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Inhaltsverzeichnis
Kurzbeschreibung
Titelei
Impressum
Erster Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Zweiter Teil
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Epilog
Anmerkung der Autorin
Epilog
Florence stand am Fenster des Turmzimmers mit ihrem Neugeborenen auf dem Arm und sah in den Schlosspark hinab. Lilafarbene Iris blühten an der alten Mauer. Tulpen und Lilien wuchsen zwischen den Steinen des Steingartens und in den Beeten unter den Bäumen. Großmutter Adélaide saß in ihrem Rollstuhl auf dem Rasen, rauchte genüsslich ihre Zigarette und sah ihrem zweijährigen Urenkel Arnaud beim Spielen zu. Sie hatte ihre Pläne von einem Mehrgenerationenhaus in die Tat umgesetzt. Florence und Serge mit ihren zwei Kindern wohnten hier, ebenso wie Adélaide und Sophie. Lucienne und Benoît hatten eine kleine Wohnung. Sie waren eine große Familie.
Florence öffnete den rechten Flügel. »Übertreib es nicht mit dem Rauchen, Großmutter.«
Die alte Dame sah nach oben. »Hör auf, dir übermäßige Gedanken um mich zu machen, Florence. Mir geht es gut und dem Kleinen hier auch. Ist das nicht ein wundervoller Tag?«
Florence hob ihr Gesicht zum wolkenlosen Himmel empor. Es war ein unbeschreibliches Blau. Die Sonne fing sich in dem Diamant, der den Finger ihrer linken Hand zierte, und warf ein buntes Licht in alle Richtungen. Sie senkte den Blick und sah ihre Tochter an. »Deine Maman muss jetzt weiterarbeiten.« Sie schloss das Fenster, legte das Baby in seine Wiege und ging zum Schreibtisch – Béatrice’ Schreibtisch. Darauf lagen die Aufzeichnungen ihrer Mutter, Manuskriptentwürfe, die sie zusammengetragen hatte, und eine Schachtel mit alten Fotos.
Sie hatte die Fotos durchgesehen und schließlich gefunden, was sie gesucht hatte. Das Foto von Großmutter mit ihrem kleinen Sohn Arnaud auf der Veranda des Hauses. Ein ähnliches, an der gleichen Stelle: sie mit ihrer Mutter.
Sie starrte das Foto an. Maman hatte so frisch und jung gewirkt. So glücklich.
Florence widmete sich ihrem Manuskript. Einige Teile ihrer halb erfundenen Geschichte waren scharf und spitz, sie konnten ins Herz schneiden und eine blutende Wunde hinterlassen. Einige Kapitel waren sanft und abgerundet, leicht zu lesen. Aber alles passte ineinander. Familien, die durch eine gemeinsame Tragödie, durch gemeinsame Kämpfe und ein gemeinsames Leben verbunden waren.
Nachdem sie einige Seiten geschrieben hatte, legte sie sich noch ein wenig auf das Sofa und nickte wenige Minuten später ein. Drei Personen standen an der Couch und sahen sie an. Florence wusste, dass es ein Traum war. Sie war überwältigt, neugierig und ließ sich darauf ein.
Ihr Vater sah sie aus seinen gutmütigen Augen an. Er sah genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Er lächelte.
Neben ihm standen Béatrice und Gérard, einander untergehakt. Alle sahen sie an.
Maman beugte sich vor und legte die Arme um Florence’ Hals. »Ich liebe dich, Florence«, flüsterte sie. »So viele Menschen lieben dich.« Sie hob den Kopf, und Florence sah die Tränen in ihren Augen. Arnaud und Gérard hinter ihr winkten, wurden immer kleiner, als würden ihre Bilder ausgeblendet.
Béatrice wich zur Tür zurück und griff nach Arnauds Hand. »Auf Wiedersehen.«
»Geht nicht!«, rief Florence.
Béatrice lächelte. »Behalte uns in Erinnerung, Florence.«
»Ich werde immer an euch denken«, sagte sie. »Vor allem an dich, Maman.«
Béatrice nickte und winkte. Florence’ Herz machte einen Sprung. Die beiden Männer waren schon beinahe verschwunden. Béatrice wurde immer schwächer, immer durchsichtiger. Sie konnte ihre Mutter noch erkennen, aber sie konnte beinahe durch sie hindurchsehen. »Geh nicht, Maman!«, rief Florence.
»Ich werde dich immer lieben. Wir werden bei dir sein. In deinem Herzen«, sagte Béatrice mit ferner Stimme.
Dann waren sie fort, verschwunden im Nebel. Die Erinnerung ließen sie zurück.
Anmerkung der Autorin
Den Leuchtturm am Strand gibt es nicht, gab es nie.
Die Weberei in Locronan existiert nur noch als Museum.
Es handelt sich um einen fiktiven Roman.
Handlungen und Personen sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
Kapitel 1
Paris, September 2012
Das kleine Mädchen rennt über Wiesen und Felder hinunter zum Atlantik. Seine langen schwarzen Haare flattern im Wind, und als es sich bückt, um einen locker gewordenen Schnürsenkel zuzubinden, leuchtet das blaue Kleid hell in der Sonne des frühen Herbstes.
»Maman«, ruft es. »Maman, wo bist du?« Suchend dreht das Mädchen sich um. Und plötzlich sieht es die Mutter. Sie steht auf dem Leuchtturm und lässt den Wind durch ihr Haar streifen. Sie wird immer blasser, vergänglicher. Entfernt sich immer weiter von der Tochter, weg aus deren Leben.
Der Himmel wird dunkel, die Wellen des Atlantiks schlagen tosend gegen die Felsen. Die Mutter reagiert nicht auf die Rufe der Tochter, die nun in lautes Schluchzen übergegangen sind, sie wendet sich ab, dahinter steht der Vater. Und langsam verschwinden sie in der Düsternis des herbstlichen Nebels. Überall schwarzer Rauch, ohrenbetäubender Lärm und Feuerzungen auf dem Wasser. Die Eltern sind gegangen.
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Die restliche Nacht warf sich Florence unruhig im Bett hin und her. Sie wachte schließlich um neun Uhr am folgenden Morgen vollkommen erschöpft auf. Obwohl sie sich so zerschlagen fühlte, konnte sie nicht mehr einschlafen. Also ging sie ins Bad, putzte sich die Zähne und wusch sich mehrmals das Gesicht, bis ihr klar wurde, dass die dunklen Ringe unter ihren Augen keine verschmierte Wimperntusche waren.
»Tränensäcke«, murmelte sie. »Ich bin zu jung für Tränensäcke, und dies sind keine Säcke, sondern Koffer. Große Schrankkoffer.«
Nach dem Duschen fühlte sie sich besser. Sie zog sich an und ging in die Küche, um den Kaffeeautomaten einzuschalten.
Es läutete an der Tür, und Florence sah durch den Türspion, dass es der Postbote war. »Madame Letrec, verzeihen Sie die Störung, aber ich bekomme Ihre Post nicht in den Briefkasten.« Er überreichte ihr einen großen Stapel Umschläge.
»Vielen Dank für Ihre Mühe«, sagte Florence und schenkte ihm ein Lächeln. Sie sah ihm nach, wie er die Treppe hinuntereilte, und nahm dann ihre Post mit nach drinnen, wo sie ein heißer Kaffee erwartete. Sie stellte die Tasse auf den Tisch und sichtete den Stapel. Zwischen dem üblichen Sortiment von Leserbriefen, Werbesendungen und Rechnungen befand sich ein Brief aus einem Kloster in Südfrankreich, an sie persönlich adressiert. Sie trank ihren Kaffee und drehte den Umschlag unschlüssig in den Händen. Während Florence das Kuvert öffnete, keimte eine unerklärliche Vorahnung in ihr auf.
Sie setzte ihre Brille auf und begann zu lesen. Ihr Puls beschleunigte sich, ihr Mund wurde trocken, und ihre Hand zitterte, als sie die Zeilen nochmals überflog. Irrtum ausgeschlossen.
Florence’ Hand mit dem Briefpapier sank kraftlos herunter. Sie hatte das Gefühl, die Welt um sie herum breche zusammen. Nach einer Weile bückte sie sich, um das Schriftstück, das ihr entglitten war, aufzuheben.
Mehrmals las sie den Brief durch, der aus einem Kloster in den Pyrenäen stammte. Langsam stand sie auf, ging zu dem Familienfoto und brachte nur ein Wort heraus: »Maman!«
Dann stolperte sie in ihr Schlafzimmer, stopfte einige Sachen in ihre Reisetasche, nahm ihre Autoschlüssel und ihre Handtasche. Schon zum Gehen gewandt, ließ sie ihr Gepäck fallen, griff noch einmal nach dem Telefon und wählte Patricks Nummer in der Anwaltskanzlei. Sie wusste, dass er bereits hinter seinem Schreibtisch saß. Er war ein Perfektionist, und Florence kannte seine Marotte, alles bis ins Kleinste vorzubereiten, nichts dem Zufall zu überlassen, ganz gleich, wie unwichtig der Klient war.
»Hallo, ich hoffe, es gibt einen triftigen Grund für deinen Anruf. Du weißt, unter welchem Zeitdruck ich stehe und …«
»Patrick«, unterbrach ihn Florence hastig, »Patrick, hör mir jetzt bitte genau zu! Wenn du nach Hause kommst, bin ich bei meiner Großmutter in der Bretagne. Ihr geht es nicht gut, und sie will mich sehen.«
Patrick schwieg, dann antwortete er unsicher: »Das tut mir leid, aber ich denke, du musst nicht gleich so überreagieren. Außerdem«, hier machte er eine bedeutungsvolle Pause, »haben wir heute Abend ein wichtiges Abendessen.«
Unwillkürlich musste Florence lachen. »Du hast ein wichtiges Abendessen. Dir fällt schon etwas ein, um mich zu entschuldigen. Migräne. Genau, sag ihnen, ich hätte Migräne, das klingt stets glaubhaft.«
»Florence, ich versteh wirklich nicht, warum du dir das antun willst. Ich bin mir sicher, dass deine Großmutter eine Handvoll von Medizinkoryphäen um sich geschart hat. Wäre heute nicht …«, Patrick zögerte einen Moment, ehe er weitersprach, »dieses Abendessen, dann würde ich dich …«
»Geh du zu diesem wichtigen Dinner«, fiel ihm Florence rasch ins Wort, glücklich darüber, dass er offensichtlich in Erwägung zog, sie zu begleiten. Patrick war kein Mann der großen Worte.
»Lass mich bitte ausreden, Florence! Ich wollte sagen, dass ich dich begleiten würde, wenn es den Termin nicht gäbe, aber ich möchte dabei sein. Es ist eben wichtig.«
Florence war enttäuscht, doch nach kurzem Zögern überspielte sie diese Regung und antwortete mit betonter Heiterkeit: »Ich muss jetzt los. Viel Erfolg bei deinem Termin. … Sicher wird der Gastgeber mit deiner Anwesenheit zufrieden sein«, setzte sie noch hinzu.
»Melde dich, wenn du angekommen bist, Florence.«
Florence entschloss sich, nichts von dem Brief zu erzählen, sie hätte dadurch nur eine endlose Diskussion entfacht. Sie legte auf und verließ das Haus.
Vor ihrem Wagen blieb sie stehen. Seltsamerweise hatte sie es nicht mehr eilig, wegzukommen, nach Locronan in die Bretagne zu fahren und vielleicht eine Antwort auf die Frage zu bekommen, die auch heute noch wie eine unsichtbare Wand zwischen ihr und ihrer Großmutter stand. Sie hatte Angst vor der Wahrheit, Angst vor dem, was sie dort erwartete. Wie ein kalter Hauch streifte sie die Endgültigkeit des Todes, der ihrem heimlichen Traum von einer Rückkehr ihrer Eltern unbarmherzig und für alle Ewigkeit ein Ende gesetzt hatte. Als Florence die Autotür öffnete, wusste sie, der Moment war gekommen, um endlich das Schweigen zu brechen, das über dem Leben ihrer Eltern lag.
 
Das schöne Pariser Herbstwetter war irgendwo unterwegs verschwunden, im Westen türmten sich Wolken übereinander. Die Landschaft vor Florence’ Autofenster hatte sich verändert. Die Bäume wurden spärlicher und kleiner, bogen sich leicht immer in die gleiche Richtung. Der Wolkenberg vor ihr riss unvermittelt auf und ließ schräge Sonnenstrahlen hindurch, wie ein starker Projektor.
Die sanfte smaragdgrüne Hügellandschaft erstreckte sich vor ihr und brachte sie ihrem Ziel näher. Es war, als könnte der Wagen einfach keinen anderen Ort ansteuern.
Dieses Gefühl der Gewissheit hielt an, als sie Locronan erreichte und hügelabwärts an Granithäusern vorbei und durch gepflasterte Gässchen fuhr. Rasch erreichte sie den Marktplatz, der zusammen mit dem Brunnen und der mittelalterlichen Kirche das Herz des Dorfes bildete. An jedem Haus hingen die Geranien in ihrer vollen Üppigkeit herunter. Florence musste sich beherrschen, um nicht den Wagen zu stoppen und herauszuspringen. Sie bog in eine kleine mittelalterliche Gasse ein, auf deren Kopfsteinpflaster man noch das Getrappel der Pferde zu hören vermeinte, die wie der ganze Ort den früheren Charme bewahrt hatte. Plötzlich ging ihr das alles zu schnell. Sie wusste nicht, ob sie schon bereit war, herauszufinden, was sie hier nach fast zwanzig Jahren erwartete.
Sie fuhr weiter, und hinter der nächsten Kurve tauchte die graue Silhouette des Schlosses auf. Vor der Einfahrt zum Anwesen ließ sie den Wagen ausrollen.
Kapitel 2
Locronan, 2012
Florence stützte sich auf das rostige schmiedeeiserne Tor und sah hinauf zum alten Schloss. Wie lange war sie nicht mehr zu Hause gewesen? Acht Jahre? Zehn Jahre?
Zu lange. Und doch nicht lange genug.
Eine Zeile aus einem Werk von Thomas Wolfe kam ihr in den Sinn: »Du kannst nicht nach Hause zurück zu deiner Familie, zurück nach Hause zu deiner Kindheit.« Aber jetzt war sie hier.
Der Knoten in Florence’ Magen wurde fester. Ihr Gewissen warf ihr vor, ihre Großmutter vernachlässigt zu haben. Die Stimme in ihrem Inneren sprach die Wahrheit. Noch während sie am Tor stand, wurde ihr eines klar: Die Tatsache, dass sie dieses Haus mied, hatte nichts mit mangelnder Liebe zu tun. Sie liebte die Bretagne, liebte diesen Ort, liebte ihre Großmutter Adélaide – und doch widerstand irgendetwas in ihr, ganz tief und unerreichbar in ihrem Inneren verborgen, dem unerbittlichen Drang, nach Hause zu gehen. Zu viele traurige Erinnerungen. Zu viel Verwirrung.
In Paris, knapp sechshundert Kilometer entfernt, achtzehn Jahre nach den Geschehnissen, war Florence Letrec eine gänzlich andere Person – eine Person, die für sich eine Nische geschaffen hatte. Sie hasste die verstopften Straßen, den Lärm und die Hektik dieser großen Stadt, aber die Anonymität gefiel ihr gut. Ihr Leben seit der Sorbonne hatte sie sich selbst geschaffen. Jetzt war sie nicht mehr das verhätschelte, introvertierte Kind von früher. Sie hatte sich aus eigener Kraft neu erfunden und sich zu einer lebendigen Frau entwickelt.
Sie hatte auch ihren Kleiderstil angepasst. Bevor sie nach Paris kam, hatte sie sich über ihr Aussehen und ihre Kleidung keine Gedanken gemacht. Sie beobachtete die Frauen, mit ihrer Eleganz und einem Hauch Nonchalance. Ihr Casual Look wurde durch einen weiblichen, edlen Stil ersetzt.
Eine Kommilitonin nahm sie unter ihre Fittiche. »Präge dir ein, was Coco Chanel mal gesagt hat: ›Eine Frau sollte sich jeden Tag so anziehen, als könnte sie ihrer großen Liebe begegnen.‹« Gemeinsam zogen beide durch die trendigen Läden, und Florence hatte noch nie in ihrem Leben so viel an einem Tag eingekauft: zwei Röcke, einen Mantel, einen Trenchcoat und Kaschmirpullover in dezenten Farben. Und das Wichtigste: Lingerie. Florence musste schmunzeln, als sie daran dachte, wie Jacqueline sie in die Dessousabteilung des Kaufhauses Galeries Lafayette schleifte. Florence fühlte sich inmitten der Slips, BHs und Strapse so verloren wie an ihrem ersten Tag in der Universität.
 
An der Sorbonne hatte Florence alles gefunden, was sie sich gewünscht hatte. Einen Platz, an den sie gehörte. Intellektuelle Herausforderung. Einen Sinn.
Sie hatte ihrer Großmutter nicht nachgeeifert und nicht ihrem Wunsch entsprochen, das Letrec-Unternehmen zu führen. Sie wollte Schriftstellerin werden. Mit Leib und Seele war sie Autorin historischer Romane und konnte sich nichts vorstellen, was sie mehr ausfüllte, als ihre Leser mit der Schönheit der französischen Literatur vertraut zu machen. Ihr Vater hatte ihr als Kind die Bedeutung von Aufrichtigkeit und Bildung eingeimpft. Für ihn schien es nichts Wichtigeres im Leben gegeben zu haben. Bildung hatte Arnaud Letrec stets als unabdingbare Voraussetzung für eine zivilisierte Gesellschaft betrachtet.
So war Florence inmitten von Büchern aufgewachsen und in der sanften, aber bestimmten Art eines engagierten Unternehmers mit pädagogischen Merkmalen erzogen worden. Er erwartete von ihr, dass sie außergewöhnliche Leistungen in der Schule erbrachte, wie sie später auch ihre Großmutter erwartete. Sie enttäuschte diese Erwartungen nie. Nur ein einziges Mal.
Jetzt war sie zweiunddreißig Jahre alt und entsprach äußerlich dem Klischee einer Schriftstellerin. Sie trug ihr mittellanges schwarzes Haar aufgesteckt. Ihre Lesebrille aus Horn hob sich stark von dem hellen Teint ihres Gesichtes ab. Hohe Wangenknochen verliehen ihr ein etwas hochmütiges Aussehen, das jedoch von ihren rehbraunen Augen gemildert wurde.
Endlich hatte sie die Vergangenheit hinter sich gelassen – so vollkommen, dass ihr Freund Patrick sie unbarmherzig neckte. Sie sei eine geheimnisvolle Frau, die nie über sich sprechen würde.
»Ich rede immerzu über mich«, hatte sie das letzte Mal, als dieses Thema aufgekommen war, protestiert. »Wir reden doch über alles.«
Er hatte den Kopf geschüttelt. »Wir reden über das Leben, über Literatur, das Gesetz, deine Arbeit und meine. Wir sprechen über Bücher, Filme und Politik. Manchmal sogar von einer Heirat. Ich weiß, was du von all dem hältst. Ich kenne deine Meinung, kenne deinen Standpunkt zu vielen Dingen.« Er lachte und beugte sich eindringlich vor. »Ich weiß, was da drin ist …« Er tippte ihr mit dem Zeigefinger gegen den Kopf. »Aber oft denke ich, dass ich noch nicht einmal angefangen habe, zu erahnen, was da drin vorgeht.« Er ließ die Hand auf ihr Herz hinabgleiten.
Völlig überrascht von Patricks plötzlichem Wortschwall, wandte Florence den Blick ab. »Da gibt es nicht viel zu wissen, Patrick. Ich bin bei meiner Großmutter aufgewachsen, nachdem meine Eltern bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen waren.«
Dass sie fast jede Nacht von einem schrecklichen Ereignis träumte, verschwieg sie.
»Ich möchte mich einfach lieber auf die Gegenwart und die Zukunft konzentrieren, als bei der Vergangenheit zu verweilen.«
»Dann verbirgst du also nichts vor mir, du geheimnisvolle Frau? Irgendein schreckliches Geheimnis?« Er grinste und verdrehte die Augen.
Florence lachte. »Touché, du hast mich erwischt. Ich bin aufgeflogen.« Sie stieß einen melodramatischen Seufzer aus. »Bevor ich nach Paris gekommen bin, habe ich im Haus meiner Großmutter ein Bordell betrieben, habe aus dem Kofferraum meines Wagens mit Drogen gedealt und das Geld über Bankkonten in Genf gewaschen. Ich bin unverschämt reich und auf der Flucht vor dem Mossad.«
»So was Ähnliches habe ich mir schon gedacht.« Patrick zuckte die Achseln. »Ich bin am Verhungern. Lass uns nebenan ins Bistro gehen.«
Bei der Erinnerung an dieses Gespräch und den Ausdruck in Patricks Augen, als er davon sprach, ihr Herz kennenlernen zu wollen, atmete Florence tief durch. Sie hatte nicht einkalkuliert, wie verletzlich die Liebe einen Menschen machte. Emotionen waren so unberechenbar und grausam. Mit dem Intellekt kam sie sehr viel besser zurecht. Ihr war es lieber, eine Beziehung auf einer philosophischen Ebene zu halten. Patrick war in ihr Leben gekommen, aber nicht in ihr Herz. Der Verteidigungswall war, seit sie ihn verlassen hatte, undurchdringbar.
Patrick war ein faszinierender Mann, der ganz genau wusste, was er vom Leben erwartete.
Geliebt und begehrt zu werden war eine mächtige Verlockung, wie Florence feststellen musste. Nur konnte sie nicht über ihren Schatten springen. Ihre tiefe Liebe gehörte Serge Renaud. Damals hatte sie das Gefühl gehabt, als würde sie die erste Stufe einer steilen Treppe verfehlen und die ganze Treppe herunterpurzeln, ohne sich irgendwo festhalten zu können. In dieser Zeit schlang sich die Macht ihrer Liebe zu Serge um die Wurzeln ihrer Seele, und je stärker diese Liebe wurde, umso mehr verspürte sie den Drang zu fliehen.
Bei Patrick ließ sie es erst gar nicht so weit kommen. Sie hatte sich rechtzeitig zurückgezogen und ein Kontrollsystem dazwischengeschaltet. Ihr wurde bewusst, dass sie, seit sie Patrick kannte, nichts anderes tat, als sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie hatte sich nie richtig Zeit genommen, all diese Veränderungen in ihrem Leben und in ihrer Beziehung zu überdenken und zu überlegen, was sie sich für die Zukunft wünschte. Vielleicht würde es ihr guttun, wenn sie sich mal eine Pause gönnen, allein wegfahren würde und »auf das hören, was dein Herz dir sagen möchte«. Aber wohin? Zu Großmutter. Ins Schloss, in dem die Erinnerungen an ihre Jugend schlummerten. Sie würde versuchen, in dieser Auszeit kein Papier, keinen Füller, geschweige denn eine Tastatur anzurühren. Und nachts von leeren Blättern träumen, die sie höhnisch anstarrten.
Dann war der Brief gekommen.
Kapitel 3
In all den Erinnerungen, die Florence’ Kindheit betrafen, stand das Schloss hoch, gewaltig und stolz da wie auf den Fotos in ihrem alten Album, mit der einladenden geschwungenen Steintreppe und dem in den Himmel ragenden Turm.
Aber jetzt wirkte es dunkel und verwittert. Einer der Fensterläden hing schief herunter. Hatte es beim letzten Mal auch schon so ausgesehen? Oder hatte Florence nur das gesehen, was sie hatte sehen wollen?
Florence atmete tief durch, umklammerte den Griff ihrer Reisetasche und ging zur Haustür. Oben im ersten Stock bewegte sich ein Vorhang. Florence läutete, wartete und läutete noch einmal.
Sie wollte gerade in ihrer Tasche nach ihrem eigenen Schlüssel suchen, als die Haustür von einer finster dreinblickenden Matrone in Schwesternkleidung geöffnet wurde.
»Ja bitte?«, fragte die Frau. »Was wollen Sie?«
»Ich bin Florence Letrec. Und wer sind Sie?«
Die Frau antwortete einen Moment lang nicht, sondern blieb reglos in der Tür stehen. »Die Enkelin aus Paris. Richtig. Nun, ich denke, Sie kommen besser herein«, sagte sie schließlich.
Florence drängte sich an ihr vorbei in die Halle. Alle Vorhänge waren zugezogen, um die Nachmittagssonne auszublenden. Im Haus roch es muffig. Der Geruch der Vergangenheit lastete über allem. Dieser Gedanke durchzuckte Florence plötzlich. Doch genauso schnell schob sie ihn wieder beiseite und sah sich um. Alles war vertraut und doch ganz anders, als sie es in Erinnerung hatte. Es fehlten die frischen Blumen in der Eingangshalle. Florence nahm alles ringsherum in Augenschein. Der riesige Kristalllüster, der seit alters von der Decke schwebte, war mit Spinnweben verhangen, als würde hier eine Riesenspinne ein ganz besonderes Abendessen vorbereiten. Sie betrachtete die Seidenbespannungen an den Wänden und die Ahnenporträts, welche ihre Gedanken in eine längst vergangene Zeit abschweifen ließen. In diesem Gemäuer, dachte Florence, finden sich Erinnerungen an alle bedeutenden Epochen der bretonischen Geschichte. Ein Labyrinth von Gängen, Fluren, Treppen und Passagen führte über die Salons mit bedeutenden Gemälden und Wandzeichnungen hinauf in das Obergeschoss.
»Ich bin die Krankenschwester«, erklärte die Frau. »Ich heiße Lucienne Rocher.«
»Ich sehe, dass Sie eine Schwester sind. Was tun Sie hier?«
»Ich pflege Ihre Großmutter.«
Florence runzelte die Stirn. »Seit wann braucht Großmutter denn eine Pflegerin?«
»Seit sie sich eine Lungenentzündung geholt hat.«
Alle Luft entwich aus Florence’ Atemwegen. »Lungenentzündung? Wann ist das passiert?«
Lucienne Rocher zuckte die Achseln. »Vor drei Wochen. Die Antibiotika schlagen mittlerweile an, aber sie ist noch sehr schwach.«
Wie angewurzelt stand Florence da, während sich Schuldgefühle in ihr breitmachten und sie nach unten zogen, als würde sie im Treibsand stehen. Sie hätte früher kommen sollen.
Sie öffnete den Mund, um weitere Fragen zu stellen, aber die Schwester hatte ihr bereits ihre breite Rückseite zugewandt und marschierte zu der Doppeltür auf der anderen Seite des Wohnzimmers.
»Hier entlang«, brummte Rocher, als würde Florence den Weg zum Schlafzimmer ihrer Großmutter nicht kennen. Die Pflegerin stieg die Eichentreppe hoch, und Florence ging ihr nach. Oben angekommen, stolperte sie fast über eine große graue Katze, die sich auf dem Treppenabsatz niedergelassen hatte.
»Weg mit dir, du Miststück!«, rief Lucienne und stieß sie mit dem Fuß an.
Die Katze fuhr zusammen und sprang maunzend auf. Dann begann sie um Florence’ Knöchel zu streichen.
»Na, du, dich kenne ich ja gar nicht«, sagte Florence. Sie nahm den Kater hoch und kraulte ihn unter dem Kinn, bis er wie ein leiser Motor zu schnurren begann. »Du bist aber ein Lieber.«
Rocher wandte sich um und blickte finster in Florence’ Richtung. »Tiere sind im Zimmer der Patientin nicht gestattet.«
Florence’ Zorn flackerte auf.
»Die Patientin«, sagte sie, »heißt Madame Adélaide Letrec. Ich bin ihre einzige Enkelin Florence Letrec. Und dieser Kater gehört offensichtlich genauso zu dieser Familie wie ich.«
»Pah«, schnaubte Lucienne und stapfte in Großmutters Zimmer davon. Florence wollte etwas erwidern, ließ es aber bleiben.
 
Am Ende des dunklen Flurs, am Ende eines Korridors voller geschlossener Türen, stand eine Zimmertür offen. Rocher eilte geschäftig umher, säuberte das Tablett, auf dem die Medikamente standen. In dem großen Bett mit den vier Pfosten lag Adélaide auf Kissen gestützt und mit einer Satindecke zugedeckt. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Atmung war schwer und mühsam. Einen Augenblick lang sagte Florence keinen Ton und beobachtete nur die knorrigen Finger ihrer Großmutter, die die Decke umklammert hielten. Ihre Haut wirkte brüchig und durchsichtig wie altes Pergamentpapier.
Wie hatte es dazu kommen können? Als Florence ihre Großmutter das letzte Mal gesehen hatte, trug sie ein edles Kostüm mit viel Schmuck und ein dezentes Make-up. Sie rauchte nur mit einer Zigarettenspitze. Trotz ihrer heute dreiundachtzig Jahre hatte Großmutter immer zehn Jahre jünger ausgesehen und sich auch so verhalten. Jeden Tag hatte sie ein stundenlanges Pflegeprogramm und Gymnastikübungen allem anderen vorgezogen.
Und jetzt hatte sich ihre Großmutter auf einmal in eine alte Frau verwandelt, im Augenblick eine sehr kranke. Schließlich öffneten sich die hellgrauen Augen, und ein schwaches Lächeln erhellte das faltige Gesicht. »Florence, mein liebes Kind!«, flüsterte die vertraute Stimme. »Endlich bist du gekommen.«
»Ich bin hier, Großmutter.« Florence’ Stimme zitterte. Sie nahm die faltige Hand von Adélaide.
Die Berührung schien ihr Kraft zu verleihen, sie wandte sich ihrer Enkelin zu. Ihr Blick hing fest an Florence’ Gesicht. »Danke, Madame Rocher.«
»Aber, Madame Letrec«, protestierte sie. Doch die faltige Hand winkte sie aus dem Raum. Die Krankenschwester schoss einen giftigen Blick in Florence’ Richtung, marschierte aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Adélaide lächelte schwach und sank zurück auf die Kissen. Florence’ Hand hielt sie noch immer umklammert.
»Sie ist eine gute Seele«, beteuerte die alte Frau leise, »aber ein wenig zu herrschsüchtig. Du wirst sie in ihre Schranken weisen müssen.«
»Das werde ich, Großmutter«, antwortete Florence mit mehr Zuversicht, als sie tatsächlich empfand. An der Herrschsucht der Pflegerin hatte sie keinen Zweifel. Wo die gute Seele begraben lag, war Florence bislang verborgen geblieben.
»Würdest du bitte die Vorhänge öffnen, mein Liebes?«, bat ihre Großmutter. »Rocher hält immer alles dunkel, und dadurch wird es muffig. Sie scheint zu denken, mein Zustand würde sich bessern, wenn sie die Welt ausschließt. Aber jetzt bist du da, und ich will dich ansehen.«
Florence ging zum Fenster und zog die schweren Samtvorhänge zurück. Die gelbe Herbstsonne fiel durch die verschmutzte Fensterscheibe ins Zimmer.
»Jetzt komm hier herüber«, befahl Großmutter.
Florence gehorchte sofort und setzte sich auf die Bettkante.
Eine schmale, von starken Venen durchzogene Hand hob sich von der Decke, umfasste Florence’ Kinn und drehte ihr Gesicht ihrer Großmutter zu. Der Griff war sanft, gleichzeitig aber auch fest.
»Sieh mich an. Geht es dir gut?«
Florence’ Eingeweide krampften sich zusammen, und sie wandte den Blick ab. »Sicher, Großmutter, mir geht es gut«, sagte sie. »Es tut mir leid. Ich wäre eher gekommen, wenn ich gewusst hätte, dass du so krank bist.« Und gewusst hätte, dass meine Mutter noch vor einigen Tagen gelebt hat, schob sie in Gedanken nach.
»Das weiß ich doch, Kindchen. Darum habe ich dir ja auch nichts davon erzählt.«
»Was sagen die Ärzte?«
Adélaide verdrehte die Augen. »Ärzte praktizieren Medizin«, sagte sie. »Ich bin nie davon überzeugt gewesen, dass sie sie perfektioniert haben. Wenn du es genau wissen willst, sie sagen, dass eine Lungenentzündung in meinem Alter gefährlich sein kann. Ich habe aber ganz gut auf die Antibiotika angesprochen, darum haben sie nicht darauf bestanden, mich ins Krankenhaus einzuliefern. Ich kann nur nicht genau sagen, wie lange es dauern wird, bis ich wieder gesund bin.«
»Aber du wirst doch wieder gesund werden«, entgegnete Florence und gab sich die größte Mühe, die Aussage nicht wie eine Frage klingen zu lassen.
»Ob ich sterben werde, meinst du?« Adélaide lachte. »Ja, ich werde sterben. Irgendwann. Aber noch nicht in naher Zukunft.«
Ein nervöses Lachen zwang sich auf Florence’ Lippen. Sie atmete aus und entspannte sich etwas. Ihre Großmutter war krank, aber sie war immer noch Adélaide. Diese Erkenntnis brachte ihr ein gewisses Maß an Trost und Sicherheit. Nicht genug, aber ein wenig.
»Du siehst verändert aus«, sagte Adélaide gerade. »Du bist sehr dünn. Und dein Haar …«
»Ich hatte noch keine Gelegenheit, zum Friseur zu gehen.« Florence fuhr sich mit der Hand durch das glatte Haar. »Ich bin …«, sie suchte nach dem passenden Wort, »beschäftigt gewesen.«
Adélaide kämpfte mit den Kissen und versuchte, sich etwas höher aufzurichten. Selbst solch eine kleine Anstrengung schien sie zu erschöpfen. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen.
»Wenn du dich ausruhen musst, werde ich später wiederkommen«, sagte Florence.
»Das wirst du nicht tun. Wir haben uns seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen, und wir müssen miteinander reden.«
In Paris hatte sich Florence vorgenommen, ihre Großmutter gleich zur Rede zu stellen, was es mit diesem seltsamen Brief auf sich hatte. Doch als sie die zerbrechliche Frau vor sich sah, hatte sie sich anders entschieden. Der Sog der Schuldgefühle zog Florence noch weiter herunter. Sie wandte den Blick ab. »Großmutter, es tut mir leid, dass ich nicht für dich da war.«
»Wie viel Uhr ist es?«
Florence runzelte die Stirn und sah auf die Uhr. »Es ist Viertel nach vier. Warum?«
»Ich habe mich gerade gefragt, wie lange du dich noch mit Schuldgefühlen quälen willst, nur weil du dein eigenes Leben führst.«
Florence starrte sie an, dann lachte sie. »Natürlich hast du recht. Ich sollte an dich denken und wie du dich fühlst.«
Großmutter schüttelte den Kopf. »Nein, ich meine es ernst. Wie lange? Werden zehn Minuten ausreichen? Prima. Ich warte zehn Minuten, während du dich schlecht fühlst, dann können wir vielleicht unsere Unterhaltung fortsetzen.« Sie schloss die Augen.
Florence saß auf der Bettkante. Stille senkte sich über den Raum, die nur von dem leisen Ticken der Uhr und dem rasselnden Atem ihrer Großmutter unterbrochen wurde. Eine Erinnerung aus ihrer Kindheit. Von Anfang an, selbst in den ersten schwierigen Tagen von Florence’ Aufenthalt in diesem Haus, war Großmutter offen und direkt zu ihr gewesen, eine Ehrlichkeit, die in der Regel mit einer gesunden Prise Humor gewürzt war. Florence mochte sich selbst zwar infrage stellen, aber sie wusste immer genau, woran sie bei Großmutter Adélaide war. Sie brauchte nicht unnötig Energie darauf zu verwenden, Gedankenspiele zu spielen. Großmutter war die einzige Person in ihrem Leben, der Florence uneingeschränkt vertraute, und dieses Vertrauen hatte ihr in einer Angst machenden und unsicheren Welt einen kleinen Kokon der Sicherheit gegeben.
Nach einer Weile öffnete Großmutter ein Auge. »Ist die Zeit um?«
Florence sah auf die Uhr. »Es sind jetzt achteinhalb Minuten, aber ich werde die letzten eineinhalb Minuten einfach überspringen, wenn es dir recht ist.«
Großmutter tätschelte ihre Hand. »Einverstanden. Und jetzt erzähl mir von deinem neuen Roman, dem Mann in deinem Leben und von deinen Plänen.«
Florence nickte. »Ja. Es ist alles in Ordnung.«
Großmutter sah sie an. »Das klingt nicht sonderlich begeistert. Ich dachte, das sei, was du dir immer gewünscht hast – eine erfolgreiche Schriftstellerin zu werden. Was du ja auch erreicht hast.«
Florence atmete ein und hielt die Luft eine Weile an. »Sicher, das wollte ich auch. Aber im Augenblick ist alles ein wenig verwirrend. Patrick hat mich gebeten, ihn zu heiraten.«
Großmutters Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ist er ein guter Mann? Du hättest es schlechter treffen können.«
Florence wusste, dass sie mit dem letzten Satz auf Serge anspielen wollte.
Serge Renaud, der Sohn des Leuchtturmwärters. Als sie hier ankam, hatte sie für einen Augenblick an ihn gedacht. Jetzt stellte Florence erstaunt fest, wie lebendig er in ihr geblieben war. Je mehr sie darüber nachdachte, je weniger wusste sie, was dieser Mann ihr bedeutet hatte. Florence war überwältigt von einem tiefen Gefühl des Verlustes. Nach all den Jahren war Serge plötzlich wieder real für sie geworden. Es war so, als hätte er einen Winterschlaf in ihrem Inneren gehalten. Die Erinnerung an ihn stieg an die Oberfläche und löste ein körperliches Verlangen in ihr aus, das Florence gleichzeitig beunruhigte und traurig machte.
»Was ist mit dir, Kind?« Ihre Großmutter sah sie mit einem prüfenden Blick an.
»Was?«
»Ich habe dir eine Frage gestellt.«
»Entschuldige, ich bin etwas müde von der langen Fahrt.«
»Ist er gut zu dir?«
»Ja, er ist ein anständiger Mann.« Sie sah zum Fenster. Ohne Zweifel, dachte sie, konnte Patrick freundlich und großzügig sein, humorvoll und verlässlich, aber Florence kannte genauso gut Wesenszüge wie bitteren Sarkasmus, Arroganz, Stolz und einen knallharten Willen, die Welt und die Menschen darin nach seinen Vorstellungen zu formen.
Adélaide nahm Florence’ Hand. »Dein Verlobungsring ist wunderschön. Und auch dein Äußeres, deine Frisur und wie du dich kleidest, gefällt mir sehr gut. Dieser Patrick scheint einen guten Einfluss auf dich zu haben.« Sie sah ihre Enkelin an. »Da ist doch noch etwas, was du nicht aussprichst.« Adélaide zog eine Augenbraue in die Höhe.
Florence schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht genau, ob ich für eine Ehe bereit bin. Zumindest jetzt.« Ihre Antwort sollte die Wahrheit verbergen, denn die konnte Florence nicht artikulieren. Wie sollte sie auch Gefühle erklären, die sie selbst nicht verstand?
Adélaide wandte den Kopf und wisperte eine Frage, an die Florence bisher nicht zu denken gewagt hatte. »Willst du dich von ihm trennen?«
»Was? Nein, natürlich nicht«, stotterte Florence.
»Das ist normalerweise der Grund, wenn eine Frau … allein zu ihrer Großmutter fährt.«
»Was redest du da?« Florence verschränkte krampfhaft die Finger ineinander. Sie presste ihre Füße fest auf den Teppich und wappnete sich gegen die bevorstehende Predigt über Verantwortung, Jugendsünden und frühere Dummheiten.
Sie blieb aus.
Großmutter nahm einen Schluck Wasser aus einem Glas, das auf ihrem Nachttisch stand, lehnte sich wieder in die Kissen zurück und blickte Florence an. »Du musst dir sicher sein.«
Dieser einfache Satz hallte in Florence’ Kopf mit der Macht eines prophetischen Orakels nach. Ihr fiel keine passende Antwort ein, darum beschäftigte sie sich mit den Kissen ihrer Großmutter. »Du scheinst müde zu sein. Soll ich gehen?«
»Noch nicht. Ich werde ein wenig ruhen müssen, aber erzähl mir zuerst von dir. Ich möchte mehr von dem hören, was in deiner Welt vorgeht.«
Florence setzte sich wieder auf die Bettkante und überlegte, was sie erzählen könnte – etwas, das nicht die Unsicherheit enthüllte, die sie nun schon seit Wochen plagte. »Nun, mal sehen … Patrick soll Partner in der Anwaltskanzlei werden. Sehr vielversprechend.«
Großmutter winkte mit der Hand, um sie zum Weitersprechen aufzufordern.
Florence gehorchte, flatterte von einem Thema zum nächsten. Sie erzählte von Patrick, ihren umfangreichen Recherchen für den nächsten Roman, von der Wochenendreise mit einer Bekannten, die sie nach Lourmarin in die Provence geführt hatte, wo sie Albert Camus’ Grab besucht hatte, von ihren älteren Werken und deren Verkaufszahlen. Von allem Möglichen, nur nicht von sich selbst und dem Brief aus dem Kloster. Alles oberflächliche Dinge, Plaudereien bei einer Cocktailparty.
Schließlich ging ihr der Gesprächsstoff aus. Sie betrachtete ihre Großmutter und stellte fest, dass sie noch blasser und ausgezehrter wirkte als zuvor.
»Du bist erschöpft, Großmutter.«
»Ich bin etwas müde. Vielleicht sollte ich jetzt ein wenig ruhen.« Sie begann zu husten, tief und rasselnd.
Die Krankenschwester erschien in der Tür. »Es ist Zeit für Ihre Medikamente, Madame Letrec.«
»In Ordnung.« Adélaide wandte sich Florence zu. »Wir setzen dieses Gespräch später fort, Liebes. Du bleibst doch, nicht?«
»Natürlich. Solange du mich brauchst.« Florence gab ihrer Großmutter einen Kuss auf die Wange und floh in den Flur. Die Pflegerin schloss die Tür hinter ihr.