image

Fahimeh Farsaie
Die gläserne Heimat

image

Fahimeh Farsaie

Die gläserne Heimat

Erzählungen

Aus dem Farsi
von Kaweh Parand

image

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über >http://dnb.ddb.de< abrufbar.

ISBN 978-3-943941-57-9
Gedruckte Ausgabe, Frankfurt 1989
© Dittrich Verlag GmbH, Berlin 2015

INHALT

Sieben Bilder

Das Fenster zum Rhein

So ist das Leben

Die gläserne Heimat

Warum nicht?

Nachwort

SIEBEN BILDER

Gleich kommen die Beamten, und ich hab’ noch nichts erledigt. Ich möchte ja schließlich nicht meine Sachen von dieser und jener Straßenseite auflesen müssen. Alles muss ich ordentlich zusammenpacken.

(Gol, meine Gute! Ich bitte dich, quängle nicht ewig und lauf mir nicht zwischen den Füßen rum! Du in deinem unansehnlichen Aufzug. Ach!)

Schön wär’s, wenn ich wüsste, wie ich diese Bilder in all meinem alten Kram verstauen soll, dass sie nicht zu Schaden kommen. Ein Leben lang hab’ ich sie mit größter Hingabe gehütet, und jetzt will ich nicht, dass sie unter die Rubrik »Räumungsschäden« fallen.

(Gol, dich mein’ ich! Lass mich doch zum Nachdenken kommen! Du allein genügst schon, dass ich mich hinlegen und sterben möchte … Geh mir aus dem Weg!)

Auch zu Herrn Nossrat hatte ich gesagt: »Das heißt also, ich soll mich hinlegen und sterben?«

Und er, mit seinem glattrasierten, bleichen Gesicht, hatte das rechte Ende seines langen, dichten Schnurrbarts gezwirbelt und im Ton eines Richters, der im voraus sein Urteil gefällt hat, erwidert: »Das habe ich nicht gesagt.«

Während er diesen Satz mit kalter Stimme von sich gab, hielt er die Augen geschlossen, als hätte er vergessen, dass er mich noch vor ein paar Minuten fixiert und gesagt hatte: »Meine Dame, Sie sind hier überflüssig!«

Ich fragte nur: »Was soll das heißen?« und blickte dabei auf die Wand hinter seinem Kopf, wo sich eine helle Stelle von der Größe eines Bilderrahmens abzeichnete.

Herr Nossrat hatte gleichgültig geantwortet: »Das heißt, dass wir für Sie nichts mehr zu tun haben!«

Und mir war plötzlich eingefallen, dass dieses saubere Viereck an der Wand die leere Stelle vom Bild des Schahs war, und ich begriff, dass mein Hin- und Hergeschobenwerden zu diesem Amt und zu jener Abteilung nur stattgefunden hatte, um das Terrain vorzubereiten.

Sie hatten mich als Rechtsberaterin der Organisation eingestellt, doch die einzige Tätigkeit, die mir nicht anvertraut wurde, war das Beraten. Aus dem einfachen Grund, weil die Akten, die ich anlegte, ausnahmslos zu Ungunsten der Arbeitgeber waren: Arbeitgeber, die sich in den meisten Fällen entweder mit dem Sprecher der Provisorischen Regierung den Besitz ein und derselben Immobilie teilten oder mit dem Erdölminister bei einem Hypothekengeschäft Bekanntschaft geschlossen hatten oder Blutsverwandte dieses Kraftmeiers waren, der dem Fernsehen vorstand und für den eben diese Arbeitgeber und die Basarkaufleute Unterschriftensammlungen veranstalteten.

Jeden Morgen ließ mich der Vorgesetzte in sein Büro rufen, machte mir Vorwürfe, weil das Tippfräulein »ablenen« statt »ablehnen« geschrieben hatte, und sagte, ich hätte nicht die juristische Kompetenz, gegen den und den Arbeitgeber eine Klageschrift aufzusetzen, was er folgendermaßen begründete:

»Wie kann jemand, der nicht weiß ob ›ablehnen‹ mit oder ohne h geschrieben wird, beurteilen, ob Herr Soundso, der ein ehrbarer Mann ist und erst gestern 100.000 Toman als die vom religiösen Gesetz vorgeschriebene Armensteuer entrichtete, es abgelehnt hat, die Versicherungsprämien für die Arbeiter seiner Fabrik zu bezahIen?«

Ich zog die Nase kraus und sagte: »Was diese Dinge miteinander zu tun haben, ist mir unklar!«

(Gol, mein Liebes! Hab’ ich dir denn nicht grade eine Flasche voll Tee mit Kandis gegen dein Wehweh gegeben? Ist’s meine Schuld, dass keine Milch zu haben ist? Wie oft soll ich dich unter den Arm klemmen und von Apotheke zu Apotheke ziehen? … Ich bitte dich, plärr nicht ständig!)

Obwohl ich mir Mühe gab, jeden Tag noch mehr Umsicht als am vorhergehenden Tag in meinem Auftreten und meiner Tätigkeit walten zu lassen, fanden die zunächst zweimal wöchentlich sich abspielenden Zusammenkünfte mit dem Herrn Vorgesetzten bald jeden zweiten Tag und danach täglich statt, und ich beantragte schließlich, um ihm seltener meine Aufwartung machen zu müssen, zwanzig Tage Urlaub.

Noch war keine Woche vergangen, da stellten sie mir durch einen meiner Kollegen den Bescheid über meine Entlassung zu: Das Säuberungs-Komitee hatte mich für »konterrevolutionär« befunden.

Als ich mich Herrn Nossrat gegenübersetzte, legte ich absichtlich meine rechte Hand, deren Haut vom Verbrennen mit Zigarettenglut verschrumpelt ist, auf den Tisch und fragte wütend: »Konterrevolutionär?!«

Ich zeigte ihm das Führungszeugnis, das ich für meine Einstellung von der Polizeibehörde erhalten hatte. Darin stand: »Die Genannte ist wegen Aktivitäten, die gegen die Sicherheit des Kaiserreiches gerichtet waren, zu drei Jahren Haft verurteilt gewesen.«

(Ja doch … ja doch … ja doch … Gleich steh’ ich auf und koche dir Kartoffeln … Ich bitt’ dich nur, weine nicht so und steh mir nicht immerzu im Weg, Gol!)

Und ich zeigte ihr das Bild »Die Kartoffelesser«:

(Sieh mal, alle essen sie Kartoffeln! Die Kartoffeln haben sie eigenhändig gepflanzt, mit diesen Händen: mit denen sie jetzt essen.)

Mir schien, dass das spärliche Licht, das die Bildatmosphäre erhellte, mit jedem Augenblick trüber und die bekümmerten, nachdenklichen, knochigen Gesichter der Kartoffelesser mit jedem Augenblick hagerer wurden. Ich blickte Gol in die Augen und fand diese Gesichter in ihren hellen Pupillen widergespiegelt, nur kleiner …

Es war mir klar, dass sie den Sinn meiner Worte nicht begriff. Sie starrte nur mit ihren gleichmäßig grünen Augen auf das dunkle Grün des Bildes und sah es sich aufmerksam an, und Staunen, Neugierde und oberflächliches Wahrnehmen bewirkten, dass ihre Augenbrauen sich zusammenzogen.

(Wie sehr sie in dieser Verfassung Hosseyn gleicht!)

Bei diesem Gedanken zog sich meine Nase kraus. Auch als Hosseyn Abschied nahm und fortging, hatte ich aus lauter Verzweiflung die Nase kraus gezogen. Als er am Morgen Brot kaufen gegangen war, hatten sie ihn in der Schlange vorgelassen. Er erzählte: »Was für eine lange Schlange! Aber sowie die Leute meine Uniform sahen, sagten sie: Herr Offizier, … bitte gehen Sie vor! Ihr seid das Licht unserer Augen …« Und vor Freude und Stolz lachte er von Herzen.

Als ich fragte: »Und was soll mit mir werden?« fragte er: »Fängst du wieder damit an?« Mir schien, dass er das mit dem gleichen grundlosen Zorn sagte wie meine Tante damals, als sie zum ersten Mal diesen Satz aussprach.

Ich hatte einen Zipfel meines Blusensaums gefasst und stopfte ihn mir immer wieder zwischen die Zähne. Ich hatte nicht die geringste Lust, meiner Tante in ihr haariges Gesicht zur blicken. Auch wenn ihr Gesicht nicht behaart gewesen wäre, hätte ich sie nicht anblicken mögen! Die Fingerspitzen brannten mir. Von heißem Fett kann man ja nichts andres erwarten! Das wusste ich selbst auch; aber ich hatte einfach nicht anders gekonnt. Meine Tante musste jeden Augenblick auftauchen, deshalb schob ich die Finger unter das größte Hackfleischbällchen, das gerade im Fett brutzelte, und steckte es, obwohl ich dabei schreckliche Qualen litt und es zerbröckelte, in die Tasche meines grauen Schulkittels. Um den brennenden Schmerz zu lindern, steckte ich die Finger in den Mund. Meine Tante kam mit der Schüssel Reis zurück, um die ich sie gebeten hatte, und heftete ihren Blick gleich auf die Tasche meines Kittels. Ich senkte den Kopf. Ich wollte so schnell wie möglich diese verdammte Schüssel Reis an mich nehmen und die Flucht ergreifen. Seit zwei Tagen hatten wir nichts Ordentliches gegessen.

Meine Tante sagte: »Was ist das da in deiner Tasche?!«

Ich stellte mich taub, und während meine Finger noch brannten und der Schmerz mir die Tränen in die Augen trieb, erhob ich mich auf die Zehenspitzen und reckte die Arme, um ihr die Schüssel abzunehmen.

Ich sagte: »Mutter lässt dir sagen: Vergelt’s dir Gott!«

Die Schüssel noch höher haltend, sagte meine Tante: »Gott vergelt’s auch deiner Mutter – die mit ihrer Kindererziehung … Ich hab’ dich gefragt, was du da in der Tasche hast!«

Ich schielte auf die Tasche meines Kittels und sah, dass sich ringsherum ein Fettfleck ausgebreitet hatte.

Ich hob den Zipfel vom Blusensaum hoch und stopfte ihn mir immer wieder zwischen die Zähne. Vom Geschimpfe meiner Tante kriegte ich nichts mit. Ich dachte über die Beobachtung nach, dass Fett genauso wie Wasser durchsickert!

Immer noch zeterte meine Tante und machte mich und meine Mutter und ihre eigenen Verstorbenen und die meiner Mutter schlecht. Am Ende schrie sie: »Sag mal, fängst du wieder damit an, he? Fängst du wieder damit an?!«

(Du quälst mich, Gol! Da sind noch viele Dinge, die ich erledigen muss. Eins davon ist, Milch aufzutreiben für dich! Deshalb stör mich nicht dauernd! Klammre dich nicht ewig mit deinen kleinen heißen Händen an mich, dass ich dich auf den Arm nehmen soll! Mein Liebling, meine Freude! Lass mich meine Arbeit tun! Gleich kommen die Beamten. Guck mal, guck dir dies mal an! … Diese kleinen Menschlein sieh dir an, die gehen im Kreis! … Sieh mal, wie hoch die Mauern reichen … So hoch sind die, dass man es nicht für möglich hält, Sonnenlicht und frische Luft könnten darüber hinweg streichen! … Das ist ein Gefängnis! Dies Bild heißt »Der Kreis der Gefangenen«. Siehst du die Polizisten, wie sie aufpassen? … Diese Männer sind zum Luftschnappen herausgekommen, danach gehen sie wieder in ihre Zellen! Siehst du diese kleinen Fenster mit den Gittern davor! … Die gehen da hin … Ich will das in den Koffer mit deinen Kleidern tun, ja?)

Ich hatte gesagt: »Das ist gut, dann ruhe ich mich mal so richtig aus. Das ist doch besser als dies sinnlose Herumgelaufe … Was gab’s denn draußen für mich außer Elend und Hunger?!«

Ich hatte die Nase krausgezogen und sah mir Stück für Stück die großen und kleinen Figuren an, die in dem Zimmer im Glasschrank standen. Offenkundig hatten ungeschulte Hände sie angefertigt. Mir ging allmählich die Geduld aus. Der Herr Doktor war noch beim Konjugieren der sechs Formen des Verbs »patriotisch gesinnt sein«: »ich bin patriotisch gesinnt … die, die hier sind, sind alle patriotisch gesinnt … ihr seid alle patriotisch gesinnt?«

Es überraschte mich nicht, dass er, als er zur Anredeform im Singular und Plural gelangte, das Verb im Frageton konjugierte.

Aus Ärger war es … Alles, was ich sagte, sagte ich im Ärger. Ich war einfach dabei zu platzen. Ich, die es keinen Augenblick an einer Stelle gehalten hatte, brachte jetzt meine Zeit vom Abend bis zum Morgen, vom Morgen bis zum Abend in einer zwei mal zweieinhalb Meter messenden Zelle zu. Ich wünschte mir nur, dass sie mich in Ruhe ließen.

Der Herr Doktor war beim Imperativ von »patriotisch gesinnt sein« angelangt. »Seid alle patriotisch gesinnt!« – und ich blickte immer noch auf den kleinen Teppich am Boden und seine Ornamente. Die vom Block 4, hatten ihn geknüpft. Frau Hosseyni hatte gesagt: »Der Herr Doktor verrichtet sein Gebet auf diesem Teppich in seinem Zimmer …« und hatte die zum Himmel erhobenen Augen in einer Art und Weise gesenkt, als sei sie Gottes strafendem Blick begegnet.

Während ich auf den Teppich blickte, hörte ich gleichzeitig den Worten des Herrn Doktor zu: »Also, das ist ja nun gar nichts … Steh auf, nimm das Bildnis des Schahs von da oben runter, zerbrich es, dann verpass’ ich dir lebenslänglich … und du kannst dich bis ans Ende deines Lebens ausruhen.«

Ich sagte: »Darin seh’ ich absolut keinen Sinn.«

Und um nicht in Gelächter auszubrechen, zog ich die Nase kraus. Aber als ich mir die ineinander verschlungenen Linien im Teppich mehrmals genau ansah, konnte auch das Krausziehen der Nase nicht mehr meinen Lachanfall bremsen: In dem Teppich waren die Worte »Tod dem Schah!« eingewebt. Und der Herr Doktor tat dreimal täglich vor diesen geheiligten Worten einen Kniefall!

Danach, wann immer ich guter Laune war, foppte ich Frau Hosseyni: »Im Ernst, Frau Hosseyni, wo verrichtet der Herr Doktor sein Gebet?!«

(Ja doch … mein Schatz, komm auf meinen Arm und lass das Weinen! Du mein Liebling, bist du’s leid? Gleich geh’ ich mit dir raus … geh’ Milch für dich kaufen … Wie sehr lieb’ ich doch deine weißen Perlmuttzähnchen … Hast du Sehnsucht nach Papa? Ich auch … dass er uns beide in die Arme schließt, danach sehne ich mich! … Aber wenn wir ihm das sagen, weißt du, was er dann antwortet? Sofort hält er uns »die anderen« vor! »Die anderen«, »die anderen«, ich hab’ sie einfach satt, »die anderen« … Ich mag sie ja gern, aber ihretwegen bin ich mit den Nerven fertig … Weißt du: Diese anderen drängen sich zwischen uns und ihn. Und du wagst nichts zu sagen, sonst werden dir Berge von »Verantwortung«, »Verpflichtung« und »Liebe« und dergleichen auf die Schultern geladen! Ich möcht’ mal wissen, sind wir denn nicht ein Teil der anderen? Du, mein Kleines, bist du denn nicht mal soviel wert wie die anderen?!

Offenbar nicht! Denn Tausende wie dich gibt es, die täglich geopfert werden! … Seine Antworten kenn’ ich ja auswendig! … Aber lassen wir dies Thema, Schätzchen! Komm, für dies hier wollen wir jetzt einen Platz finden. Weißt du, wie es heißt? »Der 3. Mai 1808« … Siehst du, welch Grauen in seinen Augen steht? Das Grauen seines eigenen Lebens und das seiner Landsleute. Unser Tod hat ihn vor Grauen in den Wahnsinn getrieben.)

Als ich das Handtuch vom Kopf zog, hatte ich dies Todesgrauen direkt vor Augen: in den tiefschwarzen Augen von »Onkel«, der im Winter barfuß, bis zu den Knien im Schnee, ohne zu verschnaufen auf den Gipfel des Toutschal zu steigen pflegte. Seine Stimme zeugte von Gesundheit: klar und rein. Seine Zähne zeugten von Gesundheit: blendend weiß. Seine Gestalt war die verkörperte Gesundheit: straff, breitschultrig, kräftig und immer gepflegt.

Und jetzt stand er mir gegenüber; schmutzig und struppig war er und gebrochen, zerschmettert, mit einer Welt von Grauen in den Augen.

Die widerwärtige Stimme des Doktors wurde laut: »Kennst du den?«

Er hatte mich erbarmungslos geprügelt, hatte mich erbarmungslos gefoltert, erbarmungslos zermürbt. Mit dem Jackenärmel das Blut von der Nase wischend, sagte ich: »Nein, woher soll ich den kennen?«

Dann sagte er: »Und du? Kennst du die?!«

Auch an seiner Stimme war »Onkel« nicht wiederzuerkennen. Er sagte: »Ja. Es war geplant, Sie in der Aufklärungseinheit einzusetzen …«

Ich dachte bei mir: Wen? Mich? Welche Planung? und blickte um mich, und meine Augen verweilten auf der Skizze eines Gewehrs, das mit Kugelschreiber auf den Putz der Wand gezeichnet war. Ich zog die Schultern hoch und lachte laut und höhnisch auf.

Die widerwärtige Stimme des Doktors erhob sich wieder: »Tragt die Leiche raus!«

Ich wusste nicht, ob er von mir sprach oder von »Onkel«!

Mir war, als träumte ich mit offenen Augen. Von allem, was ich hatte, war mir allein das Ins-Leere-Starren geblieben. Alles hatten sie mir geraubt, auch meinen Körper. Als sie sich an mich machten, brachte mich die Wut nahezu um den Verstand. Obwohl mir Hände und Füße gefesselt waren, kippte ich mitsamt der Pritsche um. Ich glaubte, tot zu sein. Eine Woche lang war ich wie tot, eine ganze Woche lang. Nur Schmerz und Gram, Abscheu und Wut riefen mich ins Leben zurück.

Ich hatte nichts auszusagen … Ich wusste nichts, was ich hätte sagen können. Erst fünf Monate vorher hatte ich Hosseyn kennen gelernt. Er hatte zu mir gesagt: Du bist die Liebe für mich … die Liebe… Und ich hatte gesagt: Du bist mein Alles … An was ich mich erinnerte, waren diese zwei Sätze. Das konnte man doch nicht wiedergeben … Ich und eine Terroristengruppe?!

(Sieh mal, Gol! Ich kann dich doch bei all meiner Arbeit nicht dauernd auf dem Arm herumtragen? Genügt es denn nicht, dass ich so viel mit dir rede? Nimm ein klein wenig Rücksicht auf Mama! Gleich ist’s Mittag, und ich hab’ noch nichts getan! Ist’s, denn schön, wenn die Beamten kommen und hier alles kunterbunt durcheinanderfliegt? Ist’s denn schön, wenn die bei sich denken, was für eine Schlampe deine Mama ist?! Setz dich hier hin und mampf deine Kartoffeln! Ich möchte dich ja gern auf dem Arm tragen, dich an meine Brust drücken und möchte, dass du mit deinen kleinen warmen Händchen mit mir spielst! … Schließlich bist du ja meine ganze Freude! Aber bei all der Arbeit, die mir aufgehalst ist … wie soll das gehen?! Guck dir dies an; das ist »Der Sommer«, Mama liebt dies Bild sehr. Ich bin auch auf solchen Feldern gewesen … mit diesen lebhaften, fröhlichen, wilden Farben bin ich aufgewachsen. Meine Mutter hat auf solchen Feldern gearbeitet. Sie wurde auch so müde und kam so ins Schwitzen und trank auch so aus dem Milchkrug, den wir von zu Hause mitgebracht hatten! Sie nahm auch solche Sicheln wie diese zur Hand und schnitt mit einer Bewegung … pischsch… eine Unmenge Weizenhalme. Sie arbeitete soviel, damit ihr, wie sie sagte, leichter werde. Sie sagte immer: Ich genieße diese Erschöpfung! … Sieh mal die Kette von Vögeln: ein Halsband aus violetten Perlen für den wie ein Bräutigam blaugewandeten Himmel … Unser Verkaufsstand gefiel dir doch, nicht?)

Arme voll weißer, roter, rosa Blumen nahm ich und stellte sie gebündelt in große Vasen. Noch war die klare Kühle des Morgens nicht gebrochen, da hatte ich schon den Boden vor meinem Verkaufsstand gefegt und mit Wasser besprengt und setzte mich und sah mir das Hin und Her der Passanten an. Nachdem sie mich entlassen hatten, beschloss ich, Blumen zu verkaufen. An der Ecke einer belebten Straße stellte ich einen Bretterverschlag auf, beschaffte mir auch einige wacklige Gestelle und ein paar Tonvasen. Drei Tage in der Woche ging ich aus dem Haus, schrieb auf einen der kleinen Zettel, die eigentlich Hosseyn als »Gedächtnis« dienten, »Blumen«. In Mußestunden schnitt er sich diese kleinen viereckigen Papiere zurecht, und schrieb die zwei Worte »In betreff« darauf. Das war sein Notizbuch. Er sagte oft: »Die kann man leicht vernichten.« Darin hatte er recht. Denn etliche Male, als ich hinter das »In betreff« geschrieben hatte »uns selbst«, hatte er gar nicht reagiert. Das geschah immer dann, wenn ich über seine Vaterschaftspflichten reden wollte, und, wenn ich keine ermutigenden Anzeichen sah, sogar über die Auflösung unserer Ehe. Ich war sicher, sobald er ihrer ansichtig wurde, den Kopf schüttelte und sie lächelnd zerriss. Wenn ich dann fragte: Warum nicht, sagte er nur: Ich liebe dich … und nochmals: lch liebe dich …, und er sagte so oft: Ich liebe dich, dass ich schließlich so tat, als ob diese Angelegenheit nicht existierte. Und ich zog die Nase kraus und wusste selbst nicht, ob aus Freude oder aus Ärger.

(Ja doch, mein Töchterlein! … Weine nicht mehr! Möchtest du, dass ich mit dir spiele? Komm. Liebling, komm auf meinen Arm! Wenn doch dein Papa hier wäre! Dann würdest du nicht so viel durchmachen; ich kann doch nicht gleichzeitig beides sein! Manchmal möchte ich mich vor lauter Ratlosigkeit hinsetzen und flennen. Wieviel kann denn ein einzelner Mensch ertragen? Bei diesen Verhältnissen … Ich bitt’ dich, weine nicht! Sonst fang’ ich auch noch an zu heulen. Möchtest du vielleicht schlafen? Nein? Dann guck dir das an! Das ist »Der Herbst«. Sieh mal die Sonne; als ob sie erkaltet sei, erfroren; und diese kahlen, von der Kälte schwarz gewordenen Bäume! Sieh dir den Himmel an, wie finster er ist und traurig …)

Am Abend, als wir aus dem Kino kamen und Hosseyn sagte, dass er an die Front müsse, war der Himmel auch so düster. Zwei Jahre waren wir nicht ins Kino gegangen, und ich zuckte bei seiner Aufforderung zusammen. Als ich fragte: »Wieso auf einmal?«, lachte er und strich auf einem der kleinen viereckigen Papiere das »In betreff« aus und schrieb mit großen Buchstaben »Kino« und sagte scherzend »Motor«. Ich zog die Nase kraus, band mein Kopftuch um und ging mit ihm aus der Wohnung, dieser Wohnung, die wir vom »Hilfswerk für die Unterdrückten« erhalten hatten und die wir, weil wir die Miete nicht bezahlt haben, räumen müssen.

(Schön, Gol, mein kleiner Hoffnungsstrahl, gehn wir und machen Tee! Für die Beamten heben wir welchen auf. Warum sollen wir ihnen böse sein?)

Ich sagte: »Schön, sehr schön … du musst ja wirklich gehen … und ich allein mit dem Kind und ohne Geld und ohne Arbeit … Ich werd schon irgendeinen Mist bauen!« Er lachte. Immer lachte er. Wie ein Kind, wie ein Schulkind in den Sommerferien lachte er.

Er sagte: »Fängst du wieder damit an?!«

Ich sagte: »Nein, ich hör’ damit auf.«

Ich sagte nichts mehr. Ich wusste ja, dass er ging, wusste ja, dass er gehen musste. Aber ich wollte es nicht. Ganz entschieden wollte ich es nicht. Das Kind und die Mittellosigkeit und die Arbeitslosigkeit … all das waren nur Vorwände. Ihn selbst wollte ich, meinen Hosseyn, der den anderen gehörte.

Er sagte: »Sie zahlen uns Sold … ich schick’ dir Geld!«

Ich zog die Nase kraus und sagte: »Hach …«

Im Dunkel nahm er meine Hand und sagte: »Wenn du dich einsam fühlst, kannst du ja, wenn du willst, zu meiner Mutter ziehen!«

Ich begann, die Bäume zu zählen, die am Straßenrand ohne Furcht in den düsteren Himmel ragten. Schwarz und kahl.

Ich sagte: »Hast du ’ne Ahnung!«

Er sagte: »Dann findest du auch mehr Zeit zum Lesen!«

Ich dachte bei mir: Zum Teufel mit dem Lesen! Und laut sagte ich: »Genug davon … du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen.«

Ich wartete darauf, dass er wie immer sagen würde: »Du bist sehr egoistisch.«

Aber er sagte es nicht, sondern: »Nein, Sorgen mache ich mir nicht um dich. Ich weiß, dass du niemals in der Klemme sitzen bleibst … Nur …« Er lachte: »Ich werd’ mich nach dir sehnen … Du bist ja doch für mich die Liebe.«

Warum nur führte ich mich so auf? Hosseyn ging doch fort, musste fortgehen!

»Du bist mein Alles.«

Mit dem Zählen der Bäume kam ich aus der Reihe.

(Ja doch, mein Kleines, es ist jetzt Zeit zu gehen. Wenn wir uns zu spät aufmachen, ist die Milch alle … Was hast du da im Arm? Oh weh … »Der Winter«, gleich wirst du’s kaputtmachen … Du weißt doch, diese Bilder machen mein Leben aus! Dieser dicke Schnee auf den Hausdächern … diese schlanken, hohen Bäume … diese schwarzen, lärmenden Krähen … dieser Himmel voll dunkler Wolken … diese weiße, kalte, blendende Atmosphäre …)

Das letzte Mal, als Hosseyn anrief, klang seine Stimme müde, müde lachte er. Er sagte: »Im Frühling bin ich in Teheran!«

Ich sagte: »Hier hat’s geschneit … Aber wir haben genug Petroleum … Warum rufst du so selten an?«

Und ich zog die Nase kraus.

Er sagte: »Wir bereiten einen Angriff vor … Bestell Grüße an meine Mutter! Was schreiben denn die Zeitungen?«

Ich sagte hastig: «Gol geht’s gut. Alles ist in Ordnung … Warum rufst du so selten an?«

Er sagte: »Die Kniffe vom Maschinengewehr J-3 hab’ ich jetzt raus … Im Schützengraben singen wir Lieder … Was schreiben denn die Zeitungen?«

Ich sagte: »Ich hab’ unsagbar viel Zeit … Das Geld ist angekommen … Warum rufst du so selten an?«

Er sagte: »Hier fehlt’s uns an nichts. Die Kameraden sind großartig! … Was schreiben denn die Zeitungen?«

Und dann redete er mich mit meinem Namen an, was er sonst selten tat.

Wenn er sehr traurig war, redete er mich mit meinem Namen an. Er sagte: »Wenn sie den toten irakischen Soldaten die Uniform ausziehen, ist ihre Unterwäsche ganz zerschlissen …«

Es klingelte.

(Ach, siehst du, Gol? Die Beamten sind da, und wir haben noch nichts fertig! … Komm auf meinen Arm, ich will sehen, wer das ist!)

»Einen Moment, ich komm’ schon!«

Guten Tag, bitte schön … Ich dachte, es wären die Beamten vom Wohnungsamt … Das hast du gut gemacht, dass du gekommen bist …

Was gibt’s Neues von Hosseyn? Ich war dabei, alles zusammenzuräumen … Gol geht’s gut … Sag dem Onkel guten Tag! Ach, … beinah hätt’ ich diesen ›Frühling‹ vergessen!«

Er stand unter dem Bild »Der Frühling« und nahm seine Mütze mal in die eine Hand, mal in die andere. Er schien niedergeschlagen und traurig. Seine Augen waren gerötet, und auch seine Nasenspitze war rot. Er sagte, er wolle es kurz machen, und sprach von ohrenbetäubendem Lärm und von Detonationen und von Mörsern und von Blut und Hirn und Ohnmachten und derlei Dingen. Einige Male sagte er auch »Hosseyn« …, und er drückte mir einen gefalteten Umschlag in die Hand, öffnete die Tür und ging.

Ich blickte immer noch den »Frühling« an: diese blasse, zarte Bläue des Himmels und die vollen, dichten Dolden des lila Flieders, dessen betäubender, fiebriger, leichter Duft mich immer trunken machte. Doch mit einem Male merkte ich, dass ich gar keinen Geruch wahrnahm! Und mir schien, ich atmete gar nicht. Das frische, heitere Lila der Fliederblüten verblasste nach und nach. Der Himmel wurde weiß, und die ineinander verschlungenen dünnen, braunen Stängel der Blüten neigten sich und legten sich auf die gelbgetönte, lockere Erde, und was mir in den Händen blieb, war ein ausgelöschter, toter Frühling, der in einen goldenen Rahmen gefasst war.

Aus dem Farsi von Sigrid Lotfi

DAS FENSTER ZUM RHEIN

Die Frau öffnete die purpurfarbene Tür und hielt den Atem an. Sie blickte auf die vielen dunklen Flecke, die den blauen Teppichboden bedeckten, zog ihre Handschuhe aus und schlug den Kragen ihres Mantels herunter. Sie dachte an die Stunde, die hinter der nächsten Tür auf sie wartete, und an die neu gekauften Stifte und Hefte.

Sie atmete aus und schloss die Tür. Der muffige Geruch nach Fisch, der Gestank des mehrmals gekochten Öls, die abgestandene Luft ekelten sie an. In ihrer Vorstellung siedete heißes Öl in einem Topf aus Aluminium, in dem Fische und kleingeschnittene Kartoffeln schwammen und sich langsam verfärbten. Sie spürte, wie ihr übel wurde.

Der Mann lag auf dem Sofa, spielte mit seinem Schnurrbart und telefonierte. Er trug einen weißen Schlafanzug, dessen ausgebeulte Hosenbeine in schwarzen Socken steckten. Als er die Frau sah, richtete er sich auf, und sein fetter, in eine braunrote Weste gezwängter Bauch drängte sich hervor. Der Mann zog die Weste herunter, um das steife Glied zwischen seinen Beinen zu verbergen.

Das Radio war eingeschaltet. Der Sprecher zählte die wegen Eis und Schneefällen gesperrten Autobahnen auf und teilte mit, dass die sibirische Kälte inzwischen ganz Europa überzogen habe.

»Es handelt sich um die tiefsten Temperaturen der letzten zehn Jahre.«

Der Mann sagte ins Telefon: »Du irrst dich … Der Toman ist mehr wert … also, der amtliche Kurs ist höher. Ach … du … ich handle nicht mit Dollars, sondern mit Mark.«

Eine zärtliche Stimme begann zu singen: »Neunundneunzig Luftballons …«

Die Frau öffnete alle Fenster, spürte die Kälte und fror. Sie sah sich in die bleiernen Wellen des Rheins tauchen, der jenseits des grauen Aluminiumrahmens und zu Füßen der nackten, rotgelb gefärbten Bäume vorbeifloss. Sie drehte sich um und schaltete das Radio aus.

Der Mann protestierte: «Ich wollte aber das Lied hören …«

Die Frau antwortete nicht, ging ins Schlafzimmer und zog sich um. Sie nahm die Hefte und die Stifte aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Sie öffnete ein Heft, blätterte darin, berührte die glatten Seiten; sie waren weiß und weich. Sie schloss die Augen und roch das Papier der Buchhandlung, zwischen deren Regalen sie zwölf Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Dort lernte sie den Mann und das Leben kennen. Auch die Liebe und die Leidenschaft. Die Freunde und auch sich selbst. Dort, in einer geheimen Ecke im Hinterzimmer, das nach Papier, Papier und nochmals Papier roch, versteckte sie die verbotenen Bücher. Dort wurde sie festgenommen, und nach der Entlassung aus dem Gefängnis ging sie dorthin zurück; in den gepressten Geruch des Waldes. Zwischen den Regalen stand nun der Mann. Er erwartete sie lächelnd und drückte ihre Hände in freudiger Erregung. Sie umarmte ihn und den starken Geruch der wilden Natur und weinte vor Lust und Leidenschaft.

Nahm er damals überhaupt den Geruch des Papiers wahr?

Die Frau nahm das Löschpapier aus dem Heft. Es war gelb, weich und flauschig und roch nach der harten Haut eines Winterbaums. Sie faltete es, roch daran und schmeckte es mit der Zunge. Sie mochte den süßen Geschmack der Zellulose. Als sie es an die Lippen nahm, fühlte sie den Blick des Mannes im Nacken.

»Isst du Fisch?«

Die Frau klappte das Heft zu und legte es in die Schublade. Der Mann telefonierte noch einmal.

»Also … das geht mich nichts an! Wenn du kein Geld hast, darfst du nichts kaufen! Das ist dein Problem … oder?«

Eine männliche Stimme sang: »Dich brauche ich. ja … dich!«

Alle Fenster waren wieder geschlossen. Aus den grauen Wellen des Rheins stieg Nebel auf. Die Frau schüttelte sich und ging in die Küche.

Der abscheuliche Gestank der Fische und des heißen Öls ließ ihren Atem stocken. Der Dampf beschlug ihre Brillengläser. Sie nahm sie ab. Trübe verschwammen die Dinge vor ihren Augen und verloren ihre Gestalt. Sie versuchte, durch den Mund zu atmen, und schluckte eine Tablette gegen Kopfschmerzen und eine zur Erhöhung des Blutdrucks. Sie spürte kaltes Fischöl auf der Zunge. Sie wollte sich übergeben. Aber es gelang ihr nicht.

Ein kleiner Fisch mit weißen Augen schwamm auf dem Schaum des heißen Öls zwischen den lehmfarbigen Pommes frites. Wie Blattern hatten sich tausend winzige Öltröpfchen auf der glänzenden Oberfläche des Herdes ausgebreitet. Die Frau goss Milch in ein Glas, stellte es auf das Tablett, legte Brot daneben, wischte sich die Hände mit einem Tuch ab, das neben dem Herd hing und nach Fisch roch. Sie öffnete das Fenster. Der Mann kam in die Küche.

»Ah … es duftet …Isst du keinen Fisch?«

Die Frau nahm das Tablett.

»Nee …«, murmelte sie.

Der Mann schloss das Fenster, noch ehe sie die Küche verlassen hatte.

Die Frau stellte das Radio leise, in dem ein Sänger »Thriller« schrie, öffnete das Fenster halb und starrte die Rheinbrücke an, auf der sie vor einer Stunde mit erstarrten Händen und Füßen und einer Frage stand, auf die niemand eine Antwort wusste: Was habe ich hier zu suchen?

Der Asphalt war dunkelgrau-grün, und eine Schicht aus wässerigem Eis und schlammigem Schnee bedeckte ihn bis zu den Brückenrampen. Unerträglich der Lärm der rasenden Autos, das Brummen der Schiffsmotoren, das Donnern der Flugzeuge, die über sie hinwegflogen; unerträglich die Schwindel erregende Höhe der Brücke, die Tiefe des Rheins, die gläsernen Fäden des Regens; unerträglich die Kälte, ihr erstarrter Körper, das Leben. Ach … ja … das Leben selbst. Sie hielt sich die Ohren zu. Ein wilder Fluss rauschte in ihrem Kopf. Ein Chor schrie: »Thriller!«

Sie zuckte zusammen, als sie den lauten Knall der eisernen Tür hörte, die hinter ihr zugeschlagen wurde. Man hatte sie in den Ziegelpflasterhof geschoben. Es geschah während einer Abenddämmerung im Herbst. Der Himmel war wolkig und zinnoberrot. Der Wind war ein Drache, der ständig den Schwanz auf den Boden schlug. Es roch nach Staub und Traurigkeit. Ein Jahr ihres Lebens blieb hinter jener eisernen Tür zurück, so wie der Glanz ihrer Augen hinter einem dicken Tuch. Sie verbrachte dieses Jahr in einer Zelle, die wie ein blinder Spiegel weiß zu sein schien und bis zur Decke angefüllt war von Wünschen, Träumen, Erinnerungen, Seufzen, von Schmerz, Blut, von schwärenden Wunden, Sehnsüchten und Hoffnungen. Ein Durcheinander, in das nicht einmal ein Pasdar einzudringen wagte. Die Zellentür war meist verschlossen. Doch noch ehe sie auf ihren geschwollenen Füßen zur Toilette humpelte, wusste sie schon, dass durch den Türspalt eine sanfte Brise fächeln und den Duft ihrer Träume von einem bis zum Horizont gespannten Reisfeld verbreiten würde, von einem klaren Himmel, unter dessen Sonne sich die Haut allmählich kupfern färbte. Sie glaubte, dass auch die anderen Gefangenen den Duft ihrer Träume riechen und atmen konnten, der unsichtbar durch die Fugen der eisernen Türen in ihre Zellen drang. Sie roch deren Träume voller Hoffnungen, Ängste, Trauer, Geduld und Liebe, wenn sie sich nach den Vernehmungen an ihren Zellen vorbeischleppte, die Fäuste noch immer in unbändigem Hass geballt, der sie von nun an begleiten würde.

Jetzt stand sie allein in der Mitte des quadratischen Gefängnishofes und fühlte, dass sich ihr Körper unter den viel zu weiten Kleidern in eine Bronzestatue verwandelt hatte, in der sich nur das Herz mit menschlichen Pulsschlägen rührte. Sie hörte, wie etwas in den Hof geworfen wurde, und sah einen dunkelgrünen Beutel niederfallen.

»Hier! Deine Sachen! Unterschreib!«