Autor

Die Autorin
Natascha Kribbeler, geboren 1965 in Hamburg, ist ausgebildete Rechtsanwaltsgehilfin. 2002 zog sie der Liebe wegen vom Norden in den Süden Deutschlands, wo sie mit ihrem Mann und kleinen Sohn lebt. Sie hat schon immer gern geschrieben und fotografiert, liebt Reisen und Musik und liest viel.

Das Buch
Jandor, der erste Vampir, scheint bei den Germanen sein Glück gefunden zu haben. Auch wenn er seine einzige und ewige Liebe Tanita nicht vergessen kann. Als sein Sohn entführt wird, macht er sich auf, ihn zu finden und zurückzuholen. Er ahnt, wer hinter dem brutalen Überfall steckt. Seine frühere Geliebte und inzwischen gefährliche Widersacherin Akira. Jandors Suche führt ihn ins große Rom und dann weiter nach Pompeji. Die kultivierte Stadt am Fuße des schlummernden Vulkans empfängt ihn mit einer Überraschung: Er begegnet Tanita wieder! Doch dann bricht der Vesuv aus, und während die Menschen um ihr Leben fürchten, versucht Jandor, seine große Liebe Tanita für sich zu gewinnen.

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Natascha Kribbeler

Der geheime Ruf des Raben

Roman

Forever

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

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Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
April 2015 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015

Umschlaggestaltung:
ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © Fotostudio Rausch, Lünen

ISBN 978-3-95818-039-0

Alle Rechte vorbehalten.
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Kapitel 1

Der Rabe sprach zu mir.

Er hockte in den im Wind tanzenden Zweigen der Weide und sah aufmerksam zu mir herunter.

Sein schwarzes Gefieder funkelte wie die Sterne am Nachthimmel, und seine leuchtenden Augen glichen tiefen, unergründlichen Seen.

»Hüte dich!«, krächzte er. Ungläubig beobachtete ich die Bewegungen seines Schnabels und fragte mich, wieso ich ihn verstehen konnte.

»Wie kommt es, dass du sprechen …?«

»Sieh dich vor! Wache über die Deinen!«

Wie ein Skalde beim Vortrag eines Liedes seine Arme, so hob er seine Schwingen, breitete sie aus, und rasch bedeckten sie das ganze himmelblaue Firmament. Als er sich in die Lüfte erhob, rauschte der Wind in seinem Gefieder.

Schnell hob ich meine Hand, um ihn aufzuhalten. Ich hatte noch so viele Fragen!

Doch er war nur noch ein winziger Punkt hoch am Himmel, und ich musste meine Augen gegen die Helligkeit zusammenkneifen.

»Warte!«, rief ich hilflos. »So warte doch …«

Etwas patschte sanft an meine Wange. Erschrocken fuhr ich hoch.

»Vater!«, rief die helle Stimme meines zwei Winter alten Sohnes, und seine blauen Augen sahen mich besorgt an. »Wach auf!«

Erleichtert umschloss ich seinen kleinen, warmen Körper mit meinen Armen. »Ja, Urs, ich bin gar nicht mehr müde. Ich war nur kurz eingenickt.«

Zärtlich strich ich über sein weiches, hellblondes Haar, und der Kleine schmiegte sich vertrauensvoll an mich.

Nachdenklich blickte ich auf das Wasser des Flusses hinaus, das gurgelnd und plätschernd an uns vorüberfloss. Ich war eingeschlafen! Am helllichten Tag! Wie konnte das nur passieren? Seit unendlichen Zeitaltern pflegte ich nicht mehr des Tags zu schlafen, sondern wie alle Menschen in der Nacht, wie es sich gehörte. Mein Herz schlug schneller, und ich wusste, dass irgendetwas nicht stimmte. Immer noch hatte ich das Brausen des Windes im Ohr, als der Rabe sich in die Lüfte schwang. Dann aber ging mir auf, dass es das Rauschen des Flusses war, das ich im Traum vernommen hatte.

»Es war nicht real«, flüsterte ich, um das unangenehme Gefühl zu vertreiben, das sich in mir ausbreiten wollte.

Rasch schaute ich mich um. Wir saßen immer noch unter den Weiden direkt am Flussufer, wo wir uns vor einiger Zeit niedergelassen hatten, um auf Astrid zu warten.

Die junge Frau war die Amme meines Sohnes. Ich konnte sie sehen. Zwanzig Schritte von uns entfernt hockte sie im hohen Gras, um Heilkräuter zu suchen. Um ihr rotbraunes Haar hatte sie ein Tuch gebunden, und ich beobachtete, wie sie sich vorbeugte, um weitere Pflanzen abzuschneiden und in ihren Beutel zu stecken.

Als hätte sie meine Blicke bemerkt, erhob sie sich und winkte lächelnd zu uns herüber. Glücklich sah sie aus, strahlend und zufrieden.

Das war nicht immer so gewesen. Schwere Zeiten lagen hinter ihr. Hinter uns allen.

Hilda, mein Weib, wäre bei der Geburt unseres Sohnes beinahe gestorben. Urs hatte es ihr nicht leicht gemacht, bis er endlich das Licht der Welt erblickte. Sie hatte kaum Milch gehabt, um ihn zu nähren, und lange Zeit lag sie krank und schwach auf Leben und Tod.

Zur gleichen Zeit wie sie gebar Astrid eine Tochter. Doch wenige Tage nach der Geburt verlor sie ihren Mann an die Römer. Immer weiter stießen diese kriegerischen Menschen in unser Stammesgebiet vor. Astrids Mann setzte sich mit anderen Männern gegen ihr Vordringen zur Wehr und bezahlte seinen Mut mit dem Leben.

Als wäre das noch nicht schlimm genug, erkrankte kurz darauf ihre neugeborene Tochter. Astrids Trauer schien direkt auf das kleine Mädchen überzugreifen und ein Fieber in ihm zu entfachen. Noch am gleichen Abend starb es.

Ich holte die untröstlich weinende Mutter in mein Haus.

Als wir eintraten, lag Hilda schwach in ihrem Bett. Ihr langes blondes Haar, das sonst stets mit der Sonne um die Wette geleuchtet hatte, wirkte strähnig und farblos. Ihre Wangen waren blass und ihre Augen mutlos.

Urs in ihrem Arm schrie wie am Spieß. Seine winzigen Fäustchen fuhren erbost in der Luft herum, als wollte er gegen den bohrenden Hunger ankämpfen, der seinen winzigen Körper zusehends schwächte. Noch brüllte er. Aber wie lange würde er noch die Kraft dazu haben?

»Lass mich dir helfen«, flüsterte ich und legte den Säugling erneut an ihre Brust. Vielleicht würde sie ja doch endlich fließen, die lebensrettende Milch.

Gierig begann der kleine Mund zu saugen. Doch er saugte nur Luft, und erneut begann das Kind zu weinen. Sein leises Klagen ging mir noch mehr ans Herz als seine Schreie, denn es schien, als wüsste der Kleine bereits, dass sein Lebensfaden immer dünner wurde.

Verzweifelt versuchte ich es noch einmal, und Hilda zuckte vor Schmerz zusammen, als Urs erneut heftig an ihren wunden, geröteten Brustwarzen zu saugen begann.

»Es hat keinen Sinn«, flüsterte sie. »Ich bin ihm eine schlechte Mutter. So wie ich dir eine schlechte Frau bin. Ich kann ihn nicht ernähren. Und ich kann nicht für dich sorgen.«

»Rede nicht so einen Unsinn!«, schimpfte ich leise und setzte mich auf die Bettkante.

Wie hatte das bloß passieren können? Stolz wie eine Königin war sie einst am Grab ihres Mannes gestanden, wunderschön, aufrecht und unnahbar. Stark. Niemanden ließ sie ihre Verzweiflung sehen. Hochschwanger war sie und allein.

Ich nahm mich ihrer an. War es Liebe? Mein Blick wanderte zu dem winzigen Säugling an ihrer Seite. Erschöpft vom Weinen und vergeblichen Saugen war er eingeschlafen. Nein. Ich liebte Hilda nicht. Ich mochte sie sehr. Liebe hingegen empfand ich diesem Baby gegenüber. Meinem Sohn. Ich hatte Urs als mein eigenes Kind angenommen.

Denn leibliche eigene Kinder würde ich niemals haben können. Tote Männer zeugten keinen Nachwuchs.

Denn das war ich. Ein toter Mann, gestorben vor so langer Zeit.

Und wieder zum Leben erwacht. In mir lebte die Unsterblichkeit. Ich war ein Vampir.

»Herr!«, wisperte Astrid.

Ich hatte sie ganz vergessen! Immer noch stand sie unschlüssig in der Tür und wagte es nicht, mein Haus zu betreten. Das Haus ihres Häuptlings.

Rasch stand ich auf und wandte mich ihr zu. »Komm herein! Und nenne mich nicht Herr!«

Daran würde ich mich niemals gewöhnen können. Ich fühlte mich nicht als Herrscher über dieses Dorf, als Befehlshaber dieser Männer. Und doch war ich es.

Lautlos huschte Astrid zu uns. Durch einen raschen Blick verständigte sie sich mit Hilda und nahm Urs auf ihren Arm. Dann suchte sie sich einen Stuhl, setzte sich darauf und entblößte ihre Brust. Sofort saugte der Kleine, und an seinem gierigen Schmatzen konnte ich hören, dass er endlich Erfolg hatte.

Eine gewaltige Last fiel von meinen Schultern. Welch glückliche Lösung für uns alle!

So wurde Astrid seine Amme. Und sie blieb es auch, als Hilda sich längst erholt hatte und wieder bei Kräften war.

Nun erhob sie sich, drückte ihren Rücken einmal durch und kam strahlend auf uns zu.

»Ich habe Wegerich, Salbei, Sauerampfer und Weidenrinde. Gleich suche ich noch weiter nach Frauenmantel und …«

Ein rothaariger Reiter auf einem ebenso roten Pferd kam im Galopp herangesprengt. »Gut, dass ich dich hier finde! Volkwin ist soeben eingetroffen. Er wartet in deinem Haus. Es sei dringend.«

Rasch sprang ich auf die Füße. Wenn Volkwin, der Häuptling des Nachbardorfes, etwas als eilig empfand, musste es schon etwas Ernstes sein. Normalerweise ließ er sich durch nichts aus der Ruhe bringen.

»Danke, Roland. Ich komme mit.« Schnell wandte ich mich Astrid zu. »Hilda wollte doch die Weidenrinde möglichst schnell haben, damit sie sie einkochen kann. Du kannst mir deinen Beutel geben, ich bringe es ihr gleich vorbei. Am besten kommt ihr beide auch sofort mit.«

Nun, wo es ihr wieder gut ging, hatte Hilda rasch das Zepter in die Hand genommen. Und ich wusste, dass sie mir solch kleine Botengänge stets sehr liebevoll vergalt. Ich freute mich schon auf sie, sobald ich mit Volkwin gesprochen hatte.

»Wir kommen gleich nach«, erklärte Astrid und ignorierte meine nach ihr ausgestreckte Hand. Auch sie hatte einen starken Willen. »Ich schneide nur noch etwas Frauenmantel.«

Unentschlossen zögerte ich. Ganz dunkel erinnerte ich mich an eine warnende Stimme in meinem Inneren. War da nicht ein Rabe gewesen? »Aber Urs nehme ich mit. Dann brauchst du nicht auf ihn zu achten, während du deine Kräuter suchst.«

»Aber nein, belaste dich nicht mit ihm. Er macht mir keine Arbeit. Sieh, er spielt ganz brav im Gras.«

Eine gewaltige Zärtlichkeit überspülte mich, als ich meinen kleinen Sohn beobachtete. Das Gras war so hoch, dass nur sein hellblonder Haarschopf herausschaute. Er war ganz in sein Spiel vertieft. »Nun gut, lassen wir ihn noch eine Weile spielen. Aber sieh zu, dass du dich beeilst. Du weißt ja, wir können nicht sicher sein …«

Natürlich brauchte ich ihr nicht zu erklären, wie gefährlich die Situation seit dem Eindringen der Römer war. Gerade sie hatte die schlimmsten Erfahrungen bereits persönlich gemacht. Allerdings waren die vergangenen Monde sehr ruhig verlaufen. Wir hatten schon lange keine Römer mehr gesehen. Wer konnte wissen, was sie vorhatten. Vielleicht hatten sie sich auch längst zurückgezogen.

»Nur wenige Augenblicke noch. Wir kommen sofort.«

»Also gut.« Widerstrebend gab ich nach und sah noch einmal nach meinem Sohn.

»Schau mal!«, piepste Urs aufgeregt. Er kniete im hohen Gras und beobachtete einen großen schwarzen Hirschkäfer, der sich krabbelnd seinen Weg über turmhohe Halme und felsbrockengleiche Kiesel bahnte. Hingerissen stupste Urs das Insekt am Hinterteil, als diesem ein Zweig als unüberwindliches Hindernis erschien. Nachdem der Käfer es mit seiner Hilfe überwunden und auf der anderen Seite des Astes wieder den Boden erreicht hatte, jauchzte der Kleine auf.

»Das hast du gut gemacht«, lobte ich ihn und strich ihm noch einmal über den Kopf. Dann wandte ich mich um und machte mich auf den Weg. Wie meist lief ich sehr schnell, überholte sogar Roland auf seinem Pferd und war bald verschwunden.

Eifrig half Urs dem Käfer über ein weiteres Hindernis und sah sich dabei lachend nach Astrid um.

Sie beachtete ihn jedoch nicht, und das Lachen des Jungen erstarb. Er folgte ihrem Blick und sah neugierig auf die Reiter, die sich im raschen Trab näherten. Das Entsetzen in den Augen seiner Amme registrierte er nicht. Das kindliche Gemüt des kaum Zweijährigen bewunderte lediglich die blitzenden Helme, die ledernen Rüstungen der Männer und die großen Pferde mit den dampfenden Mäulern.

Astrid sprang mit einem Schrei auf und stellte sich den Männern in den Weg, obgleich sie wusste, dass sie dann keine Chance mehr hätte, ihnen zu entkommen. Wieso war sie nicht mit ins Dorf zurückgegangen? Der Frauenmantel lief nicht weg, sie hätte ihn später immer noch holen können. Sie schimpfte sich selbst eine dumme Henne. Aber wo kamen diese elenden Römer auch so plötzlich her? Seit dem Tod ihres Mannes hatten sie keinen mehr von ihnen gesehen und Hoffnung geschöpft, sie wären vertrieben worden. Dann hätte sein Verlust wenigstens einen Sinn gehabt.

Aber nun ritten diese Bastarde genau auf sie zu, als hätte die Unterwelt sie eben ausgespuckt, und weit und breit war niemand zu sehen, der ihr zu Hilfe kommen könnte. Der Häuptling war längst fort. Er lief immer sehr schnell. Und auch von Roland war nichts mehr zu sehen, er war im wilden Galopp davongejagt.

Ihr panisch umherschweifender Blick fiel auf Urs, der sich auf seine stämmigen Beinchen gestellt hatte und sie ernst beobachtete.

»Rasch! Hinter den Baum!«, raunte sie ihm zu. Sie atmete auf, als sie sah, wie der Kleine sich hinter den herabhängenden Zweigen der Weide duckte. Er erinnerte sie an ein Rehkitz, das sich vor dem Fuchs verbarg.

Um ihn nicht zu verraten, drehte sie sich sofort wieder um. Sie blickte in Richtung der herangekommenen Reiter und wusste, dass sie ihrem Schicksal nun nicht mehr entrinnen konnte.

»Sieh an! Wer erwartet uns denn da? Ein leckeres Weib! Das nenne ich mal Gastfreundschaft!« Einer der römischen Soldaten schnalzte mit der Zunge und warf einen tiefen Blick in Astrids Ausschnitt.

Sie raffte ihr Kleid zusammen und warf ihm trotz ihrer Furcht einen bösen Blick entgegen. »Was habt ihr hier zu suchen? Römisches Pack! Verschwindet!« Sie wunderte sich selbst über ihren Mut. Sie wusste, dass sie ihre Lage mit jedem ihrer Worte nur noch verschlimmerte. Aber momentan galt all ihre Sorge dem Jungen, dessen Wohlergehen ihr von seinem Vater aufgetragen worden war. Sie liebte den Kleinen wie ihren eigenen Sohn und würde ihn mit ihrem Blut und ihrem Leben verteidigen.

Aus dem Augenwinkel sah sie sein blondes Haar hinter den langen, schwertähnlichen Blättern der Trauerweide blitzen und wandte sich wieder voll den Angreifern zu, um sie von ihm abzulenken.

»Was habt ihr hier zu suchen? Was wollt ihr im Land der Chauken? Ist euer Reich nicht schon groß genug?« Ihr Leben war sowieso verwirkt, da konnte sie ihnen ebenso gut ihre Meinung entgegen schreien.

Die Legionäre lachten, und zwei von ihnen sprangen von ihren Pferden und kamen auf sie zu. »Was für ein freches Mundwerk ihr germanischen Frauen habt. Wie ich das liebe! Es macht mich so richtig an!« Einer der Männer fasste sich in den Schritt, und es wurde Astrid übel. Sie konzentrierte sich darauf, ihren Geist von ihrem Körper abzutrennen, denn sie wusste, was ihr nun bevorstand. Sie schloss die Augen und schickte ein Stoßgebet an Wodan, ihr beizustehen und ein rasches Ende zu bereiten. Die beiden Soldaten waren bereits so nah, dass sie ihren sauren Schweiß riechen konnte. Und auch in den Augen der Übrigen glitzerte es verräterisch. Ganz tief holte sie Luft.

»Halt!« Die Stimme des Zenturio klang befehlsgewohnt, und sofort blieben die Legionäre stehen. Ihre stummen Verwünschungen konnte er glücklicherweise nicht hören, aber sie wussten, dass sie nun wohl erst zum Zug kommen würden, wenn die Frau bereits tot war.

Astrid wagte es, ihre Augen wieder zu öffnen. Der Anführer dieser Bande stieg gerade vom Pferd. Anscheinend wollte er ebenfalls sein Stück vom Braten abbekommen. Seinen glänzenden Helm zierte ein quer getragener Busch, und seine Unterschenkel wurden von Beinschienen geschützt. Während er auf sie zukam, nahm er seinen Helm ab und gab ihm einen Legionär in die Hand.

Im Stillen bereitete Astrid sich auf ihren baldigen Tod vor. Trotzig blickte sie ihm ins Gesicht, als er vor ihr stehen blieb.

»Du hast Mut«, stellte der Zenturio fest. »Eure Männer können stolz auf euch Weiber sein. Ihr seid tapferer als sie.« Mit einem Ruck fasste er den Ausschnitt ihres Kleides und riss ihn bis zum Nabel auf. Ihre milchgefüllten Brüste sprangen ihm entgegen, und einige Augenblicke lang betrachtete er sie genüsslich.

Verzweifelt bemühte sich Astrid, die zerfetzten Teile ihres Kleides über ihrem Busen zusammenzuraffen. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie die Legionäre, die sie gierig begafften, und ihr angsterfüllter Blick richtete sich wieder auf deren Anführer. Als dieser nach ihr griff, wich sie mit einem Wimmern vor ihm zurück, stieß aber mit dem Rücken an einen Weidenstamm und verfluchte sich abermals für ihre Dummheit und ihren Leichtsinn. Sie konnte nun nur noch beten, dass die Männer ihren kleinen Schützling nicht finden würden. Sie wagte gar nicht, sich auszumalen, was sie mit ihm anstellen würden. Erneut griff der Zenturio nach ihr, und sie stieß panisch einen kleinen Schrei aus.

»Sei still!«, befahl er ihr. Noch energischer fasste er die Fetzen ihres Kleides, zerrte sie nah an sich heran und blickte ihr hart in die Augen. »Ich persönlich nenne euren Mut Dummheit. Ich werde dir zeigen, wer die Herren dieses Landes sind!« Grob stieß er sie zu Boden.

Zitternd blickte sie zu ihm auf. Nur verschwommen sah sie ihn, da ihre Tränen ihre Sicht behinderten. Als er sich auf sie warf und brutal in sie eindrang, galten ihre einzigen Gedanken dem kleinen Urs, der sich bestimmt zitternd vor Angst im hohen Gras unter der Weide versteckte. Wenn sie nur ihn nicht fänden, würde sie über ihr Schicksal nicht klagen.

Nach wenigen harten Stößen keuchte der Zenturio auf, sodass ihr sein Speichel ins tränennasse Gesicht tropfte. In diesem Moment wurde ihr Geist ganz klar, und tief prägte sie sich jede Einzelheit seines verzerrten Gesichtes ein. Seine große, hakenförmige Nase. Den fehlenden Schneidezahn in seinem Mund. Seine dunkelbraunen, harten Augen. Die lange Narbe auf der linken Wange. Und sein kurz geschnittenes schwarzes Haar. Sollte sie wider Erwarten am Ende dieses Tages noch sprechen können, würde jeder diesen Mann erkennen sollen.

Befriedigt richtete der Zenturio sich auf und gab seinen Männern einen Wink. Sie ließen sich nicht zweimal bitten, und ehe Astrid richtig Luft holen konnte, lag der nächste stinkende Körper auf ihr und schändete sie.

»Wodan, töte diese Männer!«, betete sie stumm zum einäugigen Gott. »Und schütze den kleinen Urs! Lass sie ihn nicht finden!« Die Tränen rannen aus ihren Augenwinkeln in ihr zerzaustes Haar.

Doch zumindest einen Wunsch erfüllte Wodan ihr nicht. Der Junge hatte sich, solange er konnte, zusammengerissen und bewegungslos im Gras gekauert. Vor lauter Angst wagte er kaum zu atmen und starrte fassungslos auf das schreckliche Geschehen vor seinen Augen. Natürlich hatte er keine Ahnung, was die fremden Männer da mit seiner Astrid taten, aber er sah sie weinen, und als erneut ein Mann über sie herfiel, hielt er es nicht mehr aus und sprang aus seinem Versteck hervor. Neben ihr fiel er auf die Knie und streichelte weinend ihr Gesicht.

Astrid erstarrte. Nun war alles vorbei. Die Männer würden den Kleinen töten, ebenso wie sie. Jegliche Hoffnung in ihr erstarb.

»Wen haben wir denn hier?« Sie sah die Füße und die Beinschienen des Zenturios neben ihrem Gesicht, und dann wurde Urs aus ihrem Blickfeld gehoben.

Entsetzt versuchte sie, sich aufzurichten und nach dem Jungen zu greifen. »Bitte, nein! Lass ihn mir!«

Mit dem sich heftig wehrenden Urs auf dem Arm hockte der Zenturio sich neben sie. »Meine Männer sind gerade dabei, dir ein neues zu machen. Da kannst du doch gut auf dieses hier verzichten, oder?«

»Bitte! Er ist doch noch so klein! Er braucht seine Mutter!« Die Tränen rannen in Strömen ihre Wangen hinunter und benetzten den trockenen Erdboden unter ihr.

Der Zenturio richtete sich wieder auf und gab dem nächsten seiner Männer einen Wink. Der verlor keine Zeit, sondern warf sich auf die Frau und drang brutal in sie ein.

Brennender Schmerz breitete sich erneut in Astrids Unterleib aus, und mit dem Mut der Verzweiflung schrie sie: »Sein Vater wird dich töten! Er wird kommen und den Jungen rächen, und du wirst dir wünschen, niemals hergekommen zu sein!«

Noch einmal beugte sich der Zenturio über Astrid und blickte ihr in die Augen. Sie bemerkte, wie seine stolze, gleichmütige Fassade bröckelte, wie die Wut die Oberhand gewann.

»Hüte deine Zunge, Weib! Sonst lasse ich dich dabei zusehen, wie der Junge stirbt!«

»Du tötest uns doch sowieso!«, schrie sie, krallte ihre Hände in den Erdboden und schleuderte dem Zenturio den Dreck ins Gesicht.

Er schrie auf und hielt eine Hand vor die Augen, schien sich jedoch blitzschnell zu erholen. Immer noch Urs im Arm haltend, holte er mit seiner anderen Hand aus.

Astrid sah die Faust auf ihr Gesicht zurasen und wusste, dass ihr Tod nahe war.

»Bitte, Donar, Gott des Donners, schleudere deinen

Hammer!« Ganz still sagte Astrid diese Worte in ihren Gedanken, bevor die Faust ihr mitten ins Gesicht krachte und ihr Bewusstsein erlosch.

Wie lange war sie fort gewesen? Etwas klatschte an ihre Wange, und dann sah sie für einen Augenblick ganz klar das Gesicht des Zenturios vor sich. Verfolgte er sie bis über den Tod hinaus?

»Hör mir gut zu!«, sagte er. »Dein Sohn ist kräftig und stark. Aber wir werden ihn nicht töten, obwohl er zu einem Feind heranwächst. Wir machen etwas Besseres aus ihm, nämlich einen Römer. Aber du hast Glück. Noch ist er zu klein, noch braucht er deine Milch.« Grob knetete er eine von Astrids Brüsten, aber trotz ihrer Schmerzen vermochte sie nicht einmal mehr zu stöhnen. »Richte seinem Vater einen schönen Gruß von mir aus. Bald werden wir kommen und ihn holen.«

Urs war gar nicht tot? »Er …« Ihr Mund war völlig ausgetrocknet, ihr ganzes Gesicht schmerzte, und sie konnte kaum sprechen. »Er lebt?« Sie wagte kaum, es auszusprechen.

Der Zenturio lachte laut auf. »Natürlich lebt er. Was, glaubst du, haben wir mit ihm gemacht? Wir töten doch keine wehrlosen kleinen Kinder, die uns noch nützlich sein könnten.«

Erschöpft schloss sie ihre Augen und ließ sich zurück in die Dunkelheit fallen. Sie bekam nicht mit, dass der Römertrupp fortritt. Sie hatten sie am Leben gelassen! Was hatte sie nur dazu bewogen?

Irgendwann fühlte sie am Rande ihres Bewusstseins, wie sie hochgehoben und fortgetragen wurde.

Zutiefst besorgt saß ich neben ihr und wartete. Das flackernde Feuer meiner Herdstelle warf Schatten auf ihr Gesicht. Würde sie wieder erwachen? Oder würde sie ganz unbemerkt in einen Dämmerschlaf hinübergleiten, der sie unabwendbar zu den Sternen bringen würde?

Leise begann sie sich zu regen und im Schlaf zu stöhnen. Und ganz unerwartet schlug sie die Augen auf. Sobald sie mich erkannte, begann sie zu zittern und stammelte: »Es tut mir so leid. Ich … ich konnte es nicht verhindern! Urs … sie haben ihn … er hat ihn …«

»Du bist wieder wach! Den Göttern sei Dank!«

»Wo ist Urs?«, fragte sie mich.

Was für eine Frau! Sie war vielfach geschändet und geschlagen worden, ihr ganzer Körper war eine einzige Wunde, und ihre Sorge galt allein dem Kind!

Ich hob meine Hand, um ihr übers Haar zu streichen. Hilda hatte es vorsichtig gereinigt und entwirrt, aber sobald Astrid wieder bei Kräften war, würde es ein ordentliches Bad benötigen.

»Es geht ihm gut. Er schläft.«

Zögernd blickte mir die junge Amme in die Augen. Tiefe Sorge konnte sie darin lesen – und Wut.

»Bitte verzeih mir, Jandor!«, flüsterte sie.

»Es gibt nichts zu verzeihen. Aber erzähle mir genau, was geschehen ist. Ich muss alles wissen.«

So berichtete sie mir stockend von ihren furchtbaren Erlebnissen, während die Tränen in Strömen über ihr Gesicht liefen. Hilda weinte voller Mitleid mit und drückte ihre Hand.

Astrid erzählte, bis sie erneut in tiefen Schlaf fiel.

Langsam zog ich meine Hand von ihrem Haar zurück. Es war wahrlich eine gute Wahl gewesen, sie zu Urs’ Amme zu machen. Sie war eine tapfere und starke Frau und hatte für ihn getan, was in ihrer Macht stand. Um ein Haar hätte sie ihr Leben für ihn gegeben. Ich zürnte ihr nicht. Sie hätte das Geschehene nicht verhindern können.

Aber ich verstand es auch nicht. Woher waren diese Männer so plötzlich gekommen? Wieso hatte ich nichts mitgekriegt? Meine Ohren waren schärfer als die eines Luchses. Sie mussten sich samt ihren Pferden mucksmäuschenstill im Dickicht verborgen und erst genähert haben, als ich fort war.

Und noch etwas beunruhigte mich. Die Römer nahmen oft Kindergeiseln und erzogen sie in ihrem Sinne, um ihre Väter zu erpressen, nicht gegen sie zu kämpfen, da sonst deren Söhne getötet würden. Jedoch geschahen diese Entführungen ganz offiziell, sozusagen in gegenseitiger Absprache. Urs jedoch wäre heimlich geraubt worden, wäre er nur ein wenig älter gewesen. Aber warum? Wer steckte dahinter?

Irgendetwas stimmte nicht, und ich spürte, wie ein Schauder mich überlief.

In dieser Nacht bewies Hilda ihre neu erwachte Kraft, als sie viele Stunden lang um Astrids Leben kämpfte. Sie wusch ihre Wunden aus, legte ihr Verbände an und befühlte immer wieder ihre Stirn, ob Astrid auch kein Fieber bekam.

Als ich mit der Amme und dem Jungen in den Armen ins Haus gelaufen kam, war jede Farbe aus Hildas Gesicht gewichen. Wir hatten uns Sorgen gemacht, weil sie und Urs schon so lange aus waren, und ich war losgegangen, um sie zu suchen.

»Bei Wodan! Was ist geschehen?«

Ich zuckte nur kurz mit den Schultern und legte Astrid behutsam auf das Lager.

»Was ist mit ihr? Wer hat ihr das angetan?« Beschützend drückte sie Urs an sich und konnte nicht aufhören, über sein weiches Haar zu streicheln. Danach hatte er stundenlang geweint und ein ganz heißes Köpfchen bekommen.

»Das werden wir gleich herausfinden!«, knurrte ich böse. Zugleich spürte ich besorgt, wie etwas in mir erwachte. Etwas Dunkles, das ich lange Zeit hatte bekämpfen können. Etwas, das, wenn es erst einmal ausgebrochen war, nur schwer wieder zu bezwingen war. Der brüllende Durst nach Blut!

Rasend vor Wut zogen wir los, meine Männer und ich. Rasch fanden wir ihre Spuren, direkt bei den Weiden.

»Hier haben sie sie niedergeworfen. Oh ihr Götter! Seht, wie aufgewühlt der Boden ist! Es muss mindestens eine Handvoll Männer gewesen sein, wenn nicht mehr. Diese Bestien!«

»Hier sind Fußspuren des Jungen. Und an dieser Stelle hören sie plötzlich auf.«

»Sie haben ihn hochgehoben! Einer dieser Verbrecher hatte meinen Sohn auf dem Arm!«

Hatte er ihm etwas angetan? Etwas, das nicht sofort zu bemerken war? Aber nein, der Leib des Jungen war unversehrt. Unter Schock stand er, und allein dafür verdiente dieser Kerl, der es gewagt hatte, ihn zu berühren, den Tod!

»Hier hat er ihn wieder heruntergelassen. Seht diese kleinen Abdrücke seiner Knie direkt neben den Spuren von Astrids Körper! Sie haben ihn alles mit ansehen lassen!«

»Sie werden sterben!«, knurrte ich. Wie eine gewaltige Woge schlug der Hass leuchtend rot über mir zusammen. Ich würde sie finden. Und ich würde sie töten. Jeden Einzelnen von ihnen!

Der Überfall auf Astrid löste große Bestürzung und Angst bei den Dorfbewohnern aus. Wir alle hatten gehofft, dass der Vorstoß der Römer in unser Gebiet beendet war. Die letzten Monde waren so ruhig gewesen wie vor ihrem Eindringen. Und nun dies!

»Lasst sie uns angreifen und hinwegfegen! Dies ist unser Land, die Götter stehen auf unserer Seite! Es ist ein Leichtes, sie zu besiegen!«, rief Roland, der Rothaarige, aufgebracht. Das schlechte Gewissen trieb ihn, denn auch er hatte nichts mitbekommen, obwohl sich zu dem Zeitpunkt, als er am Fluss war, die Römer bereits ganz in der Nähe aufgehalten haben mussten.

»Ja! Vertreiben wir sie ein für alle Mal!«

Ein Tumult entstand, und die ersten jungen Männer griffen impulsiv zu ihren Waffen.

»Und was, meint ihr, geschieht dann?«, fragte ich ruhig. Die erste Wut war abgeflaut, und ich hatte nachgedacht. »Glaubt ihr, die Römer würden das einfach so hinnehmen? Selbst wenn wir alle umbringen, werden sie neue Krieger schicken, zehnmal mehr, hundertmal mehr als jetzt, und sie werden euch aufreiben. Sie werden euch alle töten, eure Frauen, eure Kinder. Wollt ihr das verantworten?«

Zornerfüllte Blicke trafen mich. Sie wollten sich nicht aufhalten lassen, sie wollten Römer töten. Schon einmal hatten sie zugelassen, dass die Fremden sich hier ausbreiteten, und bitter dafür zahlen müssen. Damit war es nun genug!

Ich konnte sie verstehen, aber ich wusste auch, welche Konsequenzen das nach sich ziehen würde. Geschichten wie diese hatten sich schon allzu oft in meinem langen Leben abgespielt, und es endete immer gleich.

»Was würdest du denn tun, hä?« Herausfordernd sah Roland mich an. Die Wut in ihm war größer als sein Respekt seinem Häuptling gegenüber. »Würdest du vor ihnen kuschen? Es war eine Frau deines eigenen Haushalts, die angegriffen und geschändet wurde! Du müsstest doch an vorderster Stelle stehen, um die Römer von hier zu vertreiben und zu rächen, was sie Astrid angetan haben!«

»Glaub mir, das ist mein größter Wunsch! Aber eine unüberlegte Racheaktion könnte die Sicherheit des ganzen Dorfes, ja des gesamten Stammes gefährden. Wir müssen gut überlegen, was zu tun ist.«

»Pah! Du hast Angst, das ist alles! Bleib du nur zu Hause sitzen. Wir aber werden nicht wie Weiber daheim bleiben und hinnehmen, was sie uns antun! Wir greifen sie an!« Den letzten Satz schrie er und reckte seine Fäuste in die Luft, und begeisterte Rufe von allen Seiten jubelten ihm zu.

Ich war überstimmt. Sie würden tun, was sie für richtig hielten. Ich konnte nur noch versuchen, den Schaden in Grenzen zu halten.

Axtschläge hallten durch den Nebel des frühen Morgens, zerhackten brutal die andächtige Stille. Erschrocken hielt ein Specht im Hämmern inne.

Der Lärm zeigte uns den Weg. Krachend hörten wir einen Baum fallen, Staub und Zweige stoben auf. Und dann entdeckten wir sie.

Die Legionäre hieben jeweils zu zweit auf einen Baum ein. Gerade unterlag ein weiterer Riese, begann zu stürzen, versuchte auf halber Strecke, Halt an einem hölzernen Kameraden zu finden, aber sein eigenes Gewicht warf ihn schließlich doch zu Boden, wo er besiegt liegen blieb.

»Sie fällen unsere heiligen Eichen für ihre Palisaden!«, knurrte Arne, ein kräftiger blonder Kerl.

»Sie respektieren nichts! Nicht unsere Frauen, nicht unser Land! Sie haben hier nichts zu suchen!« Landolf packte seinen Ger, den langen Speer, fester.

Ich konnte sie ja so gut verstehen. Hätte ich nicht bereits allzu viele bittere Erfahrungen gemacht, hätte ich mich mit ihnen in Rage geredet. Sie waren jung und ungestüm, voller Vertrauen in die eigene Kraft. In ihre Unversehrtheit. Aber gerade die besaßen sie nicht! Sie waren Menschen, nur allzu verletzlich. Und so schwieg ich lieber.

Wir verbargen uns im dichten Unterholz, verschmolzen mit den Schatten.

Die arbeitenden Legionäre bemerkten nicht die Schemen, die sich lautlos an sie heranpirschten. Emsig hackten sie auf die gefällten Bäume ein, entfernten die Rinde, bis das Holz entblößt vor ihnen lag. Schamhaft wandten einige von uns den Blick ab. Ein weiterer Baum stürzte, ergab sich dem Tod.

Als die ersten Speere flogen und die ersten Römer aufschrien, brach ein Tumult aus. Unsere Männer stürzten aus dem Wald und rannten auf die völlig überrumpelten Legionäre zu. Weitere Speere fanden ihr Ziel, und Blut spritzte durch die Morgenluft. Auch ich rannte mit vorwärts, wollte als Beobachter fungieren, aber der Anblick und der Duft des Blutes weckten noch etwas anderes in mir.

Ich liebte die Menschen und tötete sie deshalb nur sehr selten. Wenn es nötig war, um Kraft zu erhalten oder Wunden rasch heilen zu lassen, nahm ich, wann immer es ging, nur die Leben von Verbrechern oder sowieso dem Tode geweihten Menschen. Meist ernährte ich mich jedoch von Tierblut, das mich ebenfalls am Leben erhielt, aber keine der in mir ruhenden Kräfte erweckte. Das vermochte nur das viel stärkere Menschenblut.

Als ich es nun vor mir sprudeln sah und mir sein unvergleichlicher Duft in die Nase stieg, vermischte sich seine Anziehungskraft mit den Bildern, die Astrids Schilderung ihrer vielfachen Vergewaltigung in meinem Geist heraufbeschworen hatte. Ich spürte, wie sich auch in mir Raserei auszubreiten begann, und ich wusste, dass einige der Legionäre, die nun rasch zu ihren Waffen griffen, dabei gewesen waren. Ronald, der rothaarige Anführer unseres Angriffs, hatte recht. Es geschah den Römern ganz recht. Vernunftsgründe zählten hier nicht mehr. Sie hatten es sich selbst zuzuschreiben, und es wurde Zeit, dass wir ihnen ihre Grenzen aufzeigten.

Dann wurde mein Sichtfeld in Rot getaucht, und ich schlug mit meiner Langaxt zu, wieder und wieder, traf Schultern, Arme, Köpfe oder auch nur Holz oder Erde. Um mich herum fielen Männer, meistens Römer, aber auch ein oder zwei Chauken, und ihr Blut tränkte die Erde. Rasch hatten wir die hier arbeitenden Legionäre aufgerieben. Doch es blieb keine Zeit, um Luft zu holen, denn schon nahte ihre Verstärkung, und nun entbrannte ein wilder Kampf Mann gegen Mann. Es war mir im Tumult unbemerkt gelungen, rasch das Blut eines tödlich Verwundeten zu trinken, und ich fühlte neue Kraft in mir erwachen. Während um mich herum der Kampf tobte und Männer starben, ließ mich plötzlich ein unbestimmtes Gefühl zum Rande des Schlachtfelds blicken.

Dort saß der Zenturio ruhig auf seinem Pferd und blickte unbeeindruckt auf das Kampfgetümmel. Ich erkannte ihn sofort, Astrid hatte ihn sehr gut beschrieben. Er gehörte mir! Ich wollte ihn eigenhändig töten!

Doch dann geschah etwas Seltsames. Als hätte er meine Aufmerksamkeit gespürt, sah er zu mir herüber, und unsere Blicke trafen sich. In diesem Moment wusste ich es: Der Zenturio war ein Bluttrinker wie ich!

Ich ging auf ihn zu, und er lenkte sein Pferd zu mir. Wir trafen uns in der Mitte, am Rande des Kampftumults.

»Warum hast du das getan?«, fragte ich ihn.

»Ah, der junge Vater. Es ist mir eine große Freude, dich kennenzulernen.« Er wusste, was ich meinte, auch ohne nachzufragen.

»Warum?«, wiederholte ich. Meine Stimme war kalt wie Eis.

»Was glaubst du? Es erschien mir die beste Gelegenheit, an dich heranzukommen, und zugleich hat es Spaß gemacht.« Er lachte, und bei diesem Geräusch lief es mir eiskalt den Rücken herunter.

»Wieso wolltest du an mich herankommen? Ich bin nur ein junger chaukischer Krieger, völlig unbedeutend.«

»Du brauchst mir nichts vorzumachen, Jandor. Ich weiß, wer du bist, ich weiß alles über dich.« Wieder lachte er.

Es gelang mir nicht, meine Überraschung völlig zu verbergen. Wie konnte das sein? Woher kannte er meinen Namen? Wer war er?

Natürlich sah er mir meine Gedanken an, und sein Stolz ließ es nicht zu, noch länger mit seiner Botschaft zu warten. Er genoss meine Überrumpelung und wollte den Genuss noch vergrößern, als er fortfuhr:

»Ich bin Brantus, und meine Gemahlin Akira schickt mich.«

Ich war so verblüfft, dass ich meine Gesichtszüge für einen Moment nicht mehr unter Kontrolle hatte, was ihn wiederum zum Lachen brachte. Ein fröhlicher Mann, wie es schien!

Immer noch lachend, stieg er vom Pferd und kam auf mich zu. Ich packte meine Axt fester, aber er winkte lächelnd ab. »Ich bin nicht gekommen, um dich zu töten, Jandor. Akira war lediglich neugierig, wie es dir in der Zwischenzeit ergangen ist, und schickte mich in das Land der Germanen, um dich zu suchen. Es war gar nicht so einfach, dich zu finden, weißt du!«

Während seiner kleinen Rede war es mir gelungen, meine Fassung zurückzugewinnen. Grimmig kam ich auf den Anlass dieses Kampfes zu sprechen: »Aber ich bin gekommen, um dich zu töten! Was du getan hast, ist ein Verbrechen! Astrid ist eine Frau meines Haushalts, und deshalb bin ich gezwungen, dich zu bestrafen.« Ich holte mit meiner Axt aus.

Er wich einen Schritt zurück und hob beschwichtigend seine Hand. »Wir hätten sie leicht töten können, aber wir haben es nicht getan. Es tut mir leid, was meine Männer ihr angetan haben. Aber ich hätte sie nicht davon abhalten können, und ich musste es ebenfalls tun, wollte ich nicht ihr Vertrauen und ihren Respekt verlieren. Und was ihren Sohn betrifft, nun, wir haben ihn laufen lassen, nicht wahr? Er ist völlig unversehrt. Ich suchte lediglich einen Anlass, dich kennenzulernen, um mit dir reden zu können.«

»Wieso bist du dann nicht einfach zu mir gekommen? So macht man das eigentlich, wenn man mit jemandem sprechen will.« Vor Wut erzitterte die Axt in meinen Händen, und ich konnte mich kaum noch zurückhalten, sie ihm ins Gesicht zu donnern!

Er grinste, und sein Grinsen gefiel mir gar nicht. »Akira wollte wissen, wie du reagierst, wenn du wütend bist.«

Das passt zu ihr, dachte ich.

»Sie erzählte mir sehr viel von dir. Von deiner Besonnenheit, deiner Liebe zu den Menschen. Sie hat mir vorausgesagt, wie du dich verhalten würdest.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Sie war sich ganz sicher, dass du mich nicht tötest. Dass du lieber in Ruhe über alles reden willst.«

Ich zuckte zusammen. War ich tatsächlich so durchschaubar? Das war nicht gut. Wenn die Feinde begannen, meine Reaktionen vorherzusehen, würden sie uns leicht besiegen können. Ich würde dringend an meiner Taktik arbeiten müssen!

Der Kampf kam langsam zum Erliegen. Viele der römischen Legionäre waren tot, und auch wir hatten eine Handvoll Krieger zu beklagen. Die meisten unserer Männer hatten jedoch überlebt, wenn auch einige mit schweren Verletzungen.

Und dann geschah etwas Unerwartetes. Während mein Blick noch auf den gefallenen römischen Legionären ruhte, begannen sich einige von ihnen plötzlich zu regen. Sie setzten sich langsam auf und erhoben sich noch etwas schwerfällig, strichen über die Wunden an ihren Körpern … die nicht mehr da waren!

Brantus folgte meinem Blick und lächelte. »Ach, hatte ich es gar noch nicht erwähnt? Entschuldige! Ich fühlte mich so einsam hier in diesem fremden Land. Deshalb habe ich dafür gesorgt, dass sich daran etwas ändert und mir einige Gefährten unserer Art an meine Seite geholt.«

Nun war mir klar, warum ich nichts von dem Verbrechen bemerkt hatte, das an Astrid begangen worden war, obwohl ich ganz in der Nähe gewesen war. Bluttrinker vermochten es, ihre Taten zu verschleiern, sodass sie beinahe unhörbar wurden. Bisher dachte ich, dass das nur für menschliche Ohren galt. Aber dies war Akiras Brut. Sie hatte schon immer ein Talent dafür, sich Männer mit ganz besonderen Kräften zu suchen.

Akira. Mit einem Mal stand ihr Bild ganz deutlich vor mir. Ihr stolzer Blick aus grünen Augen, und ihre langen roten Locken, die sie umflossen wie flüssiges Feuer. Ich hatte sie einst geliebt, oh ja! Wenn auch nicht so stark wie … Tanita. Warum musste ich gerade jetzt an sie denken?

Tanita! Meine einzige wahre, riesengroße Liebe, war mir schon zweimal auf grausame Weise entrissen worden. Ich sah ihr Haar vor mir, so schwarz wie Rabenflügel. Und ich fröstelte, als ich plötzlich an den Raben in meinem Traum denken musste. Denn nun wusste ich, was er gemeint hatte.

Die römischen Vampire bemerkten meinen Blick und starrten zu mir herüber. Unverhohlener Hass stand in ihren Augen.

Brantus wandte sich wieder mir zu. »Dir ist klar, dass wir euren Angriff nicht so einfach hinnehmen können!« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

»Klar!«, antwortete ich grimmig. »Rom, der große Unterdrücker, muss seine unartigen Kinder strafen. Etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet. Aber du solltest für einen gerechten Kampf sorgen! Andernfalls würdet ihr eure Feigheit beweisen! Du weißt, dass die Menschen bei einem Angriff von Bluttrinkern keine Chance haben.«

Er antwortete nicht sofort darauf, sondern bestieg sein Pferd. »Was ist im Leben schon gerecht, Jandor? Ich habe wirklich nichts gegen dich. Aber du solltest dir gut überlegen, wohin du deine Männer führst. Beim nächsten Mal werde ich keine Gnade mehr walten lassen!«

Ich zuckte mit den Schultern. Wer hat hier wohl Gnade walten lassen, dachte ich. Akira schien eine Schwäche für großmäulige Männer zu haben.

Akira … »Eine Frage habe ich noch!«, rief ich, während er sein Pferd bereits wendete.

»Frisst du Akira auch so aus der Hand wie deine Vorgänger?«

Sein Gesicht zuckte kurz zusammen, aber er beherrschte sich auch diesmal. »Akira ist nichts ohne mich. Wir Römer lassen uns nicht von unseren Frauen auf der Nase herumtanzen, so wie die euren das mit euch machen. Wir sind die Herren über unsere Frauen, genauso wie über euer Land.« Der Blick, den er mir nun zuwarf, war bösartig und ließ zum ersten Mal seine wahre Natur erkennen.

»Was ist mit ihren Söhnen?«, rief ich. »Bist du auch ihr Herr?« Ich wollte lediglich erfahren, ob sie noch am Leben waren. Tanitas Söhne. Nicht Akiras. Denn sie hatte sie ihr gestohlen. Uns gestohlen!

Er tappte in meine kleine Falle. »Sie sind bessere Kämpfer, als du je sein wirst, Jandor.«

Sie lebten! Akira hatte Bluttrinker aus ihnen gemacht, aber sie waren noch am Leben! Das allein zählte in diesem Moment für mich. Denn damit existierte noch immer ein Teil von Tanita, der Frau, die ich in Tausenden von Jahren nicht hatte vergessen können und die ich schon zweimal verloren hatte.

Natürlich hatten auch einige unserer Krieger bemerkt, wie manche Legionäre nach dem Kampf wieder aufgestanden waren, obwohl es zuvor so gewirkt hatte, als wären sie tödlich verwundet gewesen. Unser Geheimnis, seit Tausenden von Jahren sicher verwahrt, drohte hier und jetzt aufzufliegen.

»Wie kann das nur sein? Ich habe genau gesehen, wie tief seine Wunden waren! Aber dann erhob er sich einfach wieder, und nicht nur das! Seine Wunden waren fort! Seine Haut war unversehrt!«

»Sie müssen mit bösen Mächten im Bunde sein!«

»Wie können wir sie besiegen, wenn sie unverwundbar sind?«

Nein, es war noch nicht an der Zeit, sie aufzuklären. Vielleicht aber würde ihre Furcht erst einmal dafür sorgen, dass sie keine weiteren Angriffe mehr starteten, die das ganze Dorf gefährdeten.

Kapitel 2

Ich küsste Hilda zum Abschied. »Mach dir keine Sorgen, ich bin in wenigen Tagen wieder hier.«

Hilda, meine wunderschöne Gemahlin, sah mich besorgt an. Ihr blondes Haar reichte ihr bis weit über die Hüften, und heute hatte sie es anlässlich meines Abschieds offen gelassen. Sie wusste, dass ich es liebte, wenn es wie ein Umhang ihren zierlichen Körper umfloss. Bis zur Geburt ihres Sohnes war sie eine starke Frau gewesen, aber die Geburt und der große Blutverlust hatten sie derart geschwächt, dass es lange dauerte, sie bis ihre alte Kraft wiedererlangt hatte. Gerade diese Schwäche war es, die mich schwören ließ, sie vor allem zu beschützen. Ich hatte sie einst aus Mitleid geheiratet. Sie war schwanger und allein, eine Witwe, hilflos. Und sie war schön. Ich mochte sie sehr, wir führten oft stundenlange, sehr anregende Gespräche. Ich konnte nicht sagen, warum ich es nicht schaffte, sie zu lieben. Aber doch, tief im Herzen wusste ich es.

Meine Liebe war bereits vergeben. Tanita war die Liebe meines Lebens. Meines unendlichen Lebens. Mein Herz war besetzt, bis in den allerletzten Winkel. Überall gab es nur sie.

Wir waren noch so jung, blutjung, als unsere Seelen sich fanden und so stark ineinander verschlangen, dass wir niemals wieder ohne einander sein konnten. Sie war das Licht meiner Tage, die Luft in meinen Lungen.

Und als ich sie verlor, war es mir, als würde mir das Herz bei lebendigem Leib herausgerissen. Ihr Tod fügte mir eine Wunde bei, die nicht mehr aufhörte zu bluten und zu schmerzen. Schließlich vernarbte sie – verschwand aber nicht.

Im Stillen seufzte ich.

Ich winkte Astrid und dem Rest meines Hausstandes zu und bestieg mein Pferd. Einst hatte ich in den weiten Steppen Asiens reiten gelernt, aber danach war ich trotzdem noch lange Zeit zu Fuß unterwegs gewesen. Sein einiger Zeit jedoch lernte ich die angenehme Art der Fortbewegung zu Pferd erneut zu schätzen. Es schonte die Kräfte, und es war ein Genuss, wie der Wind dahinzufliegen und mit dem Pferd eine Einheit zu bilden. Deshalb hatte ich meinem Tier, einem wunderbaren Grauschimmel, auch den Namen Schattenwind gegeben.

Astrid blickte mir hinterher, und ich las tiefe Bewunderung in ihrem Blick. Schon immer hatte sie mir große Achtung und liebevollen Respekt entgegengebracht. Sie war eine hübsche und kräftige junge Frau mit langem rotbraunem Haar und hellblauen Augen, die meist wie der Frühlingshimmel strahlten. Sie war keine Schönheit, aber sie verströmte Jugend und Gesundheit und war sehr anziehend. Bis sie von den Römern zerstört worden war. Den Frühlingshimmel in ihren Augen hatten schwarze Gewitterwolken verfinstert.

Als ich sie nach dem Tod ihrer Familie bei mir aufgenommen und mit der Pflege meines Sohnes beauftragt hatte, wusste ich sofort, dass ich ihr vertrauen konnte, und so erzählte ich ihr, wer und was ich war. Statt schockiert zu sein, was eine natürliche Reaktion gewesen wäre, war sie stattdessen fasziniert und bot mir an, von ihr zu trinken, sollte es mich nach Blut verlangen. Ich machte nicht oft von ihrem Angebot Gebrauch, aber in strengen Wintern, wenn gerade kein Tier zu finden war, kam ich darauf zurück, und wir wurden sehr enge Vertraute. Deshalb wollte ich auch nicht eher ruhen, bis der letzte ihrer Vergewaltiger tot war.

Hilda wusste von unserem engen Verhältnis, und auch ihr hatte ich anvertraut, wer ich war. Anfangs war sie zu schwach, um darüber zu schimpfen oder sich aufzuregen, und später hatte sie sich damit arrangiert, mehr noch, sie und Astrid wurden enge Freundinnen und zogen Urs gemeinsam auf.

Nun schnalzte ich mit der Zunge, und Schattenwind fiel in einen leichten Galopp, den er über viele Stunden durchhalten konnte.

Ich ritt in den Wald hinein, die Bäume schlossen sich hinter mir, als wollten sie einen alten Freund in ihrer Mitte begrüßen, und nun erst ging mir auf, wie sehr ich es in den letzten Jahren vermisst hatte, alleine unterwegs zu sein. Ich ließ meinen Blick an den hohen, uralten Bäumen emporwandern, hinauf zu ihrem dichten Blätterdach, das alles grelle Sonnenlicht abfing und mich abschirmte vor der Hitze und der Helligkeit. Seit langer Zeit war es mir möglich, mich auch bei Tageslicht draußen zu bewegen, aber immer noch vertrug ich direktes Sonnenlicht nicht besonders gut; es brannte in meinen Augen und auf meiner Haut. Es fügte mir zwar keinen Schaden zu, aber weit angenehmer war doch die dämmrige Atmosphäre hier im dichten Wald.

Schattenwind bewegte sich kraftvoll unter mir, er schien diesen Ausflug ebenso sehr zu genießen wie ich. Wir scheuchten eine kleine Herde Rotwild auf, die an einem Bachlauf trank, und hörten das Schimpfen der Waldvögel über unsere Ruhestörung. Ich besann mich auf meine geschärften Sinne und hörte das Scharren einer Wühlmaus unter dem toten Laub auf dem Boden, und ich roch das Leben Tausender Tiere zwischen den alten Bäumen und im dichten Unterholz.

Von Zeit zu Zeit witterte ich Menschen. Ich machte einen großen Bogen um sie und ritt immer tiefer in den Wald, hinein in die Stille und Urtümlichkeit der gewaltigen Baumriesen. Mitten im Herzen des Urwalds verborgen lag unser gemeinsamer Treffpunkt, unser geheimer Versammlungsort. Rings um die uralte Eiche wob sich dichtes Unterholz, knorrige Äste streckten sich wie dürre Finger in das diffuse Licht, und flüsternde Stimmen schienen von überall her zu wispern. Es war seit jeher ein verwunschener Ort.

Von dort aus sandte ich Rufe in alle Himmelsrichtungen, Rufe, die nur von unserer eigenen Art verstanden werden konnten.

Als ich nach einigen Tagen in mein Dorf zurückkam, erwartete mich eine Überraschung.

Vor meinem Langhaus sprang ich aus dem Sattel und wurde bereits von Hilda, Astrid und den anderen erwartet. Mir fiel ihr heimliches schelmisches Gelächter und Getuschel auf, selbst Hilda konnte wieder herzhaft lachen, und auch Astrid hatte sich gut erholt, zumindest körperlich.

Ahnungslos betrat ich mein Haus und wurde so hart von einer Hand auf die Schulter geschlagen, dass ich beinahe zu Boden ging. Reflexartig drehte ich mich um, um meinen Angreifer zu packen, und erstarrte mitten in der Bewegung.

Ich blickte in ein breit grinsendes Gesicht mit sorgfältig geflochtenem Kinnbart, umrahmt von langen blonden Haaren, und die gletscherblauen Augen leuchteten vor Freude.