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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2016

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Umschlaggestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich

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ISBN Printausgabe 978-3-499-63099-6 (1. Auflage 2016)

ISBN E-Book 978-3-644-55261-6

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-55261-6

Für meine Großeltern

Teil 1

GOLDEN

(2000–2003)

1

Eben noch eine Zugfahrt, fröhliches Erzählen, unsere Wandergruppe. Plötzlich hält der Zug auf offener Strecke. Frieder Wiethaupt steht draußen, winkt uns, auszusteigen, ihm zu folgen. Aber kein Weg ist da, nur Gestrüpp auf steinigem Boden. Wir stolpern und haben Mühe, hinterherzukommen. Irgendwann eine Felsenhöhle hinter dem Gestrüpp, Buchstaben in den Stein gekratzt. Mühsam entziffern wir: «Warum müssen Menschen allein sein?»

Frieder nickt, er murmelt. Aber keine Pause. Weiter geht es, bergab, Richtung Wald. Zwei Gestalten sitzen am Hang, gebeugt. Der Mann streicht der Frau über kastanienbraunes, langes Haar. Behutsam, etwas bestimmend. «Wir müssen auf uns achtgeben», raunt er, aber ich kann es trotzdem hören.

Frieder drängt, wir eilen weiter, den Hang hinab. Kein Gespräch mit dem Paar. Aber kenne ich sie nicht? Wo bist überhaupt Du? Ich drehe mich immer wieder um, hetze, meine Hüfte schmerzt. Wo ist die Gruppe?

Ich treibe weiter in den Wald. In einen tiefen, schattigen, einen Wald aus meiner pommerschen Kindheit. Spinnweben im Gesicht, Schweiß auf der Stirn, kein Vogellaut mehr. Nur meine Schritte dumpf auf dem Waldboden. Und Deine leise Stimme irgendwo weit weg: «Wir müssen auf uns achtgeben.» Immer dichter die Stämme, immer nächtlicher der Wald. Bis ich stolpere. Ich falle auf den Rücken. Ich rappele etwas, dann liege ich still. Ergeben starre ich ins Schwarz.

Und starre irgendwann ins Schwarz der dunklen Zimmerecke. Am ersten Knotenpunkt zwischen Nacht und Morgen; da, wo die Nacht noch mächtig ist.

 

Ein paar Minuten später tröstest Du mich. Deine Träume seien auch wild, sagst Du. Ja, vor allem beruflich wirst Du gehetzt nachts, von unmöglichen Hochschulkollegen und überfordernden Aufgaben, auch noch Jahre nach Deinem Vorruhestand. Und ich, sagst Du, ich sähe auch nach zehn Rentenjahren noch aus wie Mitte, Ende fünfzig. Gerade am frühen Morgen. Ach, Ole, Du übertreibst.

Du küsst mein Gesicht und lobst, mit einem lachenden Gähnen, den Schwung meiner Brauen. Weißt Du, seit wie vielen Jahren ich sie schon dunkel färbe? So lange wie die Haare mindestens. Oder schon, seitdem die langen Haare abgeschnitten sind? Ich weiß es selbst schon nicht mehr.

Deine Wanderhände tun, als wollten sie mich wärmen. Du rühmst meine Hüften unter dem Nachthemd. Erinnerst Du Dich, wie meine Mutter mir immer Haferbrei gekocht hat? «Gott im Himmel, Ida, du bist zu dünn …», selbst noch nach der Geburt unseres dritten Jungen. Unglaublich, nicht mehr lange, und all das ist fünf Jahrzehnte her.

 

Schon damals habe ich Tagebuch geschrieben, anders als Du, weißt Du noch? Wenn ich mal Muße hatte, meist morgens im Urlaub. Ich will versuchen, das wieder zu tun. Die Zeit sollte sein, in unserem ruhelosen Ruhestand. Das habe ich beschlossen, heute an diesem frühen Januarmorgen. Und ich habe es Dir nicht gesagt.

Ein Tag kann sein wie ein Schritt, unbehindert, unmerklich; aber auch wie ein Sprung über ein Hindernis, ein Treten auf der Stelle, schmerzhaftes Dahinschleppen, hastiges Fliehen zur nächsten Markierung … Aber immer auf dem Weg. Und ein Stück gemeinsamen Weges, schriftlich festgehalten, möchte ich Dir zu einem der nächsten Jubiläumstage schenken.

 

Wenn ich nicht in den Spiegel sehe, merke ich das Alter kaum. Und Du lachst auf, als Du mir in der Morgendämmerung nachmachst, wie Georg am Rande der Wahlfeier den Kopf zu dir gesteckt und verächtlich erzählt hat: «Ich bin nicht gern mit Alten zusammen!» Wie alt ist er, kaum älter als wir? Oder schon weiter in den Siebzigern? Aber auch uns geht es so: Andere Deines und meines Jahrgangs erscheinen uns fremd, alt, ungepflegt manchmal, verdrießlich und misstrauisch. Dabei ist gerade erst Potz-Blitz-Knall-und-Funken-deutlich geworden: Die Jahrtausendwende ist überschritten. Als junge Frau schien mir das nächste Jahrtausend fern wie ein weit weg im All schwebender Planet. Bestimmt würde der Sozialismus dann die gesamte Welt umarmen: so weit weg. Und nun ist Sozialismus ein Sorgenkind, um das sich nur noch wenige kümmern. Und das neue Jahrtausend ist alltäglich wie die alten Häuser, die die Straßen säumen. Auch wenn die Häuser inzwischen meist farbig angestrichen sind. Unser Wohnhaus ist eins der wenigen grauen noch, grau wie seine Besitzer Frieder und Gertrud Wiethaupt. Und wie wir. Auch wenn ich mein Grau verstecke. Feige vielleicht? Und doch haben wir uns heute im ersten, tastenden Licht des Tages gesagt: Lass uns zugeben, wer wir sind und wie alt. Lass uns das Beste daraus machen. Und: ja, auch etwas wagen. Lass uns hier in Weimar eine neue Wohnung suchen, geräumig und zweckmäßig genug, mit Raum für Hoffnung und Mut und doch ebenerdig, ohne steile Treppe in den zweiten Stock. Mit einem kleinen Stück Natur davor, leicht zu erreichen und zu zähmen, das unser wäre. Lass uns suchen, bis wir sie finden. Eine Wohnung, in der wir bleiben können, solange wir sind.

2

Sie treten aus dem Wald, die Landschaft ist mit einem Mal offen, weit, wie eingefroren. Nicht weiß, aber hell, mit überklaren Konturen. Ida atmet durch, steht neben Ole wie vor einem Panoramagemälde mit vielen Details. Er zieht seine Mütze tiefer über die Ohren, will weiter. Sie nimmt seine Hand. «So schön», murmelt sie, in die Ferne schauend. «Dann wenigstens einen Wegzoll.»

Er holt einen Fotoapparat aus dem Rucksack, die Handschuhe unter den Arm geklemmt, und drückt zügig ab. Sieht erstaunt auf ihre Fingerhandschuhhand, die ihn noch festhält. Lächelt dann, ein Winterlächeln, und beugt sich für einen Kuss zu ihr. Sie bewegen sich nicht, die Augen sind geschlossen, der Wind weht.

«Ist genehmigt», sagt Ida nach einer langen Minute.

Eine Umarmung von Ole, er schiebt zwei kastaniendunkle Strähnen unter den Rand ihrer Mütze. Und schreitet in die Hochebene hinein. Ida bleibt nah hinter ihm.

Gebüsch tut sich am Weg auf, erst nur dünn, dann dichter, höher, als könnte man ihm beim Wachsen zusehen. Idas Blick wandert mehr und mehr von der Weite hin zu diesen Sträuchern. Irgendwann geht sie vom Weg ab. Zieht die Handschuhe aus, besieht und betastet Zweige, achtsam, wie wertvollen Schmuck.

«Strauchräuberin!», ruft Ole lachend. «Ist denn da schon etwas?»

Ida gibt nicht auf. Nach einigen Metern bleibt sie stehen und winkt.

Er lächelt, ein bisschen weniger hell. Lenkt seine Schritte Richtung Graben. «Schiete!» Er verharrt, schüttelt nur den Kopf, als Ida näher kommt.

Sie wartet. «Geht’s wieder?»

Ole flucht, leise. «Hier. Mein Kreuz …»

Die Hochebene wird schmaler, zurrt zusammen wie ein Reißverschluss und steigt an. Als Ole wieder stehen bleibt, legt Ida ihm die Fingerhandschuhhand auf den Rücken. Massiert leicht, über der Jacke.

«Danke», flüstert Ole, und, weniger kläglich: «Du Motivationskünstlerin.»

Ida legt den Zweig ab und die andere Hand an seinen Rücken. «Ich kann dich nur nicht auf meine Schultern heben», sagt sie, «wie damals, beim Sportfest anno 53.»

3

Noch so viele unentdeckte Kleinode warten auf uns, auch ungeahnt nah. «Was brauchen wir Spanien», sagen wir uns immer wieder, «oder gar Amerika.» Zwar waren die Reisen zu Mirabella oder François, meinen «Deutsch für Ausländer»-Schülern, lehrreich und interessant. Aber im Grunde genügt es uns, kleinere Kreise zu ziehen. Nur unseren Söhnen und Sohnfamilien würden wir gern diese Gegenden auch zeigen. Zusammen mit ihnen, mit wenigstens einem oder zwei der Enkel, nicht wahr, da sind wir uns einig; zusammen wären die Reisen noch schöner. Ob sie nun einen Tag dauern oder, wie diesmal, eine ganze Woche.

Auf der Heimfahrt aber ist unsere Stimmung wie das Wetter. Nebel und Nieselregen, Tristesse. Wir hängen unseren Gedanken nach. Vom Band kommen Beethovens und Mozarts Kompositionen. Der Blick nach draußen reicht nicht weit, nur Umrisse zeigen den Weg zurück nach Weimar.

Dann müssen die Koffer die lange Treppe hoch. In der Wohnung angekommen, fühlen wir uns zunächst etwas fremd. Wie immer, wenn wir einige Zeit verreist waren. Ich bin nicht mehr sicher, ist es uns auch in der vorigen, größeren Wohnung, als die drei Söhne noch mit uns lebten, so gegangen?

Die Zimmer kalt, fast würde ich sagen, gealtert, laden uns nicht zum Platznehmen ein. Wir müssen ihnen erst wieder Leben einhauchen. Selbst Vladi schleicht argwöhnisch um uns herum. Oder will er uns spüren lassen, dass er beleidigt ist? Es dauert etwas, bis er wieder anfängt, zu schnurren, wenn wir ihm das Fell kraulen. Dann aber reibt er sich an unseren Beinen. Wir stellen die Grünpflanzen an ihren Platz. Manche haben welke Blätter, obwohl die Erde feucht ist; auch sie haben sich verlassen gefühlt.

Nur die Koffer schnell auspacken, damit sie nicht den Eindruck verstärken, wir seien noch nicht ganz da. Die Heizung wird ein paar Striche höher gestellt, Teewasser aufgesetzt, der erhebliche Postberg gesichtet. Zeitungen, Briefe und allerhand Überflüssiges. Wir sortieren, der Tisch wird allmählich leerer, der Papierkorb füllt sich mit Werbeblättern. Briefe dagegen wecken sofort unsere Neugier. Jeder will gleich vorlesen, entscheidend aber ist der Absender. Mal darfst Du, mal darf ich dann einen der Briefe öffnen und lesen, im Wechsel.

Und schon klingelt Gertrud Wiethaupt, überbringt die neuesten Nachrichten aus dem Haus und der Straße, auf ihre etwas forsche Art. Und wir bringen unseren Dank für die Betreuung und Fütterung Vladis an. Allmählich fassen wir wieder Fuß.

Am Abend gleich soll uns ein länger eingeplanter Vortrag wieder im Kulturleben unserer Stadt empfangen. Auf dem Hinweg – eigentlich sind wir wie immer in Eile – springt uns in einer ruhigeren Straße unweit der Stadtbücherei eine Baugrube ins Auge. Das Schild dabei ist ansprechend, ein Mehrfamilienhaus wird gebaut. Kaum Zeit, alles anzusehen, der Veranstaltungsbeginn rückt bedenklich nahe. Und verunsichern könnte uns die örtliche Nähe zum früheren Marienhaus-Krankenhaus, in dem damals meine Mutter gestorben ist. Dennoch, kaum scheint überhaupt eine Aussprache nötig: Beide sind wir aufgeregt, elektrisiert. Könnte es sein, dass sie in dieser Sandgrube wartet, unsere Zukunft?

Trotzdem, am Ende des Tages, wie gewohnt, diskutieren wir ein bisschen, ob Vladi auf dem Sofa Platz nehmen darf. Er nutzt unsere Uneinigkeit aus und springt an meine Seite. Mit mir kann er es ja machen.

4

Sie bleiben gleich hinter der Türnische stehen, zur Orientierung. Im Zimmer ist es dämmrig, trotz der breiten Fenster. Ein großer, lang gestreckter Raum. Graues, unklares Licht fällt herein, Felsenhöhlenlicht, mitten am Vormittag, gefiltert von der Baustellenplane, die noch vor allen Fenstern hängt.

Der Makler wagt sich am weitesten vor. Ida sieht ihn prüfend an, als er, mit ausgestrecktem Arm, «Fast ein Tanzsaal!» sagt. Sie lächelt und schaut sich um, über den Brillenrand hinweg. Ein Zimmerrohling wie aus zwei Zimmern gemacht, einem größeren, einem kleineren. Metallstützen sichern noch die Decke, als wäre sie ein Patient aus dem alten Krankenhaus gegenüber. Offene Leitungen haben eine Wand befallen wie Schlingpflanzen einen vergessenen Park. Auch die Fenster zur kleinen Terrasse sind noch planenverhängt. Rohrstücke liegen auf dem nackten Boden, Werkzeuge. Kurz strauchelt Ida mit ihren dünnen Knöcheln. Sie sagt nichts.

Der Makler wartet, wendet sich zu Ole.

«Ja, die schmale Wand zum Flur aus Glas, das hätte was», sagt Ole. Er lächelt, ein Lächeln wie ein Händedruck. Dann folgt er Idas Blick zum breitesten Fenster. Schweigen.

«Machen Sie sich in Ruhe einen Eindruck», sagt der Makler. Er geht durch die Türöffnung, durch den kleinen Flur und dahin, wo seine Aktenmappe liegt. «Herd» steht mit Kreide dort auf der rohen Wand.

Ole macht eine Runde durchs Zimmer, betastet die Terrassentür. «Ach, Idchen!», sagt er.

Ida steht noch beim drei Flügel breiten Fenster.

«Terrasse. Fast ein richtiger Garten. Das kleine Gästezimmer drüben …» Ole kommt näher zu ihr. «Bald noch besser als das tolle Angebot An der Lehne, oder? Zwei Lokusse!» Er lacht. «Kein Gang mehr zur Mansarde nötig, wenn Gäste da sind. Und», er dämpft etwas die Stimme, «dass es im Frühling fertig sein soll, wenn unser Mietvertrag endet, das ist doch Fügung.» Er drückt mit beiden Händen ihre Hand. «Vielleicht dann wirklich eine Wohnung, die wir nie mehr wechseln müssen!»

Ida macht eine unklare Bewegung, schaut noch immer konzentriert zum breiten Plastikplanenfenster, wie in ein Aquarium.

«Wie konnten wir denken, dass das funktioniert?», sagt sie plötzlich laut.

Ole dreht sich erschrocken zum Flur. Das Telefon des Maklers klingelt draußen.

«Dir entgeht das doch nicht!» Sie schreit nicht, aber wirft Ole die Worte hart vor die Füße: «Direkt gegenüber muss es gewesen sein. Da!»

Durch die Bauplane sieht das, wo sie hinzeigt, wie eine Unterwasserlandschaft aus. Unter Wasser eine Straße, nicht breit, unter Wasser eine niedrige, übriggebliebene Mauer, unter Wasser ein Abrisscontainer mit letztem Schutt, ein halbaufgereckter Kran. Hinten ein roter Giebel wie aus der Renaissance.

Ida tippt gegen die Plane: «Hier vorn ist noch ein Stück Mauer vom Krankenhaus, stimmt’s? Dort war der Inneres-Trakt.»

Ole nickt.

«Dann war da das Zimmer. Das Sterbezimmer meiner Mutter! Haargenau gegenüber.»

Ole atmet tief. Nimmt sie fest in den Arm. Trotz ihres Mantels können seine Finger den Oberarm fast ganz umfassen.

«Ja», sagt er. «Vor …»

«Vor drei Jahrzehnten», sagt Ida leise. Hört seinem Atem zu. «Wie hat sie gesagt?», flüstert sie dann.

«‹Ach, Kinder, ist das Sterben schwer›», sprechen verhalten beide zusammen.

Die pfützendunkle Plane am Fenster knistert sachte. Eng beieinander schauen sie die Unterwasserlandschaft an. Die schon sommerrunden Straßenbäume. Den halben Kran, den Container, den geschwungenen Giebel dahinter. Paletten mit Ziegeln ganz vorn.

Nah an Idas Scheitel sagt Ole, leise: «Und jetzt wird da drüben alles anders.»

Sie lehnt den Kopf an seine Wange, Stirn und Augen versteckt, für einen Moment oder zwei.

5

Wir wundern uns manchmal, dass wir keine Freunde haben. Eine Menge Bekannter haben wir und auch Brieffreundschaften, die vor allem ich pflege. Aber so richtige Freunde?

Die Treffen mit Deinem Freund Leonhard, bei denen es zu vertrauten, intensiven Gesprächen kommt, sind nicht häufig, wohnt er doch nicht nahe genug; auch unser Umzug innerhalb von Weimar wird daran nichts ändern können. Zu alten Schulkameraden pflegst Du keine Verbindung. Und wenngleich ich mich auf die Treffen mit meinen Schulfreunden freue, sind es nur lockere Kontakte. Andere, aus gemeinsamer Ausbildung und Arbeit geknüpfte Bekanntschaften kann man nicht Freundschaften nennen. Begegnungen bleiben zufällig, Gespräche allgemein.

Brauchen wir Freunde? Echte Freunde, denen man sein Innerstes anvertrauen und auch das Gleiche von ihnen uneingeschränkt erwarten kann, haben wir wohl nicht?

Aber letzten Endes bedürfen wir – jedenfalls bis jetzt – ihrer wohl auch nicht als Lebensstütze.

Wie sagtest Du doch einmal in einem Gespräch bei Bekannten? «Mein bester Freund ist meine Frau.» Danke!

6

Um den kurzen Flur fünf Türen, halb offen, ganz offen, auch die Wohnungstür nur angelehnt. Kein Mensch zu sehen. Aber Musik schleicht in den Korridor, Musik aus zwei Radios oder dreien. Eine Sinfonie, gewürzt mit Rauschen aus dem Bad, mit Kaffeemaschinenräuspern und Singsang aus dem Gymnastikfernsehen.

Dann eine Stimme, fern zuerst, hell, warm und dunkel doch auch. Wie eine Bratsche in der Flursinfonie. Und Schritte, hausschuhleise. Die Wohnungstür wird ganz aufgestoßen. Noch auf der Schwelle geht Ida leicht in die Knie, der Kater springt von ihren Armen.

Ole kommt aus dem Bad. «Guten Morgen noch mal, meine Liebe.» Er sieht den müden Kater. «Ach!» Er lacht. «So warst du unten?», sagt er näher kommend zu Ida. «Ich staune …»

Ihre Hände ziehen den Morgenrock über dem am Bauch knittrigen Nachthemd zu.

Oles Finger streifen den leichten Stoff. «Ich freue mich ja», flüstert er und gibt ihr einen Kuss auf den Hals. «Freue mich doch sehr, wenn du dich frei fühlst mal.»

Der Kater mauzt, gegen den Türrahmen gelehnt, sieht misstrauisch zum Morgenmantel-Tanzpaar in der Mitte des Flurs.

«Vladi wollte wieder nicht recht laufen an der Treppe», sagt Ida schnell. «Ach, wie viel besser wird er es dann haben! Von der Terrasse einfach rein.» Und, während sie dem Mauzen hinterhergeht, dahin, wo die Kaffeemaschine brodelt: «Die Küche dort ist auch größer, Ole, oder?»

7

Sommer und kein Ende, wunderschön, vom frühen Morgen an. Eigentlich wohnen wir wie im Garten. Noch. Wird es in der anderen Wohnung genauso sein?

Es blüht in den Büschen, duftig im Schatten, grell in der Sonne. Auch um den grauen Putz am Hauseingang rankt sich ein Zweig mit gelben Rosen. Am Zaun Blüten in den verschiedensten Farben. Stiefmütterchen sind dabei, Nelken, ein paar Vergissmeinnicht, Löwenmaul. Noch aus dem Küchenfenster sehe ich Staudenpflanzen und ahne die winzigen Sonnen der Gänseblümchen im Rasen. Wie kann man diese fleißigsten der Blumen als Unkraut betrachten? Und doch werden sie von manchen Rasengärtnern entfernt. Aber es dauert nicht lange, und sie sind wieder da.

Auch Vladi ist da. Er hat sich einen Platz in einem weißen Blumenpelz vor der Garagenmauer gesucht und sich eingerollt. Du sagst, er genieße das Leben.

Genießen, ja, auch ich möchte das an einem solchen Tag. Jede Stunde im Haus, in der Wohnung scheint mir vergeudete Zeit. Ich möchte hinaus. Nicht unbedingt wandern. Wie lange schon, seit Jahren, ist es mein Wunsch, einmal einen ganzen Tag im Park zu verbringen, Zeit zu haben, auf einer Bank, hineinzuhorchen, mich zu vertiefen in die umgebende Natur.

Bei den Spaziergängen ist der Eindruck immer nur oberflächlich. Als schönes Beiwerk wird Natur zur Kenntnis genommen, als Dekoration unseres meist nüchternen Alltags. Wer kommt schon mit ihr zu einem wirklich vertrauten Verhältnis?

Vor ein paar Tagen habe ich mir Zeit gestohlen und einer Ameise zugesehen, über eine Stunde lang. Unermüdlich war sie beschäftigt, Nahrung zu suchen, winzige Körnchen zu transportieren. Hälmchen, doppelt so groß wie ihr eigener Körper, hat sie über Hindernisse bugsiert, verloren, wiedergefunden. Um keinen Preis hat sie von ihren Vorhaben abgelassen, sich wacker gegen Widersacher verteidigt. Spannend und offenbarend.

8

Nur in den mittleren Bankreihen sitzen Kinder, kippeln, ducken sich müde. Draußen auf den Fluren, auf dem Schulhof ist es siestastill. Idas Schritte kommen eilig, tack, tack, tack. Sie lehnt die Tür an, legt Mantel und Tasche auf einen Tisch vorn. Streicht ein, zwei fingerlange Strähnen aus der Stirn, noch außer Atem. Sie greift in eine Tüte. Ein paar Köpfe gehen hoch. «Für euch», sagt sie, ihre Stirn ist noch rot von der Eile.

«Das ist mal cool, Nachhilfeunterricht im Eisessen!», ruft ein Junge ganz rechts.

Ida folgt seinem Blick aus dem Fenster, in die hohen, grüngelb belaubten Bäume. «Linden», sagt sie sehr leise.

Die Kinder sehen sich an. «Meistens ess ich Softeis», sagt an der Türseite ein Mädchen, das als Erstes den Eisstiel freigegessen hat.

Ida nickt, ihr Atem geht wieder ruhig.

«Und wissen Sie auch, was Software ist, Frau Wächter?»

Sie zögert. «Schreib es doch mal an die Tafel.»

Widerstrebend geht der Junge nach vorn. Die Kreide quietscht.

Ein Mädchen lacht. «Wer?»

«Soft-wer» steht da in krakeliger, weißer Schrift.

Ida rührt sich nicht, schaut über den Rand ihrer Brille in die Runde. «Und?»

Ein Mädchen aus der hinteren Reihe steht auf und malt das Wort richtig.

Die Lehrerin wartet. «Fremdwörter», schreibt sie dann in Großbuchstaben darüber, dreht sich wieder um. «Würde denn auch ein ‹Vegetarier› gern Eis essen?»

Eine Dunkelblonde ruft: «Klar! Die essen nur kein Fleisch!»

Ida reicht ihr die Kreide.

«Wegetarier», schreibt das Mädchen mit dem Zopf.

«Denkt an die Vase», sagt Ida. «Das verflixte V. Das V wie W.»

Jetzt lachen zwei Jungs.

In Idas regelmäßiger Schrift steht dann «Vegetarier» an der Tafel. Und kleiner darunter: «Veteran». «Wer oder was könnte das sein?»

«Ein Gemüse… …verkäufer?», fragt das Mädchen neben der Tür.

Ida lächelt, die Brauen hochgezogen.

«Ein Club», sagt die Banknachbarin und hört auf, ihren Eisstiel zu bemalen. «Mein Uropa geht da, glaub ich, manchmal hin.»

«Ach?», sagt Ida. «Und wie alt ist er?»

«Noch viel älter als Sie.»

«Da hat er bestimmt viel erlebt?»

«Kann sein.»

«Denn das ist ganz richtig: Veteran kommt von einem lateinischen Wort, das alt bedeutet. Vetus. Veteranen haben schon viele Erfahrungen in ihrer Sache. Und oft sind sie auch ausgezeichnet worden.»

«Kriegsveteranen!» Der Fensterträumer dreht sich begeistert um.

«Zum Beispiel», sagt Ida. «Eigentlich: leider. Es gibt auch andere, manche vielleicht unmodern heute. Parteiveteranen», und, kaum hörbar: «Arbeiterveteranen.» Ein Blick zu den grüngelben Linden, dann schreibt sie unter die anderen Wörter: «Veterinär.» «Und der?»

«Na, muss doch …» Der Fensterjunge, den Holzstiel im Mundwinkel wie ein Westernmann, bricht ab. Das Mädchen hinten hat die Augen geschlossen. Der Eisstiel der Künstlerin neben der Tür ist von dunklen Ornamenten überwuchert.

«Kleine Hilfe: Ein Veterinär ist ein Arzt.» Idas Hände ordnen die Unterrichtsblätter.

Die Antwort kommt schnell: «Ein Arzt für ältere Menschen!»

9

Mal schlafe ich neben einem Butler, mal neben einem General. Wenn ich einige Zeit nach Dir ins Bett schlüpfe, liegt auf der anderen Seite eine Gestalt mit einem roten Wollschal um Bauch und Rücken, wegen vermeintlicher Unterkühlung: General. – Oder eine Gestalt mit einem weißen Baumwollhandschuh über der allergischen Haut der rechten Hand: Butler.

Gestern Abend waren es gleich beide: General und Butler. Das ist der Spätherbst.

Wachsam und feinfühlig bist Du gegenüber Deinem Körper. Schon kleine Unregelmäßigkeiten machen Dich nervös. Das dicke Medizinlexikon liegt immer im Nachttisch, umrahmt von einer Armee von Tuben und Fläschchen; egal, ob der General oder der Butler Dienst hat. Ganz verschiedene Ärzterufnummern sind für jederzeitigen Gebrauch im Adressbuch des Telefons eingespeichert.

Dass ich manchmal über diese Eigenheiten lächle, nimmst Du mir nicht übel.

Wenn Du nur nicht auch mich in Deine Vorsorge einbeziehen würdest. Ich wage nicht, zu husten, um nicht gefragt zu werden, ob ich mich erkältet hätte; oder zu niesen, was Dir jedes Mal «selbst weh tut». Knurrt mein Magen nachts, fragst Du: «Soll ich dir eine Tablette holen?» Drehe ich mich einige Male im Bett um: «Kannst du auch nicht schlafen?» Also vermeide ich, mich umzudrehen. Ich bemühe mich, kleine Unpässlichkeiten zu verstecken. So erwecke ich den Anschein, dass es mir gutgehe. Um möglichst häufig meinen Ole anzutreffen und nicht gemaßregelt zu werden von einem Butler oder einem General.

 

Denn ich weiß, Du brauchst auch meine Unterstützung. Gerade jetzt, wo wir immer wieder, zwischen oder nach den Tagesaufgaben, einen Blick in unsere Zukunft werfen. Wie aufregend, und anstrengend auch. Meist schaffen wir das, wie heute, erst mit dem aufziehenden Abend. Wenn die alten Kastanien schräg gegenüber schon kahle schwarze Silhouetten vor einem grauroten Himmel sind. Manchmal sehen wir noch Arbeitslicht hinter einem der Fenster in unserem neu gebauten Wohnhaus, in «unserer» Wohnung oder in einer der sechs anderen. Das Baulicht macht Zimmer und Schatten dramatisch besonders, als gehörten die erleuchteten Fenster zu einem lebensgroßen Weihnachtskalender. Und wir freuen uns wie die Kristallkugelseher über jeden in der Wohnung ahnbaren Fortschritt: darüber, dass die Decken frei und sicher stehen können, ohne Krücken, oder dass die Elektroleitungen gezähmt wurden, die erst noch urwaldwild durchs Haus wucherten. Auch freut uns, dass die Wände richtige, freundliche Wohnungswände werden, ohne offene Stellen und Schrammen. Und sogar erste Gemütlichkeit soll es bald geben, die Heizung und den Holzfußboden. Der wird uns schon gut aufnehmen, mein Ole, oder von mir aus auch mein Butler, mein General und wen Du sonst noch zu bieten hast.

10

Das Telefon klingelt. «Ihr müsst sofort kommen!» Eine Stimme wie die eines Geistes, durchdringend, brüchig und hart.

Ida fährt zusammen: «Wer … wo …»

«Zu mir!», so die Geisterstimme empört. «Nach Zeitz!»

Ida hält den Hörer niedriger. «Deine Tante Wilhelmine.»

Ein Schatten hinter den Streifen aus milchigem Glas, Ole kommt durch die Verbindungstür.

«Guten Tag, Wilhelmine. Ja. Ach!» Seine Stirn legt sich in Falten, er bleibt still, den Hörer am Ohr.

Hinten am Schreibtisch lauscht Ida, wie die alte Tantenstimme bei manchen Silben kippt, dann aus dem Hörer bis ins Zimmer schlägt. Sie zieht die Schultern ein wie unter scharfem Wind.

Mit einem Kopfschütteln legt Ole auf.

«Was ist», sagt Ida, «hatte sie wieder Angst in der Dunkelheit gestern?»

«Na, eher zu wenig Angst, erstaunlicherweise.» Er setzt sich auf einen der Esstischstühle. «Sie hat am Abend gebadet und ist nicht mehr aus der Wanne gekommen! Das Badeöl war schuld, sagt sie … Hat gerufen, aber zu schwach. Niemand im Haus hat das gehört. Auch Klopfzeichen – ohne Erfolg.»

«Aber es scheint ja gut überstanden.»

Ole lacht leicht auf: «Ja … Nach einer Nacht in der Badewanne. Am Morgen haben sich Nachbarn über die zugezogenen Gardinen gewundert und dass die Zeitung noch im Briefschlitz war. Sie wollten helfen, dann war aber die Wohnungstür verschlossen, der Schlüssel hat von innen gesteckt.»

Ida sitzt ganz gerade. «Und nun?»

«Die Tür wurde aufgebrochen, Tante Wilhelmine verkühlt und zitternd gleich ins Krankenhaus gefahren.»

«Das tut mir leid», sagt Ida.

Beide sehen sich an, sie mit dem Schreibtisch, Ole mit dem Esstisch im Rücken.

Idas dünne Finger drehen ein Tipp-Ex-Fläschchen. «Ich kann jetzt nicht neuerlich nach Zeitz fahren», sagt sie leise.

Der Kater stromert vorbei und ins Erkerzimmer, Ole sieht ihm zerknirscht nach.

«Schon wegen des Unterrichts nachher, die erste Stunde wieder für die Jugendlichen im Asylheim.» Sie stellt das Fläschchen auf den Schreibtisch. Der Kater im Erker zuckt kurz zusammen und streckt wieder den Hals, für den Blick auf die nasse, kleine Kreuzung zwei Stockwerke tiefer.

«Also gut», sagt Ole, «ich fahre allein.»

11

Mein Unterricht mit den anstelligen rumänischen Mädchen ist geschafft, ein nötiger Gang zu einer der Frauen aus dem Frauenbund auch. Ich bin nach Hause geeilt, nun atme ich durch.

So oft im gedrängten Aneinander von Tätigkeiten des Alltags wünsche ich mir, mal ganz für mich zu sein, zu lesen, zu hören, Gedanken nachzuhängen. Ich freue mich also ein bisschen sogar, gerade ohne Dich zu sein. Das nimmst Du mir doch nicht übel? Und ich nutze diese Stunden, Du kannst es Dir denken, zu einem guten Teil an der Schreibmaschine.

Seit langem einmal wieder fliegen meine Gedanken in mein altes Zuhause oder, wie ich es lieber nenne, in mein Kindheitszuhause. Gönne ich mir diesen Luxus, ein wenig abzutauchen in so weit weg liegende Gefilde? Ganz rein ist mein Gewissen nicht. Aber dann denke ich: Wann, wenn nicht an einem freien Abend wie dem heutigen?

Und ich ahne nun auch, warum mein Kopf gerade jetzt, trotz so viel Drucks, die Reise nach Hinterpommern anzutreten, auf die Idee kam: Am östlich rollenden Zungenschlag der rumänischen Asylmädchen könnte es liegen. Er erinnert meine Ohren an nicht wenige Begegnungen in meiner Jugend. Womöglich an das ukrainische junge Mädchen, das einige Wochen lang beim Ernteeinsatz auf dem Kartoffelfeld meine Nachbarin war. Wir waren beinahe im gleichen Alter, nur musste sie als «Fremdarbeiterin» barfuß arbeiten und in einer Scheune hausen. Ich habe ihr meine festen Schuhe und Kleidungsstücke geschenkt, aber aus meiner Haut als insgesamt noch naives, verblendetes «Jungmädel» kam ich dennoch nicht. – Noch nicht. Ein Jahr später sah das anders aus, und ich war plötzlich früh erwachsen. Die traurigen Augen dieser Ukrainerin, mit der ich wenige Wochen lang gefrühstückt hatte auf dem Kartoffelfeld, sie verfolgten mich noch nach dem Krieg. Wie ihre Stimme wirklich klang, das kann ich höchstens noch träumen.

In jedem Fall aber hat mich das östlich rollende R der rumänischen Schülerinnen heute an unsere gute Schwägerin Lori erinnert, die ungefähr zu dieser Ernteeinsatzzeit in mein Leben und bald in mein bescheidenes hinterpommersches Elternhaus kam. In das Landstädtchen, das, geschützt wie in einer großen Schale, in einer breiten Talsohle sitzt. Ein sonderbares Städtchen: ohne wirkliches Gebirge ringsumher; in einem komfortablen Flusstal für nur ein schmales Fließ. Und mir schien, dass Lore sich schnell wohl gefühlt hat. Zwar ein paar Jahre älter als ich und schwangere Braut meines Bruders, aber ein Landmädchen auch. Ich denke, dass sich ihre Kindheit im noch tieferen Osten, in diesem heute nicht polnischen, sondern ukrainischen Landstrich mit dem für mich damals zauberhaften Namen Wolhynien, in vielem nicht sehr von meiner Kindheit unterschieden hat. Nur war das Leben wohl noch dörflicher als unseres, mit mehr Feldarbeit und mehr Vieh, und in ihrer Schule sprach und lehrte man nur wenig Deutsch.

Eine Umsiedlungsgeschichte hatten auch meine Eltern hinter sich (tja, mein gesegneter Ole, im Gegensatz zu Deinen). Doch dieser Neuanfang und manche damit verbundene Unbill (wie mehrere Versuche, ein Haus zu bauen) lagen lange genug zurück für etwas Gartenlaubengelassenheit. Denn wenigstens dazu hatten es meine Eltern gebracht: zu einem Gartengrundstück am See, mit viel Wachsen und Werden und einer Laube aus Feuerbohnen. Was für ein Glück!

Die Umsiedlung von Lores Familie aber, nun ja, «heim ins Reich» war vor wenigen Jahren erst geschehen. Und Lores Umzug wiederum aus Zentralpolen zu uns etwas weiter westlich hatte auf eine Weise, die wir noch nicht ahnen wollten, unsere unfreiwillige, harte gemeinsame Reise vorweggenommen. Lore jedenfalls war froh um etwas Behaglichkeit in unserer kleinen Wohnung in Schkupa. So sehe ich sie noch mich auf Gängen begleiten, mit ihrem wachsenden Bauch. Auch mit ihrem Mann, Heinz, meinem lustigen, gewitzten Bruder, war ich gern spazieren gegangen, eigenartig stolz, wenn junge Frauen ihm in seiner Uniform nachsahen.

Bei fast jeder Überquerung des kleinen, nahen Flüsschens tauchte ich mit meinen noch kindlichen fünfzehn Jahren mindestens einen Blick hinein. Zunächst, mit Lore, war die Blätterdecke über dem Ufer noch schattenspendend dicht wie ein Höhlendach. Manchmal im fortschreitenden Herbst schlüpften wir unter dieses dichte Flussbäumedach wie in einen Schutztunnel und freuten uns, dass es dort länger grün blieb als anderswo. Irgendwann fielen dann die Blätter sehr schnell. Doch auch im Winter gingen wir; solange die hochschwangere Lori das noch konnte. Zweige, schneeschwer, brachen manchmal auf das erstarrte Wasser. Die Weihnachtszeit 44 war kerzenarm und kurz. Und egal, wann und wie sehr ich meinem Flüsschen hinterhersann: Sie lachte mich nicht aus und folgte seinem Lauf mit ihren wehmütigen Augen. Freudenträne hatten wir schon als Kinder das Stadtfließ auch genannt, von seinem polnischen Namen.

12

Ida kaut lange, schaut auf regenschwarz glänzende Winterbäume vor der grell beschienenen Hauswand gegenüber. Die zweite Brötchenhälfte wirft sie in den Müll. Spült eine Tasse und einen Teller im Zwielicht des Morgens. Das kleine Bad sieht dürftig aus in diesem Licht. Die Sonne müht sich am trüb gestreiften Glas der Wohnzimmerverbindungstür. Die Wohnung liegt still.

Bis das Telefon klingelt. Ida stolpert an der Glastür fast über den Kater, streichelt ihn kurz.

«Idchen?», ruft es aus dem Hörer. «Guten Morgen!»

«Ach …»

«Wie geht es, gut geschlafen?»

«Gut, wie meistens, im Gegensatz zu dir.»

«Ja, hier auf Tante Mines klapprigem Gästebett …» Oles Telefonstimme klingt aufgekratzt. «Aber ich höre doch was? Ist einer nachts oben geblieben, verbotenerweise?»

«Soll ich das leugnen?»

«Dann hattest du einen Tröster. Ich war ganz allein.» Er lacht, hüstelt.

Der Kater mauzt noch einmal und schleicht aus dem Zimmer.

«Ja, wie man’s nimmt … Vielleicht ist das lächerlich», sagt Ida, «aber … ich glaube fast, dein Schnarchen hat mir gefehlt.»

Pause, ein paar Augenblicke lang. Im Hörer Oles Atmen, rund und rauschend, wie ein Fluss hinter dem nächsten Haus. Und Idas feinerer, entfernterer Atem.

«Weißt du noch», sagt er, «wann wir zuletzt getrennt geschlafen haben?»

Sie überlegt. «Wenn einer zur Kur musste, als wir noch gearbeitet haben. Oder, ach, zuletzt vielleicht, als du im politischen Lehrgang warst, an den Wochenenden immer, vor deinem Vorruhestand.»

«Ja, in Leipzig … in den Wendemonaten.» Ein paar Momente lang rauscht der Atemfluss für sich.

«Wir sind verwöhnt, oder?», sagt sie. «Anders als deine Tante Wilhelmine.»

«Das ist wohl so. Wobei», seine Stimme wird wieder fester, «gerade ist sie weniger allein, mit drei Mitpatienten im Zimmer.»

«Und klagt?»

«Wie es aussieht, ist sie eher stolz, dass sie im Mittelpunkt steht. Und sei es durch ein Wannenabenteuer.» Ole spricht vorsichtig heiter, krankenhausgemäß. «‹Hattest du nicht Angst vor Lungenentzündung?›, habe ich sie gefragt. ‹Ach i wo›», er ahmt den schrillen, brüchigen Tonfall nach. «‹Lungenentzündung hatte ich ja schon zweimal.›»

13

Du setzt Deine schwarze Mütze auf, «Chauffeursmütze» nenne ich sie so gern. Du verweist mich auf Deine vielen anderen, hellen Mützen. Warum? Du bist doch ein wunderbarer Chauffeur. Zum Bahnhof fährst Du diesmal. Und nach einer Viertelstunde stehen an der Wohnungstür hinter Dir mit großen Rucksäcken Ella und Marta. Sie lachen mich an, glückliche Tage erwartend und verheißend, in den letzten Winterferien, bevor auch Marta keine Schülerin mehr ist. Und wenngleich unsere ältesten Enkeltöchter nun erwachsen sind, am Willkommenseindruck hat sich nichts geändert: Unser Leben bekommt einen Schuss Frische, Leichtigkeit, Kurzweil. Schön und ein wenig anstrengend manchmal, mit viel neuen Eindrücken und Bewegung.

 

Aber ein neuer Eindruck überrascht sie: «Was, keine zwei Monate mehr hier?» Sie schauen aus allen Fenstern, selbst aus dem kleinen oben beim Mansardenklo. Vielleicht suchen sie Vladi, doch vor allem gehen sie durch die Räume wie durch ein Museum. Sind sie vergangenheitsbezogener als wir? Eigenartig, wo sie doch das Leben vor sich haben.

Wir beiden «Alten» blicken voller Vorfreude nach vorn, in unsere fast fertiggestellte neue Wohnung, die keine Verbindungstür, aber dennoch ein doppelt großes Wohnzimmer hat. Und die Enkelinnen wiegen die Häupter und sinnieren nach drüben zum Haus in der Pieperstraße, das uns vorher viele Jahre eine so gute Wohnstätte geboten hat. – Auch, als sie noch Kinder waren.

Sollte uns die melancholische Wertschätzung unseres langjährigen Domizils nachdenklich machen? Ach … Weißt Du noch, schon vor Jahrzehnten haben wir uns gesagt: Uns fehlt zum Glück für niedergedrückte Stimmung die Zeit.

Auch jetzt ist einiges zu tun. Die blaue Stunde aber versammelt uns um Fotoalben und Sofa. Es wird erzählt, gefragt, gestaunt, gelacht, der Abend wird lang. Vladi schnurrt zusammengerollt zwischen uns. Als Du ihn irgendwann nach unten trägst in die kalte Nacht, sträubt er sich mit allen müden Pfoten.

Wir möchten auch noch sitzen bleiben. Bis Du findest, es sei nun Zeit, ins Bett zu gehen. Und Ella sagt: «Ach, Opa, wieder müssen wir ins Bett, weil Du schlafen willst?»

Ganz unrecht hat sie nicht, unsere direkte Enkelinnenälteste. Dass Du mir so oft mein Nachthemd ins Wohnzimmer bringst, selber im Pyjama schon, erscheint dadurch in einem anderen Licht. Aber soll ich Dir etwa böse sein, wenn Du meinst, ohne mich nicht schlafen zu können, keine Nacht und nicht mal eine Stunde?

Auf weniger fordernde Art geht mir das wohl ebenso.

14

An der alten Tankstelle stehen unterm Flatterband Autos zum Verkauf. Danach ein verblichenes Schild: «Mosterei».

«Bringt ihr noch manchmal Obst hin?», fragt Marta.

«Ja», Ida wirft einen Seitenblick zu Ole. «Wenn uns Bekannte geerntete Äpfel schenken.»

Er fährt an, atmet durch. «Dass wir den Garten aufgeben mussten, war schade. Aber aus unerfindlichen Gründen war er ja dann fast nur noch Last.»

«Auf deinen Schultern am allermeisten.» Sie sieht seine leicht raue Hand an, am Gangknüppel, am Lenkrad. «Denn, eigenartig für ein Landkind, ich bin mit der Erde hier einfach nicht warm geworden. Leider.»

Ole lächelt, gutmütig, wehmütig auch. «Wo wollt ihr nun hin? Tiefurt? Kromsdorf mal?»

«Na, unseren Lieblingspark kennt ihr ja», sagt Ella, «auch wenn die Auswahl so herrlich schwer ist.»

Ohne dass er hinsehen muss, tastet seine Rechte nach dem Radio, nach dem Kassettenfach. Milde Klassik färbt die Landschaft.

Idas Blick wird angesogen von winterblassen Hügeln und Wiesen. «Wohin fahren wir?», fragt sie irgendwann. «Und die Rückfahrt schön über die Dörfer?»

15

Belvedere, du schöne Aussicht. Zu jeder Zeit, in jedem Gewand gefällst du uns. Wir kennen dich fast wie unsere Wohnung, gehen immer wieder an die gleichen Stellen, meist eine ähnliche Route: vorbei zunächst am Teich, am Irrgarten, wo Marta als Kind so wunderbar auf der Puttenbühne sang; und am gelben Schloss vorbei mit dem ersten «schönen Ausblick». Am Kastanienweg schreiten wir aus der Zeit gefallen zwischen hohen Bäumen und hoher Mauer, bis zum Ginkgo, dem Fossilbaum. Im Herbst wird hier nach Blatt-Gold gesucht, inzwischen machen das, glaube ich, fast alle aus der Familie. Ich trockne sie jedes Jahr gern, die goldgelben Fächer, und verschenke sie. Oder Du findest sie vergessen in irgendeinem Buch aus dem Regal und lachst.

Hinter dem Tor dann am Orangerieplatz sehe ich vor meinem inneren Auge unsere Enkel und Enkelinnen, als sie klein waren, Kutschen bestaunen. Ella und Marta staunen immer noch gern, über die Kübelpalmen zum Beispiel, die im gebogenen Glashaus aufgereiht sind wie besondere Kurpatienten.

Am Teehäuschen verweilen wir mit Blick auf Weimar und Taubach. Wir riechen ersten Vorfrühling, wir vermissen im Blumengarten die Blumen.

Und danach schlüpfen wir unters Dach der hohen Bäume. Buchensilberstämme, winternackt klagende Eichen und immer wieder auch exotische dauergrüne. Eine gewaltige Versammlung wächst den Abhang hinab, einige im Greisenalter, offensichtlich, aber doch erstaunlich standhaft. Nur «unser» Baum gibt Anlass zur Sorge. Niemals, bei keinem Gang durch Belvedere, verfehlen wir einen Besuch dieses Baumes auf halber Höhe am Hang. Wer hat begonnen, ihn als «unseren» zu bezeichnen? Du lachst, die Mädchen lächeln. Gut, so werde ich es wohl gewesen sein. Eine dicke, stämmige, fast – da hast Du recht – eine tote Rindenhülle ist das. Der Stamm halbhoch nur, das Obere wie von enormem Wetter weggebissen, mit gezacktem, schiefem Rand. Aus der Mitte aber ragt ein gertenartiger Lindenspross heraus. Der Anblick rührt mich jedes Mal, winters wie sommers: die aschgraue abgestorbene Hülle, dick genug allemal, dass zwei junge Frauen wie Ella und Marta darin Platz hätten, aber doch leer. Und trotzdem wächst da der schlanke, sich reckende Zweig, triumphierend und Leben verkündend, versucht, ein Ast zu werden, und ist sogar im Sommerhalbjahr belaubt. Wir bangen um ihn und wünschen ihm, dass er sich weiter kräftigen möge zu einem echten, irgendwann stattlichen Baum. Die Chancen stehen doch gut bei so viel Lebensmut und der Nachbarschaft. Oder?

Dann geht es weiter ins Parktal, das sich schräg hinabwindende Wegenetz entlang, hinein in einen grünen Schlund oder das, was der Winter davon ließ. Unten klimpert der Possenbach. Die künstlichen Brunnen und Grotten diesseits erfreuen unsere Enkelinnen, und jenseits, vorbei an den Possen des Bachs, stehen Büsche und hohe Bäume dichter, zum Verlaufen wild, ganz und gar ein Wald.

 

Nach dem Essen dann fahren Ella und Marta ab. Unser Leben wird wieder eine Stufe grauer. Ein Trost: der Gruß, der sich zwischen den Gästebettkissen versteckt. Eine schöne Tradition ist das geworden, mit der auch Du stillschweigend wohl schon rechnest, wenn Du Dein gutgelauntes «Winke-winke» auf dem Bahnhof rufst?

Vorfreude auf einen nächsten Besuch wird auf der Karte bestärkt. Und: Wir beide seien eine Symbiose.

Es stimmt schon, einer ist nicht denkbar ohne den anderen. Wird nur einer von uns angetroffen in einer Veranstaltung oder auf der Straße, wird gleich gefragt, wo denn der andere sei. Verbindung nur «zum Nutzen» aber will mir nicht passen. Und überhaupt: Jeder führt doch auch ein Eigenleben, hat eigene Interessen, eigene Ideen? Allerdings hat unser jahrzehntelanges Zusammenleben dazu geführt, dass sich feste gemeinsame Verhaltensweisen und Einstellungen herausgebildet haben, bis in die sprachlichen Gepflogenheiten hinein. Man sagt, dass bei manchen Ehepaaren sich sogar die Handschriften angeglichen haben. Das ist bei uns nicht der Fall, aber unser Umgang miteinander ist zuallermeist rücksichtsvoll. «Harmoniesüchtig», wer hat uns das mal vorgeworfen? Vor allem ich muss mir wohl diesen Schuh anziehen. Doch einen schlimmen Fehler sehe ich darin nicht.

Oder haben wir zu wenig Streitkultur gelebt und zu wenig weitergegeben an unsere Söhne? So unterschiedlich sie sind, mit ihren Berufen heute zwischen Paketbote, Treppenbauer und Radioredakteur (immerhin sind alle wieder in Arbeit!) – alle drei haben sich starke, manchmal wohl bestimmende Frauen gewählt.

Ja, gestritten haben wir kaum. Wenn, dann über Nichtigkeiten, trotz und wegen übereinstimmender Interessen. Kein Grund zur Aufregung, wenn Du Dich in gutgemeintem Übereifer in meine Vorhaben einmischst. Ich wiederum plane Dich freimütig und selbstverständlich in meine Unternehmungen ein, was nicht immer Deine Zustimmung findet. Und doch überwindest Du Dein Lampenfieber und liest auf der Bühne Briefe von Tschechow zum Beispiel, kürzlich erst, obwohl Dir die Luft fast wegblieb (eigentlich passend zum lungenleidenden Tschechow). Oder Du setzt Dich, zwischen Mittagsruhe und Parteiversammlung, ins Auto, um meine spät fertiggestellten Einladungen zum Literaturtreff auszutragen. Weil ich den Führerschein nicht noch gemacht habe. Und weil eben Du mein Ole bist.

Und wenn nicht viel vorhanden ist, teilen wir: ein Stück Kuchen, eine Tomate, einen halben Apfel, eine Praline … Von anderen Leuten belächelt, manchmal.

Wir teilen auch den Schmerz, das Unwohlsein. Wenn Du niest, erzittere ich, Du kannst nicht schlafen, wenn ich noch wach liege, wenn ich huste, leidest Du, und wenn Du über Nichtigkeiten jammerst, versuche ich, Dich aufzurichten.

16

Pappkisten füllen das kleine Gästezimmer, eng an eng gestapelt, als sollte es eine Felsenhöhle sein. Nur in der Mitte ist ein Gang zur Veranda frei. In der weißen Veranda hockt ein Mädchen, drückt flüsternd den Telefonhörer über blonden Locken ans Ohr. Das lange Kabel spannt sich am Kistenfelsen entlang bis zur Steckdose im Flur.

Ida geht an der Tür vorbei, einen Lappen in der Hand. Zuckt im Ess- und Arbeitszimmer die Schultern.

«Was, Ivy immer noch am Telefon?» Ole steigt vom Stuhl an der Bücherwand.

Ida hält ihn zurück. «In diesem Alter muss das wohl so … Und wir sind doch ganz gut in der Zeit? Bis zum Termin nächste Woche.»

Er wiegt zweifelschwer den Kopf.

«Ach … Mein Pessimist.»

 

Später steht die Enkelin wieder zwischen ihnen. «Was kann ich denn noch machen? Abendbrot?»

«Willst du vorher mal was sehen?» Ida winkt sie zu offenen Schubladen unten am Bücherschrank.

«Ach, Idchen, dazu ist doch keine Zeit.» Ole kommt näher. Sieht zwischen Ivy und kleinen, vergilbten Schwarzweißporträts hin und her. «Ja, schon erstaunlich», sagt er versöhnlicher. «Bis auf die Haare.»

«Und ganz so fesch waren wir noch nicht», sagt Ida.

Die Enkelin lächelt still über den Bildern, etwas spöttisch, mehr aber überrascht. Unter ähnlichen Augen und ähnlichen östlichen Wangenknochen wie die noch jugendliche, schwarzweiße Oma.

Ein anderes Schubfach ist prall gefüllt mit Briefen. «Alles von Opa, ja?», fragt Ivy.

Ole faltet einen der Briefbögen auseinander. «Ach, nein …», sein Mund klappt zu.

«Tja, diese Kavaliere haben mir alle geschrieben, bevor ich Opa kannte.» Idas Lachen ist jungmädchenhaft wie auf alten Schulfotos, Ivy sieht noch erstaunter aus.

17

Ich wollte erst gar nicht heiraten, erinnerst Du Dich? Als wir dann heirateten, konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Liebe Jahrzehnte überdauern könnte. Tja, bald sind es fünfzig Jahre. Und wenn Du mal einen halben Tag nicht da bist, fühle ich mich allein und verlassen. Du sagst, Dir gehe es ebenso.

 

Andere leben ganz anders. Zum Beispiel Tante Wilhelmine, die bis an ihr siebtes Jahrzehnt eine Jungfer war. Dann gab es drei, vier Jahre Eheglück, bis der noch ältere Albert starb. Und auch das ist ein Vierteljahrhundert her. Und wieder lebt sie das Leben einer alten Jungfer. Dass sie doch noch ins Pflegeheim ziehen musste nach ihrem Sturz in der Wanne, schien sie wenig zu stören. Vor drei Monaten haben wir ihren hundertsten Geburtstag gefeiert. Die Wochen zuvor hat sie sich an ihrer Vorfreude festgehalten; und am Tag selber war sie die Fröhlichste unter ihren Gästen. Für zwei Stunden. Dann wurde sie müde.

Nun hat sie nichts mehr, worauf sie sich freuen kann. Nun nimmt sie den Alltag im Heim trotz der guten Versorgung und Pflege wie eine Last. Ihre Beine tragen sie nicht mehr durch die Flure. Sie hat sich an einen Rollstuhl gewöhnt und daran, dass sie ins Bett gehoben werden muss. Die Ansprüche müssen kleiner werden, konzentrieren sich auf Essen, Schlafen, hie und da ein Gespräch mit Mitbewohnern des Heimes. Es verdrießt sie, dass ihre Zimmergefährtin kaum mit ihr spricht und dass sie nachts nicht schlafen kann, weil diese manchmal stöhnt. Ihre Freude aber über unseren Besuch heute ist groß, sie hat sich dafür fein gemacht. Sie spricht leise und undeutlich, wird ungeduldig, wenn wir sie nicht verstehen. Als es uns nicht gelingt, sie in ihr Bett zu heben, verlangt sie barsch nach der Pflegerin. Doch, verwunderlich, es gibt Wünsche, aufs Leben gerichtete: «Ich brauche einen neuen Rock, einen Schlafanzug, ein kleines Halstuch. Und ein paar Fläschchen Sekt und Butterplätzchen würde ich auch gern haben.» Dann ist der Gesprächsstoff zu Ende. «Nun könnt ihr wieder fahren, ich muss zum Mittagessen.» Ihr klein gewordener Kopf sinkt zwischen ihre Schultern, der Mund wird schmal und hart, die Augen müde. Wie eine uralte Schildkröte, die alles kennt und missbilligt und dennoch ewig weiterlebt. Erstrebenswert?

 

Mozart vom Band macht die Rückfahrt leichter, lässt uns fast durch die noch immer vorfrühlingsgraue Landschaft schweben. Kurz vor dem Ortseingang gestehe ich, dass ich persönlich keinesfalls so alt werden möchte. Und Du? Du schweigst hinter dem Steuer. Tante Wilhelmine ist ja Deine Tante, andere Deiner Familie sind ähnlich alt geworden. Mein Vater ist mit gerade 62 gestorben und hat am Ende bitterlich geweint.

Dass wir beide ein Alter erreichen würden, in dem wir alles noch mit Bewusstsein erleben können, hoffst Du, das sagst Du, als wir in die Kornstraße einbiegen. Und dass wir verschont bleiben mögen von Krankheiten, die das verhindern.

Ja, ein sinnvolles Leben zu führen bis zum Schluss, das wäre ein Traum; ein selbständiges Leben immer zu führen, ohne Siechtum.

Wann sind wir das letzte Mal Hand in Hand vom Auto zur Haustür gegangen? Ein Moment eigenartiger Romantik ist das, wie ein Abschiedsgeschenk unserer alten Wohnung kurz vor dem Auszug.

Vor der steilen Treppe im Hausflur hakst Du mich ein und sagst: «Und das Ende irgendwann möglichst gemeinsam erleben, das wäre das Schönste.»

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