müssen chronologisch verstanden werden: Beide Begriffe bedeuten »zuerst«. Dementsprechend werden die frühesten psychosexuellen Traumata als »grundlegende« Quellen der Angst betrachtet: Trennung und Kastration.

Die existenziellen Dynamiken sind keinem Entwicklungsmodell verpflichtet. Es gibt keinen zwingenden Grund anzunehmen, dass »grundlegend« (das heißt wichtig, elementar) und »zuerst« (das heißt chronologisch zuerst) identische Konzepte sind. Aus einer existenziellen Perspektive tief zu forschen bedeutet nicht, dass man die Vergangenheit erforscht; es bedeutet vielmehr, dass man die alltäglichen Probleme beiseite lässt, und tiefgehend über seine existenzielle Situation nachdenkt. Es bedeutet, außerhalb der Zeit zu denken, über die Beziehung zwischen den eigenen Füßen und dem Boden unter uns, zwischen dem eigenen Bewusstsein und dem Raum um uns herum nachzu denken; es bedeutet, nicht über den Weg nachzudenken, wie man zu dem geworden ist, was man ist, sondern dass man ist.

Die Vergangenheit – das heißt unsere Erinnerung an die Vergangenheit – ist insofern wichtig, als sie Teil unserer gegenwärtigen Existenz ist und dazu beigetragen hat, auf welche Weise man sich mit den letzten Dingen auseinandersetzt; aber dies ist, wie ich später ausführen werde, nicht das lohnendste Gebiet für therapeutische Erforschung. Die-Zukunft-die-zur-Gegenwart-wird ist das primäre Tempus existenzieller Therapie.

Diese Unterscheidung bedeutet nicht, dass man existenzielle Faktoren in einem entwicklungsmäßigen Rahmen nicht erforschen kann (tatsächlich wird im dritten Kapitel die Entwicklung des Todesbegriffs beim Kind gründlich erforscht); aber sie bedeutet, dass Entwicklungsfragen nicht relevant sind, wenn ein Individuum fragt, »Welches sind die grundlegendsten Quellen der Furcht in diesem Moment, auf der tiefsten Ebene meines Seins?« Die frühesten Erfahrungen eines Individuums geben, obwohl sie unbestreitbar wichtig für das Leben sind, keine Antwort auf diese grundlegende Frage. Tatsächlich erzeugen die Überreste frühester Lebenserfahrungen biologische Störungen, die zur Verdunklung der Antwort beitragen. Die Antwort auf die Frage ist transpersonal. Es ist eine einschneidende Antwort in der persönlichen Lebensgeschichte jedes Individuums, eine Antwort, die zu jeder Person passt: Sie gehört zur »Situation« des menschlichen Wesens in der Welt.

Die Unterscheidung zwischen dem entwicklungsorientierten, dynamischen, analytischen Modell und dem unmittelbaren, ahistorischen, existenziellen ist von mehr als nur theoretischem Interesse: Wie ich in späteren Kapiteln erläutern werde, hat sie tief greifende Implikationen für die Technik des Therapeuten.

Die existenzielle Orientierung: Fremd, aber seltsam vertraut

Ein großer Teil meines Materials über die letzten Dinge wird für den Kliniker fremd und doch auf eine seltsame Weise vertraut erscheinen. Das Material wird fremd erscheinen, weil der existenzielle Zugang quer zu gewohnten Kategorien liegt und klinische Beobachtungen auf eine neue Weise zusammenführt. Darüber hinaus ist ein großer Teil des Vokabulars unterschiedlich. Selbst wenn ich den Jargon professioneller Philosophen vermeide und alltägliche Begriffe benutze, um die existenziellen Konzepte zu beschreiben, wird der Kliniker die Sprache als psychologisch fremd empfinden. Wo ist das Psychotherapie-Lexikon, das Begriffe enthält wie »Wahl«, »Verantwortung«, »Freiheit«, »existenzielle Isolation«, »Sterblichkeit«, »Zweck des Lebens«, »Wollen«? Der medizinische Bibliothekscomputer lachte mich aus, als ich Literaturnachweise auf diesen Gebieten von ihm haben wollte.

Dennoch wird der Kliniker in ihnen viel finden, was ihm vertraut ist. Ich glaube, dass der erfahrene Kliniker oft implizit innerhalb eines existenziellen Rahmens arbeitet: »In seinen Knochen« wertschätzt er die Besorgnisse eines Patienten und antwortet demgemäß. Diese Antwort ist das, was ich vorher mit den entscheidenden »Zugaben« meinte. Eine Hauptaufgabe dieses Buches besteht darin, den Fokus des Therapeuten zu verschieben und sich sorgfältig diesen vitalen Dingen und den therapeutischen Transaktionen, die an der Peripherie formaler Therapie stattfinden, zuzuwenden und sie dorthin zu stellen, wo sie hingehören – ins Zentrum der therapeutischen Arbeit.

Ein weiterer vertrauter Zug besteht darin, dass die wesentlichen existenziellen Fragen seit dem Beginn niedergeschriebener Gedanken erkannt und diskutiert wurden, und dass ihr Primat von einer ununterbrochenen Reihe von Philosophen, Theologen und Dichtern anerkannt wurde. Diese Tatsache mag unser Gefühl von Stolz auf die Moderne, unseren Glauben an eine ewige Spirale des Fortschritts erschüttern; aber von einer anderen Perspektive aus gesehen mögen wir uns darin bestätigt fühlen, dass wir auf einem ausgetretenen Pfad reisen, der weit in die Zeit zurückreicht und der von den weisesten und nachdenklichsten Persönlichkeiten eingeschlagen wurde.

Diese existenziellen Quellen der Furcht sind auch insofern vertraut, als sie zur Erfahrung des Therapeuten wie jeder anderen Person gehören; sie sind keinesfalls ausschließlicher Bestandteil der Erfahrungen psychisch gestörter Menschen. Immer wieder werde ich betonen, dass sie Teil der Situation des Menschen sind. Wie kann dann, mag man fragen, eine Theorie der Psychopathologie8 auf Faktoren beruhen, die von jedermann erfahren werden? Die Antwort ist natürlich, dass jede Person den Stress der menschlichen Situation in hoch individualisierter Form erfährt. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das existenzielle Modell nicht gravierend von anderen größeren Theorien. Jedes Individuum geht durch bestimmte Entwicklungsstufen, jede mit ihrer eigenen dazugehörigen Angst. Jeder geht durch den ödipalen Konflikt, das irritierende Auftauchen aggressiver und sexueller Gefühle, die Kastrationsangst (zumindest für die Männer), den Schmerz der Individuation und Trennung und viele andere ernsthafte Herausforderungen der Entwicklung. Das einzige Modell der Psychopathologie, das nicht auf allgemein erfahrbaren Faktoren beruht, ist eines, das auf akute Traumata gegründet ist. Traumatische Neurosen sind jedoch selten. Die überwältigende Mehrheit der Patienten leidet an dem Stress, der in unterschiedlichem Ausmaß Teil der Erfahrung jedes Menschen ist.

Tatsächlich kann nur die Universalität menschlichen Leidens die allgemeine Beobachtung erklären, dass das Patient-Sein allgegenwärtig ist. André Malraux, um eine solche Beobachtung zu zitieren, fragte einst einen Gemeindepriester, der fünfzig Jahre lang die Beichte abgenommen hatte, was er über die Menschheit gelernt habe. Der Priester antwortete: »Als erstes, dass die Menschen viel unglücklicher sind als man glaubt … und dann die grundlegende Tatsache, dass es so etwas wie eine erwachsene Person nicht gibt.«9 Oft sind es nur die äußeren Umstände, die dazu führen, dass die eine Person Patient genannt wird und nicht die andere: zum Beispiel finanzielle Mittel, Verfügbarkeit von Psychotherapeuten, persönliche und kulturelle Einstellungen zur Therapie oder Berufswahl – die Mehrzahl der Psychotherapeuten wird selbst bona fide zu Patienten. Die Universalität von Stress ist einer der Hauptgründe, weshalb die Gelehrten auf solche Schwierigkeit stoßen, wenn sie versuchen, Normalität zu definieren und zu beschreiben. Der Unterschied zwischen Normalität und Pathologie ist quantitativ, nicht qualitativ.

Das zeitgemäße Modell, das für unsere Beweisführung am nächsten liegt, ist analog zu einem Modell der somatischen Medizin, demzufolge eine Infektionskrankheit nicht nur das Ergebnis von Bakterien oder Viren ist, die in einen schutzlosen Körper eindringen. Vielmehr ist die Krankheit das Ergebnis eines Ungleichgewichts zwischen dem Schädling und dem Widerstand des Wirtes. Mit anderen Worten, Schädlinge existieren die ganze Zeit im Körper – gerade so, wie Stress vom Leben nicht wegzudenken ist und alle Individuen befällt. Ob ein Individuum eine klinische Krankheit entwickelt, hängt von der Widerstandskraft des Körpers (das heißt solchen Faktoren wie Immunsystem, Nahrung und Müdigkeit) gegen den Schädling ab: Wenn der Widerstand verringert wird, entwickelt sich die Krankheit, obwohl die Giftigkeit und Aggressivität des Schädlings unverändert bleiben. Deshalb sind alle menschlichen Wesen in einer solchen misslichen Lage, aber einige davon sind nicht imstande, damit fertig zu werden: Psychopathologie hängt nicht nur von der An- oder Abwesenheit von Stress ab, sondern von der Wechselbeziehung zwischen allgegenwärtigem Stress und den Abwehrmechanismen des Individuums.

Die Behauptung, dass die letzten existentiellen Dinge niemals in der Therapie zur Sprache kommen, ist ganz und gar eine Funktion der selektiven Unaufmerksamkeit des Therapeuten: Ein Zuhörer, der auf den richtigen Kanal eingestellt ist, findet offensichtliches und reichliches Material. Ein Therapeut mag sich jedoch entscheiden, den letzten existenziellen Dingen keine Aufmerksamkeit zu schenken, gerade weil sie universelle Erfahrungen sind und nichts Konstruktives herauskommen kann, wenn man sie untersucht. Tat sächlich habe ich oft in der klinischen Arbeit beobachtet, dass der Therapeut und der Patient für eine kurze Zeit stark erregt sind, wenn existenzielle Dinge zur Sprache kommen; aber bald wird das Gespräch oberflächlich, und der Patient ebenso wie der Therapeut scheinen sich zu sagen, »So ist nun mal das Leben, nicht wahr! Lasst uns auf etwas Neurotisches kommen, etwas, womit wir etwas anfangen können!«

Andere Therapeuten umgehen es, existenzielle Dinge zu behandeln, nicht nur weil diese Dinge universell sind, sondern weil es zu schrecklich ist, sich ihnen zu stellen. Schließlich haben neurotische Patienten (und auch die Therapeuten) genug Sorgen, um die sie sich kümmern können, ohne ihnen noch solche aufmunternden Themen wie Tod und Sinnlosigkeit hinzuzufügen. Solche Therapeuten glauben, dass man existenzielle Fragen am besten ignoriert, weil es nur zwei Möglichkeiten gibt, mit den brutalen existenziellen Tatsachen des Lebens umzugehen – angstvolle Wahrheit oder Verleugnung – und beides ist unbekömmlich. Cervantes gab diesem Problem Ausdruck, als sein unsterblicher Don sagte, »Welches von beiden möchtest du haben, weise Verrücktheit oder närrische Gesundheit?«

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