Cover

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

Die E-Books des Reclam Verlags verwenden entsprechend der jeweiligen Buchausgabe Sperrungen zur Hervorhebung von Textpassagen. Diese Textauszeichnung wird nicht von allen Readern unterstützt.

Enthält das E-Book in eckigen Klammern beigefügte Seitenzählungen, so verweisen diese auf die Printausgabe des Werkes.

Fußnoten

Auch in den folgenden Auflagen stand bis 1974 stets statt des vom Autor wortspielend gemeinten »georgelte« der, laut seiner Witwe Hadwig Klemperer, »hartnäckige Druckfehler « »orgelte«. Vgl. Tagebuch vom 2.11.1947; Kristine Fischer-Hupe, Victor Klemperers »LTI. Notizbuch eines Philologen«. Ein Kommentar, Hildesheim 2001 (Germanistische Linguistik. Monographien, 7), S. 384

Sämtliche bibliographischen Angaben s. Anm. zu 19,9 im Kommentar.

Victor Klemperer, Curriculum Vitae. Jugend um 1900, 2 Bde., Berlin 1989.

Bibliographische Angaben s. Anm. im Kommentar.

Vgl. hier.

In der vorliegenden Ausgabe des LTI S. 19.

Ebd.

In der vorliegenden Ausgabe des LTI S. 19.

LTI

Notizbuch eines Philologen

Nach der Ausgabe letzter Hand

MEINER FRAU EVA KLEMPERER

Schon vor zwanzig Jahren schrieb ich Dir, liebe Eva, vor die Widmung einer Studiensammlung, von einer Widmung im üblichen Sinn eines Geschenkes könne von mir zu Dir keine Rede sein, da Du an sich schon Miteigentümerin meiner Bücher seiest, die durchweg das Ergebnis einer geistigen Gütergemeinschaft darstellten. Das ist nun bis heute so geblieben.

Aber diesmal liegen die Dinge noch etwas anders als bei all meinen früheren Veröffentlichungen, diesmal bin ich noch viel weniger zu einer Widmung an Dich berechtigt und unvergleichlich mehr zu ihr verpflichtet als damals, da wir in friedlichen Zeiten Philologie trieben. Denn ohne Dich wäre heute dieses Buch nicht vorhanden und auch längst nicht mehr sein Schreiber.

Es würde vieler und intimer Seiten bedürfen, wollte ich das im einzelnen erklären. Nimm statt dessen die allgemeine Reflexion des Philologen und Pädagogen am Eingang dieser Skizzen. Du weißt es, und ein Blinder muß es mit dem Stock fühlen, an wen ich denke, wenn ich vor meinen Hörern über Heroismus spreche.

 

Dresden, Weihnachten 1946

VICTOR KLEMPERER

 

 

Sprache

ist mehr als Blut

 

  Franz Rosenzweig

Heroismus

Statt eines Vorwortes

Die Sprache des Dritten Reiches hat aus neuen Bedürfnissen heraus der distanzierenden Vorsilbe ent einigen Zuwachs zuteil werden lassen (wobei es jedesmal dahingestellt bleibt, ob es sich um völlige Neuschöpfung handelt oder um die Übernahme in Fachkreisen bereits bekannter Ausdrücke in die Sprache der Allgemeinheit). Fenster mußten vor der Fliegergefahr verdunkelt werden, und so ergab sich die tägliche Arbeit des Entdunkelns. Hausböden durften bei Dachbränden den Löschenden kein Gerümpel in den Weg stellen, sie wurden entrümpelt. Neue Nahrungsquellen mußten erschlossen werden: die bittere Roßkastanie wurde entbittert …

Zur umfassenden Bezeichnung der notwendigsten Gegenwartsaufgabe hat man eine analog gebildete Wortform allgemein eingeführt: am Nazismus ist Deutschland fast zugrunde gegangen; das Bemühen, es von dieser tödlichen Krankheit zu heilen, nennt sich heute Entnazifizierung. Ich wünsche nicht und glaube auch nicht, daß das scheußliche Wort ein dauerndes Leben behält; es wird versinken und nur noch ein geschichtliches Dasein führen, sobald seine Gegenwartspflicht erfüllt ist.

Der zweite Weltkrieg hat uns mehrfach diesen Vorgang gezeigt, wie ein eben noch überlebendiger und scheinbar zu nie mehr ausrottbarer Existenz bestimmter Ausdruck plötzlich verstummt: er ist versunken mit der Lage, die ihn erzeugte, er wird später einmal Zeugnis von ihr ablegen wie eine Versteinerung. So ist es dem Blitzkrieg ergangen und dem ihm zugeordneten Adjektiv schlagartig, so den Vernichtungsschlachten und den dazugehörigen Einkesselungen, so auch dem »wandernden Kessel« – er bedarf schon heute der Kommentierung, daß es sich um den verzweifelten Rückzugsversuch eingekesselter Divisionen handelte –, so dem Nervenkrieg, so schließlich gar dem Endsieg. Der Landekopf lebte vom Frühjahr bis zum Sommer 1944, er lebte noch, als er schon zu unförmlicher Größe angeschwollen war; aber dann, als Paris gefallen, als ganz Frankreich zum Landekopf geworden, dann war es plötzlich durchaus vorbei mit ihm, und erst im Geschichtsunterricht späterer Zeiten wird seine Versteinerung wieder auftauchen.

Und so wird es auch mit dem schwerstwiegenden Entscheidungswort unserer Übergangsepoche gehen: eines Tages wird das Wort Entnazifizierung versunken sein, weil der Zustand, den es beenden sollte, nicht mehr vorhanden ist.

Aber eine ganze Weile wird es bis dahin noch dauern, denn zu verschwinden hat ja nicht nur das nazistische Tun, sondern auch die nazistische Gesinnung, die nazistische Denkgewöhnung und ihr Nährboden: die Sprache des Nazismus.

Wie viele Begriffe und Gefühle hat sie geschändet und vergiftet! Am sogenannten Abendgymnasium der Dresdener Volkshochschule und in den Diskussionen, die der Kulturbund mit der Freien Deutschen Jugend veranstaltete, ist mir oft und oft aufgefallen, wie die jungen Leute in aller Unschuld und bei aufrichtigem Bemühen, die Lücken und Irrtümer ihrer vernachlässigten Bildung auszufüllen, an den Gedankengängen des Nazismus festhalten. Sie wissen es gar nicht; der beibehaltene Sprachgebrauch der abgelaufenen Epoche verwirrt und verführt sie. Wir redeten über den Sinn der Kultur, der Humanität, der Demokratie, und ich hatte den Eindruck, es werde schon Licht, es kläre sich schon manches in den gutwilligen Köpfen – und dann, das lag ja so unvermeidlich nah, sprach irgend jemand von irgendeinem heldischen Verhalten oder einem heroischen Widerstand oder von Heroismus überhaupt. Im selben Augenblick, wo dieser Begriff im geringsten ins Spiel kam, war alle Klarheit verschwunden, und wir staken wieder tief im Gewölk des Nazismus. Und nicht nur die jungen Menschen, die eben aus dem Felde und der Gefangenschaft zurückgekehrt waren und sich nicht genug berücksichtigt, geschweige denn gefeiert sahen, nein, auch Mädchen, die keinen Heeresdienst getan hatten, waren völlig befangen in der fragwürdigsten Auffassung des Heldentums. Außer Frage stand dabei nur, daß man nun doch unmöglich ein wirklich richtiges Verhältnis zum Wesen der Humanität, der Kultur und der Demokratie haben konnte, wenn man derart über Heldentum dachte oder, genauer gesagt, an ihm vorbeidachte.

Aber in welchen Zusammenhängen war denn dieser Generation, die 1933 noch kaum über das Abc hinaus gewesen, das Wort heroisch mit seinem ganzen Sippenzubehör ausschließlich entgegengetreten? Darauf war vor allem zu antworten, daß es immer in Uniform gesteckt hatte, in drei verschiedenen Uniformen, aber nie in Zivil.

Wo Hitlers Kampfbuch allgemeine Richtlinien der Erziehung aufstellt, da steht das Körperliche weitaus im Vordergrund. Er liebt den Ausdruck »körperliche Ertüchtigung«, den er dem Lexikon der Weimarischen Konservativen entnommen hat, er preist die Wilhelminische Armee als die einzige gesunde und lebenspendende Einrichtung eines im übrigen verfaulenden Volkskörpers, und er sieht im Heeresdienst vor allem oder ausschließlich eine Erziehung zu körperlicher Leistungsfähigkeit. Die Ausbildung des Charakters nimmt für Hitler ausdrücklich nur die zweite Stelle ein; nach seiner Meinung ergibt sie sich mehr oder minder von selber, wenn eben das Körperliche die Erziehung beherrscht und das Geistige zurückdrängt. An letzter Stelle aber, und nur widerwillig zugelassen und verdächtigt und geschmäht, steht in diesem pädagogischen Programm die Ausbildung des Intellekts und seine Versorgung mit Wissensstoff. In immer neuen Wendungen gibt sich die Angst vor dem denkenden Menschen, der Haß auf das Denken zu erkennen. Wenn Hitler von seinem Aufstieg, seinen ersten großen Versammlungserfolgen berichtet, dann rühmt er nicht weniger als die eigene Rednergabe die Kampftüchtigkeit seiner Ordnungsmänner, aus deren kleiner Gruppe sich bald die SA entwickelt. Die »braunen Sturmabteilungen«, deren Aufgabe eine rein brachiale ist, die über politische Gegner innerhalb der Versammlung herzufallen und sie aus dem Saal zu treiben haben: das sind seine eigentlichen Helfer im Ringen um das Herz des Volkes, das sind seine ersten Helden, die er als blutüberströmte Besieger feindlicher Übermacht, als die vorbildlichen Heroen historischer Saalschlachten schildert. Und ähnliche Schilderungen und gleiche Gesinnung und gleiches Vokabular finden sich, wo Goebbels seinen Kampf um Berlin erzählt. Nicht der Geist ist Sieger, es geht nicht ums Überzeugen, nicht einmal die Übertölpelung mit den Mitteln der Rhetorik bringt die letzte Entscheidung zugunsten der neuen Lehre, sondern das Heldentum der frühesten SA-Männer, der »alten Kämpfer«.

Wobei sich mir Hitlers und Goebbels’ Berichte ergänzen durch die fachliche Unterscheidung unserer Freundin, die damals Assistenzärztin im Krankenhaus eines sächsischen Industrienestes war. »Wenn wir am Abend nach den Versammlungen die Verletzten hereinbekamen«, erzählte sie oft, »dann wußte ich sofort, welcher Partei jeder angehörte, auch wenn er schon ausgekleidet im Bett lag: die mit der Kopfwunde vom Bierseidel oder Stuhlbein waren Nazis, und die mit dem Stilettstich in der Lunge waren Kommunisten.« Im Punkte des Ruhms verhält es sich mit der SA wie mit der italienischen Literatur, beide Male fällt der höchste, nie wieder zu gleicher Intensität erstarkte Glanz auf die Anfänge.

Die zeitlich zweite Uniform, in der nazistisches Heldentum auftritt, ist die Vermummung des Rennfahrers, sind sein Sturzhelm, seine Brillenmaske, seine dicken Handschuhe. Der Nazismus hat alle Sportarten gepflegt, und rein sprachlich ist er von allen andern zusammen nicht derart beeinflußt wie vom Boxen; aber das einprägsamste und häufigste Bild des Heldentums liefert in der Mitte der dreißiger Jahre der Autorennfahrer: nach seinem Todessturz steht Bernd Rosemeyer eine Zeitlang fast gleichwertig mit Horst Wessel vor den Augen der Volksphantasie. (Anmerkung für meine Hochschulkollegen: über wechselseitige Beziehungen zwischen Goebbels’ Stil und dem Erinnerungsbuch der Fliegerin Elly Beinhorn: »Mein Mann, der Rennfahrer« lassen sich die interessantesten Seminaruntersuchungen anstellen.) Eine Zeitlang sind die Sieger im internationalen Autorennen, hinter dem Lenkrad ihres Kampfwagens oder an ihn gelehnt oder auch unter ihm begraben, die meistphotographierten Tageshelden. Wenn der junge Mensch sein Heldenbild nicht von den muskelbeladenen nackten oder in SA-Uniform steckenden Kriegergestalten der Plakate und Denkmünzen dieser Tage abnimmt, dann gewiß von den Rennfahrern; gemeinsam ist beiden Heldenverkörperungen der starre Blick, in dem sich vorwärtsgerichtete harte Entschlossenheit und Eroberungswille ausdrücken.

An die Stelle des Rennkampfwagens tritt von 1939 an der Tank, an die Stelle des Rennfahrers der Panzerfahrer. (So nannte der Landser nicht nur den Mann am Steuer, sondern auch die Panzergrenadiere.) Seit dem ersten Kriegstag und nun bis zum Untergang des Dritten Reichs trägt alles Heldentum zu Wasser, zu Lande und in der Luft militärische Uniform. Im ersten Weltkrieg gab es noch ein ziviles Heldentum hinter der Front. Wie lange gibt es jetzt noch ein Hinter-der-Front? Wie lange noch ein ziviles Dasein? Die Lehre vom totalen Krieg wendet sich fürchterlich gegen ihre Urheber: alles ist Kriegsschauplatz, in jeder Fabrik, in jedem Keller bewährt man militärisches Heldentum, sterben Kinder und Frauen und Greise genau den gleichen heroischen Schlachtentod, oft genug sogar in genau der gleichen Uniform, wie sich das sonst nur für junge Soldaten des Feldheeres schickte oder zustande bringen ließ.

Durch zwölf Jahre ist der Begriff und ist der Wortschatz des Heroischen in steigendem Maße und immer ausschließlicher auf kriegerischen Mut, auf verwegene todverachtende Haltung in irgendeiner Kampfhandlung angewandt worden. Nicht umsonst hat die Sprache des Nazismus das neue und seltene Adjektiv neuromantischer Ästheten: »kämpferisch« in allgemeinen Umlauf gesetzt und zu einem ihrer Lieblingsworte gemacht. Kriegerisch war zu eng, ließ nur an die Dinge des Krieges denken, war wohl auch zu offenherzig, verriet Streitlust und Eroberungssucht. Dagegen kämpferisch! Es bezeichnet in einer allgemeineren Weise die angespannte, in jeder Lebenslage auf Selbstbehauptung durch Abwehr und Angriff gerichtete, zu keinem Verzicht geneigte Haltung des Gemütes, des Willens. Der Mißbrauch, den man mit dem Kämpferischen getrieben hat, paßt genau zu dem übermäßigen Verschleiß an Heroismus bei schiefer und falscher Verwendung des Begriffes.

»Aber Sie tun uns wirklich Unrecht, Herr Professor! Uns – damit meine ich nicht die Nazis, ich bin keiner. Doch im Feld war ich, mit ein paar Unterbrechungen, die ganzen Jahre über. Ist es nicht natürlich, daß in Kriegszeiten besonders viel von Heldentum gesprochen wird? Und wieso muß es ein falsches Heldentum sein, das da an den Tag gelegt wird?«

»Zum Heldentum gehört nicht nur Mut und Aufsspielsetzen des eigenen Lebens. So etwas bringt jeder Raufbold und jeder Verbrecher auf. Der Heros ist ursprünglich ein Vollbringer menschheitsfördernder Taten. Ein Eroberungskrieg, und nun gar ein mit soviel Grausamkeit geführter wie der Hitlerische, hat nichts mit Heroismus zu tun.«

»Aber es hat doch unter meinen Kameraden so viele gegeben, die nicht an Grausamkeiten beteiligt und die der festen Überzeugung waren – man hatte es uns ja nie anders dargestellt –, daß wir, auch im Angreifen und Erobern, nur einen Verteidigungskrieg führten, und daß es auch zum Heil der Welt sein würde, wenn wir siegten. Die wahre Sachlage haben wir erst viel später und allzu spät erkannt … Und glauben Sie nicht, daß auch im Sport wirkliches Heldentum entwickelt werden kann, daß eine Sportleistung in ihrer Vorbildlichkeit menschheitsfördernd zu wirken vermag?«

»Gewiß ist das möglich, und sicherlich hat es auch in Nazideutschland unter den Sportlern und den Soldaten gelegentlich wirkliche Helden gegeben. Nur im ganzen stehe ich dem Heldentum gerade dieser beiden Berufsgruppen skeptisch gegenüber. Es ist beides zu lautes, zu gewinnbringendes, die Eitelkeit zu sehr befriedigendes Heldentum, als daß es häufig echt sein könnte. Gewiß, diese Rennfahrer waren buchstäbliche Industrieritter, ihre halsbrecherischen Fahrten sollten den deutschen Fabriken und damit dem Vaterland zugute kommen, und vielleicht sollten sie sogar der Allgemeinheit Nutzen tragen, indem sie zur Vervollkommnung des Autobaus Erfahrungen beisteuerten. Aber es war doch soviel Eitelkeit, soviel Gladiatorengewinn im Spiel! Und was bei den Rennfahrern die Kränze und Preise, das sind bei den Soldaten die Orden und Beförderungen. Nein, ich glaube in den seltensten Fällen an Heroismus, wo er sich in aller Öffentlichkeit laut betätigt, und wo er sich im Fall des Erfolges gar zu gut bezahlt macht. Heroismus ist um so reiner und bedeutender, je stiller er ist, je weniger Publikum er hat, je weniger rentabel er für den Helden selber, je weniger dekorativ er ist. Was ich dem Heldenbegriff des Nazismus vorwerfe, ist gerade sein ständiges Gekettetsein an das Dekorative, ist das Prahlerische seines Auftretens. Ein anständiges, echtes Heldentum hat der Nazismus offiziell überhaupt nicht gekannt. Und dadurch hat er den ganzen Begriff verfälscht und in Mißkredit gebracht.«

»Sprechen Sie stilles und echtes Heldentum den Hitlerjahren überhaupt ab?«

»Den Hitlerjahren nicht – im Gegenteil, die haben reinsten Heroismus gezeitigt, aber auf der Gegenseite sozusagen. Ich denke an die vielen Tapferen in den KZ, an die vielen verwegenen Illegalen. Da waren die Todesgefahren, waren die Leiden noch ungleich größer als an den Fronten, und aller Glanz des Dekorativen fehlte so gänzlich! Es war nicht der vielgerühmte Tod auf dem ›Felde der Ehre‹, den man vor Augen hatte, sondern günstigstenfalls der Tod durch die Guillotine. Und doch – wenn auch das Dekorative fehlte und dieses Heldentum fraglos echt war, eine innere Stütze und Erleichterung haben diese Helden doch auch besessen: auch sie wußten sich die Angehörigen einer Armee, sie hatten den festen und wohlbegründeten Glauben an den schließlichen Sieg ihrer Sache, sie konnten den stolzen Glauben mit ins Grab nehmen, daß ihr Name irgendwann einmal um so ruhmreicher auferstehen werde, je schmachvoller man sie jetzt hinmordete.

Aber ich weiß von einem noch viel trostloseren, noch viel stilleren Heldentum, von einem Heroismus, dem jede Stütze der Gemeinsamkeit mit einem Heer, einer politischen Gruppe, dem jede Hoffnung auf künftigen Glanz durchaus abging, der ganz und gar auf sich allein gestellt war. Das waren die paar arischen Ehefrauen (allzu viele sind es nicht gewesen), die jedem Druck, sich von ihren jüdischen Ehemännern zu trennen, standgehalten hatten. Wie hat der Alltag dieser Frauen ausgesehen! Welche Beschimpfungen, Drohungen, Schläge, Bespuckungen haben sie erlitten, welche Entbehrungen, wenn sie die normale Knappheit ihrer Lebensmittelkarten mit ihren Männern teilten, die auf die unternormale Judenkarte gestellt waren, wo ihre arischen Fabrikkameraden die Zulagen der Schwerarbeiter erhielten. Welchen Lebenswillen mußten sie aufbringen, wenn sie krank lagen von all der Schmach und qualvollen Jämmerlichkeit, wenn die vielen Selbstmorde in ihrer Umgebung verlockend auf die ewige Ruhe vor der Gestapo hinwiesen! Sie wußten, ihr Tod werde den Mann unweigerlich hinter sich herzerren, denn der jüdische Ehegatte wurde von der noch warmen Leiche der arischen Frau weg ins mörderische Exil transportiert. Welcher Stoizismus, welch ein Aufwand an Selbstdisziplin war nötig, den Übermüdeten, Geschundenen, Verzweifelten immer wieder und wieder aufzurichten. Im Granatfeuer des Schlachtfeldes, im Schuttgeriesel des nachgebenden Bombenkellers, selbst im Anblick des Galgens gibt es noch die Wirkung eines pathetischen Moments, das stützend wirkt – aber in dem zermürbenden Ekel des schmutzigen Alltags, dem unabsehbar viele gleich schmutzige Alltage folgen werden, was hält da aufrecht? Und hier stark zu bleiben, so stark, daß man es dem andern immerfort predigen und es ihm immer wieder aufzwingen kann, die Stunde werde kommen, es sei Pflicht, sie zu erwarten, so stark zu bleiben, wo man ganz auf sich allein angewiesen ist in gruppenloser Vereinzelung, denn das Judenhaus bildet keine Gruppe trotz seines gemeinsamen Feindes und Schicksals und trotz seiner Gruppensprache: das ist Heroismus über jeglichem Heldentum.

Nein: den Hitlerjahren hat es wahrhaftig nicht an Heldentum gefehlt, aber im eigentlichen Hitlerismus, in der Gemeinschaft der Hitlerianer hat es nur einen veräußerlichten, einen verzerrten und vergifteten Heroismus gegeben, man denkt an protzige Pokale und Ordensgeklingel, man denkt an geschwollene Worte der Beweihräucherung, man denkt an erbarmungsloses Morden …«

Gehört die Sippe der Heldentumsworte in die LTI? Eigentlich ja, denn sie sind dicht gesät und charakterisieren überall spezifische Verlogenheit und Roheit des Nazistischen. Auch sind sie eng verknotet worden mit den Lobpreisungen der germanischen Auserwähltheit: alles Heroische war einzig der germanischen Rasse zugehörig. Und eigentlich nein; denn alle Verzerrungen und Veräußerlichungen haben dieser tönenden Wortsippe schon oft genug vor dem Dritten Reich angehaftet. So mag sie hier im Randgebiet des Vorworts erwähnt sein.

Eine Wendung freilich muß als spezifisch nazistisch gebucht werden. Schon um des Trostes willen, der von ihr ausging. Im Dezember 1941 kam Paul K. einmal strahlend von der Arbeit. Er hatte unterwegs den Heeresbericht gelesen. »Es geht ihnen miserabel in Afrika«, sagte er. Ob sie das wirklich zugäben, fragte ich – sie berichteten doch sonst immer nur von Siegen.

»Sie schreiben: ›Unsere heldenhaft kämpfenden Truppen.‹ Heldenhaft klingt wie Nachruf, verlassen Sie sich darauf.«

Seitdem hat heldenhaft in den Bulletins noch viele, viele Male wie Nachruf geklungen und niemals getäuscht.

I LTI

Es gab den BDM und die HJ und die DAF und ungezählte andere solcher abkürzenden Bezeichnungen.

Als parodierende Spielerei zuerst, gleich darauf als ein flüchtiger Notbehelf des Erinnerns, als eine Art Knoten im Taschentuch, und sehr bald und nun für all die Elendsjahre als eine Notwehr, als ein an mich selber gerichteter SOS-Ruf steht das Zeichen LTI in meinem Tagebuch. Ein schön gelehrtes Signum, wie ja das Dritte Reich von Zeit zu Zeit den volltönenden Fremdausdruck liebte: Garant klingt bedeutsamer als Bürge und diffamieren imposanter als schlechtmachen. (Vielleicht versteht es auch nicht jeder, und auf den wirkt es dann erst recht.)

LTI: Lingua Tertii Imperii, Sprache des Dritten Reichs. Ich habe so oft an eine Alt-Berliner Anekdote gedacht, wahrscheinlich stand sie in meinem schönillustrierten Glaßbrenner, dem Humoristen der Märzrevolution – aber wo ist meine Bibliothek geblieben, in der ich nachsehen könnte? Ob es Zweck hätte, sich bei der Gestapo nach ihrem Verbleib zu erkundigen? … »Vater«, fragt also ein Junge im Zirkus, »was macht denn der Mann auf dem Seil mit der Stange?« – »Dummer Junge, das ist eine Balancierstange, an der hält er sich fest.« – »Au, Vater, wenn er sie aber fallen läßt?« – »Dummer Junge, er hält ihr ja fest!«

Mein Tagebuch war in diesen Jahren immer wieder meine Balancierstange, ohne die ich hundertmal abgestürzt wäre. In den Stunden des Ekels und der Hoffnungslosigkeit, in der endlosen Öde mechanischster Fabrikarbeit, an Kranken- und Sterbebetten, an Gräbern, in eigener Bedrängnis, in Momenten äußerster Schmach, bei physisch versagendem Herzen – immer half mir diese Forderung an mich selber: beobachte, studiere, präge dir ein, was geschieht – morgen sieht es schon anders aus, morgen fühlst du es schon anders; halte fest, wie es eben jetzt sich kundgibt und wirkt. Und sehr bald verdichtete sich dann dieser Anruf, mich über die Situation zu stellen und die innere Freiheit zu bewahren, zu der immer wirksamen Geheimformel: LTI, LTI!

Selbst wenn ich, was nicht der Fall ist, die Absicht hätte, das ganze Tagebuch dieser Zeit mit all seinen Alltagserlebnissen zu veröffentlichen, würde ich ihm dieses Signum zum Titel geben.

Man könnte das metaphorisch nehmen. Denn ebenso wie es üblich ist, vom Gesicht einer Zeit, eines Landes zu reden, genau so wird der Ausdruck einer Epoche als ihre Sprache bezeichnet. Das Dritte Reich spricht mit einer schrecklichen Einheitlichkeit aus all seinen Lebensäußerungen und Hinterlassenschaften: aus der maßlosen Prahlerei seiner Prunkbauten und aus ihren Trümmern, aus dem Typ der Soldaten, der SA- und SS-Männer, die es als Idealgestalten auf immer andern und immer gleichen Plakaten fixierte, aus seinen Autobahnen und Massengräbern. Das alles ist Sprache des Dritten Reichs, und von alledem ist natürlich auch in diesen Blättern die Rede. Aber wenn man einen Beruf durch Jahrzehnte ausgeübt und sehr gern ausgeübt hat, dann ist man schließlich stärker durch ihn geprägt als durch alles andere, und so war es denn buchstäblich und im unübertragen philologischen Sinn die Sprache des Dritten Reichs, woran ich mich aufs engste klammerte, und was meine Balancierstange ausmachte über die Öde der zehn Fabrikstunden, die Greuel der Haussuchungen, Verhaftungen, Mißhandlungen usw. usw. hinweg.

Man zitiert immer wieder Talleyrands Satz, die Sprache sei dazu da, die Gedanken des Diplomaten (oder eines schlauen und fragwürdigen Menschen überhaupt) zu verbergen. Aber genau das Gegenteil hiervon ist richtig. Was jemand willentlich verbergen will, sei es nur vor andern, sei es vor sich selber, auch was er unbewußt in sich trägt: die Sprache bringt es an den Tag. Das ist wohl auch der Sinn der Sentenz: le style c’est l’homme; die Aussagen eines Menschen mögen verlogen sein – im Stil seiner Sprache liegt sein Wesen hüllenlos offen.

Es ist mir merkwürdig ergangen mit dieser eigentlichen (philologisch eigentlichen) Sprache des Dritten Reichs.

Ganz im Anfang, solange ich noch keine oder doch nur sehr gelinde Verfolgung erfuhr, wollte ich so wenig als möglich von ihr hören. Ich hatte übergenug an der Sprache der Schaufenster, der Plakate, der braunen Uniformen, der Fahnen, der zum Hitlergruß gereckten Arme, der zurechtgestutzten Hitlerbärtchen. Ich flüchtete, ich vergrub mich in meinen Beruf, ich hielt meine Vorlesungen und übersah krampfhaft das Immer-leerer-Werden der Bänke vor mir, ich arbeitete mit aller Anspannung an meinem Achtzehnten Jahrhundert der französischen Literatur. Warum mir durch das Lesen nazistischer Schriften das Leben noch weiter vergällen, als es mir ohnehin durch die allgemeine Situation vergällt war? Kam mir durch Zufall oder Irrtum ein nazistisches Buch in die Hände, so warf ich es nach dem ersten Abschnitt beiseite. Grölte irgendwo auf der Straße die Stimme des Führers oder seines Propagandaministers, so machte ich einen weiten Bogen um den Lautsprecher, und bei der Zeitungslektüre war ich ängstlich bemüht, die nackten Tatsachen – sie waren in ihrer Nacktheit schon trostlos genug – aus der ekelhaften Brühe der Reden, Kommentare und Artikel herauszufischen. Als dann die Beamtenschaft gereinigt wurde und ich mein Katheder verlor, suchte ich mich erst recht von der Gegenwart abzuschließen. Die so unmodernen und längst von jedem, der etwas auf sich hielt, geschmähten Aufklärer, die Voltaire, Montesquieu und Diderot, waren immer meine Lieblinge gewesen. Nun konnte ich meine gesamte Zeit und Arbeitskraft an mein weit fortgeschrittenes Opus wenden; was das achtzehnte Jahrhundert anlangt, saß ich ja im Dresdener Japanischen Palais wie die Made im Speck; keine deutsche, kaum die Pariser Nationalbibliothek selber hätte mich besser versorgen können.

Aber dann traf mich das Verbot der Bibliotheksbenutzung, und damit war mir die Lebensarbeit aus der Hand geschlagen. Und dann kam die Austreibung aus meinem Hause, und dann kam alles Übrige, jeden Tag ein weiteres Übriges. Jetzt wurde die Balancierstange mein notwendigstes Gerät, die Sprache der Zeit mein vorzüglichstes Interesse.

Ich beobachtete immer genauer, wie die Arbeiter in der Fabrik redeten, und wie die Gestapobestien sprachen, und wie man sich bei uns im Zoologischen Garten der Judenkäfige ausdrückte. Es waren keine großen Unterschiede zu merken; nein, eigentlich überhaupt keine. Fraglos waren alle, Anhänger und Gegner, Nutznießer und Opfer, von denselben Vorbildern geleitet.

Ich suchte dieser Vorbilder habhaft zu werden, und das war in gewisser Hinsicht über alle Maßen einfach, denn alles, was in Deutschland gedruckt und geredet wurde, war ja durchaus parteiamtlich genormt; was irgendwie von der einen zugelassenen Form abwich, drang nicht an die Öffentlichkeit; Buch und Zeitung und Behördenzuschrift und Formulare einer Dienststelle – alles schwamm in derselben braunen Sauce, und aus dieser absoluten Einheitlichkeit der Schriftsprache erklärte sich denn auch die Gleichheit aller Redeform.

Aber wenn das Heranziehen der Vorbilder für tausend andere ein Kinderspiel bedeutet hätte, so war es doch für mich ungemein schwer und immer gefährlich und manchmal ganz und gar unmöglich. Kaufen, auch Ausleihen jeder Art von Buch, Zeitschrift und Zeitung war dem Sternträger verboten. Was man heimlich im Haus hatte, bedeutete Gefahr und wurde unter Schränken und Teppichen, auf Öfen und Gardinenhaltern versteckt oder beim Kohlenvorrat als Anheizmaterial aufbewahrt. Derartiges half natürlich nur, wenn man Glück hatte.

Nie, in meinem ganzen Leben nie, hat mir der Kopf so von einem Buche gedröhnt wie von Rosenbergs Mythus. Nicht etwa, weil er eine so ausnehmend tiefsinnige, schwer zu begreifende oder seelisch erschütternde Lektüre bedeutete, sondern weil mir Clemens den Band minutenlang auf den Kopf hämmerte. (Clemens und Weser waren die besonderen Folterknechte der Dresdener Juden, man unterschied sie allgemein als den Schläger und den Spucker.) »Wie kannst du Judenschwein dich unterstehen, ein solches Buch zu lesen?« brüllte Clemens. Ihm schien das eine Art Hostienentweihung. »Wie kannst du es überhaupt wagen, ein Werk aus der Leihbibliothek hier zu haben?« Nur daß der Band nachweislich auf den Namen der arischen Ehefrau ausgeliehen war, und freilich auch, daß das dazugehörige Notizblatt unentziffert zerrissen wurde, rettete mich damals vor dem KZ.

Alles Material mußte auf Schleichwegen herangeschafft, mußte heimlich ausgebeutet werden. Und wie vieles konnte ich mir auf keine Weise beschaffen! Denn wo ich ins Wurzelwerk einer Frage einzudringen suchte, wo ich, kurz gesagt, fachwissenschaftliches Arbeitsmaterial brauchte, da ließen mich die Leihbüchereien im Stich, und die öffentlichen Bibliotheken waren mir ja verschlossen.

Vielleicht denkt mancher, Fachkollegen oder ältere Schüler, die inzwischen zu Ämtern gekommen waren, hätten mir aus dieser Not helfen, sie hätten sich für mich als Mittelsmänner in den Leihverkehr einschalten können. Du lieber Gott! das wäre ja eine Tat persönlichen Mutes, persönlicher Gefährdung gewesen. Es gibt einen hübschen altfranzösischen Vers, den ich oft vom Katheder herab zitiert, aber erst später, in der kathederlosen Zeit, wirklich nachgefühlt habe. Ein ins Unglück geratener Dichter gedenkt wehmütig der zahlreichen amis que vent emporte, et il ventait devant ma porte, »der Freunde, die der Wind davonjagt, und windig war’s vor meiner Tür«. Doch ich will nicht ungerecht sein: ich habe treue und tapfere Freunde gefunden, nur waren eben nicht gerade engere Fachkollegen oder Berufsnachbarn darunter.

So stehen denn in meinen Notizen und Exzerpten immer wieder Bemerkungen wie: Später feststellen! … Später ergänzen! … Später beantworten! … Und dann, als die Hoffnung auf das Erleben dieses Später sinkt: das müßte später ausgeführt werden …

Heute, wo dies Später noch nicht völlige Gegenwart ist, aber es doch in dem Augenblick sein wird, da wieder Bücher aus dem Schutt und der Verkehrsnot auftauchen (und da man mit gutem Gewissen aus der Vita activa des Mitbauenden in die Studierstube zurückkehren darf), heute weiß ich, daß ich nun doch nicht imstande sein werde, meine Beobachtungen, meine Reflexionen und Fragen zur Sprache des Dritten Reichs aus dem Zustand des Skizzenhaften in den eines geschlossenen wissenschaftlichen Werkes hinüberzuführen.

Dazu würde mehr Wissen und wohl auch mehr Lebenszeit gehören, als mir, als (vorderhand) irgendeinem Einzelnen zur Verfügung stehen. Denn es wird sehr viel Facharbeit auf verschiedensten Gebieten zu leisten sein, Germanisten und Romanisten, Anglisten und Slawisten, Historiker und Nationalökonomen, Juristen und Theologen, Techniker und Naturwissenschaftler werden in Exkursen und ganzen Dissertationen sehr viele Einzelprobleme zu lösen haben, ehe ein mutiger und umfassender Kopf es wagen darf, die Lingua Tertii Imperii in ihrer Gesamtheit, der allerarmseligsten und allerreichhaltigsten Gesamtheit, darzustellen. Aber ein erstes Herumtasten und Herumfragen an Dingen, die sich noch nicht fixieren lassen, weil sie noch im Fließen sind, die Arbeit der ersten Stunde, wie die Franzosen so etwas nennen, wird doch für die danach kommenden eigentlichen Forscher immer seinen Wert haben, und ich glaube, es wird ihnen auch von Wert sein, ihr Objekt im Zustand einer halb vollzogenen Metamorphose zu sehen, halb als konkreten Erlebnisbericht und halb schon in die Begrifflichkeit der wissenschaftlichen Betrachtung eingegangen.

Doch wenn dies die Absicht meiner Veröffentlichung ist, warum gebe ich dann das Notizbuch des Philologen nicht ganz so wieder, wie es sich aus dem privateren und allgemeineren Tagebuch der schweren Jahre herausschälen läßt? Warum ist dies und jenes in einem Überblick zusammengefaßt, warum hat sich zum Gesichtspunkt des Damals so häufig der Gesichtspunkt des Heute, der ersten Nachhitlerzeit gesellt?

Ich will das genau beantworten. Weil eine Tendenz im Spiel ist, weil ich mit dem wissenschaftlichen Zweck zugleich einen erzieherischen verfolge.

Es wird jetzt soviel davon geredet, die Gesinnung des Faschismus auszurotten, es wird auch soviel dafür getan. Kriegsverbrecher werden gerichtet, »kleine PG.s« (Sprache des Vierten Reichs!) aus ihren Ämtern entfernt, nationalistische Bücher aus dem Verkehr gezogen, Hitlerplätze und Göringstraßen umbenannt, Hitler-Eichen gefällt. Aber die Sprache des Dritten Reichs scheint in manchen charakteristischen Ausdrücken überleben zu sollen; sie haben sich so tief eingefressen, daß sie ein dauernder Besitz der deutschen Sprache zu werden scheinen. Wie viele Male zum Exempel habe ich seit dem Mai 1945 in Funkreden, in leidenschaftlich antifaschistischen Kundgebungen etwa von »charakterlichen« Eigenschaften oder vom »kämpferischen« Wesen der Demokratie sprechen hören! Das sind Ausdrücke aus dem Zentrum – das Dritte Reich würde sagen: »aus der Wesensmitte« – der LTI. Ist es Pedanterie, wenn ich mich hieran stoße, kommt hier der Schulmeister ans Licht, der in jedem Philologen verborgen kauern soll?

Ich will die Frage durch eine zweite Frage bereinigen.

Was war das stärkste Propagandamittel der Hitlerei? Waren es Hitlers und Goebbels’ Einzelreden, ihre Ausführungen zu dem und jenem Gegenstand, ihre Hetze gegen das Judentum, gegen den Bolschewismus?

Fraglos nicht, denn vieles blieb von der Masse unverstanden oder langweilte sie in seinen ewigen Wiederholungen. Wie oft in Gasthäusern, als ich noch sternlos ein Gasthaus betreten durfte, wie oft später in der Fabrik während der Luftwache, wo die Arier ihr Zimmer für sich hatten und die Juden ihr Zimmer für sich, und im arischen Raum befand sich das Radio (und die Heizung und das Essen) – wie oft habe ich die Spielkarten auf den Tisch klatschen und laute Gespräche über Fleisch- und Tabakrationen und über das Kino führen hören, während der Führer oder einer seiner Paladine langatmig sprachen, und nachher hieß es in den Zeitungen, das ganze Volk habe ihnen gelauscht.

Nein, die stärkste Wirkung wurde nicht durch Einzelreden ausgeübt, auch nicht durch Artikel oder Flugblätter, durch Plakate oder Fahnen, sie wurde durch nichts erzielt, was man mit bewußtem Denken oder bewußtem Fühlen in sich aufnehmen mußte.

Sondern der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang, und die mechanisch und unbewußt übernommen wurden. Man pflegt das Schiller-Distichon von der »gebildeten Sprache, die für dich dichtet und denkt«, rein ästhetisch und sozusagen harmlos aufzufassen. Ein gelungener Vers in einer »gebildeten Sprache« beweist noch nichts für die dichterische Kraft seines Finders; es ist nicht allzu schwer, sich in einer hochkultivierten Sprache das Air eines Dichters und Denkers zu geben.

Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewußter ich mich ihr überlasse. Und wenn nun die gebildete Sprache aus giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da. Wenn einer lange genug für heldisch und tugendhaft: fanatisch sagt, glaubt er schließlich wirklich, ein Fanatiker sei ein tugendhafter Held, und ohne Fanatismus könne man kein Held sein.

Die Worte fanatisch und Fanatismus sind nicht vom Dritten Reich erfunden, es hat sie nur in ihrem Wert verändert und hat sie an einem Tage häufiger gebraucht als andere Zeiten in Jahren. Das Dritte Reich hat die wenigsten Worte seiner Sprache selbstschöpferisch geprägt, vielleicht, wahrscheinlich sogar, überhaupt keines. Die nazistische Sprache weist in vielem auf das Ausland zurück, übernimmt das meiste andere von vorhitlerischen Deutschen. Aber sie ändert Wortwerte und Worthäufigkeiten, sie macht zum Allgemeingut, was früher einem Einzelnen oder einer winzigen Gruppe gehörte, sie beschlagnahmt für die Partei, was früher Allgemeingut war, und in alledem durchtränkt sie Worte und Wortgruppen und Satzformen mit ihrem Gift, macht sie die Sprache ihrem fürchterlichen System dienstbar, gewinnt sie an der Sprache ihr stärkstes, ihr öffentlichstes und geheimstes Werbemittel.

Das Gift der LTI deutlich zu machen und vor ihm zu warnen – ich glaube, das ist mehr als bloße Schulmeisterei. Wenn den rechtgläubigen Juden ein Eßgerät kultisch unrein geworden ist, dann reinigen sie es, indem sie es in der Erde vergraben. Man sollte viele Worte des nazistischen Sprachgebrauchs für lange Zeit, und einige für immer, ins Massengrab legen.

II Vorspiel

Am 8. Juni 1932 sahen wir den (wie es in meinem Tagebuch heißt) »fast schon klassischen« Tonfilm: »Der blaue Engel«. Was episch konzipiert und ausgeführt ist, wird in der Form des Dramas, und nun gar als Film, immer ins Sensationelle vergröbert auftreten, und so ist Heinrich Manns »Professor Unrat« gewiß eine größere Dichtung als »Der blaue Engel«; aber als künstlerische Leistung der Schauspieler war dieser Film wirklich ein Meisterwerk. Da spielten in den Hauptrollen Jannings, Marlene Dietrich und Rosa Valetti, und auch die Nebenpersonen führten das eindringlichste Leben. Trotzdem war ich nur in wenigen Augenblicken wirklich von dem Geschehen auf der Leinwand festgehalten oder gar mitgerissen; immer wieder tauchte eine Szene der vorangegangenen Wochenschau in mir auf, tanzte – und es kommt mir buchstäblich auf das Tanzen an – der Tambour vor oder zwischen den Darstellern des »Blauen Engels«.

Die Szene spielte nach dem Antritt der Regierung Papen; sie hieß: »Tag der Skagerrakschlacht, Marinewache für das Präsidentenpalais zieht durch das Brandenburger Tor.«

Ich habe in meinem Leben viele Paraden gesehen, in der Wirklichkeit und im Film; ich weiß, was es mit dem preußischen Paradeschritt auf sich hat – wenn wir auf dem Oberwiesenfeld in München gedrillt wurden, hieß es: So gut wie in Berlin müßt ihr ihn hier mindestens machen! Aber nie zuvor, und was mehr sagt, auch niemals hinterher, trotz aller Paraden vor dem Führer und aller Nürnberger Vorbeimärsche, habe ich etwas Ähnliches gesehen wie an diesem Abend. Die Leute warfen die Beine, daß die Stiefelspitzen über die Nasenspitzen hinauszuschwingen schienen, und es war wie ein einziger Schwung, wie ein einziges Bein, und es war in der Haltung all dieser Körper, nein: dieses einen Körpers eine so krampfhafte Anspannung, daß die Bewegung zu erstarren schien, wie die Gesichter schon erstarrt waren, daß die ganze Truppe ebensosehr den Eindruck der Leblosigkeit wie der äußersten Belebtheit machte. Doch ich hatte nicht Zeit, genauer: ich hatte keinen freien Seelenraum in mir, das Rätsel dieser Truppe zu lösen, denn sie bildete nur den Hintergrund für die eine Gestalt, von der sie, von der ich beherrscht wurde, für den Tambour.

Der Voranmarschierende hatte mit weit abgespreizten Fingern die Linke in die Hüfte gepreßt, vielmehr er hatte den Körper gleichgewichtsuchend in die stützende Linke gebogen, während der rechte Arm mit dem Tambourstab hoch in die Luft stieß und die Stiefelspitze des geschwungenen Beines dem Stab nachzulangen schien. So schwebte der Mann schräg im Leeren, ein Monument ohne Sockel, geheimnisvoll aufrecht gehalten durch einen vom Fuß bis zum Haupt, in Fingern und Füßen wirkenden Krampf. Was er da vorführte, war kein bloßes Exerzieren, es war ein archaischer Tanz so gut wie ein Parademarsch, der Mann war Fakir und Grenadier in einem. Annähernd ähnliche Angespanntheit und krampfverzerrte Verrenktheit gab es in expressionistischen Bildwerken jener Jahre zu sehen, in expressionistischen Dichtungen der Zeit zu hören, aber im Leben selber, im nüchternen Leben der nüchternsten Stadt, wirkte sie mit der Gewalt einer absoluten Neuheit. Und es ging eine Ansteckung von ihr aus. Brüllende Menschen drängten sich bis dicht an die Truppe, die wild ausgestreckten Arme schienen hineingreifen zu wollen, die aufgerissenen Augen eines jungen Menschen in der vordersten Reihe trugen den Ausdruck religiöser Ekstase. – – –

Der Tambour war meine erste erschütternde Begegnung mit dem Nationalsozialismus, der mir bis dahin trotz seines Umsichgreifens für eine nichtige und vorübergehende Verirrung unmündiger Unzufriedener gegolten hatte. Hier sah ich zum erstenmal Fanatismus in seiner spezifisch nationalsozialistischen Form; aus dieser stummen Gestalt schlug mir zum erstenmal die Sprache des Dritten Reichs entgegen.

III Grundeigenschaft: Armut

Die LTI ist bettelarm. Ihre Armut ist eine grundsätzliche; es ist, als habe sie ein Armutsgelübde abgelegt.

»Mein Kampf«, die Bibel des Nationalsozialismus, begann 1925 zu erscheinen, und damit war seine Sprache in allen Grundzügen buchstäblich fixiert. Durch die »Machtübernahme« der Partei wurde sie 1933 aus einer Gruppen- zu einer Volkssprache, d. h. sie bemächtigte sich aller öffentlichen und privaten Lebensgebiete: der Politik, der Rechtsprechung, der Wirtschaft, der Kunst, der Wissenschaft, der Schule, des Sportes, der Familie, der Kindergärten und der Kinderstuben. (Eine Gruppensprache wird immer nur diejenigen Gebiete umfassen, für die der Zusammenhang der Gruppe gilt, und nicht die Ganzheit des Lebens.) Natürlich bemächtigte die LTI sich auch, und sogar mit besonderer Energie, des Heeres; aber zwischen Heeressprache und LTI liegt eine Wechselwirkung vor, genauer: erst hat die Heeressprache auf die LTI gewirkt, und dann ist die Heeressprache von der LTI korrumpiert worden. Deshalb erwähne ich diese Ausstrahlung besonders.

Bis in das Jahr 1945 hinein, fast bis zum letzten Tag – das »Reich« erschien noch, als Deutschland schon ein Trümmerhaufen und Berlin umklammert war – wurde eine Unmenge Literatur jeder Art gedruckt. Flugblätter, Zeitungen, Zeitschriften, Schulbücher, wissenschaftliche und schöngeistige Werke.

In all dieser Dauer und Ausbreitung blieb die LTI arm und eintönig, und man nehme das »eintönig« genau so buchstäblich wie vorhin das »fixiert«. Ich habe, wie sich mir gerade die Möglichkeit des Lesens ergab – wiederholt verglich ich meine Lektüre einer Fahrt im Freiballon, der sich irgendeinem Winde anvertrauen und auf eigentliche Steuerung verzichten muß –, bald den »Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts« und bald ein »Taschenjahrbuch für den Einzelhandelskaufmann« studiert, jetzt eine juristische und jetzt eine pharmazeutische Zeitschrift durchstöbert, ich habe Romane und Gedichte gelesen, die in diesen Jahren erscheinen durften, ich habe beim Straßenkehren und im Maschinensaal die Arbeiter sprechen hören: es war immer, gedruckt und gesprochen, bei Gebildeten und Ungebildeten, dasselbe Klischee und dieselbe Tonart. Und sogar bei denen, die die schlimmst verfolgten Opfer und mit Notwendigkeit die Todfeinde des Nationalsozialismus waren, sogar bei den Juden herrschte überall, in ihren Gesprächen und Briefen, auch in ihren Büchern, solange sie noch publizieren durften, ebenso allmächtig wie armselig, und gerade durch ihre Armut allmächtig, die LTI.

Drei Epochen deutscher Geschichte habe ich durchlebt, die Wilhelminische, die der Weimarer Republik und die Hitlerzeit.

Die Republik gab Wort und Schrift geradezu selbstmörderisch frei; die Nationalsozialisten spotteten offen, sie nähmen nur die von der Verfassung gewährten Rechte für sich in Anspruch, wenn sie in ihren Büchern und Zeitungen den Staat in all seinen Einrichtungen und leitenden Gedanken mit allen Mitteln der Satire und der eifernden Predigt zügellos angriffen. Auf den Gebieten der Kunst und der Wissenschaft, der Ästhetik und der Philosophie gab es keinerlei Beschränkung. Niemand war an ein bestimmtes Dogma des Sittlichen oder des Schönen gebunden, jeder konnte frei wählen. Man rühmte diese vieltönige geistige Freiheit gern als einen ungemeinen und entscheidenden Fortschritt der kaiserlichen Epoche gegenüber.

Aber war die Wilhelminische Ära wirklich soviel unfreier gewesen?

Bei meinen Studien zur französischen Aufklärungszeit ist mir oft eine entschiedene Verwandtschaft zwischen den letzten Jahrzehnten des ancien régime und der Epoche Wilhelms II. aufgefallen.

Gewiß, es gab unter dem XV. und XVI. Ludwig eine Zensur, es gab für Königsfeinde und Gottesleugner die Bastille und sogar den Henker, es wurde eine Reihe sehr harter Urteile gefällt – aber auf die Dauer der Epoche verteilt, sind es nicht allzu viele. Und immer wieder, und oft fast unbehindert, gelang es doch den Aufklärern, ihre Schriften zu veröffentlichen und zu verbreiten, und jede an einem der Ihrigen vollzogene Strafe hatte nur eine Verstärkung und Ausbreitung des rebellischen Schrifttums zur Folge.

Sehr ähnlich herrschte unter Wilhelm II. offiziell noch absolutistische und moralische Strenge, es gab gelegentliche Prozesse wegen Majestätsbeleidigung oder Gotteslästerung oder Verletzung der Sittlichkeit. Aber der wahre Beherrscher der öffentlichen Meinung war der »Simplizissimus«. Durch kaiserlichen Einspruch kam Ludwig Fulda um den Schillerpreis, der ihm für seinen »Talisman« verliehen worden war; aber Theater, Presse und Witzblatt leisteten sich hundertmal schärfere Kritiken des Bestehenden als der zahme »Talisman«. Und in der unbefangenen Hingabe an jede aus dem Ausland stammende geistige Strömung, und ebenso im Experimentieren auf literarischem, philosophischem, künstlerischem Gebiet, war man auch unter Wilhelm II. unbehindert. Nur in den allerletzten Jahren des Kaisertums zwang die Notwendigkeit des Krieges zur Zensur. Ich selber habe nach meiner Entlassung aus dem Lazarett lange Zeit als Gutachter für das Buchprüfungsamt Oberost gearbeitet, wo die gesamte für Zivil und Militär des großen Verwaltungsgebietes bestimmte Literatur nach den Bestimmungen der Sonderzensur durchgesehen wurde, wo es also um einiges strenger zuging als in den Inlandzensurstellen. Mit welcher Weitherzigkeit wurde hier verfahren, wie selten wurde selbst hier ein Verbot ausgesprochen!

Nein, in den beiden Epochen, die ich aus persönlicher Erfahrung übersehe, hat es eine so weitgehende literarische Freiheit gegeben, daß die ganz wenigen Fälle des Mundtotmachens als Ausnahmen gelten müssen.

Die Folge davon war, daß sich nicht nur die generellen Sparten der Sprache, als Rede und Schrift, als journalistische, wissenschaftliche, dichterische Form, frei entfalteten, daß es nicht nur allgemeine literarische Strömungen gab wie Naturalismus und Neuromantik und Impressionismus und Expressionismus, sondern daß sich auf allen Gebieten auch völlig individuelle Sprachstile entwickeln konnten.

Man muß sich diesen bis 1933 blühenden und dann jäh absterbenden Reichtum vor Augen halten, um ganz die Armseligkeit der uniformierten Sklaverei zu begreifen, die ein Hauptcharakteristikum der LTI ausmacht.

Der Grund dieser Armut scheint am Tage zu liegen. Man wacht mit einer bis ins letzte durchorganisierten Tyrannei darüber, daß die Lehre des Nationalsozialismus in jedem Punkt und so auch in ihrer Sprache unverfälscht bleibe. Nach dem Beispiel päpstlicher Zensur heißt es auf der Titelseite parteibetreffender Bücher: »Gegen die Herausgabe dieser Schrift bestehen seitens der NSDAP keine Bedenken. Der Vorsitzende der parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NS.« Zu Wort kommt nur, wer der ReichsschrifttumskammerZentralstelle»Reich«-Artikel einen Tag vor Erscheinen des Blattes verlesenGoebbels, der die erlaubte Sprache bestimmte